So einfach von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- So Einfach Die Abartigkeit meiner selbst wird mir wieder einmal deutlich bewusst, als ich die Narben auf meiner Haut betrachte. Finde ich sie schön? Oder abstoßend? Jedenfalls erinnern sie mich. Daran, dass ich leben will. Dass es immer weitergeht. Aber geht es das wirklich? Oder ist am Ende doch alles sinnlos? Sicher, denn es ist egal, was wir tun. Das Ende ist immer das gleiche. Es klingelt. Schwerfällig erhebe ich mich von meinem Bett. Ich schaue zur Uhr. Das wird Tai sein, wie immer um diese Zeit. Wie jeden Tag. Ich überlege kurz, mir ein Hemd überzuziehen, lasse es aber. Tai ist den Anblick meines Körpers schon gewohnt. Und ich mag es, wenn seine Augen mich immer wieder unbewusst mustern, um die Zeichen, seine Zeichen, zu betrachten. Langsam gehe ich den Flur entlang. Bedächtig, um das Pulsieren in meinem Kopf nicht zu verstärken. Als ich die Tür öffne, schaue ich direkt in die braunen Augen Tais. Schnell senke ich den Blick. „Komm rein.“ Ich wende mich ab und gehe in die Küche, um Kaffee zu kochen. „Danke.“ Die Antwort von Tai kommt automatisch, als ich ihm die Tasse reiche. Dann schließe ich die Tür meines Zimmers, setze mich auf den Stuhl an meinem Schreibtisch und versuche beschäftigt zu wirken. Mein Freund hat auf dem Bett Platz genommen, wie immer. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken. Es macht mich irre, doch ich sage nichts. Das Ticken der Uhr scheint immer lauter zu werden. Unerträglich laut. Angespannt stehe ich auf und schalte den CD-Player ein. Zwischen mir und den Tagen dieser Ewigkeit Versperren Mauern mir den Weg Wenn nichts als Leere übrig bleibt Erinnerung, Besessenheit Auf der Suche nach dem zweiten Ich verbrannt „Mach es aus!“, schreit Tai mich plötzlich an. Ein Schauer durchfährt meine Glieder und ich drehe mich langsam zu ihm um. Seine Augen fixieren mich. In seinem Gesicht spiegelt sich unendlicher Schmerz wider. Ich schalte die Musik ab und lasse ihn in meinem Zimmer allein zurück. Der Kopfschmerz wird stärker, als ich schwer atmend die Küche betrete. Was war das gerade? Weshalb hat er mich so angesehen? Gefühle. Verdammt, warum waren da Gefühle? Ich darf es nicht zulassen, nicht noch einmal. Weder von meiner noch von seiner Seite. So einfach ist es nicht. Ich kann ihn nicht lieben. Er kann mich nicht lieben. Wir sind nicht fähig zu solchen Gefühlen. Wir sind zu gar keinen Gefühlen fähig und doch spüren wir so unendlich viel. Es tut weh. Ich will es töten. Alles in mir. Jeden noch so kleinen Schmerz, jedes Gefühl. Und doch will ich fühlen. Ich will nicht tot sein. Nicht innerlich, wenn die Hülle noch lebt. Ich spüre das Pulsieren in meinen Adern. Es macht mich wahnsinnig, doch es gehört zu mir. Ich identifiziere mich damit. Ohne wäre ich unvollständig. Genau wie ohne Tai. Er ist wie ein Teil von mir. Wie krankhaftes Gewebe, wie befallene Organe, die man dennoch zum Leben braucht. Man lernt, mit der Behinderung umzugehen, mit ihr zu leben. Sie gehört dazu. Sie macht einen aus. Man selbst ist die Krankheit. Vielleicht ist sie heilbar. Das faule Fleisch operativ entfernbar. Aber dann wäre man nicht mehr man selbst. Ich wäre nicht mehr ich. Ich betrete das Badezimmer und drehe hinter mir den Schlüssel im Schloss. Meine Hände zittern. Ich bekomme kaum Luft. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Kehle abdrücken. Mir wird schwindelig und ich sacke langsam zu Boden. Ich spüre die kalten Fliesen an meinen Beinen. In meinem Kopf hämmert es immer lauter und ein Rauschen in meinen Ohren vernebelt meinen Verstand. Vor meinen Augen verschwimmt das Bild. Ich versuche nach etwas zu tasten, das mir Halt geben könnte. Meine Finger bekommen das Waschbecken zu greifen, an dem ich mich mühsam hochzuziehen versuche. Meine Beine drohen nachzugeben, aber ich schaffe es, mich einigermaßen aufrecht zu halten. Mein Blick hebt sich und starrt nun genau auf mein Spiegelbild. Die Lippen sind spröde, eingerissen und genauso weiß wie der Rest des ausgemergelten Gesichtes. Die blonden Haare hängen strähnig und ungekämmt herunter. Ein erbärmlicher Anblick. Ich ertrage mich selbst nicht und wende mich angewidert ab. Als ich mein Zimmer wieder betrete, ist mein Freund nicht da. Wahrscheinlich ist er gegangen. Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen. Tai. Verdammt! Schon wieder Tai. Warum beherrscht er in letzter Zeit so oft meine Gedanken? Ich will das nicht! Ich will nicht seine Geisel sein! Es darf keine Abhängigkeit entstehen. Abhängigkeit macht schwach und ich will nicht schwach sein! Aber ist es dafür nicht längst zu spät? Bin ich durch ihn nicht schon viel zu verletzlich? Ist er nicht schon viel zu tief in mich eingebrannt? Wie ein Stigma? Ich muss… Durch ein Klopfen an meiner Tür werde ich aus den Gedanken gerissen. Tai? Ist er doch nicht gegangen? Ich quäle mich aus dem Bett und öffne. „Papa.“ Ich schaue ihn verwirrt an. Er sollte doch eigentlich geschäftlich unterwegs sein, warum… „Yamato.“ Er sieht mich besorgt an. „Bist du krank? Du siehst schlimm aus.“ „Was willst du hier?“ „Na hör mal, ich wohne hier schließlich.“ Sein Blick verfinstert sich. Ich habe jetzt keine Lust auf Grundsatzdiskussionen, schiebe mich an ihm vorbei in den Flur und ziehe Stiefel und Mantel an. „Wohin willst du?