[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 21: Einsatz ------------------- Einsatz   „Erst in direkter Konfrontation erkennt man die Gefahr“, hörte sich Light sagen. Er merkte, dass seine Stimme an Emotionalität verloren hatte, doch konnte er nicht erkennen, ob es daran lag, dass er ungewollt die Art des Meisterdetektivs nachahmte, oder ob diese Teilnahmslosigkeit seinem eigenen Charakter entsprang. Light prüfte seine eben gesprochenen Worte auf ihren Wahrheitsgehalt. Sein Blick wanderte über den Körper seines Freundes, dessen drahtige Statur, die selbst unter den Sachen noch zu erahnen war, die ganze abgewandte Haltung, die ihm gleichsam zu suggerieren schien, dass sich Light als Tatverdächtiger nicht entfernen durfte, dass er sich jedoch als Partner auch keinen einzigen Schritt nähern durfte. Ls Profil und somit dessen Mimik, über welche er ohnehin nur in geringem Maß verfügte, waren kaum auszumachen. Nicht allein das schwache Licht, sondern auch die schwarzen Haare verdeckten alles, was man als Beobachter hätte erkennen können, während L reglos auf dem Bett lag und seinem Freund den Rücken zukehrte. Um Gewissheit zu erlangen, legte Light ohne Zögern die Hand an Ls Schulter, wie schon zahlreiche Male zuvor, und fragte: „Willst du mir das damit sagen, Ryuzaki? Meinst du, man müsse sich bei jedem Spiel nur darum kümmern, den richtigen Einsatz zu bieten, um zu gewinnen? Und erst mit der Niederlage soll man sich Gedanken darüber machen, welchen Preis man zu zahlen hat?“ „Bezahlen muss man immer“, antwortete L leise. Er schien keine Notiz von der Berührung seines Freundes zu nehmen. „Nichts im Leben ist umsonst. Wir können uns nicht aussuchen, ob wir etwas aufs Spiel setzen wollen. Wir können nur entscheiden, wie viel. Doch wie hoch der Einsatz schließlich sein wird, hängt davon ab, was man erreichen will und wie groß die Entfernung zum angestrebten Ziel ist.“ „Und wie hoch ist dein Einsatz, L? Wie weit würdest du gehen?“ Endlich sprach Light die Frage aus, die ihm schon länger nicht mehr aus dem Sinn ging. In Gedanken hatte er sie schon so oft gestellt, dass er jetzt das Gefühl hatte, er würde lediglich etwas häufig Gesagtes wiederholen. „Was würdest du aufs Spiel setzen?“ „Alles“, antwortete L sofort. Kein Zittern, keine unsichere Bewegung, keine merklichen Anzeichen von Unruhe gingen von seinem Körper aus; Light hätte es unter seiner Hand spüren müssen. Ls weit aufgerissene Augen blickten starr geradeaus, als er sagte: „Ich würde alles dafür geben. Ich würde mein Leben dafür geben. Ohne das ist es nichts wert.“ „Dein Leben also...“, wiederholte Light konsterniert und fragte dann bitter: „Auch noch mehr?“ Er konnte sehen, wie Ls Augenlider zuckten. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Doch es reichte. Lights Hand verkrampfte auf der Schulter des Detektivs und entspannte sich sogleich wieder. Einem Impuls folgend, als hätte er nur auf eine Bestätigung gewartet, strich Light den Arm seines Partners entlang, von der Schulter hinab zum Ellenbogen. „Es ist nichts wert, meinst du.“ Light wägte seine Worte genau ab, während er näher an L heranrückte und sich mit dem Unterarm neben dessen Kopf abstützte, sodass seine Finger das schwarze Haar über der Stirn berührten. „Was ist nichts wert?“, fragte er und umfasste kurz Ls Handgelenk. „Dein Leben? Siehst du etwa keinen Sinn mehr darin, wenn du es nicht dafür aufs Spiel setzt, der beste Detektiv der Welt zu sein? Das ist wohl dein einziger Lebensinhalt?