So einfach von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Das Telefon klingelt. Für einen kurzen Moment überlege ich aufzustehen, um das Gespräch entgegen zu nehmen, entscheide mich dann aber dagegen. Ich hasse Telefonieren und außer Tai würde ich niemand wichtigen verpassen. Meinen Vater vielleicht noch, aber ich denke, dass keiner von beiden versuchen würde mich anzurufen, da sie wissen, dass ich in den meisten Fällen sowieso nicht rangehe. Zudem müssten beide denken, dass ich noch im Unterricht sitze. Oder hat Tai erfahren, dass ich bereits gegangen bin? Möglicherweise hat er mich in der Klasse besuchen wollen und die anderen sagten ihm, dass ich nach der dritten Stunde verschwand. Dann macht er sich eventuell Sorgen und will wissen, ob ich zu Hause bin. Sicher kommt er sofort nach dem Unterricht her. Ich habe diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da klingelt es an der Wohnungstür. Seufzend erhebe ich mich vom Bett und laufe den Flur entlang. Ohne durch den Spion zu schauen, öffne ich die Tür und blicke direkt in das Gesicht meines Freundes. „Tai?“, frage ich überrascht, doch eigentlich war ich mir sicher, dass er es ist. „Darf ich reinkommen?“ Ich mache einen Schritt zur Seite und bedeute ihm einzutreten. Wir gehen in mein Zimmer. Während er auf dem Sofa Platz nimmt, setze ich mich wieder auf mein Bett. Einen Moment herrscht Stille, Tai sieht sich gelangweilt um, ich beobachte ihn kurz, dann breche ich das peinliche Schweigen: „Müsstest du nicht eigentlich noch in der Schule sein?“ „Und du?“, kommt rasch die Antwort, ohne dass er mich ansieht. „Ich habe eine Krankschreibung. Ich war vorhin beim Arzt.“ „Aha. Wieso, was hast du denn?“ Er wirkt distanziert. „Pharyngitis bakteriellen Ursprungs. Ohne Schmerzmittel kann ich kaum richtig schlucken und es wird nicht besser.“ „Fieber?“ „Phasenweise. Momentan geht es aber.“ Ich schaue meinen Freund an. Sein Blick ist unergründlich. Langsam steht er auf und kommt auf mich zu. Er beugt sich zu mir hinab, packt mich fest an den Schultern und raunt mit vulgärer Stimme in mein Ohr: „Schade. Ich hätte dich, verschwitzt und im Fieberwahn, gern einmal so richtig rangenommen.“ Ich frage mich, ob Tai in diesem Zustand die Realität erkennen kann. Ist das auch eine Art Dissoziation? Und ist er sich dessen bewusst? „Weißt du, dass es mir gefallen würde, dich gegen deinen Willen zu ficken?“, flüstere ich emotionslos zurück. „Ja, aber du kannst es nicht. Ich bin dir körperlich weit überlegen. Gegen mich kommst du inzwischen nicht mehr an und das ist dir bewusst.“ „Sicher? Sollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen?“ Fest umgreife ich Tais Handgelenke, ziehe ihn zur Seite und nagele ihn rücklings auf dem Bett fest, indem ich mich in Reiterstellung auf seine Oberschenkel setze. Ein süffisantes Lächeln legt sich auf die Lippen meines Freundes. „Willst du mich wieder vergewaltigen? Aber weißt du, ich steh nicht so darauf, die Kontrolle zu verlieren.“ Mit diesen Worten bäumt er sich auf und versucht sich aus meiner Umklammerung zu lösen. Es gelingt ihm nicht, da ich mein gesamtes Gewicht auf die Arme verlagert habe, um ihn festhalten zu können. Ich beuge mich zu ihm hinab, dicht vor seinem Gesicht halte ich inne. „Dir wird dein Lächeln schon noch vergehen“, hauche ich herausfordernd, bevor ich wollüstig über seine Lippen lecke. Ich spüre, wie Lust in mir aufsteigt und zwinge meinem Freund einen Kuss auf, den er sogleich ohne große Gegenwehr leidenschaftlich erwidert. Plötzlich merke ich, dass er meine Unaufmerksamkeit ausnutzt, blitzschnell seine Handgelenke aus meinen Händen windet, mich an den Hüften packt und den Kuss unterbricht. „Ich könnte das Blatt jetzt ganz leicht wenden.“ Mit diesen Worten hebt er seinen Arm und umfasst meinen Hals. Er drückt leicht zu. Ich schließe die Augen und genieße den Schmerz, der sich bereits jetzt durch die Krankheit einstellt. Mit meiner linken Hand suche ich die meines Freundes, um ihn zu spüren. Er verhakt unsere Finger und verstärkt zugleich den Druck auf meine Kehle. Ich schaue ihn, ein Husten unterdrückend, an. Seine Augen sind, wie immer in diesem Zustand, kalt. Unerwartet lässt er mit einem Mal sowohl meine Hand als auch meinen Hals los und umschließt stattdessen meine Taille. Mit etwas Kraftaufwand hebt er mich von sich herunter und kehrt die Situation um. Nun liege ich unter ihm, langsam beginnt er, meine Hose zu öffnen, wobei er mich genau beobachtet. Ich versuche, mir meine Begierde nicht anmerken zu lassen, habe aber das Gefühl, vor Verlangen zu verglühen. „Tai“, stöhne ich. „Was ist? Hast du Schmerzen? Oder überwältigt dich die Lust gerade?“ Ich hebe meine Hand zu seinem Gesicht und streiche flüchtig über seine Wange. „Ich liebe dich.“ Meine Stimme zittert. Tai hält in seinem Tun inne und sieht mich fragend an. Dann entledigt er mich meiner Hose und knöpft mein Hemd auf. „Warte.“ Ich setze mich auf und sehe ihn auffordernd an. „Zieh dich aus.“ „Ist das ein Befehl?“, fragt mein Freund irritiert. Die Kälte in seinem Ausdruck ist verschwunden. „Sieh es, wie du willst, aber diesmal werde ich dich nehmen.“ Ein leichtes Lächeln zeichnet sich bei ihm ab, während er beginnt, sich zu entkleiden. Als er fertig ist, geht er zur Tür und dreht den Schlüssel im Schloss. „Du kannst nicht fliehen.“ Tai lächelt noch immer. Kurz habe ich das Gefühl eines Déjà-vu, schiebe den Gedanken jedoch beiseite und ziehe meinen Freund am Arm zu mir. „Ich weiß, dass du die Kontrolle nicht gern verlierst, aber lass mich dir ein Stück von meiner Welt zeigen. Ebenso möchte ich in deine Welt eintauchen.“ Tai nickt und ich spüre Nervosität und Erregung in mir aufsteigen. „Aber ich werde dir alles zeigen.“ Ich liege schweigend neben Tai und beobachte ihn. Er liegt auf dem Rücken, seine Augen sind geschlossen. Gleichmäßig hebt und senkt sich sein Brustkorb, ein Zeichen, dass er noch am Leben ist. Mein Körper bebt noch immer von dem Adrenalinstoß, welcher durch die Gewalt, vielleicht auch durch den Sex, ausgelöst wurde. Ich hatte vollends die Kontrolle verloren. Ich war wie im Rausch und es fühlte sich ganz anders an als die Dissoziationen, die ich normalerweise habe. Beinahe hätte ich eine Grenze überschritten, denn ich war bereit, meinen Freund zu töten. Zumindest schaffte ich es nicht, meinen Griff zu lockern, als er langsam das Bewusstsein zu verlieren schien. Es war vermutlich sein Überlebenstrieb, der ihn die Kraft aufbringen ließ, mich von sich zu stoßen. Reglos blieb ich neben ihm sitzen, während er das Husten zu unterdrücken versuchte. Nachdem Tai sich wieder gefangen hatte, blickte er mich mitfühlend an und richtete folgende Worte mit einem Lächeln an mich: „Nicht jetzt. Und nicht hier.