“ „Raus“, sage ich knapp, nehme meinen Schlüssel von der Kommode und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Ich hab keine Angst in der Dunkelheit, die mich umgibt Hier kann man die Tränen gar nicht sehen Die Wellen brechen über mir Am Meeresgrund lauf ich zu dir Ich such nicht mehr und dennoch find ich dich Der Text des Liedes, welches Tai vorhin zur Verzweiflung gebracht hat, geht mir durch den Kopf. Die Straßen sind ziemlich leer, obwohl gerade erst die Dämmerung einsetzt. Wahrscheinlich ist es den Leuten zu kalt und sie machen es sich lieber in ihren Wohnungen gemütlich. Ich mag die Kälte. Ich habe kein bestimmtes Ziel. Was sollte ich auch für eines haben? Es ist wie im Leben. Man braucht keine Ziele, um das zu erreichen, was letztlich alle erreichen. Der Tod kommt so oder so. Er ist für alle unausweichlich. Ob ich nun ein tolles Leben mit vielen Zielen und ehrenwerten Tätigkeiten habe oder ob ich ein Niemand bin… wen interessiert das? Es ist irrelevant. Wenn man stirbt, war es das. Es gibt kein Leben danach, keine Wiedergeburt oder dergleichen. Wir verfaulen in unseren Särgen unter der Erde oder werden gleich verbrannt. Und wir bekommen es noch nicht einmal mehr mit. Also, wozu das ganze Theater im Leben? Für andere? Für mich selbst? Tai. Ich… Nein! Gewaltsam hole ich mich aus meinen Gedanken. Ich will nicht an ihn denken müssen. Meine Schritte führen mich direkt in eine Seitengasse. Nach einigen Metern bleibe ich stehen und lehne mich erschöpft gegen die Mauer. Ich schließe meine Augen. Einige Straßengeräusche dringen an meine Ohren, hin und wieder vernehme ich Worte von Menschen, die sich unterhalten oder telefonieren. Ich zittere und merke, wie meine Beine allmählich nachgeben. Langsam rutsche ich die Mauer entlang nach unten. Mir ist schwindelig und schlecht. Meine Gedanken kreisen immer schneller und schneller. Ich kann ihnen nicht mehr folgen. Sie werden lauter. Ein Rauschen in meinen Ohren. Es dringt in meinen Kopf. Es sticht. Es pulsiert. Ich versuche, die Augen offen zu halten. Sind sie offen? Punkte. Überall Punkte. Sie tanzen. Sie werden größer. Und schwärzer. Meine Kehle. Ich will etwas sagen. Sie brennt. Es schmerzt. Trocken. Alles trocken. Kein Laut kommt hervor. Nichts. Ich versuche zu schlucken. Etwas hindert mich. Jemand hindert mich. Tai. Taubheit. Etwas anderes spüre ich nicht. Langsam öffne ich die Augen. Wie viel Zeit ist wohl vergangen? Wie lange sitze ich bereits in dieser gammeligen Gasse? An die Wand des baufälligen Hauses gelehnt? Ein Haus, welches überflüssig ist, allenfalls das Gesicht der Stadt verschandelt. Es ist mir so ähnlich. Wir beide warten darauf, endlich erlöst zu werden und aus dem Bewusstsein der Menschheit zu verschwinden. Doch wie ihm wird es auch mir verwehrt. Ich versuche meine Beine zu bewegen, um aufzustehen. Ich spüre sie nicht. Die Kälte hat sich bis zu meinen Knochen durchgenagt. Bedächtig lege ich den Kopf in den Nacken und blicke erschöpft nach oben. Der Himmel ist grau bedeckt und vereinzelt tänzeln Schneeflocken gen Erde. Diese Leichtigkeit habe ich schon immer beneidet. Unbeschwerte Freiheit. Grenzenlosigkeit. Und doch auch diese Kälte und Leblosigkeit, ebenso wie ich sie fühle. Sanfte Atemwölkchen gesellen sich zu dem Bild, welches sich meinen Augen bietet. Doch sie haben keine große Lebensspanne, denn sie lösen sich nach kurzer Zeit in Nichts auf und machen den Weg für neue frei. Es ist ein Kommen und Gehen. Leben und Sterben. Kein Kampf um Existenz. Keine kläglichen Versuche, etwas zu leisten, unvergesslich zu werden. Wozu auch. Eine gleicht der anderen. Und selbst wenn nicht, so erfüllen sie doch keinen bestimmten Zweck für das Bestehen des Universums. Sie entstehen ungefragt, lautlos und genauso gehen sie auch. „Yama…“ Eine Stimme dringt unwirklich an mein Ohr. Wie in Trance senke ich meinen Blick und drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der mein Name gerufen wurde. Tai. Verdammt. „Was tust du denn da? Willst du erfrieren?“ Er schaut mich vorsichtig besorgt an. Keine schlechte Idee, aber diese Methode ist mir den Erfolg betreffend zu unsicher. Aber warum ist er hier? Warum ausgerechnet er? Ich will ihn nicht sehen. Ich darf ihn nicht sehen! „Was willst du, Taichi?“ Meine Stimme klingt härter als beabsichtigt, woraufhin er leicht erschreckt und mich dann verzweifelt ansieht. Ich kann den Schmerz in seinen Augen lesen, doch es ist zu spät. „Lass mich einfach in Ruhe. Ich kann dich nicht mehr ertragen. Deinen Anblick, deine Nähe, deinen Geruch, deine Berührungen, deine Stimme… all das kotzt mich an. Verstehst du? Du hinderst mich am Leben. Du erdrückst mich, nimmst mir die Luft zum Atmen… ich…“ „Nein!“ Ich sehe Tränen in seinen Augen. „Das ist nicht wahr! Das bist alles nur du selbst! Wach endlich auf, verdammt!“ Bei diesen letzten Worten dreht er sich weg. Langsam und recht wackelig setzt er sich in Bewegung und mit jedem Schritt entfernt er sich weiter von mir… bis ich ihn aus den Augen verliere. Mit zitternder Hand versuche ich die Wohnungstür zu öffnen. Es brennt noch Licht, das bedeutet, mein Vater ist noch wach. Es ist spät geworden, denn ich saß noch eine gefühlte Ewigkeit an diesem maroden Haus. Ich hatte gehofft, dass ich meinem Vater nicht mehr begegnen würde, wenn ich in der Nacht erst nach Hause käme. Ich versuche mich unbemerkt in mein Zimmer zu schleichen, doch ich höre Bewegung im Wohnzimmer. „Wo warst du so lange?