So einfach von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida) ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Entspannt sitze ich auf einer Bank im Park, habe mich zurückgelehnt und halte die Augen geschlossen. Ich versuche mir noch einmal die soeben beendete Therapiestunde ins Gedächtnis zu rufen. Es ging um den Umgang mit Gefühlen und die rechtzeitige Erkennung von dissoziativen Zuständen sowie Skillstraining. Wie bereits die Sitzungen zuvor. Entweder bin ich zu blöd oder das Ganze hat einfach keinen Sinn. Ich kann zumindest nicht feststellen, dass sich irgendetwas verbessert hat. Es ist nur ein an mich verschwendeter Platz, den jemand anderes mit Sicherheit dringender gebrauchen könnte. Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht und kitzelt sanft auf meiner Haut. Es scheint ewig her, dass ich so lange Zeit an der frischen Luft war. Bewusst atme ich ein und aus und versuche dabei den Duft des Sommers in mich aufzusaugen. Ich nehme den belebenden Geruch des Rasens und der Erde wahr sowie den des Holzes der Bäume. Durch einen erfrischenden Windstoß, der etwas Abkühlung von der aufkommenden Mittagshitze bringt, dringt das Rascheln der Blätter an mein Ohr. Vögel zwitschern aufgeregt und flattern ruhelos umher. Ich öffne langsam meine Augen, kneife sie aber sofort zusammen. Die Sonne blendet mich, sodass ich die Hand vor mein Gesicht halte und warte, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe. Dann lasse ich meinen Blick durch den Park schweifen. Vereinzelt gehen Leute mit einem Hund spazieren, Jogger drehen ihre Runden sowie Fahrradfahrer, die das Rad durch den Park allerdings schieben müssen. Jeder von ihnen lebt sein eigenes Leben. Ihre Wege kreuzen sich hier zufällig, vielleicht zum ersten und letzten Mal, vielleicht schon des Öfteren. Aber für einen winzigen Augenblick nehmen sie am Leben des Anderen teil und wahrscheinlich ist es ihnen noch nicht einmal wirklich bewusst. Vermutlich interessiert es sie auch nicht. Direkt an mir vorbei geht ein älterer Mann und spricht vor sich hin. Ich schaue mich um. Weit und breit ist niemand zu sehen, mit dem er reden könnte. Ich drehe den Kopf wieder und sehe ihm nach. Unbeirrt läuft er weiter und führt Selbstgespräche oder er sieht eine Person, die ich und wahrscheinlich auch viele andere nicht sehen können. Anscheinend ist er sehr einsam, wenn nicht sogar allein. Leider gibt es viele solcher Existenzen, die von niemandem beachtet, allenfalls blöd angeschaut werden. Warum diese Menschen so geworden sind, fragt keiner, weil es auch niemand wissen will. Man müsste über den Rand seiner eigenen, kleinen, heilen Welt hinausschauen, wozu nur die wenigsten bereit sind. Mir steht es jedoch nicht zu, jemanden zu verurteilen, auch ich werde diese Welt nicht retten können. Ich möchte ja nicht einmal in ihr leben. Ich kann nicht in ihr leben. Es fühlt sich falsch an. Ich passe nicht hinein. Selbst wenn ich wollte. Allmählich spüre ich die brennende Hitze auf meiner Haut. Als ich versuche aufzustehen, wird mir schwindelig, sodass ich mich wieder setze. Das sind die einzigen Momente, in denen ich meine Narben verfluche, denn somit bleibt mir kurze Kleidung verwehrt und die Wärme staut sich noch mehr. Ich bin nicht der Meinung, dass es egal ist, ob andere die Male sehen. Es geht niemanden etwas an, außer Tai vielleicht. Generell frage ich mich, weshalb ich in den Park gekommen bin. Sicher, er liegt auf dem Weg zu meiner Therapie, aber das ist nicht erst seit heute so und sonst hat er mich auch nicht interessiert. Zudem hasse ich den Sommer eigentlich und bin froh, wenn ich mich zu Hause bei heruntergelassenem Rollo verkriechen kann. Ist es möglicherweise doch eine kleine Veränderung? Ist es vielleicht doch nicht so sinnlos, wie ich dachte? Oder ist es nur eine von vielen Launen, die bei mir immer mal wieder durchkommen? Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich spüre, dass sich jemand neben mich auf die Bank setzt. Ich schaue zur Seite und direkt in das stark zerfurchte Gesicht einer alten Frau. Sie lächelt mich an. „Hallo, junger Mann“, sagt sie in freundlichem Ton. „Guten Tag“, gebe ich verlegen zurück. Es fällt mir schwer, mit solchen Situationen umzugehen. „Ja, das ist es wahrlich. Ein guter Tag. Herrliches Wetter… ist Ihnen nicht warm in Ihren langen und noch dazu schwarzen Sachen?“ Sie mustert mich verwundert und zugleich interessiert. Wie ich diese Frage hasse. Ich versuche zu lächeln und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich kurz vor einem Hitzschlag stehe. „Nein“, erwidere ich versucht gelassen, sehe aber bereits leicht doppelt. Ich muss so schnell wie möglich aus der Sonne. Aber die Frau tut mir leid. Es ist offensichtlich, dass sie in den Park kommt, um mit jemandem reden zu können. Dabei spielt es keine Rolle, wer ihr Gegenüber ist oder ob sie ihn kennt. Es geht einfach nur um den Kontakt zu anderen Menschen. Vielleicht hat sie keine Verwandtschaft, wahrscheinlicher ist allerdings, dass ihre Verwandten nichts mehr von ihr wissen wollen oder nie Zeit haben. „Kommen Sie öfter hierher? Der Park ist so wundervoll. Ich bin eigentlich jeden Tag hier, wenn das Wetter es zulässt. Hier geht die Zeit noch etwas langsamer. Menschen, die diesen Ort aufsuchen, sind meist nicht in Eile. Sie suchen Ruhe, Natur, wollen dem Alltag entfliehen… Weshalb sind Sie hier?“ Mein Blick richtet sich in die Ferne. Einen Moment schweige ich, dann sage ich mit nachdenklicher Stimme: „Ich weiß es nicht.“ Bedächtig öffne ich die Wohnungstür. Der hämmernde Schmerz in meinem Kopf lähmt mich und meine Bewegungen. Die Gedanken stehen still. Meine Handlungen sind wie programmiert. Ich schließe noch nicht einmal die Türen hinter mir. Im Badezimmer öffne ich den Medizinschrank und hole die Schmerzmittelpackung heraus. Ein Schwindelgefühl zwingt mich, Halt am Waschbecken zu suchen. Mich mit einer Hand abstützend drücke ich die Tabletten einer Blisterpackung heraus, nehme sie einzeln auf und schlucke sie ohne Wasser hinunter. Schwer atmend greife ich mir an die Brust und versuche durch Druck auf den Brustkorb das krampfartige Herzstechen zu lindern. Ich merke, wie meine Beine zu zittern beginnen. Das Kreiseln in meinem Kopf fängt an sich mit einem die Sinne verhüllenden Nebel zu vermischen, wobei das Dröhnen mich allmählich in den Wahnsinn treibt. Mit großer Anstrengung gelingt es mir, mich aufrecht zu halten. Ich entnehme der kleinen Schachtel noch eine Blisterpackung, aus der ich erneut die kleinen, weißen Arzneimittel eine nach der anderen herausdrücke und hastig mit meinen inzwischen ebenfalls zitternden Händen zum Mund führe und hinunterschlucke. Mit einem Mal überwältigt die Schwäche meinen Körper, ich verliere das Gleichgewicht, schaffe es nicht mehr, mich weiterhin am Waschbecken festzuhalten, und falle unsanft auf die kalten Fliesen. Ich bleibe liegen, unfähig mich zu bewegen. Mein Kopf ist abgesehen von den Schmerzen und dem Nebelschleier vollkommen leer. Mein Bewusstsein beginnt in das Nichts abzudriften, als plötzlich starke Übelkeit in mir aufsteigt. Krampfhaft versuche ich, meinen Körper in Richtung Toilette zu bewegen, doch er verweigert sich mir. Meine Gliedmaßen sind schwer wie Blei und fremd, so als wären sie kein Teil von mir. Ich habe jegliche Kontrolle über mich verloren. Unweigerlich setzt der Würgereflex ein und ich erbreche ein Gemisch aus Speichel, Galle und Medikamenten neben mich auf die Fliesen. Tränen füllen meine Augen, während ich leblos in meinem eigenen Erbrochenen liege. Ich öffne meine Augen und versuche mich zu orientieren. