[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 25: Persona ------------------- Persona   Obwohl Light derjenige war, den der Blick aus den durchdringend schwarzen Augen derart schmerzte, dass seine Kehle zu brennen schien, war es L, der sich zuerst abwandte. In Windeseile hatte er seine Blöße bedeckt, seine Jeanshose wieder hinaufgezogen und die von den Metallfesseln zerschundene Hand in dem weißen Shirt vergraben. Er sprang vom Bett und schien davoneilen zu wollen, als hätte er vergessen, dass er selbstverschuldet mit dem anderen Mann verbunden war und gar nicht fliehen konnte. Doch sobald er einen Fuß auf den Boden setzte, verließ ihn sämtliche Kraft und er knickte ein. Die verkrampfte Lage auf dem Bett, das zuvor auf ihn ausgeübte Gewicht hatte die Blutzufuhr in seinen Beinen gehemmt, sodass er sie nun kaum zu spüren und erst recht nicht zu belasten vermochte. Seine Gliedmaßen kamen ihm bleiern und taub vor. Nicht zuletzt klang jenes unerträgliche Gefühl in seinem Körper nach. L keuchte wütend. Seine Haltung verkörperte die Möglichkeit, jeden Moment hochschnellen und davonlaufen zu können, doch rührte er sich nicht. Die Möglichkeit war nur eine Illusion. Er konnte nicht mehr davonlaufen. Mit einem Knie auf dem Boden, das andere Bein dagegen zum nächsten Schritt bereit, ließ L die Stirn auf sein angewinkeltes Bein sinken, während er neben dem Bett hockte und seinen schweren Atem zu beruhigen versuchte. Den Kontrollverlust spürte er bis in die Fingerspitzen. Er klammerte sich fester in den Stoff seines Shirts und merkte, wie es darunter unangenehm an seinem Bauch klebte. Das schwarze Haar verdeckte seine Augen. Light konnte den Gesichtsausdruck seines Freundes lediglich erahnen. Wahrscheinlich hielt dieser den Kopf absichtlich gesenkt und versteckte sich hinter dem Vorhang seiner wirren Haare, um nicht zeigen zu müssen, wie gedemütigt er sich fühlte. Wie erstarrt öffnete Light den Mund, sprach jedoch kein Wort, weil es nichts gab, was er hätte sagen, was sein Verhalten hätte rechtfertigen können. Seine geöffnete Handinnenfläche war feucht. Der Schock über sein unrechtes Handeln saß tief in seiner Brust, als hätte er sich in einen Fremden verwandelt, vielleicht in denjenigen, den L unentwegt aus ihm heraus ans Licht zerren wollte. Bereute Light seine Tat? Er konnte es nicht. Endlich regte sich L. Er umklammerte sein linkes Bein und hob den Kopf, um Light direkt in die Augen zu starren. Es lag kein offensichtlicher Zorn mehr in seinem Blick, welcher so unergründlich war, dass es Light schwerfiel, Ls momentanen emotionalen Zustand zu erraten. Wenigstens war es keine Gleichgültigkeit. Vorsichtig erhob sich L und verlagerte probeweise sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als wollte er Zeit gewinnen. Dann überwand er ruhig die kurze Distanz, die durch die Kette zwischen ihm und Light festgelegt war, und schlug dem Jüngeren präzise mit dem Handrücken ins Gesicht. Light war nicht überrascht und ließ es geschehen, doch die Art und Weise dieser Zurechtweisung schmerzte ihn sichtlich. Normalerweise benutzte L seine Füße zum Kämpfen, selten schlug er mit der Faust zu, und normalerweise handelte er bei körperlichen Auseinandersetzungen auch ähnlich wie Light im Affekt. Da er diesmal absichtsvoll und zielgerichtet mit dem Handrücken zugeschlagen hatte, wollte er Light offenbar degradieren und ihn gleichfalls demütigen. „Erwarte nicht von mir, dass ich mich entschuldige“, sagte Light leise, aber mit Bestimmtheit. Was er getan hatte, konnte er mit Worten ohnehin nicht wieder auslöschen. L packte ihn an den Schultern und schaute ihm eindringlich in die Augen. „Ich gebe nichts auf Entschuldigungen“, antwortete er mit ungewohnt rauer Stimme. „Sie können nichts rückgängig machen und nichts erklären.