“, fragt er übertrieben streng. „Das geht dich nichts an.“ Bestimmt kommt er auf mich zu und stellt sich mir in den Weg. Er erhebt die Hand. Ich schaue ihm provozierend in die Augen und warte auf den süßlich bitteren Schmerz. „Nimm ein heißes Bad, sonst erkältest du dich. Deine Lippen sind ganz blau und du zitterst.“ Er senkt die Hand, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort zurück ins Wohnzimmer. Ich hatte mein Zittern nicht wahrgenommen, sonst hätte ich es vor ihm verborgen. Ich hasse es, wenn man mir Schwäche anmerkt. Ich hasse mich, wenn ich Schwäche zeige. Ich hasse mich, weil ich schwach bin. Ich hasse mich, weil ich ich bin. Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf mein Gesicht, als ich die Augen öffne. Benommen blicke ich auf meinen Wecker. Zu früh, um aufzustehen. Eigentlich will ich gar nicht mehr aufstehen. Wozu auch? Ich drehe mich um und ziehe die Decke über meinen Kopf. Wenn ich lange genug so liegen bleibe, ersticke ich vielleicht irgendwann. Unsinniger Gedanke. Ich hasse meine Gedanken. Tai. Seine Worte kreisen mir noch immer im Kopf herum. Im Grunde weiß ich, dass er Recht hat. Mich macht wütend, dass er es auch weiß. Mich macht wütend, dass er es laut ausgesprochen hat. Was soll ich jetzt tun? Es einfach zu ignorieren ist nicht möglich. Dabei wollte ich ihn nicht mehr sehen, nie wieder an ihn denken. Doch mit diesen Worten hat er mich an sich gebunden. War es das, was er damit bezweckte? Ist er wirklich so berechnend? War sein Verhalten bisher nur Fassade? Ich stehe auf und schalte meinen CD-Player ein. Vielleicht hilft mir die Musik, meinen Gedanken Einhalt zu gebieten. Zurück im Bett ziehe ich die Decke wieder über meinen Kopf und lausche den Klängen des Musikstückes. Der Abgrund, so nah und es hämmert in deinem Kopf Du spürst nur noch die Kälte unter deiner Haut Doch auch der Sturm verweht die Gedanken nicht Den lebenslangen Kampf Und auch der Regen löscht die Tränen nicht Und dein Gesicht verbrennt - es brennt Du wagst nicht, dich zu bewegen, dein Herzschlag verlangsamt sich Die Stunden vergehen, doch es bleibt kalt Doch auch der Sturm verweht die Gedanken nicht Den lebenslangen Kampf Und auch der Regen löscht die Tränen nicht Und dein Gesicht verbrennt Du fragst nicht mehr, was sollte sich jetzt noch ändern? Du fragst nicht mehr, denn du trägst die Antwort in dir Du kannst nichts mehr hören, das Rauschen ist längst verstummt Dein Körper gespalten - fast alles bleibt Du fragst nicht mehr, was sollte sich jetzt noch ändern? Du fragst nicht mehr, das Blatt kann sich nicht mehr wenden Du fragst nicht mehr, welchen Weg du gehen sollst Du fragst nicht mehr, denn du trägst die Antwort in dir Die Antwort. Ich kenne sie schon lange, doch richtig gestellt habe ich mich ihr nie. Ansätze waren immer da, kurze Überlegungen und Impulse, aber es hat nie gereicht. Wollte ich nicht? Konnte ich nicht? Was spielt das jetzt noch für eine Rolle. Letztlich wusste ich doch immer, dass es unvermeidbar sein würde. Das Ende ist immer das gleiche, ob ich mich diesem nun stelle oder nicht. Es gibt kein Entkommen, also kann ich mich dem ebenso gleich ergeben. Zu verlieren habe ich nichts, außer meinem Leben. Aber darin liegt ja auch der Sinn. Sinn… wenigstens am Ende gibt es so etwas wie Sinn. Also liegt der eher im Tod als im Leben? Den Platz für jemand anderen freimachen, niemandem mehr zur Last fallen… sich selbst nicht mehr quälen, ist das letztlich der einzige Sinn? Wozu werden wir dann geboren? Der Sinn des Lebens liegt darin, zu leben. Schöne Worte, doch ich verstehe sie nicht. Ich kann sie nicht umsetzen, so sehr ich auch wollte. Und ich wollte wirklich. Jetzt bin ich zu erschöpft, um noch irgendetwas zu wollen. Alles ist taub. Das Pulsieren in meinem Kopf ist verschwunden. Leere. Kein Gedanke. Ich bemerke noch nicht einmal, wie ich mich aus meinem Bett erhebe und mein Zimmer verlasse. Auch nicht, wie mein Vater in den Flur schaut und mir etwas zuruft. Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich spüre nur eine unbeschreibliche Leichtigkeit. So fremd und doch so sanft umhüllend. Es ist, als könnte ich zum ersten Mal frei atmen. Als würde ich zum ersten Mal fühlen. Fühlen, was es bedeutet, glücklich zu sein. Eine weiße Zimmerdecke. Kahle Wände, von denen der Putz beginnt abzublättern. Trostlos, steril. Seit Wochen der gleiche Anblick. Tag für Tag. Ich liege auf meinem Bett und starre ins Nichts. Es ist einer der wenigen Momente, in denen ich ein paar Minuten für mich habe. Mein Zimmernachbar nutzt den Ausgang, um ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Ich möchte gerade etwas Musik anschalten, weil ich die Stille nicht mehr ertrage, als es an der Tür klopft. „Herr Ishida, Besuch für Sie.“ Hinter der Stationsschwester betritt Takeru, mein kleiner Bruder, den Raum. Mit den Worten „bitte vergessen Sie nicht, dass die Besuchszeit in einer halben Stunde endet und Besuch auf den Zimmern eigentlich nicht gestattet ist“ verlässt sie den Raum wieder und schließt die Tür hinter sich. „Immer wieder freundlich!“ Takeru schaut ihr grimmig hinterher. Dann wendet er sich mir zu. „Wie geht es dir heute?