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Bad zusammengebrochen bin und mich übergeben musste. Dann habe ich offenbar das Bewusstsein verloren. Mein Blick schweift durch den Raum, den ich als mein Zimmer erkenne. Ich liege auf dem Bett, auf der Stirn ein kalter Waschlappen. Es ist angenehm, da mein Kopf nach wie vor stark schmerzt. Ich will mich bewegen, doch mein Körper ist noch immer wie gelähmt, die Arme und Beine kaum fühlbar, aber mit einem leichten Kribbeln. In der Hoffnung, es ignorieren zu können, schließe ich die Augen wieder. Gerade als ich meine Gedanken etwas sortieren will, höre ich meinen Vater den Raum betreten und merke, wie er sich auf meine Bettkante setzt. Ich sehe ihn an. „Yamato, ein Glück.“ Er scheint erleichtert zu sein. „Wie geht es dir?“ Es fällt mir schwer, etwas zu sagen. Meine Kehle ist trocken. Zudem habe ich einen schalen Geschmack im Mund. „Es ging schon besser“, gebe ich mit kläglicher Stimme zu. „Kann ich bitte etwas Wasser bekommen?“ „Natürlich.“ Er nimmt ein Glas von meinem Nachttisch, welches er wahrscheinlich schon in weiser Voraussicht dort hingestellt hat. Behutsam hilft er mir, mich ein wenig aufzurichten, stützt mich mit der einen Hand, während er mir vorsichtig mit der anderen das Glas an die Lippen hält, damit ich in kleinen Schlucken daraus trinken kann. Dann stellt er es wieder beiseite, streichelt mir liebevoll über den Rücken, bevor er mich zurück auf das Betttuch legt. „Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ Seine Besorgnis ist nicht zu überhören. „Ich glaube schon“, überlege ich. „Ich war bei der Therapie und auf dem Rückweg habe ich eine Pause im Stadtpark eingelegt. Vermutlich war ich etwas zu lange in der Sonne. Als ich nach Hause kam, war mir bereits schwindelig und mein Kopf schmerzte außergewöhnlich stark. Dann weiß ich nur noch, dass ich mich im Badezimmer nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mich übergeben musste.“ „Das klingt verdächtig nach einem Sonnenstich. Wichtig ist jetzt, dass du dich nicht überanstrengst. Bleib am besten noch eine Weile liegen. Ich werde dich erst einmal in Ruhe lassen, damit du etwas schlafen kannst.“ Er streicht mir sanft über die Wange, dann erhebt er sich. „Papa?“, frage ich mit beinahe flehender Stimme. „Kann ich bitte eine Kopfschmerztablette bekommen?“ Er schaut mich mitleidig an. Seine Augen sehen traurig und unglaublich müde aus. Im Allgemeinen wirkt er sehr erschöpft. Die Schultern hängen schlaff herunter, die Haltung ist leicht gebeugt und sein Gang schleppend. Auch habe ich meinen Vater schon lange nicht mehr von Herzen lachen hören. Das Lächeln, welches er mir hin und wieder schenkt, strahlt eher Traurigkeit als Frohsinn aus. Plötzlich überkommt mich ein unbeschreibliches Gefühl von Zuneigung und ich würde ihn gern umarmen. Sein Blick ruht noch immer auf mir, nimmt jetzt aber strengere Züge an. „Nein, Yamato.“ „Was?“ Entsetzt und ungläubig zugleich schaue ich ihn an. „Du hast schon verstanden. Soweit ich es erst einmal verhindern kann, gibt es für dich keine Schmerzmittel mehr. Als ich dich im Bad gefunden habe, lagst du in deiner eigenen Kotze, oder eher Medikamentengalle, denn du hattest ja wieder einmal nichts gegessen. Du hast zwanzig Schmerztabletten geschluckt, auf nüchternen Magen! Yamato, was ist nur los mit dir? Willst du dich mit aller Macht zugrunde richten? Egal mit welchen Mitteln?“ Betrübt unterbricht er sich und Tränen füllen seine Augen. Schuldbewusst drehe ich meinen Kopf weg, ich schaffe es nicht mehr, ihn anzusehen. Mit zitternder Stimme spricht er weiter: „Ich weiß, ich kann dich nicht dazu zwingen, zu essen. Ich weiß, ich kann dich nicht davon abhalten, Tabletten zu schlucken. Ich weiß, ich kann nicht verhindern, dass du dir mit einer Rasierklinge tiefe Wunden zufügst. Aber bleibt mir wirklich nichts, außer dir beim Sterben zuzusehen?“ Die eintretende Stille im Raum wird nur vom Schluchzen meines Vaters unterbrochen. Ich liege von ihm abgewandt wie versteinert auf meinem Bett. Eine Antwort gebe ich nicht. Mein Blick ist auf die Seiten eines Buches gerichtet, welches ich gerade zu lesen versuche. Bereits zum dritten Mal beginne ich den Absatz. Meine Augen nehmen die Buchstaben zwar auf, doch deren Bedeutung wird von meinem Gehirn nicht erkannt. Ich lasse das Buch sinken und schaue geistesabwesend aus dem Fenster. Die Worte meines Vaters hängen mir noch immer nach. Seine Hilflosigkeit und Verzweiflung, sein Blick, seine Tränen, zeigen mir das verheerende Ausmaß meiner Existenz. Ich hindere ihn nicht nur am Leben, sondern zerstöre ihn auch. Ebenso wie Tai, äußerst brutal vergewaltige ich seine Seele, wieder und wieder. Ich sehe zu, wie er an mir zerbricht. Aber statt ihn vor mir zu schützen, füge ich ihm weitere abscheuliche Verletzungen zu. Ich will ihn an mich ketten, sodass er sich nicht befreien kann, selbst wenn er wollte. Meine Abhängigkeit soll auch die seine sein. Er wird mir gehören, bis in den Tod. Wenn nötig mit Gewalt. Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken, doch bevor ich etwas sagen kann, öffnet sich die Tür und Tai betritt mein Zimmer. Er wirft seine Schultasche vor das Sofa und setzt sich zu mir an das Bett. „Und, wie geht es dem Patienten heute? Ich habe von deinem Vater erfahren, was passiert ist. Und das, obwohl du sonst nie freiwillig in die Sonne gehst und soweit ich weiß wegen des Lithiums auch gar nicht darfst. Was war los?“ Noch gar nicht ganz anwesend schaue ich meinen Freund an. Seine dunklen Augen sehen mich fragend an. Mein Blick wandert zu seinem leicht geöffneten Mund, dann hinab zu seinem Hals. Erregung überkommt mich, als ich in meiner Vorstellung seinen Nacken sanft mit meinen Fingern liebkose, diese dann zärtlich um seine Kehle lege und erbarmungslos zudrücke. Tais Hand an meiner Wange holt mich zurück in die Realität. Doch bevor ich die Situation komplett erfassen kann, spüre ich seinen warmen Atem und seine Lippen, die flüchtig die meinen berühren. Bevor ich auf den Kuss eingehen kann, entzieht Tai sich mir geschickt. „Wieder da?“, fragt er mit einem eigenartigen Lächeln. „Ich…“ Unfähig mich zu sammeln, sitze ich angespannt in meinem Bett, während sich meine Finger außerhalb von Tais Sichtfeld tief in dem Laken verkrampfen. Die Hand meines Freundes ruht wegen des Kusses neben meinen Beinen. Als er sie wegziehen möchte, streicht er dabei wie zufällig darüber, hält inne und betrachtet mich mit einem merkwürdigen Grinsen. „Wenn ich jetzt zwischen deine Beine greifen würde, was würde sich mir da offenbaren, Yamato?“ Meine Augen weiten sich und ich fühle, wie Hitze in mir aufsteigt. Verlegen schaue ich zur Seite. „Du bist erregt, habe ich Recht?“, raunt er, während er sich mir nähert. Mit seiner Zunge leckt er sinnlich über meinen Hals, bevor er erbarmungslos hineinbeißt. Eine Mischung aus lustvollem Stöhnen und Schmerzensschrei entweicht meiner Kehle. Von mir ablassend, aber in seiner Position verharrend flüstert er: „Das gefällt dir, was?“ Er lässt seine Hände fühlbar über meinen Körper gleiten und legt dann seine Finger um meinen Hals. „Die Frage ist nur, ob dich der Sex oder die Gewalt geil macht. Oder ist es eine Mischung aus beidem?“ Ich sehe ihn an. Die Lust beherrscht noch immer meinen Körper, doch meine Stimme klingt emotionslos: „Nichts von beidem. Bei jedem Anderen lässt mich sowohl das eine als auch das andere kalt. Es sind normalerweise nur Mittel, um mich zu spüren und meinen Selbsthass zu steigern.“ Tai lässt nicht von mir ab, fragt aber skeptisch: „Und was ist bei mir anders?“ Ich schweige. Der Druck auf meinen Kehlkopf verstärkt sich leicht. „Also gut, du hast die Wahl. Soll ich dich jetzt bis an die Grenze zur Vergewaltigung ficken oder mit meinen eigenen Händen töten?“ Seine Augen sind eiskalt. Einmal mehr habe ich das Gefühl, dass mein Freund nicht mehr er selbst ist. Ich frage mich, ob er die Situation noch erfassen kann und ob er wirklich die Option, mich zu töten, umsetzen würde. „Drück zu“, gebe ich zur Antwort. Seine Reaktion interessiert mich. „Verstehe, du entscheidest dich für den Tod und somit gegen mich.