So einfach von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida) ================================================================================ Kapitel 32: ------------ Ein unbestimmtes Angstgefühl überkommt mich, als ich den Schlüssel im Schloss drehe und die Tür zur Wohnung öffne. Sofort steigt mir der Geruch von Zigaretten in die Nase. Offenbar hält auch mein Vater sich nicht an seine eigene Regel, nur am Fenster zu rauchen. Umständlich ziehe ich meine Schuhe aus, da die Folgen der letzten Nacht noch deutlich spürbar sind. Mein Vater schaut aus der Küche. Er sieht müde und erschöpft aus. Ohne ein Wort zu sagen, kommt er auf mich zu und schlägt mir so hart ins Gesicht, dass ich Blut in meinem Mund schmecke. Mein Gleichgewicht verlierend stürze ich unsanft zu Boden. „Wo warst du, verdammt!?“, schreit mein Vater mich wütend an. „Wo, Yamato?“ Beschämt senke ich meinen Blick. Von der Ohrfeige dröhnt mein Kopf noch mehr als zuvor, mit meinen Fingern streiche ich behutsam über meine schmerzende Wange. Eine Antwort gebe ich ihm nicht. „Hast du die Nacht mit diesem perversen Lehrer verbracht? Ich zeige ihn wegen Kindesmissbrauchs an!“, droht mein Vater hasserfüllt. „Nein!“, entgegne ich aufgebracht. „Hör endlich auf ihn abzuwerten und zu beleidigen! Du kennst ihn überhaupt nicht!“ „Es reicht, dass ich weiß, was er meinem Sohn antut!“ „Das Einzige, was er mir antut, ist für mich da zu sein, wenn ich allein nicht mehr klarkomme. Im Gegensatz zu dir!“ Noch einmal schlägt mir mein Vater rücksichtslos ins Gesicht. Ein Lächeln zeichnet sich auf meinen Lippen ab. Ich muss ihn dazu bringen, die Kontrolle über sich zu verlieren, denn nur so wird er dem Menschen wehtun, der ihn kaputt macht. Nur so werde ich seinen ganzen Hass und seine aufgestaute Wut zu spüren bekommen. Danach geht es uns beiden vielleicht etwas besser. „Ich war in Shibuya.“ Provokatorisch schaue ich meinen Gegenüber an. „Geld verdienen.“ Fahrig krame ich in meiner Hosentasche und werfe meinem Vater das Geld vor die Füße. „Siehst du? Dein Sohn war fleißig.“ Bestürzt, mit geweiteten Augen, starrt er auf die Scheine. „Du… nein… das…“ Mein Vater hat sichtlich Mühe, seine Fassung wiederzuerlangen. „Wieso? Du solltest froh darüber sein. Wenn andere ihre Schwänze oft genug in mich stecken, musst du das nicht mehr tun. Ich lasse dich in Ruhe, okay?“ Meine Hoffnung war, ihn mit dieser Aussage in Rage bringen zu können, doch mein Gegenüber wird wider Erwarten ruhiger. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck betrachtet er mich. „Steh auf“, befiehlt er streng. Verwirrt über die unerwartete Reaktion meines Vaters gehorche ich nahezu ergeben. „Du wirst jetzt bei der Polizei anrufen und denen erklären, wo du warst und was du die ganze Nacht gemacht hast.“ „Was?“, frage ich völlig aus dem Konzept gebracht und mit wachsendem unguten Gefühl. „Nachdem du gestern Abend weggelaufen bist, gab ich eine Suchmeldung bei der Polizei auf. Seit ich wieder zu Hause bin, komme ich nicht an dich heran. Was sollte ich also tun? Anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen.“ Panisch und doch starr vor Schreck stehe ich im Flur und schaue meinen Vater hilflos an. „Du hast die Polizei…“ „Yamato, ich hatte wahnsinnige Angst, dass du dir etwas antust!“ Die Stimme meines Vaters zittert leicht. „Warst du wirklich in Shibuya? Eigentlich hätte die Polizei dich dann finden müssen, denn dort suchten sie verstärkt in den Bars und Stundenhotels nach dir.“ „Ja, war ich. Die ganze Nacht, soweit ich weiß. Falls die Polizei auch in dem Club nach mir suchte, in welchem ich mich aufhielt, log das Personal vermutlich. Wahrscheinlich auf Anweisung ihres Chefs, da er sich ungestört mit mir vergnügen wollte.“ „Du erzählst das alles so ungerührt. Macht es dir gar nichts mehr aus? Bist du mittlerweile so abgestumpft?“, fragt mein Gegenüber voller Verzweiflung. „Von wie vielen hast du dich vögeln lassen und vor allem, was musstest du machen, um einen solchen Geldbetrag zu erlangen?“ Ich richte meinen Blick auf den Boden, da ich meinem Vater nicht mehr in die Augen sehen kann. „An die letzte Nacht erinnere ich mich nur sehr lückenhaft. Mich sprach auf der Straße ein junger Mann an, der mich mit zur Bar seines Freundes nahm. Dann…“ „Hast du Drogen genommen?“, unterbricht mein Vater meine Ausführungen. Er klingt weniger verärgert als besorgt. Ich beschließe die Wahrheit zu sagen, um ihn zusätzlich zu provozieren. „Ja, habe ich.“ „Freiwillig?“ „Was spielt das für eine Rolle? Ich war so drauf, dass ich nichts mehr mitbekam.“ „Du weißt nicht einmal, was die mit dir gemacht haben?“ Lächelnd zucke ich mit den Schultern. „Es war schmerzhaft. Ich schätze, sie praktizierten irgendwelche abartigen Spielchen. Die 350000 Yen dienen quasi als Entschädigung“, mutmaße ich in gleichgültigem Tonfall. Tränen laufen meinem Vater über die Wangen. „Verdammt, Yamato! Bist du dir denn gar nichts mehr wert? Dich scheint überhaupt nicht zu interessieren, was mit dir passiert.“ „Richtig, es ist mir egal. Solange die Bezahlung stimmt…“ Erneut schlägt mein Vater mir hart ins Gesicht. „Denkst du überhaupt noch an Taichi? Er sucht nach dir! Noch immer!“ „Wieso hast du ihn gehen lassen? Er ist auf Entzug, verdammt! Glaubst du tatsächlich, dass er nach mir sucht? Er wird sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken… in irgendeiner Seitenstraße, unter einer Brücke…“ Schluchzend wische ich mit meinem Ärmel die Tränen von meiner Haut. „Allein, halbtot… und ich…“ Mein Vater kommt einen Schritt auf mich zu. „Du scheinst ja doch noch etwas zu fühlen.“ „Natürlich fühle ich etwas!“, schreie ich ihn ungehalten an. „Ich liebe Taichi… und ich… liebe dich! Aber du vögelst ihn… und er braucht dich. Das ist in Ordnung. Vielleicht werdet ihr so endlich glücklich.“ Verzerrt lächle ich meinen Vater an. „Schlag mich!“, bitte ich ihn ruhig. Beinahe verstört mustert er meinen Körper. Dann schaut er in meine Augen, als suche er nach etwas. Ich halte seinem Blick stand. „Yamato, was…“ „Schlag mich so lange, bis ich nicht mehr aufstehe!“, fordere ich nun mit lauter Stimme. „Schlag mich, Papa! Du musst es tun! Du musst! Für dich, für mich…“ Weinend nimmt mein Vater mich in den Arm. „Nein! Was tust du denn?“ Panisch versuche ich mich von ihm zu lösen, doch je heftiger ich mich wehre, desto fester umschließt er meinen Körper. „Lass mich los! Fass mich nicht an!