“ Ich schweige und drehe meinen Kopf weg. Draußen vor dem Fenster sehe ich Schneeflocken tanzen. Es ist noch immer Winter, dabei kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, die ich hier bereits eingesperrt bin. Das ist meine Strafe, weil ich zu schwach war. Weil ich versagt habe. Wieder einmal. Wie so oft. Ich bin nicht fähig zu leben, aber sterben kann ich auch nicht. Wozu bin ich nütze? Wieso gibt es mich überhaupt? Ich habe Tai seit damals in dieser Gasse kein einziges Mal mehr gesehen. Habe ich Sehnsucht nach ihm? Oder ist es dieselbe Abhängigkeit wie damals? Hat sich denn nichts geändert? Ist noch alles wie zuvor? Wofür das alles dann? Wenn es letztlich doch umsonst war… „…to! Yamato!“ Die Stimme meines Bruders reißt mich aus diesen Gedanken. Ich drehe meinen Kopf und schaue ihn an. Seine Augen sehen traurig zu mir. Er mustert mein Gesicht. Als wollte er etwas sagen, öffnet er den Mund, doch ohne ein einziges Wort schließt er ihn wieder. Dann steht er auf und öffnet die Zimmertür. Mit einem Blick zurück sagt er: „Ich komme morgen wieder.“ Ein weißer Raum Die Gedanken unerkannt Ein Hauch von Dir verdrängt die Nacht in mir Vergänglichkeit rinnt durch meine Hand Abgesehen vom Vergessen ist nichts, was bleibt Was bleibt? Ist der Morgen noch unendlich weit? Die Welt kann noch warten Im Zwang ihrer selbst Besteht die Zeit nur aus Narben an mir Wozu gibt es Ewigkeit? Die Welt kann noch warten Im Wahn, ungestört Besteht die Zeit nur aus Narben an mir Wozu gibt es Ewigkeit? Dein eigenes Bild Im Spiegel unbewegt Die Stimme lautlos in meinem Kopf Ein Meer versiegt Und man ertrinkt darin Abgesehen von der Zeit ist nichts, was bleibt Ich öffne meine Augen, entferne die Kopfhörer aus meinen Ohren und setze mich langsam auf. Es ist dunkel im Zimmer, sodass ich nur Konturen wahrnehmen kann. Meine Gedanken sind bei Tai. Ein Traum mit ihm. Mit uns. Von der Vergangenheit. Aber irgendwie auch nicht. Ich stehe auf, gehe ins Bad und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Es nervt, dass selbst die Badzimmertür nicht abschließbar ist. Nach dem Abtrocknen verlasse ich das Bad und gehe leise aus dem Zimmer. Ich gehe nach vorn zum Schwesternzimmer. Die Nachtschwester bemerkt mich erst nach einer kurzen Weile und schaut mich fragend an. „Herr Ishida? Können Sie nicht schlafen?“ „Doch… naja, nicht so richtig.“ „Albträume?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Ich schließe Ihnen erst einmal den Aufenthaltsraum auf und mache Ihnen einen beruhigenden Tee. Setzen Sie sich schon hinein.“ „Danke“, sage ich und leiste Folge. Normalerweise stehe ich in der Nacht nicht auf. Selbst, wenn ich nicht schlafen kann oder wirklich schlecht träumte. Doch dieser Traum von Tai… und mir… er hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Ich konnte nicht in diesem Zimmer bleiben. Allein mit meinen Gedanken und… Gefühlen? „So, hier ist Ihr Tee. Lesen Sie etwas oder lösen Sie Rätsel. Das macht meist müde. Falls Sie etwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden. Wenn Sie wieder ins Bett gehen, geben Sie mir bitte Bescheid.“ Ich nicke, habe aber nur zur Hälfte zugehört. Meine Gedanken kreisen in meinem Kopf. Die Stimmen werden lauter und ein unbändiges Verlangen beginnt in mir aufzusteigen. Ich fasse mir an die Schläfen und massiere sie etwas, doch es nützt nichts. Mein Blick irrt suchend im Raum umher. Die Wirklichkeit scheint zu verschwimmen, das Sichtfeld verengt sich, alles scheint sich aufzulösen, zu verzerren, wird größer und kleiner, lauter und leiser, wie in Watte gepackt, verschleiert und doch unglaublich klar… ein lautes Klirren beendet den Wahnsinn. Ich schaue hinab auf meine Hand, dann zur Glasscheibe der Tür, die in tausend Scherben zersprungen ist. Ich höre die eiligen Schritte der Schwester, sie kommt auf mich zu. „Herr Ishida!“ Sie packt mich am Arm. „Herr Ishida!“ Sie dreht mein Gesicht in ihre Richtung. Dann zieht sie mich in Richtung des Schwesternzimmers. „Setzen Sie sich, Herr Ishida! Ich rufe den diensthabenden Arzt.“ Ich komme der Aufforderung nach, setze mich und starre abwesend zu Boden. Was ist passiert? Meine Erinnerungen sind verschwommen. Mein Kopf dröhnt und ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Am Rande bekomme ich mit, wie der Arzt erscheint, die Schwester ihm die Sachlage erklärt und er sich dann an mich wendet. „Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand, Herr Ishida.“ Ich reagiere nicht. „Herr Ishida! Können Sie mich hören, Herr Ishida?“ Ich sehe ihn an und doch sehe ich durch ihn hindurch. Ich spüre, wie er vorsichtig meine Hand begutachtet. Mit einer Pinzette entfernt er ein paar Glassplitter. „Es muss geröntgt werden, um auszuschließen, dass noch Glassplitter in einer der Wunden sind.“ „Was ist passiert, Herr Ishida? Wieso haben Sie das getan?“ Ich antworte nicht. „Ihnen ist klar, dass das Konsequenzen haben wird, Herr Ishida?“ Ich blicke auf und der Bezugstherapeutin direkt in die Augen. „Sie hatten sich in den letzten Wochen doch schon einiges erarbeitet? Wieso solch ein Rückfall? Aber eigentlich sollte es gar kein Suizidversuch werden, habe ich recht, Herr Ishida? Was war der Auslöser für Ihr dysfunktionales Verhalten?“ Meine Augen bleiben an ihren haften. „Also gut. Die Folgen kennen Sie, Herr Ishida. Time out für die nächsten 24 Stunden, danach kein Ausgang ohne Begleitung, ebenso Besuchsverbot, Ihre Verhaltensanalyse ist innerhalb der nächsten zwei Stunden im Schwesternzimmer abzugeben und zur nächsten Gruppensitzung vor den anderen Patienten vorzutragen, sowie Ihre positiven Sanktionen, die Sie umzusetzen haben. Haben Sie das verstanden, Herr Ishida?