“ Nachdenklich musterte Light seinen Partner. Er überdachte dessen festen, jedoch nicht aggressiven Griff und die weiten Pupillen, die stumm nach Antworten suchten. Wenn L den Jüngeren von sich fernhalten wollte, dann war sein jetziges Verhalten eher kontraproduktiv. Innerlich wehrte sich Light gegen die körperliche Reaktion auf Ls Nähe, denn sobald er aus dessen Mimik las, was soeben zwischen ihnen geschehen war, schweiften seine Gedanken ab und die Kontrolle drohte ihm erneut zu entweichen. Mit trockener Kehle fragte Light, wobei er den Kopf zur Seite wandte: „Du willst es also ungeschehen machen?“ „Das habe ich nicht gesagt, Light-kun. Ich will es nur verstehen.“ Ls Hände glitten herab. Er drückte mit der Geste einer merkwürdig sanften Entschiedenheit Light von sich, sodass dieser schwankend ein paar Schritte bis zur Wand zurückwich und tonlos sagte: „Das will ich auch.“ Hoffentlich ging es bald vorüber. Light registrierte seine eigenen Aussagen nur flüchtig und schenkte ihnen kaum Aufmerksamkeit, weil er dafür keine Konzentration aufbringen konnte. Er spürte das Prickeln von der Ohrfeige auf seiner Wange und spürte es doch nicht, weil sein Schmerzempfinden im Augenblick gedämpft war. Und obwohl sich das Herz in seiner Brust verkrampfte, konnte Light das dumpf nachhallende Gefühl der Erregung nicht ignorieren. „Kannst du die Handschellen bitte öffnen?“, fragte er aufschauend. L schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich.“ „Nein“, antwortete der Meisterdetektiv entschieden. „Verflucht!“ Light atmete schwer ein und wieder aus, stützte sich mit dem linken Arm an der Wand ab und wandte dem Anderen den Rücken zu. Als er plötzlich Ls Hand auf seiner Schulter fühlte, senkte er resignierend den Kopf. „L...“, sagte er mit schwacher Stimme. Mehr musste er nicht erklären. Ihm war bewusst, dass der Detektiv seine Lage längst erkannt hatte. Als L beobachtete, wie Light mit sich rang, lächelte er leicht und sagte: „Warum nennst du mich so? Du hast gesagt, jeder Name, den ich für dich verwende, entspräche der Rolle, die ich dir im jeweiligen Moment gerade zuschreibe, oder? Das ist soweit nichts Außergewöhnliches, schließlich macht das jeder Mensch. Darum frage ich dich nun meinerseits, wen siehst du in mir, wenn du mich, was selten genug vorkommt, L nennst?“ „Was weiß ich...“ Unwirsch wollte Light die Frage abtun, doch dann dachte er darüber nach und entschied sich anders. „Wahrscheinlich mache ich das immer dann, wenn es mir so vorkommt, als würdest du dich verhalten, wie du wirklich bist. Aber eigentlich ist das Verstehen zwischen uns nur eine Momentaufnahme. Oft erkenne ich dich gar nicht. Ich meine damit, dass ich dich nicht greifen kann. Es ist, als wärst du mir völlig fremd.“ „Wie ich wirklich bin, Light-kun? Du weißt, dass es das nicht gibt, dieses wirkliche Selbst. Allenfalls in absoluter Einsamkeit auf einer Art Hinterbühne, doch selbst dort wird es so etwas vermutlich nicht geben. Jedem Menschen gegenüber nimmt man eine bestimmte Rolle ein und verhält sich dementsprechend. Diese Rollen und Masken gehören genauso zum eigenen Ich wie der ganze Rest der Persönlichkeit.“ „Willst du damit sagen, du erscheinst mir nicht nur wegen deiner vielen Lügen so diffus und schwer greifbar, sondern auch deshalb, weil du mir gegenüber gleich mehrere Rollen abwechselnd spielst? Als Ankläger und Rivale, aber auch als Partner und Freund?“ „Wer weiß...“, meinte L leichthin. Seine Stimme klang dumpf, seine Worte erschienen wie abwesend gesprochen. „Vielleicht ist das die Antwort, vielleicht aber auch nicht.“ Light seufzte bitter und sagte: „Mit dir sind manche Sachen viel komplizierter als mit anderen Menschen. Aber gleichzeitig sind andere Dinge so viel einfacher. Du machst es mir leicht und du machst es mir auch unglaublich schwer.“ „Lass uns ins Bad gehen.