“ Aber Tai irrt sich. Es war der perfekte Moment. Nun ist es zu spät, dabei wäre es so einfach gewesen. Ich sitze in der Küche, mit einer Tasse Kaffee vor mir. Meine Gedanken sind bei Tai, der noch immer schlafend in meinem Bett liegt. Inzwischen ist auch mein Vater nach Hause gekommen. Als er eine Unterhaltung mit mir beginnen wollte, fragte ich ihn, ob wir es auf später verschieben könnten, da ich mich momentan nicht so gut fühle. Ich erkannte Besorgnis in seinen Augen, deshalb sagte ich ihm, dass Tai hier wäre. Er nickte verstehend. Offenbar denkt er, dass wir uns gestritten haben. Nun sitzt er im Wohnzimmer und schaut fern. Ich nippe an meiner Tasse und stelle fest, dass der Kaffee inzwischen kalt ist. Ich stehe auf und schütte ihn in das Spülbecken. Normalerweise mag ich kalten Kaffee, doch im Moment ist er mir zuwider. „Was ist denn mit dir? Du verzichtest freiwillig auf deine Dosis Koffein?“ Ich zucke zusammen. „Tai…“, flüstere ich mit belegter Stimme. Dann gelingt es mir, mich wieder zu fangen. Entschlossen sehe ich ihn an. „Gehen wir in mein Zimmer.“ Nach Betreten des Raumes schließe ich die Tür hinter mir ab. „Was hast du denn vor?“, fragt mein Freund skeptisch. Ungeachtet dessen gehe ich an meine Schultasche, hole mein Portemonnaie heraus und aus diesem meine Rasierklinge für den Notfall. Dann wende ich mich Tai zu. „Komm, setz dich zu mir.“ Ohne zu Zögern nimmt er mir gegenüber auf dem Boden Platz. Ich entfalte das Papier und nehme vorsichtig das kleine, metallisch glänzende Werkzeug heraus. Mein Freund hatte nur seine Hose angezogen, weshalb sein Oberkörper noch nackt ist. „Dein Arm“, sage ich ruhig. „Hast du dich unter Kontrolle?“, fragt er ebenso ruhig, streckt mir zeitgleich aber seinen Arm entgegen. Ich sehe ihn an. Dann setze ich die Klinge auf seine Haut und ziehe sie mit starkem Druck durch. Die Wunde verläuft quer über den Arm. In den ersten Sekunden sind nur weißes Fleisch und Sehnen zu sehen, doch schnell quillt unaufhörlich Blut heraus. Ich starre darauf, ohne mich zu regen. Dann sehe ich zu Tai. Dieser scheint keine Schmerzen zu haben, denn er wirkt ganz ruhig und betrachtet seinen Arm. Plötzlich erfasse ich die Situation. „Scheiße!“, schreie ich auf und suche panisch nach etwas, womit ich die Blutung stillen kann. Vor Angst gelähmt stehe ich mitten im Zimmer. Jetzt laufen mir Tränen über das Gesicht. „Scheiße, scheiße, scheiße!!!“, sage ich immer wieder. Mein Körper bebt. „Yamato!“, spricht Tai mich laut an. „Bleib ruhig, okay?“ Entsetzt sehe ich zu ihm, sehe in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Ich atme durch und versuche mich zu beruhigen. Es gelingt mir nur mäßig. „Yamato, jetzt überleg bitte, wo du deine Verbandsmaterialien aufbewahrst. Hol sie her. Und ruf bitte den Notarzt an. Ich denke nicht, dass es ohne geht.“ Er hält seinen verletzten Arm mit dem anderen fest, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Auf seiner Hose und dem Teppich hat sich mittlerweile eine Blutlache gebildet, die das Ausmaß des Blutverlustes deutlich macht. „Yamato! Könntest du dich bitte beeilen! Das tut verflucht weh.“ Ich löse mich aus meiner Starre und renne zur Tür. Durch das Zittern meiner Hände habe ich Schwierigkeiten den Schlüssel im Schloss zu drehen. Als es mir endlich gelingt, stürme ich aus dem Zimmer, brülle meinem Vater zu, er soll einen Krankenwagen rufen, suche im Bad sämtliche Verbandsmaterialien zusammen und renne zu meinem Freund zurück. Er blutet noch immer sehr stark. Sein Gesicht ist inzwischen bleich und er sieht aus, als stehe er kurz vor der Ohnmacht. Ich setze mich vor ihn und versuche durch einen Druckverband die Blutung zu stoppen. „Was ist denn los?“ Mein Vater steckt fragend den Kopf in mein Zimmer. Ungläubig sehe ich ihn an. „Hast du noch keinen Krankenwagen gerufen? Verdammt nochmal! Schnell!“, gehe ich ihn unbeherrscht an. Entsetzt erfasst er die Situation und verlässt eilig das Zimmer. „Tai…“, versuche ich ein Gespräch anzufangen, während ich noch immer den Verband anlege, der allerdings bereits blutgetränkt ist. „Ich bekomme das Zittern nicht unter Kontrolle“, sind seine einzigen Worte. „Sie sind gleich da“, informiert uns mein Vater, als er zurückkommt. „Was ist denn passiert?“ Diese Worte sind eindeutig an mich gerichtet. „Ich…“ Mein Kopf ist vollkommen leer. Was soll ich sagen? Die Wahrheit? Wenn er erfährt, dass es sich um eine vorsätzliche Körperverletzung handelt, möchte ich seine Reaktion nicht erleben. Vermutlich lässt er mich dann wegen Unzurechnungsfähigkeit wieder einweisen. Und falls die Eltern meines Freundes von meiner Tat erführen, gäbe es sicher zusätzlich eine Anzeige. Allerdings, wenn Tai sterben sollte… Meine Gedanken werden von einem Klingeln an der Tür unterbrochen. Innerlich atme ich auf, einen Aufschub für die Erklärung zu bekommen. Mein Vater öffnet und führt die Sanitäter zu Tai. Dieser sitzt noch immer ganz ruhig auf dem Boden und hält sich den nach wie vor blutenden Arm. Der Verband ist komplett durchweicht und das Blut tropft unablässig auf den Teppich. Während mein Freund behandelt wird, stehe ich starr daneben und betrachte ihn. Wusste er, dass so etwas passieren würde? Hat er damit gerechnet und es in Kauf genommen? Warum? Warum hat er so bereitwillig seinen Arm hingehalten? Und seine Frage… „Wir nehmen ihn erst einmal mit ins Krankenhaus. Die Wunde muss definitiv genäht werden. Wie ist das eigentlich passiert?“, fragt einer der Sanitäter. Meine Augen weiten sich und mein Herz klopft, als wollte es zerspringen. Ein Kloß im Hals behindert nun zusätzlich zu der Krankheit mein Schlucken. Übelkeit steigt in mir auf. „Ich habe mich geschnitten“, höre ich Tai sagen. „Und woran?