“ Ihr Blick scheint mich fast zu durchbohren. „Herr Ishida!“ Ich schaue auf meine verbundene Hand. Die Wunden pulsieren etwas. Aber nur ganz leicht. Was war nur passiert? Ich hasse mich, ich hasse Tai dafür. Es ist alles seine Schuld. „Ja“, höre ich mich leise sagen. Ich bin getaucht im stillen See Und habe nicht um Rat gefragt Dabei wird mir wohl jetzt erst klar So tief hat’ ich’s noch nie gewagt Erst ruhig und sanft, so eisig kalt Dann von der Strömung hart erfasst Die Angst, die mich begleitet Ergreift mich nun in wilder Hast In der Tiefe Deiner Träume will ich wieder bei Dir sein Der Atem, wie Gedankenblasen Steigt er auf und mischt sich nun Mit jenem Unsichtbaren Das all unser Tun verschlingt Und ohne Sinn für jedes Ziel Die Kraft auf falschem Weg verzehrt Der Hoffnung alles anvertraut Bin ich ans Licht zurückgekehrt In der Tiefe Deiner Träume will ich wieder bei Dir sein Und der Wind trägt mich fort, immer weiter Die Uhren stehen still, nur das Licht vergeht Zurück. In meiner Welt. Eine Welt, aus der ich eigentlich entfliehen wollte. Es fühlt sich so falsch an. Ich gehöre nicht mehr hierher. Und dennoch muss ich jetzt damit leben. Leben… falls man das so nennen kann. Warum habe ich nicht ernsthaft versucht zu gehen? Wäre dem so gewesen, hätte ich es geschafft. Was hat mich abgehalten? Oder was hat mich erst so weit gebracht? Wie konnte es dazu kommen? Wollte ich wirklich sterben? Ich weiß es nicht. Diese Zerrissenheit zwischen leben wollen und sterben frisst mich auf. Sie lähmt mich, hindert mich am Atmen, am Leben. Und doch existiere ich weiter. Ich bin ein Gefangener meiner selbst. Unfähig über mich zu richten, nicht bereit mich zu akzeptieren. Ich erhebe mich von meinem Bett und schalte den CD-Player aus. Reglos stehe ich in meinem Zimmer. Mein Blick schweift durch den Raum. Ich sehe Dinge, die mir gehören, die mich ausmachen. Doch bin das wirklich ich? Vieles davon bedeutete mir irgendwann einmal etwas. Doch jetzt… jetzt ist da nichts mehr. Keine Gefühle der Zuneigung, noch nicht einmal Besitzanspruch. Wertlos. Genau wie ich. Ich darf nicht nachdenken. Das ist schlecht. Ablenkung. Ich muss etwas tun, damit ich nicht denken kann. Ich verlasse das Zimmer, um in die Küche zu gehen. „Yamato.“ Mein Vater, der am Küchentisch sitzt, sieht von seiner Zeitung auf. „Setz dich. Möchtest du Kaffee? Er ist gerade erst durchgelaufen.“ Er steht auf, nimmt eine Tasse aus dem Schrank, füllt sie mit Kaffee und hält sie mir entgegen. „Danke.“ Ich setze mich ihm gegenüber an den Tisch. Die Atmosphäre ist angespannt. Ich merke, dass er um Normalität bemüht ist, doch es gelingt ihm nicht ganz. Er verkrampft, sobald er mich sieht. Er weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll. Ich würde ihm gern sagen, dass ich kein rohes Ei bin und in Watte gepackt werden muss, doch ich schweige. Wie so oft in letzter Zeit. „Wie läuft die Therapie?“ Ich seufze innerlich. Wieder das Thema. Es ist so sinnlos. „Ganz gut“, lüge ich. Stille. Wir sehen uns nicht an. Das Schweigen ist unerträglich. Draußen höre ich Autos vorbeifahren. Vor dem Fenster wiegt sich ein kahler Baum im eisigen Wind. Schutzlos trotzt er allem, was ihn zerstören will, nur damit er im Frühling neu erblühen kann. Aber wofür der ganze Kampf? Immer wieder aufs Neue? Um letztlich doch zu sterben... es gibt eben kein Entkommen, egal wie sehr man sich auch anstrengt. Egal wie stark der Lebenswille ist. Wozu also anstrengen? „Yamato?“ Ich löse mich von meinen Gedanken und sehe meinen Vater an. „Deine Gedanken…“ Sorge gemischt mit Angst zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. „Du driftest wieder ab und starrst apathisch ins Nichts.“ „Tai kommt nachher noch vorbei.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, aber ohne jede Emotion. Ich liege auf meinem Bett. Meine Augen sind geschlossen. Ich spüre die Wärme von Tais Körper, obwohl wir uns nicht berühren. Er liegt neben mir. Wir schweigen. Es ist dieselbe Zeit wie immer. Wie früher. Früher… eigentlich hat sich nichts geändert. Tai besucht mich jeden Tag um die gleiche Zeit. Manchmal haben wir Sex, die meiste Zeit schweigen wir uns an. Über das, was passiert ist, reden wir nicht. Er fragt auch nicht. „Möchtest du einen Kaffee?“ Ich stehe auf und ziehe mir ein Hemd über. „Yamato.“ Tai setzt sich auf und sieht mich durchdringend an. „Was bin ich für dich?“ Mein Hemd langsam zuknöpfend öffne ich die Tür und gehe in die Küche. Dort angekommen setze ich Kaffee auf und während ich warte, gleitet mein Blick aus dem Fenster. Wieso diese Frage? Wieso jetzt? Es sollte so bleiben, wie es ist. Er darf es nicht wieder kaputt machen. Ich will nicht darüber nachdenken, denn sonst müsste ich mich mir selbst stellen. Meine Gefühle sind tot. Nur das hält mich am Leben. Und ich muss leben… existieren. Für meinen Vater, für meinen Bruder und meine Mutter. Für Tai? Als ich mich gewaltsam aus meinen Gedanken hole, bemerke ich, dass Tai den Raum betreten hat und mich am Tisch sitzend beobachtet. „Woran hast du gedacht?