“ Er lässt mich noch immer nicht los. Ich muss lachen. „Und so etwas wie eine Vergewaltigung wäre eine Entscheidung für dich? Klingt makaber, findest du nicht?“ Die Kälte in seinen Augen weicht nun einem schmerzvollen Ausdruck. „Ich würde alles tun, um dich am Leben und bei mir zu behalten. Verstehst du denn noch immer nicht? Ich liebe dich, Yamato.“ Ich umfasse mit meinen Händen seine Handgelenke und löse somit seinen Griff. Dann ziehe ich ihn zu mir, umschließe ihn mit meinen Armen und drücke ihn fest an mich. Ich möchte ihm antworten, bringe jedoch kein Wort heraus. Tai hat sich mit dem Oberkörper über die Sofalehne gebeugt und beobachtet mich beim Sortieren der Unterrichtsmaterialien. „Bist du sicher, dass du nächste Woche wieder zur Schule gehen wirst?“, fragt er zweifelnd. „Ich finde nicht, dass du schon so weit bist.“ „Das entscheidet der Arzt und nicht du“, entgegne ich ohne aufzusehen. „Schon, aber wie fühlst du dich denn? Denkst du, du schaffst es?“ „Das wird sich zeigen.“ Meine Stimme klingt liebloser als beabsichtigt. Tai sieht mich abschätzig an. „Du bist sauer, oder?“ „Warum sollte ich?“ Ich versuche beschäftigt zu wirken. „Weil ich vorhin nicht mit dir geschlafen habe. Weil ich dir weder in sexueller noch in gewalttätiger Richtung Befriedigung verschafft habe.“ Ich sage nichts, halte aber in meinem Tun inne. „Yamato, sieh mich an. Du bist körperlich noch geschwächt.“ „Na und? Das ist unwichtig. Wie kannst du mich erst heiß machen und dann fallen lassen?“ Unglauben zeichnet sich auf Tais Gesicht ab. „Das ist nicht dein Ernst. Du verlangst nicht wirklich von mir, dass ich dich hart nehme, wenn du krank bist.“ „Ich bin nicht krank, aber selbst wenn, wieso nicht?“ „Ganz einfach, weil es mir keinen Spaß macht, wenn du dich nicht wehrst. Und wenn du zu schwach bist…“ „Du bist pervers“, unterbreche ich ihn. Er lächelt mich an. „Du wohl nicht?“ Ich schließe die Tür auf und betrete die Wohnung. Als ich einen Blick in die Küche werfe, sitzt mein Vater mit der Morgenzeitung bei einem ausgiebigen Frühstück. Ich nehme mir eine Tasse Kaffee und geselle mich zu ihm. Er schaut auf, sieht mich an, als wolle er etwas sagen, schweigt dann aber. Ich weiß, worauf er hinaus möchte, ignoriere es aber. Enttäuscht widmet er sich erneut seiner Zeitung. „Ich werde nächste Woche wieder zur Schule gehen“, durchbreche ich die angespannte Atmosphäre. „Hältst du das für eine gute Idee?“ Seine Augen mustern mich kritisch. „Der Arzt meinte, wenn ich es mir zutraue, wäre es sogar gut, wieder unter Menschen zu kommen.“ „Seit wann bist du gern unter Menschen?“, fragt er argwöhnisch. Ich stelle meine Kaffeetasse ab. „Was soll das denn heißen?“ „Yamato, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir nach allem, was passiert ist, noch vertrauen kann?! Und so, wie du dich gerade verhältst, läuten bei mir schon wieder alle Alarmglocken.“ Ich lache laut auf. Wütend erhebt sich mein Vater, macht ein paar Schritte auf mich zu und gibt mir eine kräftige Ohrfeige. Mein Lachen verstummt und ich sehe beschämt zu Boden. „Du merkst schon gar nicht mehr, wie sehr du die Menschen, die dich lieben, verletzt. Versuchst du auf diese Weise alle von dir zu stoßen, damit du dich, wenn du niemanden mehr hast, ruhigen Gewissens umbringen kannst?“ Er dreht sich weg und geht zur Tür. Bevor er den Raum verlässt, wendet er sich merklich aufgewühlt noch einmal an mich: „Takeru hat angerufen. Er möchte heute nach der Schule vorbeikommen.“ Bestürzt bleibe ich allein zurück und die Frage, ob mein Vater mit seinen Behauptungen und Vermutungen Recht hat, ergreift quälend Besitz von meinen Gedanken. Erschöpft lasse ich mich auf das Sofa fallen. Mit der Fernbedienung schalte ich den Fernseher ein, dann starre ich auf den Bildschirm, ohne zu registrieren, welches Programm gerade läuft. Der Nachmittag mit meinem Bruder war zwar schön, aber gleichzeitig sehr anstrengend. Auch er versuchte noch einmal, mich davon abzuhalten, wieder zur Schule zu gehen. Wahrscheinlich hat mein Vater ihn zuvor darum gebeten. Denn ebenso wollte er Verständnis für sein Verhalten in mir wecken. Es ist ja nett, dass mein Vater sich um mich sorgt, doch diese ständigen Kontrollen gehen mir unglaublich auf die Nerven. Andauernd schleicht er um mich herum und beobachtet, was ich tue. Allem steht er skeptisch gegenüber. Und letztlich der Unsinn mit den Tabletten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ernsthaft glaubt, dass ich nicht weiß, wo er sie aufbewahrt. Es klopft an der Tür und auf mein eher undeutlich genuscheltes „Ja“ steckt jener eben Bedachte seinen Kopf in mein Zimmer. Als er mich erblickt, tritt er einen Schritt herein. „Hey“, kommt es leise über seine Lippen. „Hey“, erwidere ich schlicht. „Hast du Lust, mit mir zu Abend zu essen? Ich würde uns etwas bestellen.“ Er schaut mich eindringlich an. „Nein, danke. Ich habe keinen Hunger“, antworte ich, ohne ihn anzusehen. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, richte ich meine Aufmerksamkeit stur auf den Fernseher und höre kurz darauf, wie die Tür meines Zimmers wieder geschlossen wird. Ich versuche krampfhaft mir das schlechte Gewissen auszureden, welches im Begriff ist, sich einzuschleichen. Ich verstehe dieses plötzlich aufkommende Gefühl nicht, zumal mein Verhalten nicht abnorm war. Und doch ist da etwas, das mich nicht loslässt. Mir kommen Augenblicke von früher in den Sinn. Damals habe ich immer für uns beide gekocht und wenn mein Vater abends erschöpft von der Arbeit kam, stand schon alles bereit. Es war schön, mit ihm zusammenzusitzen und über alles Mögliche zu reden. Aber auch da gab es schon Situationen wie diese, Situationen des Rückzugs, des Unverständnisses sowie meinen auffallend zerstörerischen Selbsthass. Nur war das eine Sache, über die wir uns zu jener Zeit meist ausschwiegen. Wahrscheinlich weil keiner von uns wusste, wie er damit umgehen sollte. Die Klinikaufenthalte haben das Eis wohl gebrochen, doch ob der jetzige Zustand besser ist, wage ich zu bezweifeln. Mein Kopf dröhnt. Bedächtig erhebe ich mich von dem Sofa. Ich bin wie erschlagen. Langsam versuche ich ein paar Schritte zu gehen. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding und ich habe die Befürchtung, dass sie das Gewicht meines Körpers nicht mehr lange tragen können. Zielgerichtet bewege ich mich auf meine Tasche zu und krame zittrig die Schachtel mit den Schmerzmitteln heraus, welche ich heute Morgen auf dem Weg zum Arzt in einer Apotheke gekauft habe. Hastig entnehme ich vier Tabletten, dann verstaue ich die Verpackung wieder in den Tiefen meiner Tasche. Ich wende mich um und greife nach der Wasserflasche neben meinem Bett. Mit gierigen Schlucken spüle ich die kleinen weißen Medikamente herunter. Komplett außer Atem setze ich die Flasche ab, verschließe sie wieder und stelle sie zurück neben das Bett. Dann lasse ich mich vollends kraftlos zu Boden sinken und bleibe reglos liegen. „Yamato! Hey, Yamato!“, höre ich eine Stimme sagen. Langsam öffne ich die Augen und registriere allmählich, dass ich noch immer auf dem Boden meines Zimmers liege. Meine Gliedmaßen fühlen sich starr an, als ich versuche sie zu bewegen. „Yamato! Soll ich den Notarzt rufen? Was ist denn passiert?“ „Papa! Jetzt komm mal wieder runter!“, flüstere ich genervt. „Ich bin nur eingeschlafen.“ „Auf dem Fußboden?!“ Er klingt misstrauisch. Langsam erhebe ich mich, bedacht darauf, ihm nicht meine Schwachheit zu zeigen, und setze mich auf das Bett. Aus müden Augen schaue ich ihn an. „Du siehst schlimm aus, mein Sohn.“ Besorgt streicht er mir durch das Haar. Ich drehe meinen Kopf etwas zur Seite und mein Blick fällt auf die geöffnete Zimmertür. Im Türrahmen steht Tai und mustert mich herablassend. „Ich mache dir jetzt eine Hühnerbrühe und die wird ohne Widerrede gegessen! Hast du verstanden?