“ „Shh… ruhig, Yamato“, flüstert mein Vater sanft. Kraftlos breche ich in seinen Armen zusammen. Er hat Mühe, mich auf den Beinen zu halten, nach kurzer Zeit sinken wir beide zu Boden. „Hasse mich, Papa! Du musst mich hassen… mir wehtun… dir helfen…“ Allmählich werde ich hysterisch. „Ich liebe dich, mein Sohn“, entgegnet mein Vater voller Zuneigung und zieht mich mit sich in eine aufrechte Haltung. „Nein! Verdammt nochmal, das darfst du nicht! Du musst…“ Aufgebracht und rücksichtslos stoße ich ihn von mir. Mein Vater taumelt, erlangt aber sofort sein Gleichgewicht und bewegt sich wieder auf mich zu. „Yamato, egal, was zwischen uns…“, beginnt er auf mich einzureden. „Halt deinen Mund!“ Im Affekt schlage ich meinen Vater ungehemmt mit der Faust ins Gesicht. Dann ist alles still. Über mich selbst erschrocken stehe ich schuldbewusst vor ihm. Blut läuft aus seiner Nase, welches er mit seinem Handrücken abwischt. Langsam gehe ich ein paar Schritte rückwärts, bis ich mit meinem Rücken gegen die Wohnungstür stoße. Ich zittere, in meinem Kopf herrscht Chaos und Leere zugleich. „Töte mich“, hauche ich leblos. „Wenn du mich nicht hassen kannst, dann töte mich.“ „Yamato, hör auf damit, solche Aussagen zu tätigen.“ Mein Vater setzt sich in Bewegung, doch ich gebiete ihm Einhalt, indem ich mein Messer aus der Jackentasche hole und an meine Kehle presse. „Bleib stehen. Keinen Schritt weiter oder ich ziehe die Klinge durch.“ Kurz betrachtet mich mein Gegenüber abschätzend, dann geht er das Wagnis ein, näher zu kommen. Mit leichtem Druck zerteile ich die Haut an meinem Hals. Sofort spüre ich warmes Blut darüber laufen und schließe die Augen. Es ist die gleiche Wunde, die ich Taichi zufügte. Nicht lebensgefährlich. An derselben Stelle. Mein Vater nutzt den Moment meiner Unachtsamkeit, um zu mir zu gelangen und das Messer meiner Hand zu entwinden. Er wirft es über den Flur in Richtung des Wohnzimmers, weit weg von uns. Mich presst er mit seinem Körper gegen die Wohnungstür und macht mich auf diese Weise nahezu bewegungsunfähig. „Ich liebe dich, Yamato“, flüstert er immer wieder in mein Ohr. „Ich liebe dich, ich liebe dich…“ „Sei still! Bitte, sei still.“ Meine Stimme versagt und ich klammere mich laut weinend wie ein Kind an meinen Vater. „Du musst mich hassen. Nur so kann ich meine Liebe für dich töten. Und du kannst glücklich werden.“ „In welch unsinnige Idee hast du dich nur wieder verrannt?“, seufzt mein Vater, drückt mich fester an sich und streichelt über meinen Hinterkopf. „Bitte, töte mich“, entgegne ich teilnahmslos. „Nicht nur für dich. Auch für Taichi. Für mich. Ich bin müde. Tag für Tag, immer weiter, immer leben, existieren. Etwas tun, sich einfügen, irgendwie da sein. Wozu? Jeder lebt doch eigentlich für sich, in erster Linie. Andere sollten egal sein. Jedes Leben geht auch ohne ein anderes weiter. Jedoch nicht ohne sich selbst. Und wenn das Selbst keinen Wert hat? Nicht für sich? Für andere? Sollte man dann gegen sich selbst, aber für andere leben? Wird man so jemals glücklich sein? Du wirst glücklich sein, ohne mich. Taichi wird glücklich sein, ohne mich. Ich werde glücklich sein, ohne mich. Töte mich. Befreie dich, befreie Taichi, damit ihr beide wieder atmen könnt. Ich kann nicht mehr. Nicht mehr atmen. Ich will nicht mehr. Nicht mehr wollen müssen. So zu tun, als würde ich leben, ergibt keinen Sinn mehr. Ist es feige, einfach zu gehen? Vielleicht, doch es ist mir egal. Im Tod spielt nichts eine Rolle. Außer Stille. Endlich Ruhe.“ Tränen laufen unablässig über meine Wangen. Schweigend und reglos hält mein Vater mich fest an sich gepresst. „Weißt du, Papa, ich wollte kein drogenabhängiger Stricher mehr sein. Für Taichi. Für dich. Diesmal wollte ich es schaffen. Diesmal wollte ich durchhalten. Doch ich habe erneut versagt. Es tut mir leid, Papa. Taichi fing meinetwegen zu trinken an, hin und wieder, wenn etwas vorgefallen war, dann immer mehr, dann immer. Du hast mit mir geschlafen. Mehrfach. Nicht, weil du es wolltest, sondern weil du hofftest, mir damit zu helfen. Aber ich wollte keine Hilfe. Ich wollte dich. Spüren. In mir. Ich liebe dich. So wie Taichi. Und doch anders. Es gibt keinen Ersatz. Für niemanden. Egal, von wie vielen Männern ich mich ficken lasse und mir dabei vorstelle, mit dir zu schlafen… es geht nicht. Die sind nicht du. Sie fühlen sich nicht an wie du. Sie riechen anders als du. Bei ihnen wird mir schlecht. Bei dir nicht. Ich gebe mich dir freiwillig hin, nicht zwanghaft. Innerer Zwang, das Verlangen nach Selbstverletzung. Selbstzerstörung. Selbstvernichtung. Den Kampf gegen mich selbst werde ich immer wieder verlieren. Töte mich. Setze dieser Farce ein Ende. Du wirst sehen, ich werde dich lächelnd verabschieden.“ „Warum tust du es nicht selbst, wenn du unbedingt sterben willst?“, fragt mein Vater mit belegter Stimme. „Ich weiß es nicht“, antworte ich ruhig. „Wahrscheinlich, weil ich inzwischen aus Gewohnheit lebe.“ Ich öffne meine Augen. Es ist dunkel, aber ich erkenne die Konturen meines Zimmers. Was ist geschehen? Wie kam ich in mein Bett? Müde setze ich mich auf und fahre mit meinen Händen über mein Gesicht. Nein, eigentlich will ich mich nicht erinnern. An nichts. Meine schmerzende Wange und mein als Spielzeug benutzter Körper lassen mich jedoch nicht vergessen. Mein Hals ist trocken und erschwert mir das Schlucken. Ich greife nach der Flasche neben meinem Bett. Sie ist fast leer, das Wasser abgestanden. Angewidert stelle ich die Flasche zurück auf den Boden. Ich will frisches Wasser. Kaltes Wasser, welches meine Kehle hinab läuft und den Schmerz lindert. Klares Wasser, welches meinen schmutzigen Körper reinigt, den an mir haftenden Geruch anderer Menschen abwäscht. Heißes Wasser, welches die Berührungen Fremder von meiner Haut brennt. Nein, ich muss mich erinnern. An jede Erniedrigung, die mir meine eigene Wertlosigkeit aufzeigt und die ich herbeisehne, um dieselben Qualen ertragen zu müssen, die ich anderen antat. An den Ekel, der mir vor Augen führt, wie abstoßend Berührungen sein können. An die Angst, die mich lähmt und somit handlungsunfähig und wehrlos macht. Wofür sonst sollte ich am Leben bleiben? Ich zittere und ein leichter Schweißfilm bildet sich auf meiner Haut. Erneut Entzugserscheinungen. Mein Vater gab mir eine geringe Dosis des, für den Ausnahmefall verschriebenen, Schlafmittels, da mein Körper allmählich mit eindeutigen Reaktionen nach dem nächsten Schuss verlangte. Für einen kurzen Moment wäre ich fast so weit gewesen, meinem Vater von meinem Heroinkonsum zu erzählen. Glücklicherweise setzte mein Verstand rechtzeitig ein, sodass ich letztlich schwieg. Beim Umziehen musste ich auf meinen Arm wegen der leicht vernarbten Einstichstellen achten, da mein Vater sich weigerte das Zimmer zu verlassen. Er blieb, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte, ich ruhiger wurde und schließlich einschlief. Mit Bedacht, um ein mögliches Absacken meines