“, möchte er wissen. Sein Gesichtsausdruck ist kalt und ohne jegliche Regung. Schon seit unserem Wiedersehen. Er ist anders. Ich habe meinen Tai vor langer Zeit verloren. Ich weiß nicht, ob der Tai, den ich kannte, noch lebt. Aber was habe ich auch erwartet. Ich habe ihn schließlich zu dem gemacht, was er jetzt ist. Ich habe ihn dazu getrieben, so zu werden. Meine Verdorbenheit, mein Egoismus und meine Abartigkeit haben ihn mit in den Abgrund gerissen. Ich hätte ihn schützen müssen. Ich hätte mich von ihm lossagen müssen, als es noch nicht zu spät war. Ich… was denke ich? Wieso… Gefühle? Ich darf nicht… Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Tais Hand spüre, wie sie eine Strähne aus meinem Gesicht streicht. Sein Blick ist starr. Ich schaue ihn entsetzt an. „Glaubst du, ich schone dich, aus Angst, du könntest dir wieder etwas antun? Du kannst nicht ewig weglaufen. Und ich lasse dich nicht sterben. Erinnerst du dich? Ich sollte dich töten. Du wolltest durch meine Hand sterben. Damals konnte ich es nicht. Doch heute…“ Seine Hand gleitet hinab zu meinem Hals. Er umfasst ihn sanft. Dann drückt er zu. Augenblicklich verändert sich meine Wahrnehmung. Das Rauschen in meinen Ohren nimmt zu und das Pulsieren in meinem Kopf wird stärker. Sein Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Ich schließe sie angestrengt. Meine Hände ergreifen ganz automatisch seinen Arm und krallen sich darin fest. „Bist du jetzt glücklich? Gleich wird es vorbei sein. Ich werde dir das abnehmen, was du allein nicht geschafft hast.“ Bei diesen Worten schiebt er mit seiner freien Hand meinen Ärmel etwas nach oben und streicht behutsam über die längs verlaufende Narbe an meinem Handgelenk. „Du wolltest mich einfach so verlassen. Warum? Was ist geschehen? Mit dir? Mit uns?“ Leichte Melancholie schwingt in seiner Stimme mit. Ich will etwas sagen, doch es gelingt mir nicht. Selbst das Schlucken ist annähernd unmöglich geworden. Ein verzweifelter Versuch bringt mich zum Husten. Ich öffne meine Augen. Ich sehe Tais Gesicht. Seine Augen sind von Tränen erfüllt. Dann verdunkelt sich meine Sicht und ich sacke zusammen. Schmerz. Meine Kehle brennt. Ich versuche zu schlucken. Mit viel Anstrengung gelingt es. Ich möchte die Augen nicht öffnen. Ich weiß, dass er im Zimmer ist. Tai. Er hat sein Versprechen wieder nicht gehalten. Er hat es wieder nicht geschafft. Nur leere Worte. Bin ich enttäuscht? Wütend? Erleichtert? Glücklich? In meinem Kopf dreht sich alles. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Erst jetzt bemerke ich, dass Tai den CD-Player eingeschaltet hat. Ich versuche mich auf die Musik zu konzentrieren. Bleibt falscher Glanz in Deinem Lachen, wenn alles sich wendet Bleibt falscher Glanz in Deiner Nähe Du schwankst, wenn die Erde Dich dreht Kein Wort auf Deinen Lippen, hat die Stille Dich nicht so gestört Nur schwarz und weiß, in Deinem Innern ist die Verteilung der Schuld längst geklärt Du wartest noch auf die Klarheit, Du vergisst, Du bist mittendrin Kannst Du mich sehen, falls man Dich finden will Wird nichts Dich verändern „Yamato. Ich weiß, dass du wieder bei Bewusstsein bist.“ „Du merkst aber auch alles.“ Meine Stimme klingt rau und belegt. „Wieso hast du es nicht zu einem Ende gebracht? Soll das denn ewig so weitergehen?“ „Ich weiß nicht. Sag du es mir.“ Schwerfällig setze ich mich auf. Tai muss mich in meinem Zimmer auf das Bett gelegt haben, nachdem ich das Bewusstsein verlor. Ich schaue ihn an, kann seinem Blick jedoch nicht standhalten. Merklich nervöser werdend versuche ich einen Punkt zu fixieren. Doch meine Augen irren im Raum umher. Ich spüre, dass er mich noch immer ansieht. „Was erwartest du jetzt von mir? Was soll ich deiner Meinung nach machen? So tun, als wäre nichts gewesen, ist ja offensichtlich der falsche Weg.“ „Richtig. Gut erkannt.“ Ich bilde mir ein, Bitterkeit in seiner Stimme zu hören. Ich sehe zu ihm. Sein Blick haftet auf den verschiedenen Tablettenverpackungen, die auf meinem Nachttisch liegen. Mit einem Kopfnicken in diese Richtung fragt er: „Helfen die überhaupt? Ich habe nicht das Gefühl.“ Mit einem Schulterzucken antworte ich: „Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie es ohne wäre.“ Er schweigt. Ich versuche irgendeine Regung in seiner Mimik zu erkennen. Nichts. Dieselben kalten Augen. Seit diesem Vorfall. „Und die Therapie? Bringt die denn was?“ Ungläubig sehe ich ihn an. „Wie bitte?“ Ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Mit einer solchen Frage, mit einer solchen Unterhaltung habe ich nicht gerechnet. „Ich kann keine Verbesserung erkennen, Yamato. Du bist nur noch verschwiegener geworden.“ „Du hast doch keine Ahnung!“, schreie ich ihn an. Ruhig gibt er zurück: „Natürlich nicht. Wie sollte ich auch. Du redest ja nicht mit mir.“ „Geh.“ Ich versuche ihn bei diesen Worten nicht anzusehen. Ich drehe mich weg. Ich will ebenso wenig, dass er mich ansehen kann. Erleichtert höre ich, wie er aufsteht und durch das Zimmer läuft. Ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ohne jegliche Gegenwehr. Habe ich gehofft, dass er sich sträubt? Dass er um mich kämpfen würde? Dass er nicht so einfach gehen würde? Unerwartet legt Tai seine Arme um meinen Körper. Ich spüre den warmen Atem an meinem Ohr, fühle seinen Herzschlag in meinem Rücken. Er drückt mich näher an sich. Ich möchte mich wehren, bin jedoch wie gelähmt. Flüsternd fragt Tai, ohne sich von mir zu lösen: „Wie fühlt es sich an? Wie fühlt sich körperliche Nähe ohne Sex an? Wie fühlen sich die Gefühle eines anderen für dich an? Erträgst du sie? Kannst du sie ertragen? Willst…“ „Sei still!