“, fragt der Sanitäter weiter und schaut sich im Raum um. Ich folge seinem Blick und erschrecke, als ich die Rasierklinge auf dem Boden liegen sehe. „Glas. Mein Freund hat es aber schon entsorgt“, lügt Tai. Er sieht mich nicht an. „Das ist ein ziemlich glatter Schnitt und Splitter sind auch keine darin“, bemerkt der Sanitäter abschließend und wirft mir einen skeptischen und zugleich vielsagenden Blick zu. Sie bringen Tai nach draußen und als er im Krankenwagen sitzt und die Türen geschlossen werden, stehe ich davor, in der Hoffnung, noch einmal in seine Augen sehen zu können. Er schaut nicht zu mir, sondern hält seinen Blick starr auf den Boden gerichtet. Nach der Abfahrt stehe ich noch lange auf der Straße. Zufällig sehe ich nach unten und bemerke meine blutverschmierten Hände. Ich hebe sie ein Stück und betrachte sie eingehend. Sie sind bedeckt von braunem, klebrig verkrustetem Blut. Wie fremdgesteuert kehre ich in die Wohnung zurück. Mein Vater steht im Flur und sieht mich fragend an. Ohne ihn zu beachten, gehe ich an ihm vorbei zu meinem Zimmer. Es riecht stark nach Blut. Im Türrahmen stehend starre ich auf den großen Fleck getrockneten Blutes, in dessen Nähe noch immer die Rasierklinge liegt. Erneut steigt Übelkeit in mir auf. Ich drehe mich um und will ins Bad rennen, remple allerdings direkt gegen meinen Vater. Er will mich festhalten, aber ich stoße ihn beiseite und schließe mich im Badezimmer ein. Würgend knie ich über der Toilettenschüssel, spucke jedoch nur Speichel und Galle aus. Dann fällt mein Blick wieder auf meine Hände. Tais Blut klebt noch immer daran. Ich stolpere zum Waschbecken, drehe den Wasserhahn bei der heißesten Temperatur auf volle Stufe und schrubbe sie gründlich mit Seife und Bürste. Selbst als sie zu schmerzen beginnen, sodass ich es kaum noch ertrage, kann ich nicht aufhören. Erst als ich mein eigenes Blut auf meinen Händen sehe, schaffe ich es, die Bürste beiseite zu legen und das Wasser abzustellen. Mit einem Mal versagen mir meine Beine den Dienst. Ich sacke zusammen und bleibe apathisch an die Toilette gelehnt sitzen. Der Duft von Tais Blut haftet noch immer in meiner Nase und an meinen Händen. Ich liege im Wohnzimmer auf der Couch. Vor mir auf dem Tisch steht eine Tasse mit Beruhigungstee, den mein Vater mir gekocht hat. Eine von den Ärzten für solche Fälle verschriebene Tablette will er mir nicht geben. Teilnahmslos fixiere ich die Uhr, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ich bin verwirrt, weil ich nicht begreifen kann, was eigentlich passiert ist. Tai wurde verletzt und es ist meine Schuld. Allerdings wollte ich ihn verletzen. Ich wollte ihm etwas von mir geben. Etwas, dass ihn an mich bindet. An mich erinnert. Selbst wenn er mich hassen sollte. Oder ich ihm gleichgültig bin. Vergessen kann er mich jetzt nicht mehr. Aber ist mir die Kontrolle tatsächlich entglitten? Und warum hat Tai mich nicht mehr angesehen? Ich bezweifle, dass er sauer auf mich ist, schließlich wusste er, worauf er sich einlässt. Mein Körper vibriert noch immer, auch wenn die Anspannung langsam nachlässt. Ich bereue nicht, was ich getan habe. Es ist zwar etwas heftiger abgelaufen, aber im Grunde ist die entstandene Wunde ein viel schöneres Stigma, als ich es geplant hatte. „Yamato, trink deinen Tee.“ Die Worte meines Vaters holen mich in die Realität zurück. Er nimmt neben mir Platz und schaut mich besorgt an. „Wie geht es dir?“ Ich setze mich auf, nehme die Tasse und trinke einen Schluck von dem Tee. Dann stelle ich sie wieder ab und antworte tonlos: „Geht schon.“ „Ich habe im Krankenhaus angerufen. Tai geht es soweit gut. Die Wunde musste, wie der Sanitäter bereits sagte, genäht werden. Seine Eltern wurden informiert und haben ihn abgeholt. Er ist jetzt zu Hause.“ Ich schweige, stattdessen schweift mein Blick ins Nichts. „Yamato? Was ist eigentlich wirklich passiert?“, fragt mein Vater vorsichtig in die drohende Stille. Meine Augen weiten sich und mein Körper erstarrt vor Schreck. „Yamato, antworte“, sagt er jetzt in bestimmtem Ton. „Ich…“ Meine Stimme bricht ab. Ich höre meinen Vater seufzen, dann hält er mir eine blutverkrustete Rasierklinge hin. „Die gehört dir, oder?“ Ich nicke zögerlich. Angst steigt in mir auf und mein Magen verkrampft sich. „Hast du sie benutzt oder war Tai es selbst?“, fragt er weiter. Ich antworte nicht. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, sodass ich keine Luft bekomme. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Unregelmäßig atme ich aus und ein. „Du warst es, hab ich recht?“ Seine Frage klingt, als würde er hoffen eine andere Antwort zu erhalten. Konzentriert versuche ich die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken und meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich trinke erneut einen Schluck Tee und schaffe es zögerlich, mich zu beruhigen. Dann sehe ich meinem Vater direkt in die Augen. „Ich war es. Ich habe Tai verletzt. Absichtlich.“ Unglauben macht sich im Gesicht meines Vaters breit. Für einen Moment ist er wie erstarrt. Müsste ich seinen Anblick beschreiben, dann würden Entsetzen, Erschütterung und Fassungslosigkeit zusammen bei Weitem nicht ausreichen. So habe ich ihn noch nie gesehen. Schuldbewusst senke ich den Kopf. „Aber warum?“ Seine Frage ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich überlege, ob ich ihm die Wahrheit wirklich zumuten sollte. Oder ob Schweigen besser wäre. „Weil ich ihn liebe“, sage ich schließlich ohne nachzudenken. Erst im Nachhinein wird mir bewusst, welche Bedeutung meine Worte eigentlich haben. „Was?“ Seine Verwirrung ist ihm deutlich anzumerken, doch auch, dass er versucht sich wieder zu sammeln. „Wenn du ihn liebst, warum tust du ihm so etwas an? Yamato, das ist krank.“ Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, sehe ich das Erschrecken über sich selbst in seinen Augen. „Schon okay, Papa. Ich finde es gut, dass du endlich aussprichst, was du wirklich denkst.“ Ich stehe auf und verlasse den Raum. Auf seine Bitte, zurückzukommen, reagiere ich nicht mehr. Wie versteinert sitze ich in meinem Zimmer und betrachte den eingetrockneten, rostroten Fleck auf dem Teppich. Tai muss viel Blut verloren haben. Eine so tiefe Wunde habe ich real noch nie gesehen. Ich schaue unwillkürlich auf meinen Arm, schiebe den Ärmel des Hemdes hoch und mustere meine eigenen, teils verheilten, Schnitte. Verlangen steigt in mir auf, welches durch den noch immer in der Luft liegenden Geruch nach Tais Blut weiter gesteigert wird. Ich nehme eine der Rasierklingen in die Hand, welche ich vorhin aus dem Badezimmerschrank mitgebracht habe. Es wundert mich, dass mein Vater sie scheinbar noch nicht entdeckt hat, sonst hätte er sie mit Sicherheit beschlagnahmt. Fasziniert betrachte ich eines dieser unscheinbaren und doch gefährlichen Dinger. Hätte ich nicht die Oberseite von Tais Arm, sondern die Innenseite, wie ich es kurz in Erwägung zog, gewählt, wäre er vermutlich gestorben. Er wäre vor meinen Augen verblutet. Eine Gänsehaut überkommt mich bei diesem Gedanken. Leicht fahre ich schräg mit der flachen Seite der Klinge darüber, bevor ich sie zum Schneiden ansetzte. Völlig unerwartet wird mein Körper von einer starken Unruhe erfasst und eine diffuse Angst stellt sich ein. Ich sehe Tais Arm vor mir, die zerteilte Haut, das weiße Fleisch mit den Sehnen, die auf den ersten Blick auch Knochen sein könnten, und letztlich das