Kreislaufes zu verhindern, stehe ich auf und gehe zu meinem Tisch. Aus der darauf befindlichen Schachtel nehme ich eine Zigarette und zünde sie an. Es ist ein sinnloser Versuch, das Verlangen nach Heroin durch den Konsum von Nikotin zu verringern, aber momentan bleibt mir keine Alternative. Am geöffneten Fenster stehend schaue ich in die Nacht hinaus. Ich spüre die warme Frühlingsluft, hin und wieder streift eine kühle Brise sanft meine Haut. Ich lebe. Weiterhin. Und seltsamerweise ist es in Ordnung. Mir ist bewusst, dass mein Tod für alle das Beste wäre. Aber wenn ich wirklich sterben wollte, hätte ich mich dann nicht schon längst getötet? Waren die bisherigen Selbstmordversuche nicht eher halbherzig? Verzweifelte Kurzschlussreaktionen? Ich wollte etwas in mir töten. Gefühle, Gedanken… ein Ich, das es nicht geben darf. Ein Ich, welches ich inzwischen auf Raten versuche zu zerstören. Wie erwartet hat das Nikotin keinerlei Einfluss auf mein Verlangen nach Heroin. Vielleicht sollte ich erst einmal duschen. Seit diese Typen… es fühlt sich so an, als würde noch Blut, Sperma und Speichel an und in mir kleben. Die Zigarette gleitet aus meinen Fingern und ich beobachte, wie sie in die Tiefe fällt. Dann verlasse ich mein Zimmer. Im Flur höre ich Geräusche aus dem Wohnzimmer. Die Tür steht einen Spalt weit offen. Langsamen Schrittes bewege ich mich darauf zu und werfe einen Blick in den Raum. Der Fernseher läuft. Auf dem Sofa sitzt mein Vater, seinen Arm um Taichi gelegt, der an ihn gelehnt dicht neben ihm sitzt. „Denkst du, Yamato hat die Drogen freiwillig genommen? Auf mich machte es den Eindruck, als versuchte er diesmal ernsthaft von dem GHB loszukommen. Und nach deiner Schilderung bezüglich Yamatos Aussage zweifle ich ein wenig an seinem indirekten Schuldeingeständnis. Allerdings ist Yamato dahingehend schwer einzuschätzen. Er weiß, dass er nicht lügen kann, und ich glaube, er will es auch gar nicht. Stattdessen dementiert er einfach nichts und schweigt. Dabei vergisst er nur, wie schlimm es ist, im Ungewissen gelassen zu werden.“ „Vielleicht sagt er nichts, um sich selbst zu schützen und das Erlebte auf diese Weise ungeschehen zu machen.“ „So einfach funktioniert das leider nicht. Dessen müsste er sich eigentlich bewusst sein.“ „Wahrscheinlich ist er sich dessen auch bewusst.“ „Warum sagt er dann nichts? Lediglich wenn er die Kontrolle verliert, wirft Yamato seinem Gegenüber unüberlegt Details an den Kopf. Soll ich ihn jedes Mal provozieren, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas vorgefallen ist? Auf diese Weise helfe ich ihm letztlich auch nicht, oder?“ „Taichi, ich verstehe deine Sorge meinen Sohn betreffend, aber du vergisst darüber deine eigenen Probleme. Momentan hilfst du allen am meisten, wenn du deine Alkoholabhängigkeit in den Griff bekommst. Yamatos Verfassung hängt auch sehr stark von deinem Befinden ab. Sobald ich auf dich zu sprechen komme, bröckelt seine Fassade und er bricht nervlich zusammen, weil seine Angst um dich überhandnimmt.“ „Ich bemühe mich, aber…“ „Nein, Taichi. Kein Aber. Ich bin froh, dass du es geschafft hast, allein unterwegs zu sein, ohne rückfällig zu werden. Das ist ein Erfolg und ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.“ Taichi richtet sich etwas auf und sieht meinen Vater an. „Hiroaki, ich…“, beginnt mein Freund seinen Satz, den er jedoch nicht beendet. Stattdessen beugt er sich zu meinem Vater und küsst ihn. Der erwidert den Kuss nur zögerlich, lässt sich dann jedoch auf meinen Freund ein. Ihr Zungenspiel ist fordernd und sehr leidenschaftlich. Taichi wird von meinem Vater behutsam zurückgedrängt und kommt unter ihm auf dem Sofa zum Liegen. Ich wende mich ab und gehe ins Bad. Hinter mir verschließe ich die Tür. Ohne darüber nachzudenken, stelle ich mich unter die Dusche und schalte das heiße Wasser an. Eine Weile bleibe ich mit dem Kopf gegen die Wand gelehnt stehen, dann sinke ich kraftlos zu Boden. Meine Kleidung hängt, völlig durchnässt, schwer an mir herab. Die Hitze brennt auf meiner Haut. Während ich meine Schlafsachen ausziehe, um den Schmutz abwaschen zu können, singe ich leise vor mich hin. Die letzten Sonnenstrahlen gehen Sie verlassen dich Du stehst hier oben bis die Nacht anbricht Und du merkst in dir erwacht Langsam die Erinnerung Du hüllst dich in Gedanken ein Willst in deiner Traumwelt sein Lässt nichts mehr an dich ran Und du machst die Augen zu Wirst langsam unsichtbar Und du fliegst Immer höher immer weiter Wenn du willst Bis ans Ende dieser Welt Deine Reise führt zu dem Versteck Das nur du alleine kennst Weit, weit weg... Vor aller Welt schließt du die Tür Niemand kommt herein Sich auszublenden kann so einfach sein Und du fühlst in dir regiert Nur die Erinnerung Es ist so einfach wie im Flug Alles schwerelos und leicht Den geheimen Ort hast du bald erreicht Und du merkst Du wirst langsam unsichtbar Es dauert eine Weile, bis ich den Schmerz, der durch das heiße Wasser auf meiner Haut entsteht, nicht mehr aushalten kann. Verkrampft ziehe ich mich an dem Wasserhahn nach oben, wobei ich ihn gleichzeitig ausschalte. Zitternd krieche ich aus der Dusche und bleibe erschöpft auf den kalten Fliesen liegen. Heroin. GHB. Ich brauche irgendetwas, um der Realität entfliehen zu können. Vielleicht funktioniert es mit einer Überdosierung des verschriebenen Neuroleptikums. Ich stehe auf und bewege mich unsicher auf den Schrank zu, in dem ich meine Psychopharmaka aufbewahre. Eigentlich vermied ich bisher einen Missbrauch dieser Medikamente. Die Vorstellung verursachte immer ein unangenehmes Gefühl. Ich drücke einige Tabletten aus der Blisterpackung, etwa die Wirkstoffmenge, die zur Behandlung von Schizophrenie verabreicht wird, um Wahnvorstellungen und psychotische Schübe einzudämmen, und schlucke sie mit etwas Wasser hinunter. Anschließend lege ich mich wieder auf die Fliesen und warte auf das Einsetzen der Wirkung. Unbemerkt fallen mir langsam die Augen zu. Als ich sie kurz darauf öffne, ist meine Umgebung völlig verzerrt. Für einen Moment scheine ich eingeschlafen zu sein. Ich bekomme kaum Luft, da meine Nase zu trocken ist. Umständlich drehe ich mich auf die Seite. Ich falle, alles dreht sich, mir fehlt jegliche Orientierung. Trinken. Da ich keine Kontrolle über meinen Körper habe, gestaltet es sich schwierig, zum Waschbecken zu gelangen. Nur unter großer Anstrengung und stark taumelnd gelingt es mir. Gierig nehme ich die kühle Flüssigkeit in mich auf, obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Dann versuche ich wankend zur Tür zu gelangen, breche aber auf dem Weg zusammen. Ich bleibe keuchend liegen und drehe mich auf den Rücken. In meinem