“ Im Reden glitten Lights Finger über den zweiten, angewinkelten Arm seines Freundes, bis sie schließlich hinauf zum Kopf gelangten und das dichte Haar beiseite strichen. Light legte ein wenig jenes emotionslose, vielleicht abweisende Gesicht frei. „Wenn es so ist, dann kennen wir beide den Grund dafür, nicht wahr, L? Weil das unter deinen vielen Rollen die einzige ist, die du wirklich beherrschst. Weil du nicht Ryuzaki sein kannst oder Ryuga oder wer auch immer. Du kannst nur L sein.“ Ungeachtet dessen, dass er derart bedrängt wurde, sowohl verbal als auch körperlich, versuchte L nicht sich aus der Situation zu befreien. Es wäre für ihn vermutlich ein Leichtes gewesen, von Light loszukommen. Doch stattdessen blieb er stumm und ohne Regung. „Oder sprichst du von der Ermittlung um Kira“, fragte Light dicht an seinem Ohr, „von deiner ganzen Arbeit, der unermüdlichen Suche nach Wahrheit? Meinst du, dass das alles sinnlos wäre, wenn du nicht bereit wärst, zumindest dein Leben dafür zu geben?“ Mit dem Handrücken, den Knöcheln seiner Finger strich Light über Ls Wange, zeichnete die Konturen des scharf geschnittenen Gesichts nach und spürte die Anspannung von dessen Kiefer, da L, vermutlich unbewusst, die Zähne aufeinanderbiss. Sanft legte Light die Hand an den Hals seines Partners und drückte leicht mit dem Daumen gegen die Erhebung von dessen Kehle, spürte die Bewegung unter seinen Fingerspitzen, als L reflexartig schluckte. Nichts Fremdes lag in diesen Berührungen. Denn zahllose Male schon hatte Light ähnlichen Fantasien im Traum nachgeben müssen. Doch diesmal war es kein Traum. Diesmal war es todernst. Wankelmut und Aufregung legten sich wie ein heißkalter Film über Lights Haut. Ein Stein schien pochend zwischen seinen Lungenflügeln zu hausen und erschwerte ihm das Atmen. Fast wäre ihm davon schlecht geworden, wenn es sich nicht so gut angefühlt hätte. Was er hier tat, konnte er nicht wiedergutmachen. Allerdings wäre es genauso unwiderruflich gewesen, seine Vorstellungen zu ignorieren. Sonst hätte er L niemals die Lektion erteilen können, die dieser längst verdiente. „Ich weiß, dass du mir keine Antwort geben wirst“, meinte Light bestimmt, während seine Hand mittlerweile hinab über den vom weißen Stoff bedeckten Brustkorb wanderte, der sich unter Ls Atmung schwerfällig hob und senkte. „Damit will ich dir nur den Grund dafür nennen, warum ich gefragt habe, ob du noch mehr bieten würdest. Du hast es selbst zugegeben. Um zu erfahren, wie die Dinge sich entwickeln, lässt du ihnen freien Lauf, ist es nicht so? Ich will wissen, wann für dich der Punkt gekommen ist, an dem du dich nicht mehr für die Belange von L aufgibst, sondern anfängst, dich selbst zu schützen.“ Als Light den flachen Bauch erreichte und sich anschickte, noch tiefer zu gehen, beendete L plötzlich seine Teilnahmslosigkeit, packte blitzschnell hart zu und hielt ihn auf. „Ach“, sagte Light und lächelte bitter, „etwa jetzt? Ist jetzt der Moment gekommen, in dem Prinzipien und Verstand den Kampf gegen deinen eigenen Willen verlieren?“ In seinen Worten lag keine Wut, weder Abscheu noch Verzweiflung. Vielleicht klang es nach Traurigkeit. Light wusste selbst nicht, welchen Namen er seinem Gefühl geben sollte. Er wusste nur, dass es sich anfühlte, als wollte L ihm seine Knochen brechen, so fest umklammerte dieser sein Handgelenk. „Nichts im Leben ist umsonst, ja?“ Wortwörtlich warf Light die vor wenigen Minuten gesprochenen Worte seines Partners zurück in den Raum, als handelte es sich dabei um Gift. Er merkte, dass sein Herz zwar nicht schnell, aber unangenehm hart gegen seine Brust schlug. „Ich glaube dir nicht, L. Es ist das genaue Gegenteil. Alles im Leben ist umsonst. Was auch immer man tut, es ist umsonst.“ „Soll ich solche Wortklaubereien lustig finden, Yagami-kun?