“ Die Strenge in der Stimme meines Vaters lässt erkennen, dass er wirklich keine Proteste mehr duldet. „Und du legst dich erst einmal hin“, fügt er etwas sanfter hinzu, dreht sich um und will das Zimmer verlassen, als er vor meinem Freund leicht verwirrt zum Stehen kommt. Er wendet sich noch einmal an mich: „Ach ja, Taichi ist hier.“ Dann verlässt er den Raum in Richtung Küche. Tai betritt mein Zimmer und schließt hinter sich die Tür. Ohne ein Wort und ohne die Augen von mir abzuwenden, setzt er sich zu mir an das Bett. Ich habe das Gefühl, von seinem Blick durchbohrt zu werden. „Setz dich auf“, sagt er unerwartet kalt. „Oder bist du selbst dazu zu schwach?“ Entgeistert schaue ich ihn an, gehorche aber. Ich merke, dass es mir schwer fällt, mich zu bewegen, versuche es aber vor meinem Freund zu verbergen. Dieser packt mich plötzlich am Arm und zieht mich grob zu sich. Mit der anderen Hand zieht er meinen Kopf brutal ein Stück nach hinten, indem er seine Finger in meinen Haaren festkrallt. Sein Gesicht ist jetzt ganz nah vor meinem, sodass ich fühle, wie sein warmer Atem meine Haut kitzelt. „Das gefällt dir, nicht wahr?“, flüstert er mir ins Ohr. „Aber glaubst du, dass mir das auf Dauer Spaß macht?“ Ich spüre, wie er noch stärker an meinem Haar zieht. Meine Kopfhaut schmerzt bereits und ich kann ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Heftig stößt er mich wieder von sich, als auf dem Flur Schritte zu hören sind und kurz darauf mein Vater mit einem Teller Suppe hereinkommt. Er reicht sie mir mit den Worten: „Die wird aufgegessen.“ „Ich werde schon darauf achten, Herr Ishida“, verspricht Tai mit einem vielsagenden Blick auf mich. „Also gut, dann werde ich euch mal allein lassen, aber ich verlasse mich auf dich, Taichi“, sagt er während des Gehens noch einmal eindringlich und schließt hinter sich die Tür. Nach einem Moment des Schweigens steht mein Freund auf und dreht den Schlüssel im Schloss. Als er dann zu mir schaut, kann ich nur Entschlossenheit in seinen Augen erkennen. Ich versuche diesen Blick zu deuten, kann ihm allerdings nicht lange standhalten. Irritiert schaue ich auf meinen Teller Suppe. „Iss!“ Tais Aussage ist als Befehl und nicht als Bitte gedacht. Das war deutlich zu hören. „Sag mal, geht’s noch? Ich bin doch nicht dein Sklave!“ Wut steigt in mir auf. Tai kommt auf mich zu, nimmt mir den Teller aus der Hand und stellt ihn auf den Nachtschrank. Ich will ansetzen etwas zu sagen, doch mein Freund ist schneller. Er presst mich gegen die Wand, an der ich mit meinem Kissen lehne, und setzt sich rittlings auf meine Beine, um mich so festnageln zu können. Ich sehe ihm entsetzt ins Gesicht, welches direkt vor meinem ist. Mit einer Hand streicht er leicht über meine Wange und langsam hinab zum Hals. „Willst du dich nicht wehren? Oder kannst du nicht, weil du keine Kraft mehr hast?“, fragt Tai ungewöhnlich zärtlich. Jedoch ohne eine Antwort abzuwarten, verpasst er mir eine Ohrfeige. Ein zwiebelnder Schmerz durchfährt meine Wange, doch bevor ich mich sammeln kann, zerrt mein Freund mich mit brutaler Gewalt aus dem Bett, sodass ich unsanft zu Boden falle. „Steh auf“, ruft er unnachgiebig und schleift mich mit festem Griff ein Stück über den Teppich durch das Zimmer. Ich halte den Kopf gesenkt, denn ich schaffe es tatsächlich nicht, mich zu wehren. Mit einem Mal stoppt Taichi sein Vorhaben und kniet sich zu mir herab. „Yamato?“, fragt er liebevoll. Als keine Reaktion meinerseits kommt, merke ich, wie er langsam seine Hände unter mein Oberteil schiebt. Mit seinen Fingern gleitet er sinnlich über meine Haut. Meine Atmung wird schwerer und ich möchte mich den Berührungen hingeben. Tai entledigt mich meines Oberteils und schaut mich dann teils schockiert, teils bestätigt an. „Yamato“, sagt er noch einmal, diesmal weniger liebevoll. Ich rühre mich noch immer nicht und bekomme es mit Taichis Gewalttätigkeit quittiert. Er reißt mich erbarmungslos nach oben, stellt sich hinter mich und hält mich so fest, dass ich gezwungen bin, mich im Spiegel meines Zimmers zu betrachten. „Sieh hin, Yamato!“, schreit er mich nun fast an. „Sieh dir deinen Körper an!“ Angewidert schaue ich hin. Da steht ein Mensch mit freiem Oberkörper. Seine Haut ist hell, aber übersät mit alten Narben und frischen Wunden. Die Knochen des Brustkorbes und des Schlüsselbeines zeichnen sich deutlich ab, ebenso wie die Hüftknochen. Auch die Arme sind dünn und knochig und mit zahlreichen Schnitten versehen. Das Gesicht der Person ist ausgemergelt, die Wangenknochen kommen leicht zum Vorschein, die Gesichtsfarbe ist blass mit dunklen Ringen unter den Augen. An einigen Stellen weist die Haut Irritationen mit Rötungen auf und die Lippen sind rau und aufgesprungen, teils blutig, teils bereits verkrustet. Ungewaschenes, blondes Haar hängt strähnig und glanzlos vom Kopf herab. Dann sehe ich der Person zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie sind müde und leblos, zeigen keinerlei Regung oder Erkennen. „Siehst du dich?“, fragt mein Freund nun ganz ruhig. „Nein“, entgegne ich monoton, fast apathisch. Tai lockert seinen Griff und schließt mich in seine Arme. Ich stehe am geöffneten Fenster und schaue hinaus. Die Nacht ist klar, sodass die Sterne gut zu sehen sind. Verlangend sauge ich die warme Sommerluft ein, doch sie ist nicht befreiend, sondern gibt mir das Gefühl, zu ersticken. Ich fühle mich schwer und meine Arme hängen schlaff an mir herunter. Mit viel Anstrengung gelingt es mir, den linken zu heben, um das Fenster zu schließen. Aus einem längs verlaufenden Schnitt fließt unaufhörlich Blut, welches in kurzen Abständen zu Boden tropft. Mein Blick fällt auf die andere Hand und auch dort klafft am Handgelenk eine tiefe Wunde. Ich sehe noch einmal aus dem Fenster, dann wende ich mich ab. Gerade als ich mich zu meinem Bett begeben will, öffnet sich die Tür und Tai betritt den Raum. Er schließt ab und verstaut den Schlüssel in seiner Hosentasche. Ohne ein Wort kommt er auf mich zu. Sein Blick ist durchdringend und wie von Sinnen. Hart packt er mich am Handgelenk. Trotz der tiefen Verletzung spüre ich keinen Schmerz. Mit seinem Körper drängt er mich ein paar Schritte zurück, bis ich durch das Fenster und die Wand auf Widerstand stoße. Er presst sich an mich, sodass ich seine Erregung spüren kann. Dann hebt er meine Hand zu seinem Mund und benetzt seine Lippen mit meinem Blut, als er die Wunde zu küssen beginnt. Ich hebe meine freie Hand unter sein Kinn und ziehe ihn mit meinen Fingern zurück auf Augenhöhe und dicht vor mein Gesicht. Mit meiner Zunge fahre ich begierig über die Lippen meines Freundes. Ein süßlich-metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Dicht an mich gedrängt fordert er mehr und verwickelt mich in einen berauschenden Zungenkuss. Ich spüre, wie er seine Hände forschend über meinen Körper gleiten lässt. Erregung und Hitze steigen in mir auf. Ich kralle meine Nägel in den Stoff von Tais Shirt und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu halten. Seine Finger umfassen sanft meinen Hals, dann drückt er rücksichtslos zu. Erschrocken schaue ich ihm in die Augen, doch sein Blick ist starr. Ich fühle, wie die Kraft immer weiter aus meinem Körper weicht, die Schnittwunden und der Sauerstoffmangel sind zu viel für ihn. Meine Arme entkrampfen und fallen nutzlos nach unten. Das Bild vor meinen Augen verengt und schwärzt sich, die tanzenden Punkte werden immer mehr. In meinen Ohren wird das Rauschen lauter, der Druck in meinem Kopf ist beinahe unerträglich. Es ist mir unmöglich, zu schlucken, womit sich reflexartig ein starkes Husten einstellt. Tai bleibt davon unbeirrt und drückt noch fester zu. Seine Augen sind ohne jede Emotion. Ich versuche zwischen den Hustenanfällen etwas zu sagen, doch es gelingt mir nicht. Dann merke ich, wie ich allmählich das Bewusstsein verliere. Entfernt nehme ich noch Tais Stimme wahr, in der ich jetzt unendliche Liebe und Zuneigung zu hören glaube: „Gleich ist es vorbei, mein Liebling.