Blut, welches rasch alles bedeckt und unablässig fließt. In meinen Ohren höre ich immer wieder das leise Geräusch, welches beim Zerteilen von Fleisch entsteht. Ein Geräusch, das mich fast in den Wahnsinn treibt. Gelähmt sitze ich da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Die Klinge gleitet mir aus der Hand und fällt zu Boden. Wie von Sinnen starre ich auf meinen Arm und die zahllosen Male darauf. Plötzlich hebe ich meine rechte Hand und beginne beinahe zwanghaft mit meinen Fingernägeln die verschorften Wunden wieder aufzukratzen. Sie fangen erneut zu bluten an, doch mein Selbsthass ist noch nicht gestillt. Unablässig reiße ich frische Verletzungen in meine Haut, wie ein wildes Tier, welches sich erbarmungslos über seine Beute hermacht. Meine ganze Verachtung bezüglich meiner Schwäche und meiner Person spiegelt sich in diesem Delirium wider. Ich muss erkennen, dass der Vorfall mit Tai Spuren hinterlassen hat, da ich deutlich Hemmungen habe, eine Rasierklinge zu benutzen. Sogar bei mir selbst. Als ich meinen Verstand wiedererlange, sehe ich erst das Ergebnis meines Anfalls. Viele der Wunden sind wieder offen, bluten mehr oder minder stark. Rote Linien ziehen sich über den Arm und laufen an der Unterseite zusammen, wo sie schließlich in Tropfen zu Boden fallen. Ich stehe auf und gehe zu den Verbandsmaterialien, welche noch immer in meinem Zimmer liegen. Gewohnheitsmäßig beginne ich mit der Wundversorgung. Dann ziehe ich meinen Ärmel über den Verband, verstecke die Rasierklingen in meinem Schreibtisch und verlasse das Zimmer. In der Küche sitzt mein Vater, den Kopf in seinen Händen vergraben. Als ich eintrete, schaut er mich an, sagt jedoch nichts. Schweigend setze ich mich zu ihm. Die Atmosphäre ist unangenehm, denn wir wissen beide, dass unsere Beziehung sich verändert hat. Als ich in meinem Zimmer am Schreibtisch ein paar Gedanken in mein Skillsbuch schreiben möchte, fehlt mir jegliche Konzentration. Ich schaue auf die leere Seite und ziehe mit meinen Augen die Gitterlinien des blau karierten Aufdrucks nach. Meine Krankheit ist aufgrund des Antibiotikums inzwischen weitestgehend abgeklungen. Einerseits bin ich froh darüber, weil mich diese Einschränkung genervt hat, doch andererseits bemerke ich immer wieder, dass ein schlechter Zustand meines Körpers meiner Psyche gut tut. Vor allem die Suizidalität sinkt in diesem Zeitraum auffallend. Eine Erklärung für dieses Phänomen habe ich nicht, als ich jedoch meiner Therapeutin vor einiger Zeit davon berichtete, meinte sie, dass diese Tatsache das Ausmaß meines Selbsthasses verdeutlicht. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl herum, versuche Gedanken an ein wiederholtes Abstürzen mit anschließender Einweisung zu unterbinden. Kurzfristig schaffe ich es und schreibe einige Sätze auf das Papier, dann setze ich allerdings den Stift ab und werfe einen Blick auf die Uhr. Der große Zeiger steht auf der Fünf, während der kleine bald die Acht komplett für sich beansprucht. Heute wird Tai ebenfalls nicht herkommen. Im Krankenwagen sitzend sah ich ihn das letzte Mal, mit gesenktem Kopf, als wollte er mir ausweichen. Danach habe ich kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Im Grunde sind erst vier Tage vergangen, aber in Anbetracht der Situation kommt mir diese Zeit unendlich lang vor. Morgen endet meine Krankschreibung und ich muss wieder zur Schule. Wird er da sein, sodass ich ihn sehen kann, oder hat er eine Bescheinigung vom Arzt erhalten? Ich höre den Schlüssel im Schloss und wie mein Vater die Wohnung betritt. Er kommt heute ungewöhnlich spät von der Arbeit. Seit der letzten Unterhaltung haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Dazu, dass ich krank geschrieben bin, sagte er ebenso wenig wie zu dem Gespräch, welches er inzwischen mit meinem Direktor geführt hat. Normalerweise begrüßt mich mein Vater, wenn er nach Hause kommt, die vergangenen Tage ging er jedoch direkt ins Wohnzimmer. Wütend schlage ich mit der Faust auf das Holz der Tischplatte. Am liebsten würde ich mich, im Angesicht meiner Schuld, bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. Allerdings klingt die Wut ebenso schnell wieder ab, wie sie aufgekommen ist, und weicht einer riskanten Leere. Ich kenne das Gefühl der Einsamkeit, selbst wenn viele Menschen um mich herum sind, aber zum ersten Mal fühle ich mich wirklich allein. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ich gehen kann, ohne jemandem, der mir wichtig ist, Schmerz zuzufügen? Tai steht vor mir und schaut mich hasserfüllt an. Langsam gehe ich einen Schritt auf ihn zu, doch er weicht zurück, damit ich ihn nicht erreiche. Er scheint zu schweben, so leicht gleitet er über den Boden. Verzweifelt versuche ich ihn zu fassen, doch er entwischt mir, als wäre er ein Geist und ich würde durch ihn hindurch greifen. Als ich verstehe, lasse ich mich kraftlos auf die feuchte Erde fallen. Das Grab, auf dem ich sitze, scheint erst vor Kurzem gegossen worden zu sein. Weiße Blumen umranken meine Beine, als wollten sie mich am Weglaufen hindern. Tai lächelt. Gemächlich kommt er auf mich zu und schlägt mir hart mit der Faust ins Gesicht. Meine Lippe platzt auf und der süßlich-metallische Geschmack von Blut verteilt sich rasch in meinem Mund. Ich zeige keine Reaktion und halte meinen Kopf weiterhin gesenkt. Dies bekomme ich mit einem Tritt in den Magen quittiert. Ich keuche auf und krümme mich, den Bauch haltend, nach vorn. Plötzlich spüre ich einen gleißenden Schmerz in der Nierengegend. Mir stockt der Atem und ich breche vollends zusammen. Reglos liege ich im Dreck, warte auf Linderung. Der Himmel ist unnatürlich blau, keine einzige Wolke ist zu sehen. In der Ferne, an einen Baum gelehnt, steht mein Vater. Tai hockt sich neben mich und streicht mir sanft durch das Haar, dann krallt er seine Finger darin fest und reißt meinen Kopf brutal nach oben. Ich blicke ihm in die Augen, kann jedoch keine Bewusstseinsspaltung darin erkennen. Er ist bei klarem Verstand. Erneut schlägt er mir ins Gesicht. Ich sammle das Blut in meinem Mund, spucke es ihm entgegen und treffe Nase und Wange. Unbeeindruckt wischt mein Freund es mit seinem Ärmel weg. „Fängst du jetzt doch an, dich zu wehren? Ich dachte schon, du hättest endgültig aufgegeben.“ Tai lässt mich los und ich falle zurück auf das Grab. Schwerfällig setze ich mich auf. Mein gesamter Körper schmerzt, doch ich genieße es. Mein Freund scheint das zu bemerken. „Du bist krank.