[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 61: Ein kalter Tag im November -------------------------------------- Ein kalter Tag im November   „Natürlich“, gratulierte Light dem Meisterdetektiv in desolater, zynischer Belustigung, „jetzt ergibt alles einen Sinn. Du sagtest, du rechnest menschliche Emotionen bei deiner Ermittlungsarbeit mit ein. Und du ließest Dinge geschehen, um zu sehen, was sich daraus ergibt, sogar wenn du dich dabei selbst als Köder aufs Spiel setzen musst. Ich war unvorsichtig, verunsichert, verwirrt, habe am laufenden Band Fehler gemacht. Glückwunsch, L. Ich bin dir voll in die Falle gegangen.“ „Light-kun, nein, ich...“ „Genug!“, schnitt dieser ihm das Wort ab. „Du musst mich nicht noch mehr erniedrigen, obwohl ich es verdient habe. Wie konnte mir das...?“ Seine bebende Stimme erstarb. Light hasste sich dafür und hielt weiterhin den Kopf gesenkt. Leise und stockend lachte er über seine eigene Dummheit und rang dabei vergeblich nach Luft, sodass es zwischen seinen Atemzügen klang, als würde er schluchzen. Es tat weh. Es tat so verdammt weh. Er starrte auf seine Hosenbeine, seine Sicht verschleiert. Wenn er kurz zuvor noch gedacht hatte, er könne sich kaum stärker gedemütigt fühlen, dann wurde er nun eines Besseren belehrt. In diesem Moment wäre Light dankbar gewesen, auf der Stelle von diesem zerreißenden Schmerz befreit zu werden. Das hier war die schlimmste und qualvollste Niederlage von allen. „Und nun, L? Möchtest du es jetzt zu Ende bringen? Schließlich bin ich das Monstrum, das du töten willst, weil du dich fälschlicherweise als gerecht bezeichnest. Dabei ist Kira die einzig wahre Gerechtigkeit.“ Seine eigenen Aussagen kamen ihm wie inhaltslose Hüllen vor. Dennoch klammerte er sich an sie wie ein Ertrinkender an die Planken seines gesunkenen Schiffes. Es war das Einzige, das er jetzt noch hatte. „Kira ist nur ein geisteskranker Massenmörder“, erwiderte L, „und ich frage mich, ob es nicht sogar gnädig wäre, ihm seine Bürde abzunehmen und ihn zu töten.“ Jeder Satz schien Light eine weitere Wunde zu schlagen. Ein kleiner, menschlicher Teil von ihm wünschte sich, L würde anders mit ihm umgehen. Der andere Teil jedoch redete mit der Stimme seines eigenen vergifteten Geistes, als spräche Kira selbst, niederträchtig auf ihn ein. Du bist so ein Dummkopf, Light. Sieh dich an, so schwach und erbärmlich. Und du willst die Menschen beschützen? Du kannst dich ja nicht einmal vor dir selbst schützen. L hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals geliebt. Er hat dich niemals... „Das kannst du nicht“, übertönte Light seine sich im Kreis drehenden Gedanken und schüttelte abwehrend den Kopf. „Recht wird von der Masse der Gesellschaft bestimmt. Die meisten stehen mittlerweile hinter Kira und akzeptieren ihn als die Gerechtigkeit. Das heißt, wenn du mich tötest, tust du automatisch Unrecht.“ Ryuk brach in schallendes Gelächter aus. Maliziös sirrte das Lachen durch den Raum und hallte wie ein Donnern von den Wänden wider, bevor es in einem krankhaften Kichern verebbte. Bei diesem teuflischen Geräusch stieg Übelkeit in Light auf. Eine eisige Gänsehaut vereinnahmte seinen gesamten Leib. Schwindelerregende Haltlosigkeit bemächtigte sich seines Verstandes, jenem Gefühl vergleichbar, das man empfand, wenn man auf einem schmalen Grad über dem Abgrund balancierte, zwischen Höhenflug und Sturz, zwischen Glorie und Wahnsinn. Zum Schluss wurde Gottes Untergang also durch sein personifiziertes satanisches Gespenst herbeigeführt, von dem er seit Anbeginn seiner Schöpfung besessen war. „Es stimmt, Light-kun“, lichtete eine lindernd ruhige Stimme seine mentale Vernebelung. „Ich kann es nicht.