“ Ich öffne die Augen. Für einen kurzen Moment fehlt mir die Orientierung. Nach einer Weile begreife ich, dass ich in meinem Zimmer bin und dieses merkwürdige Szenario nur ein Traum war. Noch immer etwas benommen, fahre ich mir mit der Hand über das Gesicht. Dann greife ich nach der Flasche neben meinem Bett. Meine Kehle ist so trocken, dass es schmerzt. Durstig nehme ich ein paar Schlucke und stelle sie wieder zurück auf ihren Platz. Mit einem tiefen Seufzer drehe ich mich um und versuche erneut Schlaf zu finden. Es klopft an meine Zimmertür. Nach einem kurzen Moment wird sie geöffnet und mein Vater schaut hinein. Ich bin gerade dabei, meine Schulsachen in meiner Schultasche zu verstauen. „Tai wird gleich da sein.“ Schweigen. „Willst du wirklich schon wieder zur Schule gehen? Du siehst noch sehr krank aus und wirkst kraftlos.“ „Ich werde gehen. Hier verliere ich langsam den Verstand.“ Wieder Schweigen. Plötzlich durchdringt das Läuten der Türklingel die unangenehme Stille. Mein Vater verlässt eilig das Zimmer. Ich wende mich wieder meiner Schultasche zu und packe die letzten Sachen zusammen. Dann erhebe ich mich und gehe zu meinem Kleiderschrank. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen. Als ich hineinsehe, erblicke ich Tai. Er steht hinter mir und schaut über den Spiegel direkt in meine Augen. „Bist du fertig? Wir müssen langsam los.“ Erschöpft lasse ich mich auf den Stuhl an meinem Platz sinken. Der Schulweg war anstrengender, als ich erwartet hatte. Ich fühle mich zittrig und meine Glieder schmerzen unangenehm. Müde schließe ich die Augen. „Hey, Yamato. Schön, dass es dir besser geht.“ Schläfrig öffne ich meine Lider wieder und schaue in die Gesichter meiner Bandkollegen. „Hey.“ Mehr kommt nicht über meine Lippen. „Ähm… wir müssen dann mal wieder in unsere Klassen. Der Unterricht fängt gleich an. Aber es würde uns wirklich freuen, wenn du bald zur Band zurückkehren könntest.“ Ich glaube ein mitleidiges Lächeln in ihren Gesichtern zu erkennen, bevor sie sich abwenden und schnellen Schrittes den Raum verlassen. Im selben Moment läutet die Schulglocke. Entnervt schaue ich zum wiederholten Mal auf die Uhr. Diese Stunde kommt mir unendlich lang vor. Das Hämmern in meinem Kopf wird immer stärker und der Schmerz in meinem Hals, mit dem ich heute Morgen aufwachte, bereitet mir Probleme beim Schlucken. Mein Blick fällt auf die Tafel. Ich muss ernüchtert feststellen, dass meine lange Abwesenheit nicht ohne Folgen geblieben ist. Dies merkte ich bereits beim Durcharbeiten der Materialien, die Tai mir mitbrachte. Ich hatte ziemliche Schwierigkeiten beim Verstehen einiger Zusammenhänge und nun bleibt mir der bittere Geschmack der Gewissheit. Die Schulglocke reißt mich aus meinen Gedanken. „Yamato.“ Irritiert sehe ich mich um. Der Lehrer ist die einzige Person, die mich ansieht. „Yamato. Ich hatte während der gesamten Stunde das Gefühl, du wärst nicht bei der Sache gewesen. Bist du sicher, dass du schon wieder zur Schule gehen kannst? Du siehst noch alles andere als gesund aus.“ Hinter mir höre ich ein paar Mitschüler kichern und tuscheln. Ich versuche sie zu ignorieren. „Es tut mir leid, ich…“ „Schon gut. Du sollst zum Direktor.“ Das Gesicht in meinen Händen vergraben sitze ich auf einer Bank auf dem Schulhof. Der Pausenlärm dringt an mein Ohr, doch ich nehme ihn kaum war. Noch immer schwirrt mir das Gespräch mit dem Direktor im Kopf herum. Ich bin jetzt im letzten Jahr der Oberstufe, doch den Abschluss werde ich nicht bekommen. Aufgrund der Klinikaufenthalte habe ich zu viele Fehlzeiten, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als die Klasse zu wiederholen. Ungünstig ist, dass das Schuljahr bereits begonnen hat und ich mitten im Schuljahr die Klasse wechseln muss. Da die Sommerferien bald beginnen, war der Vorschlag des Direktors, die Rückstufung danach vorzunehmen. Eigentlich hatte ich mit einem solchen Verlauf gerechnet. Es wäre blauäugig gewesen, zu denken, dass alles beim Alten bleiben würde. Und doch wünschte ich es mir. Aber wünsche ich mir das wirklich? Nein, ich habe nicht einen Gedanken daran verschwendet. Es ist mir egal. Nur wieso stellt sich bei dem Gedanken an mein weiteres Leben immer wieder so ein seltsames Gefühl ein? Ist es das Wissen, versagt zu haben? Der endlose Fall ohne Boden, selbst wenn ich denke, aufrecht zu stehen? Die Gewissheit, dass ich mein Leben nie in den Griff bekommen werde? Oder die Angst vor dem Leben ganz allgemein? Aber da ist noch etwas. Etwas ganz Wesentliches. „Hey.“ Tai klopft mir freundschaftlich auf die Schultern und nimmt neben mir Platz. Nach einem kurzen Zusammenzucken sehe ich ihn mit großen Augen an, doch mit dem Erkennen wende ich meinen Blick wieder ab und schaue vor mich auf den Boden. „Es ist selten, dich so allein zu sehen. Zumindest in der Schule. Wo sind die Jungs aus deiner Band oder die Mädchen, die dich normalerweise anhimmeln und denen du meist vergeblich zu entkommen versuchst?“ Ich hebe meinen Kopf und sehe meinen Freund an. Seine braunen Haare glänzen in der Sonne und seine Haut schimmert bronzefarben. Ich möchte ihn berühren, von ihm berührt werden. Verlangen steigt in mir auf. „Wen interessiert das?“ Diese Worte sind ein Versuch, uns beide von meiner Gleichgültigkeit zu überzeugen. Ohne Erfolg. „Wenn du meinst“, ist Tais einzige Entgegnung. Den Rest der Pause verbringen wir schweigend nebeneinander auf der Bank sitzend. In Gedanken versunken laufe ich den Schulflur entlang. Ich bemerke nicht die Blicke, die mir Mitschüler entgegenbringen. Meine Aufmerksamkeit gilt allein meinem Vorhaben. Die Unsicherheit in meinem Inneren nimmt zu, als meine Schritte sich dem Proberaum meiner Band nähern. Nervös bleibe ich vor der verschlossenen Tür stehen. Von der anderen Seite erklingen vereinzelte Riffs der Gitarren und des Keyboards. Ich schließe meine Augen und lehne mich gegen die Wand. Erinnerungen steigen in mir auf und machen mir schmerzlich bewusst, wie sehr sich mein Leben durch die Klinik verändert hat. Nicht aufgrund der Ereignisse oder meiner Umwelt, sondern durch mich selbst. Es hat etwas in mir ausgelöst, was mich nicht zurückkehren lässt. Nach außen scheint alles mehr oder weniger wie zuvor zu sein, doch so fühlt es sich nicht mehr an. Mir fällt auf, wie die Menschen meiner Umgebung sich bemühen, mir Sicherheit und Normalität geben zu wollen, aber das schürt in mir nur die Verzweiflung. Die Verzweiflung, dem gerecht zu werden sowie am Leben bleiben zu müssen. Ein Leben, in dem ich mich fremd fühle. Mit einem Seufzen beende ich meinen Gedankengang, kehre der Tür den Rücken zu und mache mich auf den Weg, das Schulgebäude zu verlassen. Draußen scheint die Sonne unerbittlich und brennt in meinen Augen. Als ich das Schultor passiere, erblicke ich meinen Freund Tai. Er steht an die Mauer gelehnt und hat die Augen geschlossen. „Wartest du auf mich?“ Ich bleibe vor ihm stehen. Blinzelnd sieht er mich an. „Ja. Ich habe gesehen, wie du zum Proberaum gegangen bist. Konntest du mit deiner Band alles klären?“ Ich nicke, wende mich rasch von ihm ab und gehe ein paar Schritte voraus. Er folgt mir auf dem Fuß. „Warte doch mal. Wieso hast du es denn so eilig?“ „Das Wetter nervt. Mir ist warm.“ „Dann zieh doch deine Jacke aus.“ Ich bleibe stehen und schaue ihn verständnislos an. „Oh… sorry. Dumm von mir.“ „Allerdings“, ist das Einzige, was ich ihm entgegenbringe, bevor ich meinen Weg fortsetze. „Wie verlief denn dein erster Schultag?“ „Okay.“ „Und wie haben deine Mitschüler reagiert? Wie haben sie sich dir gegenüber verhalten?“ Erneut bleibe ich stehen. „Was soll das eigentlich? Wieso interessiert dich das?