gesamten Körper spüre ich überdeutlich mein Blut pulsieren. Meine Adern werden zu alten, rostigen Rohren, die zu zerbersten drohen. Aus dem Rauschen in meinen Ohren geht ein unbestimmtes Flüstern hervor. Die Stimmen schwirren in meinem Kopf umher, doch ich verstehe nicht, was sie sagen. Angsterfüllt schrecke ich zusammen, jedes Mal, wenn ich berührt werde. Ich versuche mir vor Augen zu führen, dass es sich lediglich um Halluzinationen handelt, trotzdem nimmt diese irrationale Panik überhand. Ich lege meine Hand auf die Stelle, an der sich mein Herz befindet. Dieses schlägt, entgegnen meiner Bemühung, mich zu beruhigen, immer schneller. Das Pulsieren in meinem Körper wird deutlich stärker, die Stimmen lauter und die Berührungen intensiver. Auf jede kleine Bewegung folgen heftige Reaktionen und ich fühle mich ausgelaugt, als würde ich gerade Hochleistungssport betreiben. Dabei liege ich relativ starr auf dem Boden. Mein Herz pumpt schmerzhaft das Blut durch meine Adern. Noch immer kann ich nicht atmen, da meine Nase wie ausgetrocknet ist. Ich entwickle Todesangst. Das Gefühl, zu sterben, raubt mir jegliche Fähigkeit, zu denken. Außerdem selektiert mein Gehirn nicht mehr, Halluzinationen und Realität verschwimmen zunehmend. Die Rohre in meinem Inneren brechen und ich werde überschwemmt von meinem eigenen Blut. Weil ich tief in der Erde begraben bin und mein Brustkorb der Last nicht mehr standhält, ertrinke ich in mir selbst. Die rostigen Metallstäbe, die einmal meine Adern waren, bohren sich durch meine Haut, stoßen aus mir heraus. Ich schreie lautlos, liege still, bewegungslos auf den Fliesen, als würde ich mich in einer toten Hülle befinden. Offenbar bin ich in mir selbst begraben. Doch irgendetwas in mir weiß nach wie vor, dass all diese Halluzinationen medikamenteninduziert sind. Gefangen in Wahnvorstellungen schwöre ich mir nie wieder mit derartigen Psychopharmaka zu experimentieren. Falls ich diesen Horrortrip überlebe und nicht darauf hängenbleibe. Durch eine kalte Hand, die über meine Stirn, die Schläfe hinab zu meiner Wange streichelt, werde ich aus der Bewusstlosigkeit zurück in die Realität geholt. Vorsichtig öffne ich meine Augen und erblicke die von der Sonne beschienene Decke meines Zimmers. Es ist hell, sodass ich meine Augen kurz wieder schließe. „Soll ich die Vorhänge zuziehen oder das Rollo ein Stück herunterlassen?“ Ich erkenne Taichis Stimme. Sie klingt liebevoll, fast fürsorglich. „Wie bin ich in mein Bett gekommen?“, frage ich mit kratziger Stimme, da mein Hals zu trocken ist. „Irgendwann in der Nacht kamst du unbekleidet aus dem Bad und bist im Flur zusammengebrochen. Deine Worte ergaben keinen Sinn, du warst nicht ansprechbar. Wir wussten nicht, ob die Halluzinationen lediglich drogeninduziert waren oder ob wir besser den Notarzt rufen sollten. Schließlich brachten wir dich erst einmal in dein Bett. Glücklicherweise wurdest du nach einiger Zeit ruhiger und bist dann eingeschlafen.“ „Ich erinnere mich kaum“, murmele ich, wobei ich angespannt über meine Augen reibe. „Schläfst du mittlerweile regelmäßig mit meinem Vater?“ „Was?“, fragt mein Freund überrascht. „Nein, will ich auch nicht.“ „So?“, ist das Einzige, was ich ihm entgegenbringe. Die Halluzinationen sind zwar verschwunden, starke, unterschwellige und nicht benennbare Angstgefühle jedoch geblieben. Ich drehe mich zu meinem Freund und schaue ihn an. „Bleib bitte bei mir. Lass mich nicht allein. Nicht jetzt. Und auch sonst nicht. Versprich es.“ „Versprochen“, entgegnet Taichi ernst. „Wo ist Hiroaki?“, frage ich ganz bewusst. An seinem Blick erkenne ich, dass mein Freund die Anspielung verstanden hat. „Einkaufen“, antwortet er knapp und sieht mich unverwandt an. „Mein Vater lässt uns beide unbeaufsichtigt?“, spotte ich. „Der Kühlschrank ist leer. Mich ließ er nicht gehen und dich alleinzulassen stand ohnehin nicht als Option zur Verfügung. Ihm blieb also keine andere Wahl, als selbst zu gehen.“ „Halt mich fest, Taichi.“ Bevor er reagieren kann, umarme ich ihn sehnsüchtig, aber voller Angst. Irritiert drückt er mich an sich. „Yamato.“ „Ich liebe dich“, hauche ich stimmlos. „Ich liebe dich so sehr. Es tut weh, Tai. Doch es soll nicht aufhören. Ich will das alles nicht verlieren. Ich will dich nicht verlieren.“ Zitternd klammere ich mich an meinen Freund. Der wirkt ratlos. „Ist etwas passiert? Du bist völlig verängstigt. Was hast du im Bad gemacht?“ Ich löse mich von ihm, schaue ihn jedoch nicht an. „Es tut mir leid. Ich bemerkte nicht, dass du meine Nähe als unangenehm empfindest.“ Mit diesen Worten entferne ich mich von Taichi, indem ich aufstehe und zum Fenster gehe, obwohl die Distanz zu ihm momentan unerträglich schmerzhaft für mich ist. Fahrig halte ich das Ende einer Zigarette in die Flamme des Feuerzeugs. Ich ziehe einige Male am Filter, atme den Rauch tief ein und nehme das Nikotin verlangend in mich auf. Sichtlich beunruhigt kommt mein Freund auf mich zu, streichelt leicht über meine Wange und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann gleitet er mit seinen Fingern durch meine Haare. „Sie werden immer länger“, bemerkt er feststellend. „Würdest du sie schneiden lassen, wenn ich dich dazu auffordere?“ „Ja“, antworte ich ohne zu zögern. „Befiehlst du es?“ „Nein, die Frage war rein hypothetisch.“ „Kein Appell? Wozu dann…? Ich meine…“ Traurig senke ich meinen Kopf. „Bitte gib mich nicht auf. Das ist viel verlangt, oder?“ Offensichtlich besorgt nimmt Tai mein Gesicht zwischen seine Hände und zwingt mich damit, ihn anzusehen. „Was ist los, Yamato? Du wirkst verschreckt und unterwürfig.“ „Ich habe Angst.“ „Wovor?“ „Ich weiß es nicht. Aber dieses Gefühl frisst mich auf. Es lähmt mich und tötet alles andere in mir.“ Ein paar Mal ziehe ich noch an der Zigarette, dann lasse ich sie aus dem Fenster fallen. „Wenn dein Vater vom Eink…“ „Nenn ihn beim Vornamen, so wie letzte Nacht. Du musst mir nichts mehr vorspielen. Ich weiß, dass du wieder die Beine für ihn breit gemacht hast.“ Meine Stimme bleibt tonlos und frei von Vorwürfen. Akzeptiere ich etwa, meinen Freund an meinen Vater zu verlieren? Und meinen Vater an Taichi? „Wir hatten keinen Sex, Yamato. Aber ich gebe zu, dass ich ihn küsste und er letztlich darauf einging, vermutlich weil er merkte, dass ich auf diese Weise bei ihm nach Halt suchte.“ „… den ich dir nicht geben kann“, bringe ich bitter hervor. „Wie auch, wenn du selbst nicht sicher stehen kannst.