“ Das Denken fiel Light schwer, war einerseits zähflüssig, andererseits rasend und holprig, seinem unkontrollierten Herzschlag ähnlich. L konnte es nicht. Was konnte er nicht? Fortdauernd von einem Kichern geschüttelt schob Ryuk sein Death Note zurück in das Halfter und schnallte es mit einem Riemen fest. Rem hingegen blieb völlig ungerührt. Sie betrachtete den halb auf dem Boden knienden Mann geringschätzig, jedoch ohne offensive Aggression. Light fokussierte geistesabwesend ihre unverhüllte, schlitzförmige Pupille und hörte sich selbst an den Meisterdetektiv gewandt sprechen, noch bevor er sich seiner eigenen Erkenntnis wirklich bewusst war. „Hast du Rem etwa versichert...?“ „Deine Kombinationsgabe ist wie stets beachtlich“, formulierte L eine anerkennende Bestätigung. „Ich musste wohl oder übel Amane mit ins Boot holen. Sie wird es verstehen, wenn wir ihr erklären, dass niemand von deiner, nennen wir es, geheimen Mission erfahren darf. Es ist, nach der Lösung des Falles, am wichtigsten, Kira aus dem Verkehr zu ziehen.“ Die Worte sickerten nur allmählich zu Light hindurch, einen Inhalt vermittelnd, den er erst sukzessive zu entschlüsseln vermochte. „Wenn ich dich hinrichten lasse“, fügte L hinzu, „würde Rem wahrscheinlich mich töten. Das wäre trotz Kiras Ableben kein guter Dienst an der Menschheit, schließlich ist L ein wichtiger Faktor für die Sicherheit der Welt, nicht wahr? Ich konnte Rem keine Gewissheit dafür geben, dass Amane sich nicht aus Liebeskummer tötet, wenn du stirbst, darum habe ich ihr versprochen, nicht bloß Misa-san, sondern auch dich zu verschonen.“ „Allein ein Death Note kann einen Effekt auf die Lebenszeit eines Menschen haben“, widersprach Rem hierauf gleichgültig. „Der Tod von Yagami Light wird, solange nicht durch den Eintrag seines Namens vollzogen, keinen Einfluss auf Misas restliche Lebenszeit haben. Meinetwegen wäre es mir recht, einfach zu sagen... bring ihn um.“ Sie trat einen Schritt auf die beiden Männer zu und baute sich in voller Größe vor ihnen auf, während sie Light mit ihrem einzig sichtbaren Auge durchbohrte. „Vor meiner Bekanntschaft mit Misa habe ich niemals eine derartige Sympathie für jemanden empfunden. Auf der anderen Seite, indem ich dir begegnete, Yagami Light, lernte ich auch, was purer Hass bedeutet. Es ist wahrlich selten, welch Genugtuung ich allein bei der Vorstellung daran empfinde, deinen Namen in mein Death Note zu schreiben, zusammen mit diversen Ergänzungen, die dich dazu zwingen würden, dir bei lebendigem Leibe deine Extremitäten abzuschneiden oder dir eigenhändig die Haut vom Fleisch herunterzureißen.“ In der Tat, das war bestimmt keine wohltuende Angelegenheit. Resultierend aus seiner derzeitigen emotionalen Verfassung konnte sich Light allerdings leidlich ausmalen, wie es sich anfühlen musste, in Stücke gerissen zu werden. „Nichtsdestotrotz“, relativierte Rem, „möchte ich, dass Misa glücklich ist. Und das ist sie nur, solange Yagami Light lebt. Es ist besser, wenn ich auf diese Weise über sie wache, anstatt durch meine Auslöschung jegliche Kontrolle zu verlieren.