“, schreie ich verzweifelt. „Sei still“, wiederhole ich es flüsternd, jedoch so leise, dass Tai es kaum verstanden haben kann. Ich möchte mich aus seiner Umarmung befreien, rühre mich jedoch nicht. Es ist, als wäre sämtliche Kraft aus mir gewichen. „Warum wehrst du dich nicht? Du willst das alles doch gar nicht. Oder willst du es doch? Schaffst du es nicht einmal, ehrlich zu dir selbst zu sein?“ „Nein!“ Meine Stimme zittert. Ebenso wie mein Körper. „Ich schaffe es nicht. Ich darf es nicht.“ „Wieso nicht?“, möchte Tai wissen, doch ich kann ihm keine Antwort darauf geben. Mich noch immer im Arm haltend sitzen wir auf dem Boden meines Zimmers, als die Dämmerung beginnt und die Dunkelheit langsam Einzug hält. Draußen fallen wieder erste Schneeflocken und ich sehe, wie ein einsames Blatt den verbitterten Kampf verliert, seinen sonst kahlen Baum verlässt, um durch die eisige Winterluft gewirbelt zu werden und irgendwann sanft zu Boden zu gleiten. Es ist beachtlich, dass es so lange durchhalten konnte. Anscheinend war der Wind bisher nicht stark genug, um ein totes Blatt mit sich zu reißen. Doch es war nur eine Frage der Zeit. Ich bemerke ein starkes Schütteln meines Körpers, als ich ein Stück weit in die Realität zurückgerissen werde. Tai. Er sitzt vor mir. Seine Hände zerren an mir und ich sehe, dass seine Lippen sich bewegen und scheinbar zu mir sprechen. Ich kann ihn nicht hören. Nicht verstehen. In meinem Kopf ist völlige Leere. Die Umgebung verschwimmt. Ich fühle nichts. Nicht einmal mehr seine Berührungen. Alles ist taub und doch irgendwie seltsam intensiv. Dann durchfährt mich ein zwiebelnder Schmerz. Meine Augen sind weit aufgerissen, als ich die Silhouette Tais vor mir in der Dunkelheit erkenne. Seine Hand ist noch von der Ohrfeige, die er mir gerade verpasst hat, erhoben. Tränen laufen seine Wangen hinab. „Wer bist du?“ Seine Stimme ist brüchig und klingt verzweifelt. „Ich erreiche dich nicht mehr! Du verschwindest in irgendeine Welt und niemand weiß, ob du je zurückkehren wirst.“ Ich schaue ihn an, unfähig etwas zu sagen. Ich verstehe seine Worte, doch ich begreife sie nicht. „Verdammt nochmal! Rede mit mir! Yamato!“ Flehentlich sieht er mir in die Augen. Als er das Erhoffte offenbar nicht zu finden vermag, sagt er mit trauriger, aber tonloser Stimme: „Du lässt mir keine Wahl. Du reagierst auf nichts, bist nicht einmal richtig anwesend, geschweige denn ansprechbar. Ich will nicht, dass du dir wieder etwas antust. Ich will dich nicht verlieren! Es tut mir leid.“ Durch ein leichtes Frösteln erwache ich. Es ist noch dunkel, sodass ich nur die Konturen meines Zimmers ausmachen kann. Ich setze mich schwerfällig auf. Mit einem Blick zur Seite stelle ich die Ursache für mein Frieren fest. Tai, der neben mir liegt, hat meine Bettdecke vollständig in Beschlag genommen. Ich schlinge die Arme um meine Beine und lege meine Stirn auf die Knie. Dass ich jetzt hier sein kann, ist großes Glück. Fast hätte Tai mich wieder in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie gesperrt. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abbringen. Mein Herz beginnt bei dem Gedanken schneller zu schlagen. Ich muss mich zusammenreißen. Ich will auf keinen Fall zurück in die Klinik. Die vier Wochen Aufenthalt waren bereits mehr, als ich ertragen konnte. Ich habe Angst, Angst vor mir selbst, aber niemand darf mehr wissen, was ich denke, was in mir vorgeht oder was ich fühle. Und falls ich mich doch entscheiden sollte zu gehen, wird es mir dann hoffentlich leichter fallen und niemand da sein, der es verhindern kann, weil keiner damit rechnet. Es wird nicht einfach sein, zu lächeln, wenn ich lieber schreien würde. Nähe zuzulassen, wenn ich sie nicht ertrage. Aktiv zu sein, wenn ich mich lieber verkriechen würde. Aber einen Anfang habe ich bereits geschafft und es hat gut funktioniert. Als Tai die Polizei und den Notarzt rufen wollte, um mich zwangseinzuweisen, bekam ich Panik bei dem Gedanken an die Klinik. Ich schaffte es, mich aus meiner Apathie zu befreien und ihm das Telefon aus der Hand zu nehmen. Dann brach ich unter Tränen zusammen und flehte ihn an, mir das nicht anzutun. Ich werde nie vergessen, wie hilflos er in diesem Moment vor mir stand. Wie ratlos er mich anschaute. Ich fühlte mich elend, weil ich ihn so sehr manipulierte. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Und ich werde auch in Zukunft nicht anders handeln können, falls es erneut zu solchen Situationen kommen sollte. Es sei denn, ich sage mich endgültig von Taichi los. Es wäre sowieso besser für alle Beteiligten. Ich sollte generell allein bleiben, dann würde niemand traurig sein, wenn ich eines Tages tot bin. Das Rascheln der Bettdecke holt mich aus meinen Gedanken. Ich höre, wie Tai sich ebenfalls aufsetzt. Kurz darauf spüre ich, wie seine Hand behutsam über meinen Arm streicht. „Wo bist du nur schon wieder? Woran hast du gedacht?“ „An die Zukunft“, lüge ich. Dass es entfernt die Halbwahrheit ist, versuche ich mir einzureden, um mein Gewissen zu beruhigen. Ich hasse es, zu lügen, werde es mir aber unangenehmerweise angewöhnen müssen. „Eine Zukunft, in der du noch lebst oder in der du dich umgebracht hast?“, fragt er mit Bitterkeit in der Stimme. „Was wäre dir denn lieber?“, gebe ich bissig zurück. Seine Hand verfestigt den Griff um meinen Arm. Dann legt er seine andere Hand an meine Schulter und drückt mich hart zurück auf das Laken. Mit Gewalt dreht er meinen Körper und entblößt mein Gesäß. Als ich merke, dass er sich auch seiner Hose entledigt, werfe ich ihm kühl und mit ruhiger Stimme an den Kopf: „Willst du mich jetzt vergewaltigen?