“ L nahm die Hand von Lights Schulter. „Ich muss mich sauber machen. Glaub nicht, dass du der Einzige bist, der sich der Demütigung aussetzen muss, wenn ich die Handschellen nicht öffne. Vergiss das nicht, Light-kun.“ Warum hörte es nicht auf? Nervös folgte ihm Light in das Badezimmer und ärgerte sich darüber, dass er die Kontrolle nicht zurückerlangen konnte. Lag es an der langen Zeit der Abstinenz? An ihm selbst, seiner mangelnden Selbstdisziplin? An L und einem emotional falsch interpretierten Verlangen nach Anerkennung? Der Detektiv stellte sich vor das Waschbecken, entledigte sich des weißen Shirts und warf es verächtlich in eine Ecke des Badezimmers, wo bereits die Handschellen lagen, die er kurz zuvor geöffnet hatte. Light wandte sich ab und versuchte so rasch wie möglich, und doch mit linkischen Bewegungen, sich zu entkleiden. Danach stieg er in die Duschkabine, unentwegt darauf bedacht, L den Rücken zuzukehren. Er starrte auf die hellen Fliesen an der Wand und sah wieder die mangels Schlaf dunkel umschatteten, geschlossenen Augen. Wollte er die Kontrolle überhaupt behalten? „Tu dir keinen Zwang an“, sagte L hinter ihm und berührte Light scheinbar flüchtig an den Lenden. Sofort griff dieser nach vorn, um das kalte Wasser aufzudrehen, sodass der Andere von ihm abließ. „Du findest das wohl amüsant?“, fragte er dann. L antwortete nur: „Auge um Auge.“   Im nüchternen und wachen Zustand gab es nur eine einzige Welt. Trotz verschiedener Gefühle, trotz des Anspruchs jedes Einzelnen, allein um die eigenen Emotionen zu wissen, mussten Individuen für den Erhalt der Gesellschaft das Zugeständnis machen, dass sie einander verstehen konnten. Wie konnte man von jemandem verlangen, Rücksicht zu nehmen, wenn man ihm nicht zubilligte, dass er alle Gefühle aus eigener Erfahrung kannte? Die Hinterbühne lag in Einsamkeit. Der Traum war vielleicht der einzige Ort für diese Hinterbühne. Light suchte vergeblich nach Schlaf, während er reglos im Bett lag. Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, dachte er und starrte hinauf in die Dunkelheit. Schlafen wir aber, so hat ein jeder seine eigene. Er wusste, dass ihm dieser Ort längst genommen worden war. Es war schwer, jede Sekunde des Tages mit einer anderen Person teilen zu müssen, ohne Privatsphäre, ohne einen Moment des Innehaltens und Luftholens. Was es so schwer machte, war die permanente Konfrontation mit sich selbst.   Der nächste Tag brach an. Light warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm sein Vater zur bestandenen Aufnahmeprüfung an der Universität geschenkt hatte. Dann schaute er auf die Datumsanzeige seines Computers. Morgen war der achtundzwanzigste Oktober. Der Tag, an dem ihr Plan in die Tat umgesetzt werden würde. Derweil saß L in seiner üblichen Haltung auf dem Sofa. Vor ihm auf dem Glastisch war ein Teegedeck ausgebreitet. Verteilt auf mehreren Tellern waren zur Jahreszeit passende Nerikiri angerichtet, ein marzipanähnlicher Teig, der zierlich zu kleinen Kunstwerken geformt worden war. Die Süßigkeiten sahen aus wie buntes Herbstlaub. L nippte an seinem weißen Tee und warf noch ein weiteres Stück Zucker hinein. Ihm gegenüber saß Herr Yagami im Sessel, trank seinen Kaffee mit etwas Milch und ohne Zucker, während er ernst in den Seiten der aktuellen Zeitung blätterte. Selten war Light so sehr wie in diesem Moment bewusst, dass sich die öffentlichen Situationen stark von denen im Privaten unterschieden. Weder L noch ihm war anzumerken, dass sich etwas verändert hatte oder dass die beiden Ermittler sich anders zueinander verhalten würden. Es war, als wäre nie etwas geschehen, als würde sich nie etwas zwischen ihnen im Auge eines Außenstehenden verändern. Waren ihnen die Rollen, die sie im Team spielten, schon in Fleisch und Blut übergegangen? Light kam es eher so vor, als würde es ihn mehr Anstrengung kosten, sich nicht zu verstellen. War es denn überhaupt Verstellung oder Lüge, wenn jede seiner Masken zu ihm gehörte und ein Abbild seiner wahren Persönlichkeit darstellte? „Das ist unfassbar!