“ Ich schlage die Augen auf. Verstört taste ich im Dunkeln nach meinem Wecker. Dem beleuchteten Display entnehme ich, dass es vier Uhr dreizehn ist. Zu früh, um aufzustehen. Ich rolle mich auf den Rücken und starre die Zimmerdecke an. Eigentlich habe ich erreicht, worauf ich die ganze Zeit hingearbeitet habe. Es ist mir gelungen, die Menschen, die ich liebe, durch mein Verhalten von mir abzustoßen, um leichter gehen zu können. Ich hatte gedacht, dass bei Eintreten der Situation alles einfacher werden würde und der letzte Schritt nur noch ein kleiner ist. Aber ich habe mich geirrt. „Wir müssen reden, Yamato“, beginnt mein Vater, als er mein Zimmer betritt. Er ist gerade erst nach Hause gekommen und ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich aufsuchen würde. Umso erstaunter bin ich über die deutliche Aufforderung. Ungefragt setzt er sich auf mein Bett. Ich bleibe auf dem Sofa sitzen, schalte aber den Fernseher leiser. Fragend schaue ich ihn an. „Du warst seit einigen Tagen nicht mehr in der Schule. Und zur Therapie gehst du auch nicht. Erkläre mir, warum?“ Sein Tonfall ist ungewohnt sachlich. „Wozu? Ist doch egal.“ Um meinen Vater zu provozieren, versuche ich gleichgültig zu klingen, zucke allerdings zurück, als er sich vom Bett erhebt und auf mich zukommt. „Na komm, schlag zu. Das habe ich doch verdient“, grinse ich ihn herausfordernd an und frage mich analog, was dieses paradoxe Verhalten eigentlich soll. Ohne es zu wollen, füge ich mit einem Lachen hinzu: „Oder bin ich dir zu krank, sodass du mir lieber feige aus dem Weg gehst.“ Mein Lachen wandelt sich in Zorn und die letzten Worte speie ich meinem Vater giftig entgegen. Ich kann sehen, wie er die Fassung verliert und mich bestürzt ansieht. „Nein, Yamato. Aber ich frage mich ernsthaft, ob du gerade zurechnungsfähig bist.“ „Ah, verstehe. Du willst mich wieder einsperren lassen. Auch eine gute Methode, um den ungeliebten, wahnsinnigen Sohn ganz einfach loszuwerden“, schreie ich ihm entgegen und zerbreche innerlich an meinen Aussagen. „Du wirst ausfallend, Yamato.“ „Ach ja? Ist es nicht das, was du denkst?“ „Nein.“ Mein Vater hebt seine Hand, ergreift mich am Arm und zieht mich in eine Umarmung. Ich will mich wehren, gebe aber schnell meinen Widerstand auf. „Ich habe nicht vor, dich noch einmal in die Obhut der Psychiatrie zu geben. Aber wenn du eine Gefahr für dich oder andere darstellst, lässt du mir keine Wahl. Es liegt also an dir, wie sich deine Zukunft gestaltet.“ Ich spüre den Herzschlag und die Wärme meines Vaters. Gedankenverloren schaue ich ins Nichts und murmele kaum hörbar: „Ich sehe keine Zukunft.“ Rücklings liege ich auf dem Boden in meinem Zimmer, direkt neben der Stelle, an der Tai vor elf Tagen gesessen hat, ganz ruhig, aber mit schmerzverzerrtem Gesicht. Dieser Anblick hat sich ebenso in mein Gedächtnis gebrannt wie die aufklaffende Wunde, die ich ihm zugefügt habe. Seitdem habe ich meinen Freund weder gesehen noch gehört. Ich hatte zwar oft den Telefonhörer in der Hand, doch ich schaffte es nicht, seine Nummer zu wählen. Tausend Gründe fielen mir ein, es nicht zu tun. Zuletzt dachte ich, dass ich ihm Zeit lassen sollte und dass er sich meldet, falls er mich sehen will. Doch eigentlich sind es nur Ausreden, um meine Feigheit zu kaschieren. Ich laufe vor Tai weg, da ich nicht weiß, wie ich ihm gegenübertreten soll. Selbst zur Schule gehe ich derzeit nicht, obwohl mein Vater mich ausdrücklich darum gebeten hat. Generell hat sich seit dem Gespräch mit ihm vor einigen Tagen nichts geändert. Ich vegetiere in meinem Zimmer vor mich hin, verlasse kaum noch die Wohnung und habe auch sonst, abgesehen von meinem Bruder, keinen Kontakt zur Außenwelt. Und selbst der ist in letzter Zeit sehr sporadisch geworden. Plötzlich stört mich die Stille und löst ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Träge erhebe ich mich. Es sind nur wenige Schritt bis zu meinem CD-Player, aber sie erschöpfen mich bedenklich schnell. Zum ersten Mal seit meiner letzten Entlassung aus der Klinik schalte ich das Gerät ein und setze mich anschließend auf mein Sofa. Der Regen in mir ertränkt das leere Herz Ein Vakuum, das nicht pulsiert und nicht mehr schmerzt Nächtelang bin ich schreiend aufgewacht Nur die Wahrheit bleibt verbannt Verborgen in Deiner Ewigkeit Dein letztes Wort zu mir verklingt in meinem Kopf Doch Dein Blick hat mehr gesagt Als jedes Wort es wohl vermag Kein Wiederkehren Um unerträglich frei zu sein Meine Tränen sind verbrannt Verloren in Deiner Ewigkeit Siamesische Einsamkeit Zu tief gefallen Und doch kein Stück bewegt Und schon viel zu weit entfernt Gestorben in Deiner Ewigkeit Siamesische Einsamkeit Den Rest der CD nehme ich nur noch entfernt wahr, denn meine Gedanken schweifen ab. Das Lied löste heftige Gefühle für Tai in mir aus. Wut, Trauer, Hass und Liebe sind vorherrschend, doch als sich die Befürchtung als Gewissheit aufdrängt, dass ich ihn nie wiedersehen werde, glaube ich zu spüren, wie sämtliche Kraft aus meinem Körper entweicht. Der Antrieb, weiterzukämpfen, ist endgültig erloschen. Im Kopf gehe ich sorgfältig meine Möglichkeiten durch und wäge ab. Falls ich gehe, werde ich Taichi keinem anderen überlassen. Ich stehe im Bad und bin gerade damit fertig geworden, den Verband an meinem linken Arm zu wechseln, als es an der Tür klingelt. Verwundert ziehe ich mein Hemd über, verlasse den Raum und gehe den Flur entlang zum Eingang. Ich schaue durch den Spion. Mein Kopf ist vollkommen leer, als ich die Tür langsam öffne. „Tai…“, entweicht es mir leise, obwohl ich eigentlich schweigen wollte. Er tritt ohne Aufforderung ein und geht geradewegs in mein Zimmer. Ich schließe die Tür und folge ihm. Nervosität keimt in mir auf. Auf diese Situation bin ich nicht vorbereitet. Nach über zwei Wochen habe ich nicht mehr mit einem Lebenszeichen seinerseits gerechnet, von einem Besuch ganz zu schweigen. Meine Gedanken rasen. Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Und wie schaffe ich es, meinen Plan in die Tat umzusetzen? Die Ausgangssituation ist eher ungünstig für mich. Bedacht ruhig schließe ich meine Zimmertür, denn ich habe bemerkt, dass mein Freund direkt hinter mir steht. Ich verharre in meiner Position und drehe mich nicht um. „Hast du Angst?“, flüstert er in mein Ohr. Sein Körper drängt meinen dichter gegen das Holz. Mir wird bewusst, dass es kein Entkommen gibt. „Sollte ich?“, frage ich verächtlicher, als ich eigentlich wollte. Tai legt seine Arme um mich, schiebt seinen rechten Ärmel ein Stück nach oben und reißt das große Pflaster ab, welches die Wunde noch schützen soll. „Sieh hin“, fordert er mich auf. Gefügig senke ich meinen Blick und sehe den großen, mittlerweile verschlossenen Schnitt, welcher sich an den Rändern leicht wölbt und quer über den Arm verläuft. An den Seiten sind noch die Einstichpunkte von der Naht zu sehen und rings umher ist die Haut rötlich-gelb vom Jod verfärbt. Narbengewebe hat sich bisher nicht gebildet. „Ich war gerade beim Fädenziehen. Schau es dir an. Es ist schließlich dein Werk.