“ „Ich… tut mir leid. Vergiss es einfach.“ Ich laufe weiter, als hätte diese Unterhaltung niemals stattgefunden. „Wie geht es dir? Du siehst nicht gut aus.“ Wieder bleibe ich stehen. Zorn steigt in mir auf. „Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ Es fällt mir schwer, die Lautstärke meiner Stimme unter Kontrolle zu halten. „Du bist ziemlich gereizt. Hat das einen bestimmten Grund?“ Ich hebe wütend die Hand, um meinem Freund eine Ohrfeige zu verpassen, doch er ist schneller und hält meine Hand am Handgelenk fest. „Lass mich los“, zische ich ihn hasserfüllt an. Er schüttelt den Kopf, zieht mich zu sich heran und umarmt mich liebevoll. „Hast du sie noch alle?“ Empörung und Verzweiflung schwingen in meiner Stimme mit, als ich versuche, mich aus Tais Umklammerung zu befreien. Doch mit zunehmender Gegenwehr meinerseits verstärkt er seinen Griff und den Druck auf meinen Körper nur weiter. „Yamato“, flüstert er in mein Ohr. „Warum bist du mir gegenüber so abweisend und verschlossen?“ Ich spüre, wie Schüler, die an uns vorbeigehen, uns mit seltsamen Blicken mustern, doch es interessiert mich nicht. Tais Geruch vernebelt mir die Sinne und die Nähe seines Körpers bringt mich fast um den Verstand. Meine Atmung ist stockend. Mein Hals schmerzt. Ich spüre, dass mein Kreislauf langsam versagt. Mir wird schwindelig. Tai bemerkt meinen drohenden Zusammenbruch. Sanft drückt er mich zu Boden und lehnt mich mit dem Rücken an die Wand. Dann holt er aus seiner Schultasche eine Flasche mit Wasser, öffnet sie und hält sie mir auffordernd entgegen. „Trink etwas. Dein Kreislauf versagt.“ Hastig nehme ich ein paar Schlucke zu mir. Als ich die Flasche wieder absetze, spüre ich Tais Hand, seinen Daumen, der leicht über meine mit Wasser benetzen Lippen streicht. „Sie sind ganz bleich, jegliche Farbe ist aus ihnen gewichen.“ Mit diesen Worten beugt er sich vor und küsst mich leicht auf den Mund. Ich lasse es teilnahmslos geschehen. Meine Hand zittert, als ich versuche den Schlüssel in das Schlüsselloch der Wohnungstür zu stecken. Es war schwierig, Tai davon zu überzeugen, dass es mir so gut geht, dass ich es allein nach Hause schaffe. Endlich gelingt es mir, die Tür zu öffnen. Im Eingangsbereich entledige ich mich meiner Schuhe. Dann gehe ich in die Küche, setze Kaffee auf und durchsuche meine Schultasche nach einem Brief. Diesen lege ich auf den Küchentisch an den Platz meines Vaters, bevor ich den Raum verlasse, um in mein Zimmer zu gehen. Ich stelle meine Tasche in die Ecke, ziehe die Vorhänge zu, lasse das Rollo herunter und tausche meine Schulkleidung gegen eine schwarze Hose und ein langärmliges Hemd in der gleichen Farbe. Dann schalte ich den Fernseher ein. Das Pulsieren in meinem Kopf wurde durch den Kreislaufkollaps noch verstärkt, zudem fällt mir das Schlucken zunehmend schwerer. Ich gehe ins Bad und als ich mit weit geöffnetem Mund vor dem Spiegel stehe, erkenne ich, dass die Mandeln weiß belegt sind. Vom Bad aus gehe ich wieder in die Küche, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Zurück in meinem Zimmer nehme ich die Schmerzmittel aus meiner Tasche und drücke vier Tabletten aus einer Blisterpackung. Mit dem mittlerweile leicht abgekühlten Kaffee schlucke ich sie hinunter, stelle die Tasse vor mir auf den Tisch und lege mich anschließend rücklings auf das Sofa. Es interessiert mich nicht, was für ein Programm gerade läuft, ich bekomme es ohnehin nicht mit. Der Fernseher dient mir lediglich dazu, die unerträgliche Stille im Raum zu durchbrechen. Musik ertrage ich derzeit nicht. Zu viele Erinnerungen. Zu viel Schmerz. Verlangen steigt in mir auf. Das Verlangen, mir selbst Schmerz zuzufügen. Körperlichen Schmerz. Meine Atmung wird schwerfälliger. In meinen Fingern steigt ein Kribbeln auf, welches sich binnen kurzer Zeit auf die Arme und den gesamten Körper ausweitet. Nervös schaue ich auf die Haut meines Armes, betrachte die verschiedenen Narben, einige älter, manche noch ganz frisch, und fahre mit meiner Hand immer wieder liebevoll über die Unebenheiten. Meine Sehnsucht nach dem Gefühl, wenn die Klinge die Haut zerteilt, wird fast unerträglich. Ich schließe meine Augen und bemühe mich, kontrolliert ein- und auszuatmen. Krampfhaft versuche ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Doch immer wieder keimt in mir die Frage auf, weshalb ich dem Verlangen nicht einfach nachgebe. Warum versuche ich mich dagegen zu wehren? Letztlich ist das doch das Einzige, was mir noch geblieben ist. Das einzige Gefühl, welches einordbar und erträglich ist. Ich spüre immer mehr Unruhe in mir aufsteigen. Bilder von Wunden, Blut und Rasierklingen tauchen unwillkürlich vor meinen Augen auf. Unter Panik öffne ich sie und starre vollkommen unbewegt an die Decke meines Zimmers. Schüttelfrost erfasst meinen Körper. Mein Kopf glüht und ich spüre, wie mir heiße Tränen seitlich das Gesicht hinab laufen. Gehetzt laufe ich den Schulflur entlang. Zu beiden Seiten stehen Schüler, die lachend mit dem Finger auf mich zeigen. Ich versuche sie zu ignorieren, indem mein Blick stur nach vorn gerichtet ist. Am Ende des Ganges bleibe ich schwer atmend vor einer großen Flügeltür stehen. Als ich den Knauf drehe, muss ich feststellen, dass sie verschlossen ist. Angst steigt in mir auf und ich drehe mich vorsichtig um. Ein großer Raum umgibt mich, ohne Fenster, ohne Türen. In der Mitte hängt eine Glühbirne, eingedreht in die Fassung, von der Decke und bildet die einzige Lichtquelle. Außer mir befindet sich nichts in diesem Zimmer. Die Wände sind schwarz gestrichen. Ich gehe ein paar Schritte, dann bleibe ich stehen. Vor mir steht Tai. Er sieht mich an. Seine Arme sind mit tiefen Schnittwunden versehen, doch es fließt kein Blut aus den Verletzungen. In der Hand hält er ein Skalpell, sauber und silbern glänzend. Ich schaue in den Spiegel, der neben mir an der Wand hängt, und sehe meinen Vater. Blut läuft aus seinen Ohren, er lächelt mich an. Ein markerschütternder Schrei lässt mich zusammenfahren. Ich drehe mich um und setze mich erschöpft auf das Sofa in meinem Zimmer. Der Fernseher ist eingeschaltet und mein Vater ist so vertieft in sein Videospiel, dass er mich gar nicht bemerkt. Eine Weile schaue ich ihm zu, dann wird meine Aufmerksamkeit von Tai abgelenkt, der plötzlich hastig an mir vorbeiläuft. Ich folge ihm. Er wirkt panisch, blickt sich immer wieder um, als würde er verfolgt werden. Dann bleibt er unerwartet stehen, dreht sich zu mir und schreit mich an. Ich verstehe ihn nicht, schließe die Augen und halte mir verzweifelt die Ohren zu. Etwas beginnt an mir zu zerren, ich versuche mich loszureißen, schlage um mich. Dann folgt Stille. Ich schaue mich um. Nichts. Langsam sinke ich zu Boden. Außer meinem Atem ist nichts zu hören. Es wird kalt und ich schlinge schützend meine Arme um meinen Körper. Ich schaue zum Himmel und sehe, wie vereinzelt Schneeflocken hinab fallen. Sie tänzeln leicht im Wind und umgeben mich mit ihrer Reinheit. Ruhig nehme ich die Rasierklinge in die Hand und ziehe sie mit viel Druck längs über die Haut meines linken Armes. Sofort teilt sich das Fleisch und hinterlässt eine weit auseinander klaffende Wunde, doch auch aus ihr fließt kein Blut. Tränenüberströmt blicke ich Tai in die Augen. Er sitzt mir gegenüber und lächelt mich traurig an. Liebevoll hebt er meinen verletzten Arm an seine Lippen. Mit zärtlichen Küssen schließt er die Wunde. Dann streicht er mir sanft die Tränen aus dem Gesicht. Ich schaue ihn an und als mein Blick auf seinen Unterarm fällt, sehe ich meine Wunde. Erschreckt hebe ich den Kopf. Vor mir sitzt mein Vater. Auch er lächelt mich traurig an. Und auch er trägt meine Wunde. Angst ergreift Besitz von mir. Ich zittere. Panisch versuche ich mich aus dem Schnee an die Oberfläche zu wühlen. Meine Finger sind bereits taub von der Kälte. Meine Lunge schmerzt und der Druck auf sie hindert mich am Atmen. Ich versuche zu schreien, bleibe jedoch stumm. Entschlossen drücke ich die Eins, um in den dritten Stock zu gelangen. Die Tür des Fahrstuhls schließt sich und er setzt sich ruckartig in Bewegung. Neben mir steht Tai. „Du kannst nicht fliehen.