“ Verzweifelt nehme ich meinen Freund fest in die Arme. „Sag mir, was ich tun soll. Um dich glücklich zu machen, würde ich alles andere aufgeben. Ich konsumiere keine Drogen mehr, ich schlafe mit niemandem außer dir, ich verletze mich nicht mehr selbst, ich esse…“ „Hör auf, Yamato. Es reicht. Nichts davon könntest du ab sofort einhalten. Das verlange ich auch nicht. Die Angst, die gerade aus dir spricht, bereitet mir allerdings Sorgen. Vielleicht schaffst du es, dich ein wenig abzulenken. Singst du für mich?“ Ich spüre, wie mein Gesicht errötet. Beschämt löse ich mich von meinem Freund, ohne ihn anzusehen. „Warum verlangst du gerade das?“ „Ich verlange nichts, es ist lediglich eine Bitte, die du ablehnen kannst.“ Tai lächelt, ich gebe nach. „Meine Stimme wird zittern“, wende ich noch einmal ein, nehme aber bereits die Gitarre in die Hand und setze mich auf das Bett. Taichi nimmt auf dem Sofa Platz und zu meiner Erleichterung schließt er die Augen. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung überdeckt für einen kurzen Moment meine Angst. Etwas zuversichtlicher schlage ich die ersten Saiten an. Das Flüstern, das sich in der lebhaften Menschenmenge verliert, verwischt die Erinnerungen, welche zu meinen Füßen verstreut sind. Ziellos streife ich durch die Gegend, das Funkeln der Straße dröhnt einseitig und wirft Licht auf meinen Körper, der bald erfriert. Die kaltherzige Zeit lässt meine Träume herunterfallen, sie schlängeln sich durch meine Hand. Ich zähle Wünsche und als ich erwache, sehe ich dein Spiegelbild in einer schimmernden Illusion. Eine undeutliche Silhouette, die mir meinen Weg zeigte. Ich will wieder die Anmut haben, zu gestehen, dass die Angst mich mitreißt. Noch will ich keine auf ewig glückliche Zukunft. Die Worte, die ich dir zukommen lassen will, verbleiben ein Selbstgespräch. Spurlos verfalle ich in dem Alltag. Mit zitternden Fingern stapele ich meine Träume auf, ohne Atem, doch sie stürzen ein. Meine Sicherheiten sind zu unsicher. Woran soll ich denn glauben, um dich zu treffen? Silhouette von jenem Tag, du verschwindest im weißen Licht. Ich bewundere diese Jahreszeiten, die uns weich färben: Das Leben, den Winter, den Traum. Ich bleibe stehen und sie entführen mich. Die Sehnsucht in meiner Brust ist starr vor Kälte. Auch sie kann im Wind erlöschen. Auch sie kann zurückgelassen werden. Die kaltherzige Zeit bleibt in den Träumen hängen, nimm sie in die Hand. Ich zähle Wünsche und als ich erwache, sehe ich dein Spiegelbild in einer schimmernden Illusion. Eine undeutliche Silhouette, die mich führt. Die letzten Töne verklingen und weichen einer unangenehmen Stille. Ich stelle das Instrument beiseite und betrachte verunsichert meine Füße. Die Angst ist nach wie vor präsent, schlimmstenfalls schwindet sie erst, wenn der Wirkstoff des Neuroleptikums von meinem Körper vollständig abgebaut wurde. Oder gar nicht mehr. Im Flur höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. „Das Lied, ich kenne es. Aber ich kann es nicht einordnen“, bemerkt Taichi plötzlich. „Garantiert hast du von der Band schon des Öfteren etwas gehört. Drei Jungs, die vielversprechendsten Newcomer derzeit. Vor einigen Jahren, als sie allerdings noch zu zweit waren, lernte ich sie bei einem Contest kennen. Damals waren sie genauso unbekannt wie die Teen-Age Wolves, aber sie hatten bereits eine gewisse Anziehungskraft.“ Ich lächle leicht. „Gewonnen hatten letztlich weder sie noch wir.“ Das Lächeln schwindet. Betrübt suche ich Blickkontakt zu meinem Freund. „Sie haben nicht aufgegeben. Ich frage mich, ob die Teen-Age Wolves es auch so weit geschafft hätten, wenn…“ „Vermisst du die Band, die Auftritte, die Musik allgemein?“ „Manchmal schon“, gebe ich zu. „Ruf sie an. Du hast doch die Telefonnummern der Jungs. Vielleicht haben auch sie Lust, weiterzumachen.“ Die Zuversicht in Tais Stimme ist nicht zu überhören, sodass ich ihn nicht enttäuschen möchte, indem ich widerspreche. „Ich denke darüber nach. Mein Vater ist zurück, oder?“ „Ja.“ Taichi steht auf und kommt auf mich zu. Sanft küsst er mich auf die Stirn. „Kommst du mit frühstücken?“ Obwohl ich keinen Hunger habe, nicke ich. Um diese schreckliche Angst loszuwerden und Tai nicht zu verlieren, tue ich alles. Wenn ich bin, wie er es verlangt, wird bestimmt alles gut. Ruhig sitze ich auf einer Parkbank, die Augen halte ich geschlossen. Mein Gesicht wird von der Sonne beschienen und die Wärme kitzelt sanft meine Haut. Dennoch ist es für August zu kühl. Ich bin froh über die angenehmen Temperaturen, da ich wegen meiner langen Ärmel weniger abschätzig gemustert werde. Zwar verblassen die Narben allmählich und neue Verletzungen kamen in letzter Zeit nicht hinzu, aber sichtbar sind sie trotzdem. Und sie werden es auch immer bleiben. Ich öffne meine Augen und schaue gedankenversunken in den blauen, fast wolkenfreien Himmel. Es ist seltsam, aber mein Leben verläuft momentan ungewohnt harmonisch. Nachdem ich das Neuroleptikum überdosiert hatte und die daraus resultierende, undefinierbare Angst allmählich nachließ, schwor ich mir, alles zu tun, um nie wieder so empfinden zu müssen. Die Psychopharmaka nehme ich wie verordnet, das GHB schaffte ich zu entziehen und konsumierte es zuletzt vor knapp drei Monaten. Nur Heroin spritze ich nach wie vor. Regelmäßig. Aller zwei Tage. Mein Freier wies mich jedoch darauf hin, dass er die Dosis definitiv nicht weiter erhöht. Zu meinem eigenen Schutz. Gleichzeitig drohte er, meinen Vater oder Taichi über meinen Heroinkonsum aufzuklären, sollte ich versuchen mir anderweitig Stoff zu besorgen. Ausnahmsweise bin ich dankbar für die erzieherische Kontrolle und somit ein Stück weit Verantwortung abgeben zu können. Andererseits ist gerade Kontrolle momentan eher ein Problem. Noch nie habe ich meinen Freier so verzweifelt erlebt wie in letzter Zeit. Er meinte, er habe Angst davor, die Beherrschung zu verlieren und seinen Sohn zu vergewaltigen, da sein Verlangen, mit dem Kleinen zu schlafen, immer stärker werde. Aus diesem Grund bin ich oft, wenn seine Frau nicht da ist, bei ihm zu Hause, um ihn mit seinem Sohn nicht allein zu lassen. Meist erledige ich Aufgaben für die Uni, während er sich um den Jungen kümmert. Gelegentlich beobachte ich die beiden und muss zugeben, dass ihre Beziehung zueinander wirklich ungewöhnlich intensiv ist. Der Kleine liebt seinen Vater sehr, aber ich sehe auch eine gefährliche Berechtigung in der Angst meines Freiers. Mittlerweile kenne ich ihn und weiß, wie quälend die vorherrschende Situation für ihn ist. Nur leider habe ich kaum Möglichkeiten, ihm zu helfen. Ich versuche für ihn da zu sein und so gut es geht aufzupassen, damit nichts passiert, zudem mache ich, wann immer er es verlangt, die Beine für ihn breit, doch ich fürchte, auf die Dauer reicht das nicht. Tränen füllen meine Augen. Warum bin ich so unglaublich nutzlos? Immer bereite ich allen Probleme, aber