“ „Tai… was soll das?“ Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich, als mein Freund seinen Körper noch näher an mich drückt. „Yamato…“ Seine Stimme klingt sanft, aber er wirkt auf mich unberechenbar. Vorsichtig zieht er seinen Ärmel wieder nach unten, dann dreht er mich zu sich um und drückt mich mit dem Rücken fest gegen die Tür, seinen unverletzten Arm gegen meine Kehle gepresst. „Bist du zufrieden? Jetzt gehöre ich ganz dir.“ „Ist das so?“ Durch den Druck auf meinen Kehlkopf fällt es mir schwer, zu sprechen, dennoch versuche ich Entschlossenheit in meinen Tonfall zu legen. „Dann werde ich dich jetzt töten.“ Für einen Moment sehe ich Entsetzen in Tais Augen, dann nehmen sie einen ernsten Ausdruck an. „Kannst du das?“ „Lassen wir es darauf ankommen.“ „Okay“, sagt mein Freund mit einem Lächeln und lässt mich los. Ich stehe vor ihm, irritiert und verunsichert. Meine Gedanken sind schwer wie Blei, ergeben keinen Sinn und tragen mich weg von jeglicher Realität. Ein Messer, mein Klappmesser. Nein, zu unsicher. Rasierklinge und Tabletten kommen ebenfalls nicht in Frage. Springen… nein, keine Öffentlichkeit. Erhängen beziehungsweise Erwürgen… ja, das ist es. Ich werde ihm die Luft abdrücken. Wie neulich. Nur diesmal gibt es kein Zurück. Ich werde ihn töten. Hitze steigt in mir auf und mein Herzschlag beschleunigt sich rasant. Tai schaut mich noch immer an. Seine braunen Augen mustern mich aufmerksam. Sie sind schön, ebenso wie sein Gesicht. Niemand außer mir soll ihn bekommen. „Komm. Leg dich auf das Bett.“ Bei diesen Worten spüre ich das Begehren, das mein Freund in mir auslöst. Die Berührung seiner Lippen, die Liebkosung seiner Haut, sein Duft und sein Geschmack, all das gehört mir. Jedes seiner Haare, jede noch so kleine Hautzelle, ich habe ihn gezeichnet und mit der Ewigkeit an mich gekettet. Nun hat er keine Wahl mehr. Bevor ich mich aber ihm widme, gehe ich noch einmal zum CD-Player, um ein letztes Lied einzuschalten. Raumlos irren die Gedanken umher Unerreichbar Atemlos rennst Du hinterher Hoffnungslos Wie schwarzes Wasser rauscht die Zeit vorbei Sie reißt Dich mit Lässt Dich fallen, ich brenne, zerreiß mich, geh weiter Die Wirklichkeit Sie ist der Untergang für mich Vergib der Zeit Im 'morgen' finden wir uns nicht Liebe - lange - ewig Lüge - einsam Aber nicht allein Trümmer - alles selbst zerstört - zu viel riskiert Lebenslanges sich neu Erfinden Schreiend, jedoch ungehört Der Spiegel brennt, alle Seiten - Du siehst Dich Alles so verkehrt Die Wirklichkeit Sie ist der Untergang für mich Vergib der Zeit Im 'morgen' finden wir uns nicht ... sie ist der Untergang für mich ... ein 'morgen' gibt es nicht Während der Titel ‚Die Wirklichkeit‘ lief, hielt Tai die Augen geschlossen. Er wirkt entspannt. Ich streiche ihm voller Liebe über die Wange, beuge mich dann zu ihm hinab und flüstere: „Spürst du die Leichtigkeit?“ Ruhig umschließe ich seinen Hals und drücke stark auf die Halsschlagader, um die Sauerstoffzufuhr zu behindern. Als sein Überlebenstrieb einsetzt und er sich zu wehren beginnt, verstärke ich den Druck. Er öffnet die Augen, scheint mich aber nicht mehr sehen zu können. Auf seinen Lippen glaube ich ein Lächeln zu erkennen, bis allmählich die Gegenwehr nachlässt und seine Augen sich schließen. „Yamato! Hörst du mich?“ Ich kenne die Stimme, die meinen Namen ruft. Als ich mich bewege, fühle ich mich schwerfällig, wie erschlagen. Meine Gliedmaßen schmerzen und es kommt mir so vor, als wäre ich Jahre gelähmt gewesen. Benommen öffne ich die Lider und brauche einen Moment, um mich an die Helligkeit, das künstliche Licht, das in meinen Augen brennt, zu gewöhnen. „Du warst lange ohne Bewusstsein. Ich vermute etwa vierzehn Stunden. Es war nicht einfach, deinen Vater davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Besonders, dass du tagsüber fest schlafend im Bett liegst und ich ihn frage, ob ich bei euch übernachten darf, machte ihn stutzig. Ich erklärte kurz, dass wir ein paar Dinge aus den letzten Wochen zu klären hätten, und es sah so aus, als ob er mir glaubte. Ich denke, er hat nicht mitbekommen, dass du dich wieder mit Medikamenten zugedröhnt hast. Die Packung, die noch neben dir lag, als ich wieder zu mir kam, habe ich verschwinden lassen und dein Vater kam erst später nach Hause. Aber was wolltest du mit dem Schlucken von zehn Schlaftabletten erreichen? Ein Suizidversuch war es jedenfalls nicht, denn ich gehe davon aus, dass du genau weißt, welche Dosis für einen Erfolg nötig ist.“ Ich schaue Tai müde an. An seinem Hals zeichnen sich leicht rot-bläuliche Würgemale ab. Zaghaft hebe ich meine Hand und fahre behutsam mit den Fingern darüber. „Nachdem du dich nicht mehr bewegt hast, wollte ich nur noch der Realität entfliehen.“ Das Sprechen fällt mir schwer, da meine Kehle trocken ist und nach Wasser verlangt. Flüsternd füge ich hinzu: „Ich kann dich nicht töten. Es ist dein Leben. Aber…“ Ich muss husten. Mein Freund hält mir die Wasserflasche, welche immer neben meinem Bett steht, entgegen. In seinem Gesicht erkenne ich keine Regung. Ich trinke einen Schluck. „Aber?“, hakt er nach. „Aber du gehörst mir. Ich will und werde dich nicht wieder freigeben!“ Ein Lächeln schleicht sich auf Tais Lippen. „Wie kommst du darauf, dass du das musst? Nur…“ Er streicht mit seinem Daumen leicht über meine Lippen. „…was nütze ich dir im Tod? Warum siehst du immer nur die Extreme?“ Ich setze mich mühsam auf. Die Nachwirkungen der Tabletten stecken mir noch in den Knochen. „Wenn du lebst, kannst du mich jederzeit verlassen.“ „Ich werde dich aber nicht verlassen“, entgegnet mein Freund unbeirrt auf meine Aussage. „Woher willst du das wissen? Bei meinem Verhalten und meinem Charakter ist es doch nur eine Frage der Zeit! Ich mache dir das Leben zur Hölle, um dich an mich zu binden, nur um dich dann wieder von mir zu stoßen, damit es leichter für alle ist, falls ich es endlich schaffe, mich umzubringen. Doch ich schaffe es nicht! Ich kann nur reden und alle terrorisieren, bin zu nichts nütze und zu schwach, um mich und die Welt von mir zu erlösen!“ Verzweiflung steigt in mir auf und meine Worte sind fast geschrien. „Ich kann es nicht wissen, aber ich denke, ich kenne dich besser als jeder andere. Glaubst du wirklich, dass ich dich jetzt noch verlassen kann? Du hast dich wie ein Parasit in mir eingenistet, bedeutest für mich Tod und Leben zugleich.