“ Ich öffne die Augen. Für einen kurzen Moment fehlt mir die Orientierung. Die Dunkelheit in meinem Zimmer lässt vermuten, dass die Sonne bereits untergegangen ist. Aus dem Fernseher dringen für mich unverständliche Geräusche. Kalter Schweiß durchtränkt meine Kleidung und lässt mich frösteln. Zittrig fahre ich mir mit der Hand über das verschwitzte Gesicht und durch die feuchten Haare. Ich bemühe mich aufzustehen, muss aber feststellen, dass meine Kraft kaum ausreicht. Noch immer leicht verwirrt von dem Traum schleppe ich mich in mein Bett, schlucke noch meine Psychopharmaka und versuche erneut Schlaf zu finden. Es ist dunkel. Mein Hals ist trocken und schmerzt. Erneut ist meine Kleidung vollkommen durchgeschwitzt. Mühsam erhebe ich mich aus meinem Bett. Ein Kälteschauer läuft mir über die Haut und ich beginne zu zittern. Langsam gehe ich zu meinem Schrank, nehme ein paar frische Kleidungsstücke heraus und schleppe mich schwerfällig ins Bad. Leise schließe ich die Tür hinter mir, da ich meinen Vater nicht wecken möchte. Mit fahrigen Bewegungen entledige ich mich der nassen Sachen, lasse das warme Wasser der Dusche laufen und stelle mich mit klappernden Zähnen darunter. Stück für Stück drehe ich den Hebel nach rechts, um die Temperatur nach oben zu regeln, dennoch schaffe ich es nicht, das Beben meines Körpers unter Kontrolle zu bekommen. Das Zittern ist zu einem Schlottern übergegangen und allmählich merke ich, wie meine Beine mir ihren Dienst versagen. Langsam rutsche ich die Fliesen entlang nach unten. Am Boden sitzend sacke ich schließlich gänzlich in mich zusammen. Ich habe den Eindruck, als würde mein Körper verglühen, er brennt von innen heraus und doch fühlt es sich so an, als wäre ich kurz davor, den Kältetod zu sterben. Am Rande meiner Wahrnehmung bemerke ich, wie mein Vater erst gegen die Tür klopft und, ohne auf eine Antwort zu warten, eintritt. Verschwommen sehe ich sein angsterfülltes Gesicht, als er meine erbärmliche Gestalt zusammengekauert in der Duschkabine entdeckt. „Yamato!“ Ich höre Panik in seiner Stimme. Schnellen Schrittes kommt er auf mich zu, stellt das Wasser ab und beugt sich zu mir hinunter. „Verdammt, Yamato! Willst du dich umbringen?“ Er steht wieder auf, um ein Badetuch aus dem Schrank zu holen. Dann zieht er mich unsanft am Arm aus der Dusche und wickelt meinen Körper in den Stoff. Mit einer beruhigenden Umarmung versucht er mir Halt und Wärme zu geben. „Was ist nur los mit dir, mein Sohn? Das Wasser war kochend heiß, deine Haut ist feuerrot. Wolltest du dich verbrühen? Ist das jetzt eine neue Methode, dir selbst Verletzungen zuzufügen?“ Vorwürfe, Wut, aber auch große Besorgnis schwingen in seinem Tonfall mit. Ich antworte nicht und versuche mich halbherzig aus seiner Umarmung zu befreien. Angestrengt versuche ich das Zittern zu unterdrücken, doch es gelingt mir nicht ganz. „Du frierst, oder? Zieh dir etwas an und geh ins Bett, sonst erkältest du dich noch. Zudem ist es mitten in der Nacht und du musst morgen wieder zur Schule. Wir reden weiter, wenn ich von der Arbeit zurück bin, also sei bitte am Abend zu Hause.“ Ich nicke kaum merklich und sehe meinem Vater nach, als er das Bad verlässt, die Tür hinter sich aber nur anlehnt. Zähneklappernd, weil die entstandene tropische Hitze nun entweichen kann, tupfe ich vorsichtig die restlichen Wasserperlen von meiner schmerzenden Haut und streife anschließend mit Bedacht meinen Schlafanzug über. Durch den beschlagenen Spiegel ist mein Abbild nicht zu erkennen, weshalb ich den Raum sofort verlasse. Als ich den Flur in Richtung meines Zimmers entlanglaufe, spüre ich deutlich die Schwäche in meinen Beinen. Auch die Schmerzen beim Schlucken kehren mit dem Nachlassen der Wirkung des Schmerzmittels allmählich zurück. Erschöpft betrete ich mein Zimmer und schließe die Tür. Mir fällt ein, dass ich den Wecker für die Schule noch nicht aktiviert habe, nehme ihn zur Hand und ein Blick darauf verrät mir, dass es bereits nach drei Uhr ist. Ich stelle ihn zurück auf meinen Nachttisch, hole aus meiner Schultasche vier schmerzstillende Tabletten, schlucke sie mit etwas Wasser aus meiner Flasche herunter und lege mich kraftlos ins Bett. Die Decke ziehe ich straff um meinen Körper. Meine Haut schmerzt noch immer und das Zittern hört nicht auf. Ich versuche meinen Kopf auszuschalten und an nichts zu denken. Tausend Gedanken und Bilder scheinen mich zu umkreisen. Das Rauschen in meinen Ohren lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Nervosität und eine diffuse Angst steigen in mir auf, doch ehe ich mich näher damit auseinandersetzen kann, fallen mir die Augen zu. Meinen Kopf in den Armen vergraben, liege ich auf meiner Bank und versuche das Dröhnen in meinem Schädel vom Pausenlärm der Klasse zu unterscheiden, nachdem ich verzweifelt feststellen musste, dass ein Ausblenden nicht möglich ist. Die Frage, weshalb ich mir das überhaupt antue, keimt in mir auf. Ich richte mich auf und lasse meine Augen über meine Mitschüler schweifen. Ein paar verstummen und drehen sich hastig weg, als unsere Blicke sich treffen, doch die meisten gehen ihren eigenen Interessen nach. Einige brüten angestrengt über den Hausaufgaben für die anstehende Stunde, andere sehen sich in der Gruppe Zeitschriften an oder unterhalten sich über die gestrigen Fernsehsendungen und deren Darsteller. Immer wieder stelle ich fest, dass diese Welt nicht die meine ist. Ein Tippen auf meine Schulter trennt mich von dem Gedanken. „Hey.“ „Hallo, Tai“, entgegne ich, ohne ihn anzusehen. Mein Traum von der letzten Nacht kommt mir wieder in den Sinn und ein unangenehmes Hitzegefühl gesellt sich zu dem leichten Frösteln. „Du siehst noch immer nicht besonders gut aus.“ Er schaut mich besorgt an. „Geht schon wieder“, lächle ich ihn an. Mein Freund zieht sich den Stuhl vom derzeit unbesetzten Nachbartisch heran und nimmt neben mir Platz. „Dein Bandkollege, der, der in meine Klasse geht, fragt, ob du bald wieder zur Probe kommst. Ich dachte, du wärst gestern bei denen gewesen, um alles zu klären.“ Ich schaue ihn an und versuche in seinem Gesicht so etwas wie Vorwürfe zu lesen, doch nichts dergleichen ist zu erkennen. Seine Augen zeigen nur Zuneigung und Besorgnis. „Ja… ich… nein, also… ich meine…“ Ich komme ins Stottern, da ich es nicht schaffe, meine Gedanken zu sammeln und zu sortieren. „Ist okay. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Wenn…“ „Doch!“, unterbreche ich ihn kopflos. „Doch…“ Eine unbeabsichtigte Pause entsteht. „Was ist los, Yamato?“ „Ich muss mit dir reden.“ Tai möchte etwas sagen, doch ich bedeute ihm zu schweigen. „Nicht hier und nicht jetzt, okay?