“, rief Herr Yagami empört aus. „Jetzt werden in der Zeitung schon statistische Erhebungen zu den vermutlichen Kira-Morden abgedruckt, um, wie es heißt, eine prozentuale Verteilung herauszustellen.“ Interessiert stand Light auf und ging zu seinem Vater hinüber. Dieser fuhr fort: „Dabei wird noch nicht einmal berücksichtigt, wie stark zum Beispiel die Verbrecher aus den jeweiligen Milieus überhaupt im Gefängnis vertreten sind. Man stellt sich offenbar die Frage, ob Kira rassistische Tendenzen aufweist oder ähnliches.“ „Wie gerecht sind seine Urteile wirklich?“, las Light ungläubig vor, während er seinem Vater über die Schulter schaute. „Wie kann man da überhaupt von Gerechtigkeit sprechen?“, fügte der ehemalige Polizeiinspektor hinzu. „Die Menschheit brauchte Jahrhunderte, um ein funktionierendes Rechtssystem aufzubauen, nur damit irgendjemand ohne jede Justizgewalt dahergelaufen kommt und mit seinen vermeintlichen Idealen alles über den Haufen wirft.“ „Es wäre zumindest nicht das erste Mal“, kommentierte L leise. „Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Professoren der Welt können keinen erschaffen.“ „Ich glaube nicht, dass Kira alles über den Haufen wirft“, meinte Light nachdenklich. „Die Polizei mag uns im Stich gelassen haben, aber die Instanz an sich wurde deshalb nicht abgeschafft. Sie wird zwar gerade unter Druck gesetzt, aber die Vergangenheit hat oft genug gezeigt, dass sich ständig ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, der nach Extremsituationen trotzdem zu den Wurzeln zurückfindet. Es ist nahezu lächerlich, zu behaupten, die Demokratie zöge sich wie eine roter Faden von der griechischen Antike durch die Geschichte bis zur heutigen Zeit, weil jeder Staat sein einzigartiges System mit sich bringt. Kira führt momentan ein tyrannisches Regiment über die ganze Welt, doch Staaten werden sich in Unabhängigkeit immer an ihre Traditionen halten, die sie lediglich im System institutionalisiert haben, um ihnen den Anschein eines durchdachten Komplexes zu geben.“ „Aber wenn Kira nun seine Herrschaft behält...?“ Herr Yagami stellte diese Spekulation nur ungern in den Raum. Er würde alles Erdenkliche tun, um das zu verhindern. „Früher oder später wird diese Schreckensherrschaft zusammenbrechen.“ L sprach seine Mutmaßung derart selbstsicher aus, als hätte er sie zuvor hinreichend belegt. „Kiras Weltanschauung ist zu melioristisch, um Bestand zu haben. Die Erschaffung einer Utopie ist das Eine. Jeder ist sich darüber im Klaren, dass es sich nur um eine Illusion handelt. Doch der Irrglaube, dass wir in der Zukunft einen vollständig guten Zustand erreichen, wird im Sande verlaufen. Es scheitert schon daran, einen genügend charismatischen Führer zu finden, der die Ideologie auf angebrachte Weise fortsetzt. Außerdem wird es, genauso wie es Menschen gibt, die Kira beipflichten, auch immer Menschen geben, die sich von ihm unterdrückt fühlen werden. Der Schrei nach Freiheit führt irgendwann fast immer zu Reformation oder Revolution.“ „Aber werden die Bürger nicht zu große Angst haben, sich jemals aufzulehnen?“, fragte Herr Yagami stirnrunzelnd. „Gewaltsam getötet zu werden hat die Menschen in den vorigen Epochen nicht davon abgehalten, die Machtinhaber anzugreifen. Schließlich geschah das für die Ehre. An die Namen derjenigen kann man sich noch heute erinnern. Aber Kira tötet auf unentdeckte Weise. Man würde sang- und klanglos untergehen, ohne etwas erreicht zu haben oder einen Märtyrertod gestorben zu sein, dem die Nachfolger gedenken.“ „Macht durch Furcht aufzubauen ist keine Neuheit, Vater.