“ Er zieht mich in eine Umarmung. „Aber in einem hast du recht. Du schaffst es momentan weder mich noch dich zu töten. Das liegt aber nicht daran, dass du zu schwach bist, und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, weißt du das auch. Noch ist dein Lebenswille stärker als der Wille zu sterben, auch wenn es sich wahrscheinlich oft nicht so anfühlt.“ Bei der letzten Aussage füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich verstehe die dadurch entstandenen Gefühle nicht, eine Mischung aus Erleichterung, Angst, Zuversicht, Schmerz und Aussichtslosigkeit. Dennoch nicke ich, bevor ich ihn leicht von mir schiebe. Es tut im Augenblick weh, von ihm berührt zu werden und ich bekomme keine Luft. An Tais Mimik erkenne ich, dass er Verständnis für meine Geste hat. Dann ändert sich sein Gesichtsausdruck plötzlich in Ernsthaftigkeit. „Ein Problem habe ich allerdings noch“, bringt er vorsichtig an. „Welches?“ „Im Sommer kann ich doch unmöglich Rollkragenpullover tragen.“ Irritiert sehe ich ihn an, dann fällt mein Blick auf seinen Hals. Mein Lachen erfüllt das gesamte Zimmer. „Das ist nicht witzig, Yamato!“, schmollt Tai, kann ein Lachen aber auch nicht mehr unterdrücken. Lange schaffen wir es nicht, uns wieder zu beruhigen, vielleicht, um ein unangenehmes Schweigen zu vermeiden, denn wir wissen beide, dass dieses Gespräch zu viele Dinge unausgesprochen im Raum stehen gelassen hat. Ich blättere gerade die Seite meiner Zeitschrift um, als ein Schrei das Schweigen bricht. „Ja! Geschafft!“, jubelt Tai. Ich blicke ihn an, dann richte ich meine Augen auf den Bildschirm. Diesem kann ich entnehmen, dass er seine Mission erfolgreich beendet hat. Ich schaue wieder zu meinem Freund. Er grinst, als er mir stolz von seiner neuen Errungenschaft erzählt. „Siehst du, jetzt habe ich sogar einen AH56A-R. Ich hätte gleich die FIM-43 Redeye verwenden sollen, um den Heli vom Himmel zu holen.“ Sogleich wendet er sich erneut dem Spiel zu. Eine Weile beobachte ich ihn, dann widme ich mich wieder meiner Zeitschrift. Maschinengewehre, Granaten und Raketen bilden die einzigen Geräusche im Raum, hin und wieder begleitet vom Fluchen meines Freundes. „Warum spielst du eigentlich nicht mehr?“, fragt Tai plötzlich, ohne jedoch sein Spiel zu unterbrechen. „Wie bitte?“, frage ich irritiert. „Gitarre. Oder auch der Gesang. Deine Band. Die Musik allgemein.“ Ich lege meine Zeitschrift beiseite. Schweigend schaue ich ihm dabei zu, wie er seinen Handheld malträtiert, den er momentan als Kontroller benutzt, da er per Kabel über den Fernsehbildschirm spielt. „Willst du nicht antworten? Oder kannst du nicht?“ „Ich weiß es nicht. Ich glaube, das alles hat einfach irgendwann an Bedeutung verloren.“ Eine kurze Pause entsteht, bevor Tai besorgt zu mir sieht. „Ist es sinnvoll, zu fragen, ob überhaupt noch etwas Bedeutung für dich hat?“ Ich versuche seinem Blick standzuhalten, schaffe es jedoch nicht lange und schaue stattdessen verlegen nach unten auf meine Hände. Sie zittern leicht. Ich bin froh, als ich merke, dass mein Freund nicht weiter nachhakt, sondern unkommentiert sein Spiel wieder aufnimmt. Ich lenke meine Aufmerksamkeit ebenfalls auf den Bildschirm. Nachdem die Hauptfigur einen feindlichen Wachposten unschädlich gemacht hat, steht sie auf dessen Beobachtungsturm und zielt mit einer M21 auf die Patrouillen am Boden. Kurz ist ein roter Punkt am Kopf eines Gegners zu sehen, dann hört man das Geräusch des sich lösenden Schusses. Der anvisierte Soldat stöhnt kurz auf, bevor er tot umfällt. Ein in der Nähe stehender Kamerad wird aufmerksam, der Alarm geht los. „Scheiße!“, flucht Tai. „Den hatte ich irgendwie übersehen.“ „Knallst du den Rest auch noch ab oder gehst du in Deckung?“ „Hm, ich überlege noch. Ich könnte sie auch nur betäuben und dann rekrutieren.“ „Von denen du die meisten doch sowieso wieder feuerst, weil sie beschissene Werte haben.“ „Ich habe nun einmal nicht so viel Platz auf meiner Basis. Sie ist immerhin noch im Ausbau.“ Inzwischen wurden fast alle gegnerischen Soldaten betäubt und abgeholt. Einige waren allerdings zu zäh, sodass es für sie keine Gnade gab. „Tai?“, frage ich nach einem Moment des Schweigens. „Hmm?“, kommt beiläufig zurück. „Bekommst du diese Zustände eigentlich mit?“ „Welche Zustände?“ „Die, in denen du von jetzt auf gleich umswitcht und dann völlig verändert auf mich wirkst. Ich frage mich, ob du die Situationen als solche erfasst.“ Tai drückt die Pausetaste. Seine Augen versuchen Kontakt zu mir herzustellen. Ich löse meinen Blick vom Bildschirm und lenke meine Aufmerksamkeit auf meinen Freund. „Du meinst, ob ich dann weiß, was ich tue?“ „Ich möchte wissen, ob diese Momente der Wahrheit entsprechen.“ Als wäre er plötzlich störend, legt Tai seinen Handheld beiseite, steht auf und setzt sich zu mir auf das Bett. „Ich bekomme alles mit. Ich handele aktiv, aber du weißt selbst, wie das mit der Kontrolle ist, oder?“ Er streicht mir behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. Ich habe das Gefühl, mich in seinen Augen zu verlieren. Meine Umgebung verschwimmt, nur Tais Konturen sowie seinen Geruch nehme ich deutlich wahr. Eigentlich wollte ich mehr über diese Dissoziationen meines Freundes erfahren, denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass es genau das ist, was er da erlebt, doch meine Gedanken sind kaum noch greifbar. Ich spüre weitere Berührungen an meinem Körper, die Stellen brennen wie Feuer und ich scheine zu verglühen. Warm fühle ich Tais Atem auf meinen Lippen, dann die Feuchte seiner eigenen auf meinen. Mit sanfter Gewalt drückt der mich nach hinten, sodass ich unter ihm zum Liegen komme. Ich möchte mich wehren, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Meine Gliedmaßen kribbeln von innen, als würden tausende Ameisen hindurch laufen. Ich möchte sie abschütteln, schaffe es aber nicht, meine Lähmung zu durchbrechen. Tais Liebkosungen sind wie schmerzende Wunden. Ich schließe meine Augen. „Sieh mich an“, fordert mein Freund mich auf und nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände. „Mach bitte weiter. Hör nicht auf!