“ Liebevoll streiche ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, als die Schulglocke ertönt und er reflexartig aufspringt, um in seine Klasse zu gelangen. Ich schaue ihm lange nach und bemerke nicht, dass der Lehrer mit dem Unterricht bereits begonnen hat. Ich liege auf meinem Sofa und warte darauf, dass die Wirkung der Schmerztabletten einsetzt, welche ich vor ein paar Minuten, als ich nach Hause kam, geschluckt habe, während ich mich sinnlos vom Fernsehprogramm berieseln lasse. In den letzten Tagen ist das in meiner Freizeit zur Dauerbeschallung geworden. Ich ertrage die ansonsten vorherrschende Stille nicht, da sind diese nutzlosen Sendungen genau das Richtige, um den Kopf nicht einschalten zu müssen beziehungsweise gar nicht erst in Versuchung zu kommen. Plötzlich erscheint Tai vor meinem inneren Auge. Warum musste ich ihm sagen, dass ich mit ihm reden will? Und was genau soll ich ihm sagen? Ich bin mir selbst noch nicht einmal im Klaren, was ich eigentlich will, nur, dass es so nicht weitergehen kann. Dieses Gefühl, machtlos zu sein, zwischen Leben und Tod festzustecken, wird langsam unerträglich. Ich befinde mich in einem Schwebezustand. Ich werde gelebt. Von anderen. Doch ich unternehme nichts dagegen. Weil ich niemanden verletzen will. Aber warum, wenn mir doch eigentlich alles egal ist? Menschen sind mir nicht wichtig. Ich fühle mich nicht wohl unter ihnen, verstehe die meisten nicht. Und doch gibt es jemanden, bei dem es nicht so ist. Jemand, der mir unendlich viel bedeutet. Ich würde es ihm gern zeigen, aber etwas blockiert. Etwas lässt mich nicht sein, wie ich sein will, nicht handeln, wie ich handeln will. Immer existiert dieser Zwiespalt zwischen Handeln, Denken und Fühlen. Es tut weh, die Verzweiflung und Traurigkeit in seinen Augen zu sehen und zu wissen, dass es meine Schuld ist, dass ich der Grund bin, weshalb er nicht richtig leben kann. Die letzte Nacht zeigte wieder mehr als deutlich, wie viel ich bereits durch mein Verhalten zerstört habe. Es klopft und mein Vater schaut zur Tür herein. „Kommst du essen? Ich habe uns Sushi bestellt.“ Ich stehe auf, schalte den Fernseher aus und folge ihm in die Küche. „Das sieht lecker aus“, sage ich, während ich mich auf meinen Stuhl setze und die Essstäbchen zur Hand nehme. Mein Vater setzt sich mir gegenüber und beginnt ebenfalls zu essen. „Ich dachte, es wäre schön, wieder einmal so zusammenzusitzen. Und du magst Sushi doch sehr, oder?“ „Ja. Danke.“ Ich lächele. Ich weiß, dass er eine Atmosphäre schaffen möchte, in der das anstehende Gespräch etwas entspannter verlaufen kann. „Ich habe die Einladung deines Direktors gelesen. Er schrieb kurz, worum es gehen wird. Mich würde interessieren, wie du darüber denkst.“ Ich lege das Maki, welches ich mir gerade in den Mund stecken will, zurück auf den Teller und schaue meinen Vater bestürzt an. „Ich denke, ich habe keine Wahl.“ Es fällt mir schwer, die Bitterkeit in meiner Stimme zu verbergen. Mit traurigen Augen mustert er mich, dann angelt er sich eines der Nigiri. Eine Weile sitzen wir schweigend da. Der Appetit ist mir vergangen, zumal auch die Schmerzen in meinem Hals allmählich zurückkehren. Behutsam lege ich die Stäbchen beiseite. „Bist du schon satt?“, kommt die Frage, die ich befürchtet habe. „Ich habe wegen heute Nacht noch einmal nachgedacht. Ich ließ dich überhaupt nicht zu Wort kommen und habe einfach geurteilt. Würdest du mir erklären, was eigentlich los war? Kannst du dich noch an dein Handeln erinnern?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ Ich schaffe es nicht, ihn anzuschauen, sondern halte den Kopf gesenkt. „Mir war kalt und ich wollte nur, dass es aufhört. Es tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht, aber ich tat es nicht in der Absicht, mir zu schaden. Zumindest nicht bewusst.“ „Und da liegt das Problem. Mir bereiten weniger die Momente Sorgen, in denen du weißt, was du tust. Da vertraue ich dir. Aber diese unbewussten Handlungen finde ich gefährlich. Ich habe das Gefühl, dass dich dann nichts mehr erreicht, dass dir nichts mehr wichtig ist. Ich habe Angst, dass du dir in einer solchen Situation wieder etwas antust und ich will…“ „Papa!“, schreie ich ihn beinahe an. „Bitte, hör auf!“ Tränen laufen mir über die Wangen. Mein Vater legt seine Stäbchen aus der Hand, steht auf und macht ein paar Schritte auf mich zu. Ruhig streicht er mir über das Haar. Diese Geste bringt meine ohnehin beschädigte Fassade endgültig zum Einstürzen. Ungehemmt fange ich an zu weinen. Ich fühle mich schwach und schutzlos. Mit einer liebevollen Umarmung versucht mein Vater mir Halt zu geben. Beruhigend streichelt er mir über den Rücken. „Es tut mir alles so leid!“ Ich schaffe es nicht, mein Schluchzen unter Kontrolle zu bringen. „Ich will nicht, dass du meinetwegen unglücklich bist. Aber ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, dass du stolz auf mich sein kannst. Das Leben ist so schwer. Ich packe das nicht. Es fühlt sich alles so falsch an. Egal, was ich tue. Ich fühle mich falsch an. Es läuft eben immer wieder alles auf den Tod…“ „Shhh!“, unterbricht er meinen aus Verzweiflung hemmungslosen Redeschwall. „Diese Gedanken sind… nein, es ist eher ein Gefühl, oder? Aber es ist nicht rational. Letztlich weißt du, dass es anders ist… du weißt es nicht, weil du es nicht fühlst. Ich… im Grunde begreife ich es nicht. Es tut mir leid, ich möchte dich verstehen, wissen, was in dir vorgeht, doch ich kann nur zusehen. Und versuchen, so gut es geht, für dich da zu sein. Doch es ist schwer, wenn ich nur mitbekomme, dass du dich mehr und mehr kaputt machst, in der Hoffnung, dass es irgendwann vorbei ist. Ich will dir keine Vorwürfe oder Schuldgefühle machen… eigentlich möchte ich dir nur sagen, dass ich dich liebe.“ Mein ganzer Körper bebt durch das Weinen. Halt suchend drücke ich mich fester an meinen Vater. „Ich weiß“, flüstere ich. Mir kommen die Gedanken von vorhin in den Sinn. „Ich liebe dich auch.“ Meine Stimme versagt. Erneut werde ich von einem Weinkrampf geschüttelt und ich habe den Eindruck, keine Luft zu bekommen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und in meiner Brust zieht sich alles zusammen. Es tut weh. Das Gefühl, jemanden zu lieben, ist fast unerträglich schmerzhaft. Tai. Plötzlich taucht sein Bild vor mir auf und eine unbeschreibliche Wärme durchströmt mich. Doch warum kommen mir Zweifel, wenn ich an ihn denke? Und woran zweifle ich? Ich merke, wie ich mich langsam wieder beruhige. Die Situation hat mir etwas die Augen geöffnet, doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Den Kopf in meine Hand gestützt, sitze ich auf meinem Platz und schaue aus dem Fenster. Es nervt mich, dass ich einen Platz in der Mittelreihe bekommen habe, denn so kann ich nur den derzeit leicht bewölkten Himmel und ein wenig von den im Wind wiegenden Bäumen sehen. Vermutlich würde es mich weniger stören, wenn sich der Unterrichtsraum nicht im dritten Stock befände und der Ausblick somit etwas abwechslungsreicher wäre. Das Rascheln des Laubes ist durch die geöffneten Fenster zu hören. Ein paar Mädchen aus meiner Klasse lehnen sich hinaus, geben Zeichen, um anscheinend untenstehenden Freunden etwas zu signalisieren. Hin und wieder rufen sie etwas, in der Annahme, von dem Anderen gehört zu werden. Es ist ein warmer Sommertag, sodass gelegentlich kühle Brisen eine willkommene Abwechslung darstellen. Manchmal fliegt ein Vogel auf einen der Äste, vielleicht um Schutz vor der Sonne zu finden. Ein Frösteln durchfährt meinen Körper. Ich lasse meinen Kopf sinken und berühre mit der Stirn die Tischplatte. In dieser Position verharre ich einen Moment. Die Stimmen und Geräusche um mich herum hallen unangenehm laut und verworren in meinem Schädel wider. Ohne darüber nachzudenken, halte ich mir die Ohren zu. Noch vier Stunden. Entschlossen richte ich mich auf, packe hastig meine Sachen zusammen und verlasse fluchtartig den Raum. Die Zurufe einiger Klassenkameraden registriere ich kaum. Am Ende des Flures sehe ich Tai stehen, der sich angeregt mit mehreren Leuten unterhält, anscheinend Freunde von ihm. Schnellen Schrittes biege ich in den Gang neben mir ein, in der Hoffnung, von ihm nicht gesehen zu werden. Ich laufe zielgerichtet zu den Treppen, diese hinab und durch einen der Nebeneingänge verlasse ich das Gebäude. Die Wärme berührt angenehm meine Haut, doch die Kälte, die sich mittlerweile bis in meine Knochen gefressen hat, vermag sie nicht zu vertreiben. Ebenso das Gefühl, zu verbrennen, wird dadurch nicht gelindert. Ohne noch einmal anzuhalten, laufe ich über das Schulgelände und verlasse es mit einem letzten, kurzen Blick zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)