“ Sie hob eine ihrer Skelettpranken und richtete eine Kralle direkt auf Lights Gesicht. „Dir fehlen jetzt die Mittel, um Misa etwas anzutun. Ich werde aufpassen, dass ihr nichts geschieht.“ Ihr Zeigefinger wanderte hinüber zu L. „Auch auf dich werde ich achten, damit du dich an unsere Vereinbarung hältst.“ Daraufhin meinte L gleichermaßen verblüfft wie leichtfertig: „Obwohl wir selbst die Todesgötter für unsere Belange benutzten, halten sie uns umgekehrt quasi als Geiseln. Nun, es hätte nichts geändert.“ Seinem typischen Gebaren entsprechend vergrub er die Hände in den Taschen seiner ausgeleierten Jeanshose und fixierte Light wie eh und je, nicht länger gehemmt vom vorgeführten Bühnenstück, das mit dem Fallen des Vorhangs zum Abschluss kam. „Ich hätte dich ohnehin nicht töten wollen. Ich sagte, du würdest deiner Bestrafung nicht entgehen und das Leben von Yagami Light fände hiermit ein Ende. Das war soweit auch richtig.“ „Aber der Rest war gelogen, Light!“, platzte es glucksend aus Ryuk heraus. „L ist fast so gut wie du, wenn er sein Umfeld nach Strich und Faden belügt! Ich könnte dich jederzeit in mein Death Note schreiben, war sogar nah dran, es echt zu tun, als du dich so bescheuert aufgeführt hast. Doch es gibt noch etwas, das ich viel interessanter finde. So eine absurde Entwicklung hätte ich mir nie träumen lassen. Die Rettung nach Kiras finaler Ansprache! Wie heroisch, Light. Ich musste aufpassen, dass ich unterdessen nicht lospruste.“ Während Lights Mimik erstarrt blieb, musterte L den lachenden Todesgott skeptisch. Teils angewidert, aber ohne erkennbare Emotion im Tonfall, fragte er seinen jungen Kollegen: „Ist der immer so?“ „Meistens“, antwortete Light mechanisch. Ein vom furchteinflößenden Kichern erfülltes Schweigen nahm einige Sekunden den Raum zwischen ihnen ein, bis sich ein entrücktes Lächeln auf die Lippen des jungen Mörders stahl. „Da keiner von euch mich töten will, kannst du doch ganz unbehelligt Ls Namen aufschreiben, Ryuk. Du wirst es nicht bereuen.“ „Doch, würde ich“, korrigierte dieser amüsiert und unbedarft. „Vielleicht nicht so sehr wie du, aber immerhin. Es würde langweilig werden ohne ihn. Außerdem mag ich L. Ich denke da wie du, Light. Menschen sind so armselig und trotzdem interessant. Bei ihnen wird einem nicht langweilig und wenn sie interessant sind, dann macht es umso mehr Spaß, mit ihnen zu spielen. Ich bin gespannt, wie du dich hier wieder rauswinden willst.“ Vollends in sich zusammensackend ließ Light die Schultern, den Kopf, die braunen Haare in sein gesenktes Gesicht hängen und blickte leer zu Boden. Wurde Kira begnadigt? Oder war dies seine Verurteilung? Er verspürte ein widersprüchliches Gemisch aus Misstrauen und Abneigung jener inakzeptablen Amnestie gegenüber, dazu den Wunsch nach Buße genauso wie nach Befreiung und letztlich Erleichterung darüber, dass die Vollendung der Menschheit nicht gänzlich misslungen und erst recht nicht verloren war. Derweil drang in die Wirrnis seiner Gedanken die ruhige Stimme des Meisterdetektivs. „Es tut mir leid, dass ich deinen Vater mehr oder minder anlügen musste, aber er würde dich töten, wenn du ihm in die Hände fällst. Andernfalls, wenn du dein Gedächtnis verlieren und weiter mit deiner Familie leben würdest, wäre die Bürde des Wissens um deine Schuld eine Last, die ich ihm nicht auferlegen möchte. Yagami Light wird als verschollen gelten, wahrscheinlich in den Selbstmord getrieben anhand einer Manipulation von Kira. Durch diese Maßnahme habe ich dich am Ende doch getötet.