“ Endlich gab L mit abweisender Stimme eine Antwort, während er seine Fingernägel in den Arm seines Partners bohrte. Seine Hand war ungewohnt warm, sein ganzer Körper schien in der Umarmung eine befremdlich hohe Temperatur auszustrahlen. Oder war es vielmehr die wechselseitige Resonanz ihrer Nähe? All das übergehend, als hätte er es nicht wahrgenommen, fuhr Light fort: „Es zählt nur, dass man im Hier und Jetzt hinter seiner Wahl steht, denn auf lange Sicht macht es keinen Unterschied, wie man sich entscheidet. Das ist der wahre Grund, warum du alles aufs Spiel setzt, nicht wahr? Weil du nicht mehr oder weniger zu verlieren hast als jeder andere auch. Wozu also nicht das Ganze, was man noch sein Selbst nennt, auf eine Karte setzen? Darum geht es doch in Wirklichkeit! Entweder alles oder nichts.“ L ließ Lights Hand los. Er nahm mit zusammengebissenen Zähnen und starrem Blick die Herausforderung an. Alles zuzulassen. Sich selbst aufzugeben. Was gab es Leichteres als das, wenn man nichts zu verlieren hatte? Aus Irritation blieb Light einen Augenblick lang handlungsunfähig. Dann stieß er ein ungläubiges Lachen aus. „Ich fasse es nicht. Das kann doch nicht dein Ernst sein, Ryuzaki.“ Light löste vollständig seinen Kontakt zu L, den nur noch die Kette zwischen ihnen halten konnte. Auf seinem Unterarm zeichneten sich schmerzhaft die Abdrücke von Ls Griff ab. Diesen Abdruck spürte Light auch in seiner Brust, obwohl er dort nicht berührt worden war. „Ich verstehe dich nicht“, meinte er kopfschüttelnd. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass du dir ständig selbst widersprichst?“ „Ist das denn bei dir anders?“ L drehte sich im Liegen halb zu ihm um. Seine Augen erzählten, unerwarteterweise, von milder Zuneigung. „Auch ohne sich je wirklich festzulegen, wird man es oft genug schaffen, sich selbst zu widersprechen, Light-kun. Dafür muss man nicht einmal lügen. Es gibt niemals Gewissheit, niemals endgültige Wahrheiten.“ „Ist das der Grund, warum du dich selbst als Opfer benutzt, obwohl du nicht einmal neben mir schläfst, wenn ich wach bin?“ „Nein, das sind unterschiedliche Motive.“ „Das war eine rhetorische Frage.“ „Beim ersten ist es Kalkül“, ignorierte L den Einwurf, „also ein ganz anderes Ziel und ein von mir provoziertes Ergebnis. Die zweite Angelegenheit hat dagegen nur etwas mit Naivität zu tun.“ „Man könnte es auch Vertrauen nennen“, ergänzte Light trocken. L stieß fast verächtlich die Luft aus. Es vergingen einige Sekunden, bis er rational einlenkte: „Natürlich muss man sich zwangsläufig auf manche Menschen im Umfeld verlassen. Trotzdem, und das kann ich dir mit absoluter Gewissheit versichern, Light-kun, ist ein Grundsatz im Leben eindeutig von Vorteil, den man sich immer wieder vor Augen halten sollte: Erwarte von niemandem irgendetwas, außer das Schlechteste. Wenn du so denkst, dann wirst du auch nicht enttäuscht.“ „Geht das denn?“ Light erwiderte den Blick seines Partners, ernst und nachdenklich, dann senkte er die Augenlider und schaute abwesend auf die Schatten in den Falten der Bettdecke. Seine Stimme klang dumpf, als er sprach: „Kann man sich so unabhängig machen, dass man niemals etwas erwartet? Keinem einzigen vertraut? Selbst wenn man sich unentwegt einredet, allem und jedem misstrauen zu müssen, wird man im Fall einer Enttäuschung wirklich so unerschütterlich bleiben können?“ „Vertrauen hat nichts mit einer Erwartungshaltung zu tun“, sagte L müde. „Auch wenn man jemandem vertraut, sollte man immer mit Enttäuschungen rechnen. Weißt du, warum das so ist, Light-kun?