helfen kann ich niemandem. Inzwischen denkt mein Freier schon über eine Scheidung nach, um seinen Sohn zu schützen. Ich versuche ihn davon abzubringen, denn meiner Meinung nach tauscht er nur ein schlimmes Ereignis gegen ein anderes aus. Zudem scheint der Junge eher vaterorientiert zu sein und würde im Falle einer Scheidung wahrscheinlich bei diesem wohnen wollen. Wie würde der Kleine eine Ablehnung seines Vaters wohl verkraften? Deprimiert hole ich aus meiner Jackentasche eine Zigarette, entzünde sie und atme den Rauch tief in meine Lungen. Ich muss an meinen eigenen Vater denken. Meine Gefühle für ihn, meine Sehnsucht und mein Verlangen. Als er zuletzt wegen Taichis Entzug nach Hause kam, ging ich ihm so gut ich konnte aus dem Weg, war kalt und abweisend. Es tat weh. Jedes Mal, wenn er versuchte sich mir zu nähern, mich verstehen wollte oder ich seine Traurigkeit sah. Dann musste er zurück nach Berlin. Ich verabschiedete ihn nicht. Jetzt bereue ich es. Ich bereue mein gesamtes Verhalten ihm gegenüber. Aber ich weiß, dass ich mit ihm über unsere Beziehung nicht hätte sprechen können, da ich meine Emotionen sowie mein Handeln kaum im Griff habe. Vermutlich hätte ich am Ende meinen Vater wieder irgendwie dazu gebracht, mit mir zu schlafen, ohne Klarheit über unser Verhältnis zueinander zu schaffen. Eine Klarheit, die ich nicht brauche, da ich mir meiner Zuneigung bewusst bin. Ich liebe meinen Vater, möchte ihn küssen, von ihm berührt und genommen werden. Mir fällt auf, dass ich nie darüber nachdachte oder ihn fragte, warum er letztlich auf mich eingeht und mit mir schläft, obwohl es gegen seine Moral verstößt. Ich ziehe an meiner Zigarette. Hofft er tatsächlich, dadurch verhindern zu können, dass ich mich fremden Männern hingebe? Waren seine Bemerkungen dahingehend doch ernst gemeint? Vielleicht ist es besser, die Antwort nicht zu kennen. Es würde ohnehin nichts an den vergangenen Geschehnissen ändern. Den derzeitigen Zustand unserer Beziehung ertrage ich allerdings nicht auf Dauer. Ich fühle mich schuldig wegen meines Verhaltens und meinem Vater schrecklich entfremdet. Hinzu kommt, dass ich sein Verhältnis zu Taichi noch immer nicht einschätzen kann. Beide gaben zu Sex miteinander gehabt zu haben. Einmal. Später sah ich, wie sie sich auf unserem Sofa im Wohnzimmer innig küssten und mit ihren Händen unter die Kleidung des Anderen glitten. Sind meine Zweifel in diesem Fall wirklich noch eine Frage des Vertrauens? Dabei weiß ich nicht einmal, wem meine Eifersucht eigentlich gilt. Trotzdem ist es mir lieber, die zwei Menschen, die ich liebe, gehen miteinander ins Bett, statt es mit Fremden zu treiben. Besonders die Tatsache, dass mein Freund Frauen vögelt, widert mich an. Deshalb erzählte ich Taichi nicht, dass Sora Studentin an meiner Uni ist und ich versuche sie mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten. Hinzu kommt die gemeinsame Vergangenheit der beiden. Ich habe ohnehin Angst, Tai an eine Frau zu verlieren. Aber ihn ausgerechnet an diese Frau zu verlieren wäre unerträglich für mich. Taichi gehört mir. Bis zum Tod. Beiläufig lasse ich den Rauch zwischen meinen Lippen entweichen. Ich lehne mich vor, stütze meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel und lasse meinen Blick über die Grünanlagen schweifen. Noch ist Tai nirgends zu sehen. Warum nur ließ ich mich von ihm überreden, an einem Freitag um diese Uhrzeit nach Akihabara zu fahren? Seufzend schaue ich zu Boden, auf meine Schuhe. Wegen der Veröffentlichung eines Videospiels. Durch endlose Menschenmassen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich diese arglose Seite an ihm unglaublich süß finde. Er wirkt so unschuldig. Generell scheint es Taichi besser zu gehen. Seit ich ihn vor einigen Monaten zu dem Entzug zwang, hat er nach meiner Beobachtung keinen Alkohol mehr getrunken. Er konzentriert sich jetzt komplett auf sein Studium, weshalb wir uns seltener sehen können. So kann ich allerdings mehr Zeit bei meinem Freier verbringen, ich würde es mir nie verzeihen, wenn aufgrund meiner Abwesenheit etwas passiert. Ansonsten verläuft die Beziehung zu Taichi beinahe beunruhigend konfliktfrei. Man könnte sagen, dass wirklich alles gut geworden ist. Fühlt es sich so an, glücklich zu sein? Wie mit Beruhigungsmitteln zugedröhnt, dumpf und fremdgesteuert? Ich habe mich vorerst mit dem Leben abgefunden. Aber ich werde gelebt. Ist das der Zustand, der von der Gesellschaft als normal bezeichnet wird? Ich lasse die Zigarette zu Boden fallen und betrachte einige der mir unbekannten Individuen. Sind sie überhaupt einzigartig? Am Ende geht es lediglich um Anpassung, Gleichheit und Gemeinschaft, da nur so ein Zusammenleben funktionieren kann. Der Preis jedoch ist hoch, wenn man mit der Intensität seiner Gefühle zahlen muss. Den meisten Menschen scheint das egal zu sein. Oder sind sie eher klug, weil ihnen bewusst ist, dass gedämpfte Emotionen weniger Schmerz bedeuten? Schmerz. Möglicherweise kann ich mit Hilfe der Rasierklinge meine innere Paralyse zerschneiden und mein Leben endlich spüren. Allerdings bedeutet das, einen Schritt zurück zu machen, und die Gefahr eines gänzlichen Rückfalls ist groß. Vollkommen überfordert von mir selbst vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen. Was soll ich tun? Ist ein geordnetes Leben nicht einfacher? Bin ich damit glücklich? Nein. Diese Frage ist überflüssig. Ich darf Taichi und meinem Vater mein altes Ich nicht erneut antun. Seufzend zünde ich mir eine weitere Zigarette an. Auch wenn ich das Leben nicht spüre und ich mir selbst fremd bin, weiß ich, dass es mir gut geht. Es gibt keine Probleme. Alles ist gut. Mir geht es gut. Ich bin vermutlich glücklich. Es herrscht Stille im Raum. Nur ein stetes Rascheln, gelegentliche Funksprüche oder Alarmsirenen mit einhergehendem Schusswaffenlärm sind zu hören. Ich liege auf meinem Sofa und beobachte Taichi beim Spielen, der mit mir zugewandtem Rücken vor mir auf dem Boden sitzt. Wenn er so nah ist, möchte ich ihn berühren, seine Haut auf meiner spüren und von seinem Duft umhüllt werden. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, drehe mich auf den Rücken und starre zur Decke. Eine Melodie kommt mir in den Sinn, ich schließe die Augen, um mich ganz darauf einlassen zu können. „Dein Verhalten beunruhigt mich, Yamato“, meint Tai plötzlich, während er seine Deckung aufgibt und sich den Weg freischießt. „Warum?“ Ich öffne meine Augen wieder, schaue zur Seite und verfolge das Geschehen auf dem Bildschirm. „Was fühlst du?“ Irritiert betrachte ich meinen Freund, dessen Aufmerksamkeit noch immer auf das Spiel gerichtet ist. „Wie meinst du das?