“ Die Existenz von Yagami Light wurde eliminiert. Angespannt schaute der gefangene Mörder hinauf zu seinem Richter. Denn endlich verstand er, was mit dieser Formulierung gemeint war. In kurzen Bahnen auf und ab laufend erklärte L nachdenklich: „Bei ihrer Inhaftierung habe ich erleben dürfen, wie überaus verschwiegen Amane Misa ist. Auf diese Diskretion können wir guten Gewissens bauen. Sie wird niemandem etwas verraten. Wir lassen sie in dem Glauben, du seist zusammen mit L noch immer auf der Suche nach Kira, der offenbar aus Angst aufgehört hat, Verbrecher zu töten. Wir konnten deduzieren, dass Kira absichtlich den Verdacht auf Yagami Light gelenkt hat, um L in die Irre zu führen. Darum muss diese Strohpuppe erst aus dem Weg geräumt werden, damit Kira sich nicht mehr dahinter verstecken kann. Du hättest daraufhin deinen eigenen Tod inszeniert, um dich vor seinen Angriffen zu schützen und gleichfalls eine Möglichkeit zu haben, wie L deine Identität zu verschleiern. Etwas in der Art werden wir ihr sagen.“ „Ich verstehe nicht.“ Überfordert von den Worten und seiner darin festgelegten Position schüttelte Light den Kopf. „Was hast du vor?“ Ruckartig blieb L stehen. Er betrachtete seinen Partner, als käme ihm dessen Anwesenheit erst mit der verbalen Unterbrechung wieder zu Bewusstsein. Hierbei tauchte er aus den eigenen Überlegungen auf wie aus tiefem Wasser. „Weißt du, Light-kun, ich kann dich leider nicht deiner Familie oder dem Justizwesen überlassen“, gestand L sowohl gleichmütig als auch trotzig, „weil ich dich haben will.“ „Wie meint er das jetzt?“, fragte Ryuk ein wenig stumpfsinnig aus dem Hintergrund. „Das kannst du nicht nachvollziehen“, entgegnete Rem abfällig. Erneut schüttelte Light in einer Geste des Unglaubens den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst.“ „Mein voller Ernst, Light-kun. Mit deiner Hilfe wird sich die Effizienz von L um mindestens siebzig Prozent steigern. Ein solches Talent und Potenzial zu vergeuden wäre der Gesellschaft gegenüber schier verantwortungslos. Selbst wenn ich dafür eigenmächtig handeln und einmal mehr gegen das Gesetz verstoßen muss. Ich würde alles tun, damit du mir gehörst.“ „Um dich an meiner Niederlage zu laben?“ „Nein, ich...“ „Lass es!“, hinderte Light ihn mit einem bitteren Ausruf am Weitersprechen. „Ich will nicht hören, welche Lüge du mir als nächstes auftischst. Ich würde dir ohnehin nicht glauben.“ Er atmete stockend, um Fassung bemüht und durcheinander. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, was er angesichts der jüngsten Entwicklungen überhaupt empfinden sollte. Damit er sich sammeln konnte, gönnte L ihm stumm eine Auszeit, bis Light nach einer Pause vorwurfsvoll sagte: „Du hast mich annehmen lassen, ich müsste sterben. Was sollte das? Wolltest du mich bloßstellen? Wozu hast du mir erst dieses Lügenmärchen erzählt und mich zum Reden aufgefordert?