“ Der Angesprochene hörte zu, obwohl er nicht reagierte. Er spürte ein Stechen in seiner Brust und Erschöpfung hinter der Stirn. Es kam Light vor, als spiegelten sich seine eigenen Emotionen im Tonfall von Ls Worten wider. „Weil Vertrauen nur ein Gefühl, keine verstandgestützte Erwartung ist. Durch Vertrauen bringt man einem anderen Menschen beispielsweise Wertschätzung entgegen. Aber indem man sich auf jemanden verlässt, idealisiert man ihn nur. Ohne es zu merken, übt man damit Druck aus.“ Light merkte, dass Ls Blick weiterhin auf ihm ruhte. Der Detektiv schien nicht auf ihn eindringen, ihn nicht herausfordern zu wollen. Ganz im Gegenteil, seine Erklärung wirkte beinahe wie eine Entschuldigung. Selten genug kam es vor, dass L so viel über ein zwischenmenschliches Thema sprach. Vielleicht war das der Grund, warum Light schwieg. Schwerfällig richtete sich L in eine sitzende Position auf, als würden unsichtbare Fäden seinen Leib umspinnen, um ihn niederzudrücken, ihn festzuhalten und zu beschützen. „Entscheidend ist, von wem die entsprechende Haltung ausgeht, Light-kun. Es mögen vielleicht nur Worte sein, aber sie haben in jeder Aussage eine spezielle Wirkung und gestalten damit die Realität.“ Während des Redens hob L sehr langsam den Arm. „Ich sage, ich verlasse mich auf dich, und du spürst unwillkürlich, wie deine Schultern schwerer werden.“ Seine Hand senkte sich auf die Schulter seines jungen Partners; unter der Kleidung konnte Light spüren, wie warm sie noch immer war. „Umgekehrt ist es genauso. Die Worte, du kannst dich auf mich verlassen, ringen vielen nur ein freundliches Lächeln ab. Fühlt man sich dadurch besser? Klingt es nicht vielmehr so, als wollte man sagen...“ L machte eine winzige Pause, in welcher er den Druck seiner Berührung kaum merklich intensivierte. „...du bist zu schwach, um es allein zu schaffen? In Wirklichkeit spendet so eine Versicherung nur demjenigen Kraft, der sie ausspricht. Nur er allein kann sich danach stark fühlen.“ „Stattdessen sollte man also lieber von Vertrauen sprechen“, fragte Light, ohne dass es nach einer Frage klang. „Ich vertraue dir“, sagte L und starrte ungebrochen in die abgewandten Augen seines Freundes. „Ein solcher Satz belastet nicht. Er vermittelt demjenigen, der ihn hört, normalerweise ein gutes Gefühl und Zuversicht. Denn Vertrauen belastet einen Menschen nur, wenn er etwas zu verbergen hat oder wenn er sich selbst nicht trauen kann.“ Light schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Berührung seines Freundes. Seit wann kam sie ihm nicht mehr so kalt vor? Es ging nicht um Wortklauberei, wie L es vorhin genannt hatte. Jeder Satz entfaltete im Kontext und von Person zu Person verschieden seine jeweilige Wirkung. Es war ein Sprachspiel, das jeder anders verstand. Doch L ging es um mehr als das. Er konfrontierte Light nicht nur mit seinem Verdacht, sondern auch mit der unumgänglichen Konsequenz. „Gibt es denn“, wollte Light ganz leise wissen, „keinen Weg?“ „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, was du tun kannst, Light-kun“, antwortete L sanft. „Was auch passiert, es spielt keine Rolle, ob du Kira bist oder nicht, meine Reaktion wird dieselbe sein. Egal, was du tust, du wirst mich auf jeden Fall enttäuschen.“ Light öffnete die Augen. Er hob den Kopf und suchte nach der Schwärze im trostlosen Blick seines Freundes. Es tat weh. Es tat weh, dass L sich erneut selbst widersprach.   