“, höre ich mich sagen. Übelkeit steigt in mir auf. Ich ekle mich vor mir selbst. Ausgelaugt sitze ich in der Küche. Es ist mitten in der Nacht und dunkel im Raum. Das Licht schalte ich absichtlich nicht ein, da ich zum einen nicht auf mich aufmerksam machen möchte und zum anderen die Helligkeit in meinen Augen zusätzlich schmerzen würde. Mein Kopf dröhnt ohnehin schon. Ich nehme die Hände vom Gesicht und schaue auf die Tasse Kaffee und die Packung Schmerzmittel vor mir. Vorhin habe ich bereits vier Stück genommen, doch sie helfen nicht. Dabei hatte ich gehofft, dass das Koffein die Wirkung verstärken würde. Ich nehme die Schachtel zur Hand und öffne sie. Acht Stück sind noch enthalten, welche ich nun entnehme und akribisch vor mir auf dem Tisch aufreihe. Einen Augenblick lang betrachte ich sie, dann schlucke ich eine nach der anderen mit etwas kaltem Kaffee hinunter. Die leere Packung lasse ich in meiner Hosentasche verschwinden. Mir ist das Risiko zu hoch, dass mein Vater sie durch Zufall im Hausmüll entdeckt. Ich trinke meine Tasse leer, schiebe sie von mir und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich fühle mich erschöpft und müde, obwohl kein akzeptabler Grund dafür ersichtlich ist. Seit einiger Zeit gibt es keine nennenswerten Vorfälle mehr, die Beziehung zu meinem Vater und Tai ist auch wieder besser. Warum spüre ich dann kein Glück? Keine Zufriedenheit? Warum ist da keine Leichtigkeit, keine Unbeschwertheit? Stattdessen fühle ich mich in mir selbst eingeengt, kann kaum atmen und betäube sämtlichen Schmerz mit Tabletten. Ich verstehe nicht, was mein Problem ist. Dass ich eigentlich kein Problem habe? Ich wünsche mir keine Probleme, ich wünsche mir nur, dass es anders ist. Dass ich anders… oder einfach weg bin. Oft denke ich, ich fühle wahrscheinlich falsch. Wo es angebracht ist, etwas zu fühlen, spüre ich nur Leere, aber wenn es besser wäre, etwas weniger Emotionen zu empfinden, überfluten sie schmerzhaft meinen ganzen Körper und ich glaube, zu zerspringen. Doch es gibt nur diese beiden Optionen, quälendes Gefühlschaos oder todgleiche Leere und ich ertrage beides nicht. Ich komme einfach nicht zurecht, nicht mit der Welt und schon gar nicht mit mir selbst. Ständig regiert in meinem Inneren die blanke Verzweiflung und ich fühle mich ihr hilflos ausgeliefert. Doch so einfach gehen kann ich nicht. Nicht mehr. Tränen laufen mir über die Wangen. „Verdammt!“ Wütend wische ich sie mit meinem Ärmel weg. „Jetzt versinke ich schon im Selbstmitleid. Ich bin wirklich das Letzte!“ Voller Selbstverachtung stehe ich auf und verlasse die Küche. Ich bemühe mich leise zu sein, um meinen Vater oder Tai, der in meinem Bett schläft, nicht zu wecken. Im Flur ziehe ich meine schwarzen Low Chucks an und auch wenn es Nacht ist, wird es draußen ausreichend warm sein, sodass ich auf meine Lederjacke verzichte. Ich nehme den Schlüssel und das Portemonnaie meines Vaters von der Kommode und verlasse lautlos die Wohnung. Du hast die Augen aufgeschlagen Kannst das Licht doch nicht ertragen Wie um die Schmerzen fortzujagen Schlägst du nach dem Neonstrahl Selbst die Luft schmeckt dir verrußt Denn ganz egal, was du auch tust Wenn du sie atmest Musst du husten Hättest du nur eine Wahl Von überall drängt an deine Ohren Ein beständiges Rumoren Und du fühlst dich so verloren Und du wünschst dich ganz weit weg Deine Haut beginnt zu jucken Deine Augen stark zu zucken Willst dich in die Schatten ducken Doch du findest kein Versteck Viele längst vergessene Geister Heißen dich Willkommen In der eisigen Wirklichkeit Alle Ängste mitgereist Wer hat sie mitgenommen In die eisige Wirklichkeit So viele Jahre war dein Streben All dein Tun und Worte Weben Auf ein großes, neues Leben In der Freiheit konzentriert Nun bist du endlich obenauf Denn alles schien so gut gelaufen War es teuer nicht erkauft Wenn dich am Ende wieder friert? Das Lied geistert mir im Takt pulsierend durch den Kopf, als ich ohne Ziel durch die Stille der Nacht die Straße entlanglaufe. Diese Ruhe und Verlassenheit ist angenehm und beängstigend zugleich. Ich bleibe stehen. Ich erkenne das vor mir liegende baufällige Gebäude und die Seitengasse wieder. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit, dass mich meine Schritte ähnlich wie heute in diese Gegend führten. Damals war es kalt, gerade Winter, und es begann zu schneien. Ich biege in die kleine Straße ein. Bewusst setze ich mich an dieselbe Stelle, an der ich schon einmal saß, schließe die Augen und versuche mir die Situation von einst wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es schmerzt. Seit damals ist viel geschehen und doch ist alles wie zuvor. Es scheint egal zu sein, welche Veränderungen passieren, meinen ewigen Kreislauf kann ich doch nicht durchbrechen. Diese Erkenntnis kommt mir immer und immer wieder und es ist bitter. Bitter auch, weil mir mit jedem Mal meine Unfähigkeit und Widerwärtigkeit vor Augen geführt wird. Fahrig krame ich aus meiner Hosentasche eine Schachtel Zigaretten. Es ist mein Glück, dass mein Vater noch Gelegenheitsraucher ist und einen TASPO besitzt. Dadurch war es einfach, an die Tabakware zu gelangen. Ich öffne die Packung und entnehme eine der Zigaretten. Mit dem Feuerzeug, welches ich schon seit einer Weile bei mir trage, entzünde ich sie. Es interessiert mich, ob das Nikotin wirklich beruhigend wirkt, und inhaliere den Rauch tief. Ein leichtes Brennen in den Lungen und ein Kratzen im Hals machen sich bemerkbar, vergehen jedoch nach ein paar Zügen rasch. Abgespannt lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand. Die beruhigende Wirkung scheint sich zu bestätigen, ist aber eher wie ein kurzes Durchatmen, eine kleine Auszeit und nichts anhaltend Langfristiges. Positiver Nebeneffekt ist jedoch die Selbstschädigung. Auch der Geschmack stößt mich nicht ab, dieser leicht bittere Rauch sowie das sanfte prickelnd beißende Gefühl auf der Zunge. Allmählich spüre ich, wie Schwindelgefühle einsetzen. Die Umgebung verzerrt sich leicht, in meinem Kopf beginnt ein Kreiseln und mein Körper scheint zu schwanken, obwohl ich auf dem Boden sitze. Ich ziehe erneut an der Zigarette. Warum ist Tai meinen Fragen bezüglich seiner Dissoziationen ausgewichen? Eigentlich habe ich es in dem Moment nicht so empfunden, doch mit etwas Abstand betrachtet, drängt sich mir der Gedanke auf. Ist er sich seiner doch nicht bewusst oder will er nicht mit mir darüber reden? Ich nehme einen letzten Zug, die Zigarette ist bereits soweit heruntergebrannt, dass es heiß an den Lippen wird, und werfe sie neben mich in den Staub. Ein Gefühl der Angst kommt in mir auf. Ich versuche, den Ursprung zu erkennen, kann jedoch keinen Bezug herstellen. Zittern erfasst meinen Körper. Ich schlinge die Arme um meine Beine und vergrabe mein Gesicht in meinen Knien. Von Schluchzern geschüttelt, bricht erneut Verzweiflung über mich herein. Am Himmel verdrängen die ersten Sonnenstrahlen die letzten Sterne und begrüßen zuversichtlich den neuen Tag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)