“ „Reine Neugier“, antwortete L in milder Selbstverständlichkeit. „Als ich sagte, ich wolle alles von dir, meinte ich das im vollen Umfang und mit allen Konsequenzen. Das war die beste Gelegenheit, um diesen Aspekt deiner Persönlichkeit kennen zu lernen. Den Part mit deinem Wahnsinn können wir jetzt wohl abhaken.“ „Du verfluchter...!“ Entrüstet brach Light ab, als ihm die unverfrorene Äußerung des Anderen die Luft aus den Lungen trieb. „Mich am Leben zu lassen, ohne mich und mein Werk anzuerkennen, noch dazu aus deiner Position, das ist nicht nur Hohn, sondern Unrecht! Es ist illegitim. Kriminell. Eine umgedrehte Form von Selbstjustiz!“ „Du weißt, was ich von der Todesstrafe halte.“ Ein solches Veto konnte nur der weltbeste Detektiv einzulegen wagen, der überall und nirgends beheimatet war, um die Gerechtigkeit jedes Landes zu vertreten. „Laut deiner Meinung macht der Tod jeden Menschen gleich. Du bist davon überzeugt, danach ins Nichts einzugehen. Also wäre deine Hinrichtung keine Strafe, sondern eine Erlösung. Würde ich dich ausliefern, könntest du niemals deine Sünden begleichen.“ „Du willst ihn echt verschonen“, erkundigte sich Ryuk verdutzt, „obwohl er dich jederzeit umbringen wird, wenn er die Gelegenheit dazu erhält?“ „Er wird keine Gelegenheit dazu bekommen.“ „Du drehst dir das Recht auch, wie du es gerade brauchst, kann das sein?“ Ryuk grinste beängstigend vergnügt. „Wolltest du ihn nicht zum Schafott geleiten?“ „Warum wird mir das ständig vorgehalten?“, erwiderte L unzufrieden. „Das habe ich doch nur so gesagt.“ „Dann hoffe ich für dich, dass du nicht ebenfalls nur so gesagt hast, ich könne in der Menschenwelt bleiben und so viele Äpfel essen, wie ich will. Ansonsten schaffe ich mir vielleicht doch noch einige Seelen vom Hals, bevor man mir den Spaß verdirbt.“ „Hier wird rein gar nichts verdorben sein“, versicherte L unwirsch, „weder die Äpfel noch dein Spaß.“ Im Folgenden wandte er sich insbesondere an Rem, wobei er hinüber zum Glastisch deutete, auf dem zwischen Akten und Fotografien das schwarze Notizbuch lag. „Shinigami, dieses Death Note dort befindet sich momentan im Besitz von Yagami Light, richtig?“ „Ja“, pflichtete Rem ihm bei, „das Eigentumsrecht ging durch den Mord an Higuchi Kyosuke auf ihn über.“ „Ist dies das ursprüngliche Heft des ersten Kiras?“ Rem nickte zustimmend. „Dennoch ist es an dich gekoppelt, trotz deiner engen Beziehung zu Amane Misa. Das heißt, Rem ist tatsächlich der eigentliche Shinigami des zweiten Kiras und Ryuk der des ersten?“ Die Todesgöttin nickte erneut. „Ihr habt die beiden Hefte demnach getauscht, nehme ich an.“ „Das ist korrekt.“ „In Ordnung, darüber wollte ich mir nur eindeutige Klarheit verschaffen.“ Auf seinem Daumennagel herumkauend überlegte L einen Moment, bis er einen Entschluss fasste. „Rem, gestern meintest du, von der Welt der Shinigami aus könntest du zu uns herabschauen. Demzufolge kannst du nach einem neuerlichen Wechsel des Besitzrechts sowie deiner Heimkehr weiterhin auf Amane Misa Acht geben.