“ Tai hält inne. „Würdest du das so empfinden?“ Ich beginne zu lachen. Es ist ein kaltes, gefühlloses Lachen. „Tu es doch einfach! Nimm dir, was du willst. Keine Angst, ich werde dich nicht anzeigen. Mein Körper ist sowieso zu nichts anderem zu gebrauchen. Dann bin ich wenigstens zu einer Sache nütze. Und zwischen uns…“ „Ja?!“, schreit Tai. Er hat mich inzwischen losgelassen und meinen Unterleib mit der Decke verhüllt. „Was ist zwischen uns? Du denkst, uns verbindet nichts außer Sex, hab ich Recht? Hast du das wirklich immer so empfunden? Gibt es denn kein einziges Gefühl in dir? Bist du wirklich innerlich tot?“ „Nein, verdammt! Nein!“ Ich zittere heftig am ganzen Körper und beginne zu schluchzen. In meiner Brust verkrampft sich alles. Meine Atmung geht schwer und stockend. Doch der Schmerz, den ich spüre, ist nicht körperlich. Es ist Tai. Beziehungsweise meine Gefühle für ihn. „Da ist etwas. Da ist so viel! Es tut weh! Es zerreißt mich! Ich will das nicht, doch je mehr ich mich dagegen wehre, desto schlimmer wird es. Ich fühle, ich fühle so viel. Doch manchmal ist all das weg. Dann ist da nichts.“ Ich stocke. Dann spreche ich leise, aber immer noch schluchzend, weiter: „Ich kann das nicht steuern. Es passiert einfach. Von einem Moment auf den anderen. Ohne Grund. Ich wünschte, ich könnte alles in mir töten!“ Den letzten Satz speie ich hasserfüllt aus. Ich breche weinend zusammen. Tai sitzt neben mir. Ohne ein Wort. Ohne eine Reaktion. Ich erwache aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich die Augen öffne, fehlt mir für einen Augenblick die Orientierung. Mein Kopf schmerzt und als ich versuche aufzustehen, werde ich durch ein plötzliches Schwindelgefühl gezwungen, mich wieder zu setzen. Ich hasse meinen Körper. Er widert mich an. Ich wage einen zweiten Versuch, mich zu erheben. Nur mühsam gelingt es mir und schwerfälligen Schrittes schleppe ich mich ins Bad. Vor dem Waschbecken sehe ich im Spiegel meine erbärmliche Gestalt. Da ich nicht weiß, ob Tai oder mein Vater noch in der Wohnung sind, schließe ich die Tür und drehe den Schlüssel im Schloss. Aus dem Medizinschränkchen neben der Dusche hole ich eine kleine Packung, die ich hinter ein paar Verbandsmaterialien versteckt hatte. Es wundert mich, dass mein Vater es noch nicht gefunden hat. Vorsichtig entnehme ich ein kleines Papierplättchen und öffne es. Die Rasierklinge sieht in meiner Hand so harmlos und unscheinbar aus. Kaum zu glauben, wie viel Macht sie doch besitzt. Kaum zu glauben, dass sie Leben zerstören und auslöschen kann. Ich setze mich auf die kalten Fliesen. Es fällt mir schwer, mich auf meinen Beinen zu halten. Bedächtig ziehe ich das Hemd aus und lege es neben mich auf den Boden. Mein Blick fällt auf meinen linken Unterarm. Mit den Fingern zeichne ich einige der Narben nach, manche sind bereits vollständig verblasst, andere schimmern noch rosa. Ich drücke die Klinge auf eine noch freie Stelle der Haut und ziehe sie langsam ein Stück darüber. Die Wunde klafft ein wenig auseinander. Ich sehe darin weißes Fleisch, bevor sie sich mit Blut füllt und allmählich überquillt. Rote Bahnen verlaufen ungleichmäßig über meinen Arm und enden in einer kleinen Lache am Boden. Ich beobachte die fallenden Tropfen. Sie sehen so schön aus. So ruhig und friedlich. Es wäre ganz leicht. Ich könnte jetzt so einfach gehen. Einfach so. Stattdessen schneide ich wieder und wieder in mein Fleisch, einmal mit mehr Druck, dann wieder mit weniger. Ich denke nichts. In meinem Kopf herrscht völlige Leere. Meinen Körper spüre ich nicht. Es existiert kein einziges Gefühl in mir und gleichzeitig bin ich erfüllt von Schmerz, Verzweiflung, Traurigkeit, Wut, Selbsthass und Gleichgültigkeit, aber auch Freude, Zuneigung und Liebe. Diese Zerrissenheit treibt mich in den Wahnsinn. Ich hasse mich für alles, was ich bin. Auch deshalb muss ich diesen Körper zerstören. Jeder muss sofort meine Hässlichkeit erkennen können. Aus dem rauschähnlichen Zustand erwachend betrachte ich das Ergebnis eingehend. Blut strömt unablässig aus den Wunden. Ich rutsche auf den Knien zur Toilette und mit etwas Zellstoff wische ich über meine Haut. Kurz kommen die zahlreichen Schnitte zum Vorschein. Wankend erhebe ich mich und bewege mich angestrengt Richtung Waschbecken. Während ich meinen linken Arm unter laufendes Wasser halte, um ihn zu säubern, angele ich mit der freien Hand nach den Verbandsmaterialien. Ich versorge die Wunden, ziehe mein Hemd wieder über und beginne die Spuren meines Tuns zu beseitigen. Dann atme ich tief durch und verlasse den Raum. Ich gehe durch den Flur in die Küche, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Am Küchentisch sitzt Tai. Er schaut aus dem Fenster und scheint mich nicht zu bemerken. Ich bleibe stehen, betrachte ihn. Seine braunen Haare, die seitlichen Konturen des Gesichtes, die Linie des Halses übergehend zu seinen breiten Schultern. Ich möchte ihn berühren. Ich möchte seine großen, sanften Hände auf meiner Haut spüren. Doch das darf nicht mehr geschehen. Es würde ihm nur wehtun. Ich würde ihm nur wehtun. Ich muss mich von ihm lösen. Endgültig. Es ist besser so. Für alle Beteiligten. Das Pulsieren in meinem Kopf wird unerträglich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)