Mogi und Misa verabschiedeten sich. Man merkte dem robust gebauten Polizisten deutlich die Anspannung hinter seiner Motivation an. Die Rolle als neuer Manager Misas wollte ihm nicht so recht passen, doch aus Verantwortungsbewusstsein hätte Mogi jede Aufgabe übernommen, der er sich gewachsen fühlte. Misa dagegen machte nicht den Eindruck, als wäre sie in irgendeiner Weise nervös. Sie genoss die Möglichkeit, für Light eine Hilfe zu sein. Die Gefahr war ihr völlig egal. „Passt auf euch auf“, waren die letzten Worte, die Light ihnen besorgt mit auf den Weg gab, bevor sie mit dem Wagen, einem silberfarbenen Mercedes, zum Vorstellungsgespräch bei Yotsuba fuhren. Dort würden nicht nur die Mitglieder des Konzerns auf sie warten, unter denen sich aller Wahrscheinlichkeit nach Kira befand, sondern auch Aiber, hinter der Maskierung von Erald Coil. Endlich hatte der Einsatz begonnen. Jetzt saß Light im zentralen Überwachungsraum und lauschte dem beständigen Surren seines Computers, begleitet von den aufgeregten Schritten Matsudas, der in der Mitte des Raumes unentwegt im Kreis lief und nicht zur Ruhe kommen konnte. L hatte sich eben erst vor die Monitore auf einen Stuhl gehockt und kämpfte gegen dessen Drehbewegung an, während er sich näher an den Tisch heranzog. Alles war eingeschlossen in eine schweigsame Phase des Wartens. Datenpakete flimmerten über Lights Bildschirm. Wie er es sich vorgenommen hatte, überprüfte er die Morde, die nach der bei seiner Inhaftierung aufgetretenen Pause verübt worden waren. Im Zuge der Ermittlungen sprachen L und er einerseits von Kira als jener Person, die zuerst mit all dem begonnen hatte, andererseits war Kira eine Art Kraft, die jeden weiteren in seinen Fußstapfen auszeichnete. Es war die reine Macht des Tötens. Mittlerweile gingen sie davon aus, es müsste mindestens drei Menschen mit dieser Kraft geben. Nacheinander waren der erste und zweite Kira aufgetaucht, doch unterschied sich der jetzige Kira wiederum von den beiden ersten, die seit seinem Auftauchen spurlos verschwunden waren. Es war nicht bloß eine Reduzierung, sondern vielmehr ein Wechsel oder ein Schlagabtausch. Unverändert war allein die Macht geblieben. Je mehr Daten Light miteinander verglich, desto deutlicher kristallisierte sich diese Dissonanz heraus. Er sah einen Familienvater, der einen vorbestraften Triebtäter erschossen hatte, weil seine minderjährige Tochter von diesem vergewaltigt worden war. Er sah einen frisch verheirateten Mann, der noch nicht lange seinen Führerschein besaß und wegen einer Unachtsamkeit im Straßenverkehr einen Menschen getötet hatte. Er sah eine Ehefrau, die jahrelang von ihrem Mann geschlagen worden war und ihm deshalb Gift ins Essen gemischt hatte. Sie alle waren tot, gerichtet durch den dritten Kira. Es war unmenschlich. Kein Gerechtigkeitsempfinden war in diesem Vorgehen zu entdecken. Der erste, der wahre Kira hätte solche Morde niemals begangen. Eine idealistische Einstellung und die Berücksichtigung mildernder Umstände fehlten völlig beim neuen Kira. Er setzte sich nicht für das ein, wofür Kira eigentlich stand. Betrachtete Light hingegen die Ermordungen der Anfangszeit, waren die Bemühungen um Gerechtigkeit deutlich zu spüren. Vertieft in seine unheilvollen Überlegungen nahm Light einen toten Namen nach dem anderen in sich auf und hatte doch schon längst begriffen, womit er konfrontiert war: Wenn er selbst Kira wäre, würde er ganz ähnlich richten. Er würde bedacht entscheiden. Gerecht. Aber das war Unsinn. Um welchen Kira es sich auch handeln mochte, sie waren ohne Ausnahme Massenmörder. Hier existierte keine Frage nach Gerechtigkeit. Darum waren auch solche Gedanken völlig fehl am Platz. Trotzdem... die Grundlagen, auf denen der vorherige Kira seine Urteile gefällt hatte, waren Light auf unheimliche Weise äußerst vertraut. Es war verrückt. Er musste endlich damit aufhören. Er durfte Kira nicht auf sich selbst projizieren. Nicht noch mehr. Aber L hätte diesen Unterschied ebenso bemerken müssen. Warum hatte er nichts zu ihm gesagt? Oder war es vielleicht doch nur etwas, das einzig Light sehen konnte, weil er es so gut verstand? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)