“ Minimal zögernd nickte Rem ein drittes Mal. Sie wusste, sobald sie in die Welt der Todesgötter zurückkehrte, konnte sie Misa zwar beobachten, doch war es ihr von dort aus verboten, einen Menschen zu töten, der Eigentümer eines Death Notes war. Sollte einer der beiden Männer zu diesem Zeitpunkt ein solches Besitzrecht innehaben, hatte sie keinerlei Befugnis über ihn. Freilich brauchte niemand davon zu erfahren. Ein Todesgott war nicht verpflichtet, alle Regeln offenzulegen. Kurz vergewisserte sich Rem, indem sie zur Seite schielend Ryuks Reaktion auskundschaftete, ob dieser die getätigten Aussagen dementieren würde. Zu ihrem Glück stellte er die Schlussfolgerung des Detektivs nicht in Abrede. Möglicherweise wusste er nicht einmal von einer solchen Vorschrift, hatte er doch häufig keine Ahnung vom Regelwerk der Shinigami. Als wollte er ein Dekret verkünden, erhob L nun die Stimme. „Von heute an befindet sich Yagami Light in meiner Gewalt und wird als Erstes das Besitzrecht an dem Notizbuch aufgeben.“ Der Genannte stieß auf das Postulat hin ein verächtliches Lachen aus. „Wie kommst du darauf, dass ich mich deinem Willen beuge, Ryuzaki? Was ist, wenn ich mich weigere?“ „Wenn du nicht kooperierst, kann ich das Heft noch immer vernichten, Light-kun.“ „In beiden Fällen wird er seine Erinnerungen verlieren“, wandte Ryuk betrübt ein. „Es wäre öde, ihn umzubringen, ohne seine Panik auszukosten. Muss das wirklich sein?“ „Das ist nur eine Maßnahme für den Tausch“, erklärte L gelassen. „Ob er seine Erinnerungen später zurückerlangt, obliegt ihm selbst. Es ist seine Entscheidung.“ Nicht zum ersten Mal an diesem Tag starrte Light den Meisterdetektiv fassungslos an. Ohne sich eines ungebührlichen Verhaltens bewusst zu sein fragte dieser unbescholten: „Möchtest du das, Light-kun?“ „Du willst mir ernsthaft das Death Note nach dem Wechsel wieder aushändigen, damit ich meine Erinnerungen zurückerhalte? Woher soll ich wissen, dass du das nicht bloß behauptest, um mich gefügig zu machen? Wieso solltest du etwas Derartiges überhaupt wollen und es mir gestatten? Anders wäre es wesentlich einfacher für dich.“ „Selbstredend.“ L zuckte beiläufig mit den Schultern. „Es wäre... vernünftiger. Würde ich nur eine Seite von dir kennen, könnte ich mich damit sogar begnügen. Aber das reicht mir nicht. Ich will nicht nur Yagami Light, sondern auch Kira. Ich will euch beide.“ Zischend entwich Light ein Laut der Ablehnung. Er traute seinen Ohren nicht. L spielte ein Spiel mit ihm. Er setzte den Kampf fort, indem er Kira an sich band, ihn entwaffnete, unterwarf und zusätzlich durch die in Zukunft ausgeübte Kontrolle verhöhnte. Früher oder später musste L dieses wahnwitzige Vorhaben unter Garantie mit dem Leben bezahlen. Eine atmende Stille schickte eine Schneise der Verwüstung durch Kiras Geist. War dies der versteckte Sieg in der bislang allumfassenden Niederlage, ein Bündnis mit seinem Widersacher, einst geknüpft durch die Fesselung der Handschellen, fortan aneinandergekettet durch das Schicksal ihrer gegenseitigen Abhängigkeit? Hatte er L etwa auf gleiche Weise in seine Gewalt gebracht? Es war zumindest eine Chance. Vielleicht konnte er L von der Richtigkeit seines Tuns überzeugen, ihn gehorsam machen, ihn beschützen und besitzen. Er konnte L noch immer für sich gewinnen. Wenn er es schaffte, in der nächsten Partie zu siegen, erhielt er das Anrecht auf den Verlierer, ganz bestimmt. Dann wurde L sein Preis. Seine Belohnung. Doch für diesen Gewinn musste er vorläufig seine Niederlage anerkennen. Erschöpft, wütend und höchst widerwillig spürte Light, wie er den Kopf mechanisch zu einem Nicken bewegte. „Das dachte ich mir“, quittierte L die Geste seufzend. „Du sollst allerdings wissen, dass ich dich später ein zweites Mal vor die Wahl stellen werde, ob du das Heft zurückbekommen willst. Ohne Erinnerungen. Sobald du erfährst, wer in Wirklichkeit Kira ist. Solltest du dann etwas anderes wünschen, werde ich keine Rücksicht auf deine jetzige Entscheidung nehmen, Light-kun.