“, frage ich nach, als wüsste ich nicht, worauf Tai anspricht. „Mir kommt es so vor, als würdest du lediglich existieren.“ Hektisch lädt er seine Waffe nach. „Hab ich nicht recht, Yamato?“ „Es ist also offensichtlich“, stelle ich unterkühlt fest. „Nein. Wer dich nicht kennt, wird vermutlich denken, dass es dir gut geht. Aber ich kenne dich. Du versuchst, möglicherweise unbewusst, deine Gefühle und Empfindungen abzutöten, um auf deine Umwelt ausgeglichen zu wirken. Bis zu einem gewissen Punkt funktioniert das auch, zumindest bei Fremden, aber was passiert, wenn dieser Punkt überschritten wird? Davor habe ich Angst. Natürlich finde ich es bemerkenswert, was du in den letzten Monaten geschafft hast. Du fügst dir keine Schnittwunden mehr zu, isst für deine Verhältnisse halbwegs normal und bist, abgesehen vom Nikotin, drogenfrei. Doch ehrlich gesagt ist mir der Preis dafür zu hoch. Ich möchte meinen Yamato und keine leblose Puppe haben.“ Taichi bleibt nach wie vor von mir abgewandt, erschießt reihenweise feindliche Soldaten. „Entschuldige“, ist das Einzige, was ich meinem Freund entgegne. Ich drehe mich wieder auf den Rücken und starre erneut die Decke an. Tai schweigt. „Wie soll ich mich verhalten?“ „Verdammt, genau das meine ich. Du bist momentan wie eine Maschine, die nur stumpfsinnig agiert, Befehle ausführt. Warum verfällst du immer gleich in Extreme? Entweder empfindest du zu stark oder du empfindest nichts. Das muss doch auch für dich anstrengend sein, oder?“ Mein Freund drückt die Pause-Taste, bleibt aber unbewegt sitzen. Es ist still im Raum. Viel zu still. „Dazwischen“, unterbreche ich das Schweigen. „Ein Dazwischen bedeutet doch weder Minimum noch Maximum, also Unvollkommenheit. Demnach ist es besser, etwas anzufangen, ohne es zu beenden? Oder es zwar zu beenden, aber nur die Hälfte gemacht zu haben? Meine Gefühle für dich dürfen somit keine Gleichgültigkeit sein, ebenfalls keine Liebe oder Hass.“ Ich überlege einen Moment. „Willst du mir auf umständliche Weise zu verstehen geben, dass du statt unserer Beziehung lieber eine Freundschaft hättest?“ „Du verstehst anscheinend überhaupt nichts.“ Tai klingt genervt und drückt die Play-Taste. Ich betrachte eine Weile die Rückansicht meines Freundes. „Ist die Unterhaltung für dich beendet?“ „Mit dir kann man im Augenblick nicht reden.“ „Wie meinst du das?“, frage ich verdutzt. „In diesem Zustand eine vernünftige Diskussion mit dir führen zu wollen ist sinnlos. Man erreicht dich ohnehin nicht.“ „Wir unterhalten uns gerade vollkommen normal und ruhig“, erwidere ich gelassen. „Darum geht es nicht… beziehungsweise doch, denn genau dieses Auftreten von dir ist das Problem. Nichts scheint dich in irgendeiner Weise ernsthaft zu tangieren.“ Ich seufze. „Manchmal denke ich, die Beziehung mit Akito war leichter.“ Erschreckt setze ich mich auf, als Tai den Kontroller auf den Boden wirft und dann zu mir schaut. An seinem Blick erkenne ich, dass ich ihn mit meiner Bemerkung unglaublich verletzt habe. Ohne ein Wort zu sagen, verlässt mein Freund das Zimmer. Normalerweise betäubte er sich in solchen Situationen mit Alkohol, weshalb ich rasch aufstehe und ihm folge. Er sitzt in der Küche, mir zugewandt am Tisch, seine Arme auf die Platte gestützt, das Gesicht von seinen Händen verdeckt. Die Geräusche der eingeschalteten Kaffeemaschine wirken unnatürlich laut. „Tai…“ „Ich hasse es, wenn du mich mit diesem Schwanzlutscher vergleichst. Zudem ist er tot, verdammt!“ Abschätzig betrachte ich meinen Freund, der weiterhin in seiner Haltung verharrt. „Ja, er ist tot. Und du bist ebenso ein Schwanzlutscher“, bemerke ich tonlos. „Denn du lutschst meinen Schwanz.“ „Nein, Yamato. Nicht mehr.“ Taichi schaut mich an. Traurigkeit zeichnet sich in seinen Augen ab, zugleich lächelt er mich an. „Wir haben doch schon lange keinen Sex mehr. Seit meinem Entzug fasst du mich nicht mehr an. Soll ich wieder trinken, damit du mit mir schläfst? Oder wirst du von perversen, alten Säcken so sehr durchgevögelt, dass du auf mich keine Lust mehr hast?“ „Ich gebe mich nur noch einem Freier hin“, korrigiere ich meinen Freund. „Ja, einem Kinderficker.“ Seine Worte sind voller Abscheu. „Er ist kein Kinderficker“, entgegne ich ruhig. „Und wenn du keine Ahnung hast, Taichi, solltest du besser deinen Mund halten. Außerdem dachte ich, wir sprechen über uns und nicht über meinen Freier.“ „Warum nimmst du so ein widerliches Arschloch in Schutz? Bist du wirklich so verblendet? Merkst du nicht, wie hörig du ihm mittlerweile bist? Wach endlich auf, Yamato! Er macht dich von sich abhängig. Das andere betreffend gebe ich dir recht. Wir sprechen über uns. Leider ist dieser Wichser zwangsläufig ein Bestandteil, immerhin fickt er meinen Freund.“ Schweigend nehme ich zwei Tassen aus dem Schrank und fülle sie mit Kaffee. Ich stelle sie auf den Tisch und nehme Tai gegenüber Platz. „Ich liebe dich“, sage ich. „Lass es, Yamato. Wenn deine Worte derart emotionslos klingen, dann sag lieber nichts.“ Nachdenklich nehme ich einen Schluck der heißen Flüssigkeit. „So wie es jetzt ist, muss es auch bleiben, Taichi. Gefällt es dir nicht, bring es zu einem Ende. Und werde glücklich.“ Mit starrem Blick steht mein Freund auf, kommt auf mich zu und schlägt mir schmerzhaft ins Gesicht. Dann sackt er kraftlos, mit gesenktem Kopf, in sich zusammen. Anscheinend gibt er auf. „Was muss ich tun, um meinen Yama wiederzubekommen? Ich vermisse ihn so sehr.“ Reglos schaue ich auf Tai herab. Offenbar habe ich es geschafft. Ich fühle nichts. Trotzdem oder gerade deshalb beuge ich mich zu Tai und nehme ihn in den Arm. Er weint. „Es tut mir leid“, flüstere ich. Vermutlich sind derartige Phrasen im Augenblick angebracht, selbst wenn ich eigentlich nichts bereue. Ohnehin ist das Einzige, woran ich momentan denke, Heroin. Ich ertrage die Realität einfach nicht. Egal wie oft ich es versuche oder wie sehr ich es mir wünsche. Für meinen Vater. Für Taichi. Rötlich-goldenes Licht scheint durch das Fenster in mein Zimmer. Es umhüllt mich mit einer angenehmen, sanften Wärme, die jedoch mit Einsetzen der Dunkelheit durch kühle, von mir ersehnte Nachtluft verdrängt wird. Ich sitze mit dem Rücken an mein Bett gelehnt auf dem Boden, in der Hand eine Rasierklinge. Allein dieses kleine Metall zwischen meinen Fingern zu spüren ist unbeschreiblich und erleichternd vertraut. Seit langem fühle ich wieder eine Art Stimulation, Erregtheit, sogar Glück, welches nicht heroininduziert ist. Allerdings erscheint diese Empfindung beinahe nichtig, wenn man es mit einem, durch Heroin herbeigeführten, Glücksgefühl vergleicht. Ich betrachte die Klinge liebevoll, dann schiebe ich meinen Ärmel nach oben und gleite