“ Light stützte seine Arme auf die Rückenlehne des Sessels. „Natürlich nutzen viele Staaten, besonders diktatorische, das Streben nach einem Ziel, um das Gemeinschaftsgefüge zu stärken. Doch das Fürchten steht vor dem Wünschen. Man wird schneller aktiv, wenn man befürchtet, es könnte noch schlechter werden, als dass man sich erhebt, damit ein bereits akzeptabler Zustand noch besser wird. Meistens gewöhnen sich die Bürger nach und nach an ihre Situation. Sie lehnen sich erst dann auf, wenn es nicht mehr anders möglich ist, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, weil jede Konsequenz ihres Aufstands besser wäre als das Leben, das sie führen müssen.“ „Darüber hinaus“, schloss sich L der Aussage seines Partners an, „folgt das Volk nur seinem vorbestimmten Weg, denn selbst ein Aufstand wird meist von einem Anführer angezettelt, der nicht weniger charismatisch ist als das Oberhaupt selbst. Überhaupt unterscheidet sich der Bürger vom Sklaven nur in der Art der ihn antreibenden Stimuli. Ein Sklave wird bestraft, wenn er etwas falsch macht, Bürger dagegen werden belohnt, wenn ihre Handlungen Erfolg mit sich bringen. Eine Lenkung funktioniert aber von beiden Seiten gut. Die Strafe kann weit effektiver sein als der Lohn, aber sie ist auch ungleich gefährlicher. Zu harte Strafen können sich ins Gegenteil verkehren und zum Aufstand führen. Darum muss man die Einflussnahme sehr bedacht setzen, Zuckerbrot und Peitsche in dezenter Ausprägung, mit Sanktionen, die positiv wie negativ sind, aber stets sehr mild und vorsichtig, damit die Masse von der Lenkung nichts merkt.“ „Das klingt, als sei das Volk nur eine Herde aus dummen Schafen“, kritisierte Herr Yagami die Darstellung des Meisterdetektivs. Der ältere Mann wusste, dass die Masse leicht zu beeinflussen war, aber dennoch wollte er an das Gute in ihnen glauben, an ihre Aufrichtigkeit und Selbstbehauptung. Sein Sohn, der hinter ihm stand, pflichtete ihm bei. „Nur weil sich die Bürger lenken lassen, geben sie deshalb nicht gleich vollständig ihr Denken und ihre Verantwortung ab. Freier Wille bedeutet nicht die Freiheit des Willens, sondern die Freiheit des Wollenden, denn frei ist in diesem Fall niemand und doch jeder gezwungenermaßen.“ L zuckte mit den Schultern und meinte: „Dann besteht ihre Freiheit wohl nur noch darin, sich auszusuchen, wovon sie sich lenken lassen. Früher war Unwissen ein gefährlicher Faktor, doch heutzutage sind die Menschen weltweit miteinander vernetzt, sodass die ungezähmte Preisgabe von allem zur neuen Hydra geworden ist, ein Netzwerk, das um sich greift, egal wie viele Köpfe man ihm abzuschlagen versucht. Ein ständiger Informationsaustausch findet statt, der ein Segen, aber auch ein Fluch sein kann. Öffentlichkeit ist global und unkontrollierbar geworden.“ „Ob Flugblatt oder Weblog, ein öffentlicher Aufruhr der Masse war noch nie leicht unter Kontrolle zu bringen“, gab Light zu bedenken, „und es hat meistens dazu geführt, dass neue Ideen sich einen Weg bahnten, neue Ausdrucksformen der Meinungsäußerung oder Kunst und Kultur. Jeder ausgeübte Druck findet irgendwo auch ein Ventil.“ „Ist Fortschritt und Kultur dann nur das krankhafte Resultat unserer eigenen Unterdrückung?“, fragte L rhetorisch und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger ein Nerikiri hoch, das geformt war wie ein roter Apfel. „Die Motivation unserer technisch weiten Entwicklung hieße demnach Kapitalismus und somit oftmals auch Krieg.“ „Das ist doch nur eine Behauptung!“, widersprach Herr Yagami und faltete die Zeitung zusammen. „Stimmt“, gab L scheinbar bereitwillig zu, „nur eine Behauptung, die sich schwer belegen lässt.“ Alles weitere, was es noch zu sagen gab, hob sich der Detektiv für später auf, wenn er mit Light allein sein würde. Es ergab schließlich mehr Sinn, mit jemandem darüber zu sprechen, der in realistischeren Bahnen dachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)