“ „Einverstanden“, willigte dieser monoton ein. „Ich werde meine Meinung ohnehin nicht ändern.“ „Das vermute ich auch. Gut, dann bleibt jetzt nur noch eines.“ L trottete hinüber zu der Couchgruppe und kramte auf dem Tisch in den Aktenbergen und Materialien herum, bis er schließlich ein faustgroßes Gerät zu Tage förderte. Er kehrte damit zu seinem Gefangenen zurück, der seine Handlungen misstrauisch verfolgte. Neben ihm ging L in die Hocke und umfasste wortlos dessen flach auf dem Boden ruhendes Fußgelenk. Der unerwartete Ruck, mit dem Light am Bein nach vorn gezogen wurde, brachte ihn ungewollt aus dem Gleichgewicht. Empört fluchend rebellierte er gegen den Übergriff, aber L ignorierte das verärgerte Aufbegehren. Anstatt ihn freizugeben, hielt er seinen Partner resolut umklammert, um das schwarze Gerät am Knöchel nahe über dem Rand des Schuhs zu befestigen. „Halt bitte still, Light-kun. Das ist eine elektronische Fußfessel.“ „Du demütigst ihn wohl gern?“, stellte Ryuk belustigt fest, während seine rhetorische Frage von Lights zornigem Protest übertönt wurde. „Das wirst du mir büßen, L!  Sobald ich deinen Namen erfahre, bist du tot!“ „Ich glaube, dass du es genauso wenig tun könntest wie ich. Zumindest nicht eigenhändig.“ Konzentriert hantierte L am Sicherungsverschluss zwischen den gewölbten Bandenden herum, während sich Light in halb liegender Position seinem Griff zu entwinden versuchte. „Sei dir da bloß nicht zu sicher! So oder so, irgendwann werde ich dich besiegen. Dann wirst du dich mir mit Freuden unterwerfen und verstehen, dass nur Kira die wahre Gerechtigkeit sein kann!“ „Du vergisst dich, Light-kun. Dein Größenwahn wird dir mit der Zeit das Genick brechen.“ „Glaub nicht, dass von diesem Punkt an irgendetwas wieder so sein wird wie zuvor, Ryuzaki, dass ich auf diese Weise mit dir noch irgendeine absurde Art von Freundschaft fortführen kann!“ Ls Bewegungen kamen unvermittelt zur Ruhe. Bedacht hielt er das Fußgelenk seines Freundes sanft umschlossen und schaute ziellos durch die Nähte an Schuh und Hosensaum hindurch. Nach einigen Sekunden stummen Schmerzes regte er sich langsam. Reserviert und schweigsam brachte er sein Tun zu einem Abschluss, ohne dass sich Light weiter gegen ihn zur Wehr setzte. „Wir werden sehen“, sagte L endlich leise. „Das nehme ich in Kauf. Am wichtigsten ist erst einmal dein Überleben.“ Die Einsamkeit aus Nähe und Distanz bedeckte sie wie jener schwere Herbstregen, in welchem die Außenwelt ertrank. Es war ein kalter Tag im November. Der letzte Tag ihrer erdichteten Freundschaft. Vorsichtig strich L ein paar der braunen Haarsträhnen aus dem abweisend gesenkten Gesicht seines Partners und meinte behutsam: „Ich sagte dir doch, Kira gehört mir. Du wirst deine Schuld abarbeiten und mir in Zukunft bei meinen Ermittlungen helfen. Fortan möchte ich, dass du rund um die Uhr an meiner Seite bist, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“ L lächelte sein typisch kindliches und zugleich trauriges Lächeln. „Von jetzt an wirst du mir nicht mehr entkommen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)