mit der Schneide leicht über die Unebenheiten der vernarbten Haut. Vor ein paar Tagen meinte Taichi zu mir, er wolle seinen Yama zurück. Seither hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich verstehe weder, was er mit dieser Forderung meinte, noch weiß ich, wie ich mich jetzt verhalten soll. Aber ich weiß, dass ich ihn sehen will, ihn bei mir haben und berühren will. Ich weiß, dass ich ihn liebe, auch wenn ich es momentan nicht fühlen kann. Für Tais Unverständnis habe ich jedoch Verständnis. Es fällt schwer, etwas zu glauben, das man nicht kennt, von dem man dachte, es wäre nicht möglich, nicht existent oder was sich, logisch betrachtet, als Gegensätzlichkeit an sich eigentlich ausschließt. Der Gedanke an meinen Freund erregt mich und verstärkt die Sehnsucht, mit ihm schlafen zu wollen, zusätzlich. Ich lege die Rasierklinge neben mich auf den Boden, öffne stattdessen meine Hose, lege meinen Kopf in den Nacken, wobei er auf der Matratze zum Liegen kommt und schließe die Augen. Mit der Imagination, meine Hand wäre die Taichis, hole ich mir einen runter. Meine stockende Atmung und mein unterdrücktes Stöhnen sind die einzigen Geräusche im Raum. Als ich die provozierte Feuchtigkeit in meiner Hand spüre, verharre ich noch einen Augenblick. Dann öffne ich die Augen. In meinem Zimmer ist niemand. Ich bin mit mir allein. Voller Abscheu betrachte ich meine Hand, an der mein eigenes Sperma klebt. Ich bin wirklich das Letzte. Ekelhaft und pervers. Als Stricher fühlte ich mich besser. Weil ich mich schlechter fühlte. In den meisten Fällen ging es nicht um Sex. Wurde ich von alten Männern entsprechend ihrer widerlichen Fantasien gefickt, war ich das, was ich bin, und bekam, was ich verdiente. Für mich stellt das keinen Betrug an meinem Freund dar, es ist eher eine Art Selbsterziehung, Maßregelung. Tai jedoch sieht das anders, weshalb ich mit der Prostitution nicht wieder anfangen werde. Ausschließlich mein Freier besorgt es mir noch. Ausschließlich er. Zwar weiß dieser mittlerweile sehr genau, wie er mit mir umgehen, mich anfassen muss und nimmt mich oft sehr hart, aber er ist nicht Taichi. Nur bei ihm habe ich das Gefühl, allein durch sein Berühren meines Körpers zu kommen. Nur er ruft schmerzhaft intensive Lust in mir hervor. Nur ihn umgibt dieser beängstigende und zugleich aufregende Hauch von Wahnsinn. Erneut bin ich allein durch meine Gedanken erregt. Ich will ihn so sehr! Mit aller Kraft beiße ich auf meine Lippen, sodass ich aufgrund einer kleinen Wunde Blut schmecke. Verzweifelt schaue ich auf die Rasierklinge, die noch immer neben mir auf dem Boden liegt. Ich lächle bedauernd. Diese Lösung wäre zu einfach. Tai anzurufen ist allerdings erst recht keine Option. In meiner jetzigen Verfassung könnte ich mich mit Sicherheit nicht mehr beherrschen. Dabei darf es nicht noch einmal passieren. Um jeden Preis muss ich Taichi vor mir beschützen, denn alles, was geschah, ist meine Schuld. Die erste Vergewaltigung und alle, die folgten, trieben ihn zu Gewalt, Selbstverletzungen, vermutlich sogar Selbstmordversuchen und letztlich in die Alkoholabhängigkeit. Er darf in diese Welt, die nicht mehr seine ist und auch nie wieder sein sollte, nicht zurückfallen, nur weil ich erneut Hand an ihn lege. Ich niese und werde dadurch unerwartet aus meinen Gedanken gerissen. Träge stehe ich auf, hole aus meinem Schrank eine Hose sowie Shorts und gehe ins Bad, um meine Hände zu waschen, mich zu säubern und umzuziehen. Die beschmutzte Kleidung werfe ich auf einen angehäuften Wäscheberg. Allgemein ist die Wohnung in einem desolaten Zustand. Nur das Zimmer meines Vaters und das Wohnzimmer sind unangetastet. In der Luft ist noch immer ein Hauch seines Duftes. Ich vermisse meinen Vater sehr. Das Betreten einer der beiden Räume würde meine Sehnsucht nur verschlimmern, weshalb ich diesen Teil der Wohnung lieber meide. Ich gehe zurück in mein Zimmer, hebe die unbenutzte Rasierklinge auf und lege sie auf den Tisch. Am geöffneten Fenster atme ich tief ein. Die Luft vom Tag ist noch etwas stickig, aber es weht ein leichter Wind, ein Vorbote, der eine kühlere Nacht verspricht. Vielleicht sollte ich ein wenig nach draußen gehen, um den Kopf freizubekommen. Ein wunderbar funktionierender Skill, der aber so abwegig intelligent, beinahe genial ist, dass er mir erst in der Klinik beigebracht werden musste. Mit einem bitteren Lachen zünde ich mir eine Zigarette an. Das Nikotin beruhigt ein wenig, doch es reicht nicht. Meinen Freier möchte ich derzeit nicht um Hilfe bitten. Er hat genug eigene Probleme, die zudem wesentlich schwerwiegender sind. Kurz überlege ich, während ich den Rauch der Zigarette leicht schmerzend in meinen Lungen spüre. Viele Möglichkeiten habe ich nicht mehr. Meine Mutter und Takeru kommen ohnehin nicht in Frage. Ich möchte die Beiden nicht auch noch mit mir belasten. Nach einigen weiteren Zügen werfe ich den übriggebliebenen Filter aus dem Fenster. Erneut legt sich ein Lächeln auf meine Lippen, eine Mischung aus Freude, Traurigkeit und Resignation. Wem versuche ich eigentlich die ganze Zeit etwas vorzumachen? Muss ich mich selbst belügen? Brauche ich eine Rechtfertigung vor meinem eigenen Ich? Wozu denke ich über Lösungen nach, die von vorn herein nie Lösungen waren? Nie sein konnten, weil ich ihnen keine Chance gab. Weil ich sie nicht als Lösungen wollte. Weil ich weiß, dass nur Heroin mir geben kann, wonach ich suche, was ich mir wünsche und ersehne. Doch auch dieses Gefühl des vollkommenen Glücks ist bei Weitem nicht mehr so stark und befriedigend wie am Anfang. Eigentlich müsste ich die Dosis erhöhen, was nur möglich wäre, wenn ich meinen Freier hintergehen würde. Allerdings ist der wachsam geworden. Er weiß, wie gefährlich der Abgrund ist, an dem ich mich befinde. Und ihm ist bewusst, dass er selbst mich dorthin geführt hat. Ich möchte nicht in die endlose Tiefe abstürzen. Ich möchte bei meinem Freier bleiben, der mit aller Kraft versucht mich festzuhalten. Routiniert bereite ich den sehnsüchtig erwarteten Schuss vor. Dann setze ich mich wieder an mein Bett auf den Boden, lege das Fixierband um meinen Arm und ziehe es fest. Ich betrachte meine Armbeuge, die mir einen weiteren Grund aufzeigt, weshalb ich nicht mit Taichi schlafen kann. Die Vernarbungen der Einstichstellen sind mittlerweile auch für Laien deutlich sichtbar und entsprechende Rückschlüsse leicht zu ziehen. Doch eigentlich ist es egal. Keiner der eben gedachten Gedanken hat eine Bedeutung. Mein Leben halte ich in meiner Hand. Und gleich durchströmt es meinen Körper. Befreit mich von mir und der Welt. Dann ist alles gut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)