Kein einfacher Anfang von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich sitze mit dem Kopf in meine Hand gestützt auf meinem Platz und beobachte den Jungen mit den braunen, zerzausten Haaren, der schräg vor mir sitzt. Während er nach vorn zur Tafel schaut, spielt er mit einem Stift, den er zwischen seinen Fingern hält. Seit einigen Wochen hat die Schule wieder begonnen, doch seitdem haben Taichi und ich kaum ein Wort miteinander gewechselt. Ich gehe absichtlich auf Abstand, obwohl ich eigentlich in seiner Nähe sein möchte. Die Ferien verbrachten wir weitestgehend zusammen, in einem dieser nervigen Sommercamps, allerdings waren wir selten allein, da sowohl Hikari als auch Takeru ebenfalls anwesend waren. Es ist nicht so, dass ich unbedingt mit meinem besten Freund allein sein will, meist streiten wir uns ohnehin, sobald wir aufeinandertreffen, aber vielleicht ist es genau das, worauf ich aus bin. Ich sehne mich nach den körperlichen Auseinandersetzungen mit ihm, danach, meinen besten Freund und den Schmerz zu spüren. Zudem träume ich seit Beginn des Camps von einer merkwürdig fremden Welt, die lediglich aus Daten besteht. Ich verfolge mit Tai, meinem Bruder und vier weiteren Kindern sowie unterschiedlichen digitalen Wesen ein bestimmtes Ziel, im Traum von letzter Nacht ist sogar noch Taichis Schwester zu unserer Gruppe gestoßen. Inzwischen bereitet es mir in manchen Situationen Schwierigkeiten, die Fiktion von der Realität zu unterscheiden, zumindest was die Aussagen und bestimmte Handlungen einzelner Personen betrifft. Die Schulklingel ertönt und beendet den Unterricht für heute. Gelangweilt stehe ich auf und packe meine Arbeitsmaterialien zusammen. Ich habe es nicht sehr eilig, mein Vater ist ohnehin nicht zu Hause und mit Takeru treffe ich mich erst in zwei Stunden. Mein Blick fällt erneut auf Taichi, der sich gerade mit einem anderen Jungen aus unserer Klasse unterhält, wobei durch ihre lockere Umgangsart immer wieder Körperkontakt entsteht. Schlecht gelaunt nehme ich meine Tasche und gehe an ihnen vorbei aus dem Klassenzimmer. „Hey, Yamato. Warte mal.“ Mit einem ernsten Gesichtsausdruck hält mein bester Freund mich am Arm zurück. „Was passt dir denn nun schon wieder nicht? Sag nicht, du bist tatsächlich noch sauer, weil ich mich im Camp mit deinem Bruder gut verstanden habe.“ „Lass mich los“, zische ich verärgert und schüttle seine Hand von mir. „Ich weiß selbst nicht, warum ich damals auf dich losgegangen bin, obwohl du Takeru nur helfen wolltest“, gebe ich schließlich zu. „Was ist es dann?“ Mit seinen Augen scheint Taichi fast in mich einzudringen, schnell drehe ich mich weg, bevor ich mich ganz darin verliere. Immer wenn ich in seiner Nähe bin, verspüre ich das unbändige Verlangen, meinem besten Freund Gewalt anzutun und zwar nicht in Form von kindlichen Raufereien. Mein Puls rast, als ich Taichi betrachte, meine Hand nach ihm ausstrecke und ihm leicht über den Hals streiche. Ich lächle. „Yamato?“ Verunsichert blickt mein Gegenüber mich an. „Würdest du dich auf mehr einlassen?“, frage ich ganz direkt. „Ich verstehe nicht, was du meinst?“ Mein Lächeln wird zu einem Grinsen. Tai weiß ganz genau, worauf ich hinauswill. „Tatsächlich nicht?“ Ich gehe näher an ihn heran, umfange ihn mit meinen Armen und drücke ihn fest an mich. Dabei sind meine Lippen dicht an seinem Ohr. „Ich will dich besitzen und nur für mich allein haben.“ Mit meinem Bruder treffe ich mich meist vor seiner Schule. Sie ist in der Nähe seines Zuhauses, sodass er allein dorthin gelangen kann und ich ein Antreffen meiner Mutter vermeide. Es ist nicht so, dass ich sie hassen würde, aber ich weiß auch nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Ihre Nähe fühlt sich momentan einfach nur unangenehm an. Und ich glaube, meinem Vater geht es genauso. „Yamato!“, winkt mein Bruder, als er auf mich zugelaufen kommt. Ich schließe ihn liebevoll in meine Arme und hebe ihn hoch. „Nicht, lass das. Ich bin doch kein Baby mehr“, schimpft Takeru und windet sich. Ich setze ihn wieder ab und hocke mich vor ihn, um ihm in die Augen sehen zu können. „Tut mir leid, aber ich werde dich immer beschützen. Du bist doch schließlich mein kleiner Bruder.“ „Ich bin doch gar nicht in Gefahr. Außerdem kann ich schon auf mich selbst aufpassen. Tai hat auch gesagt…“ „Es ist mir egal, was Taichi gesagt hat. Jemand wie er hat keine Ahnung.“ Ich spreche die Worte lauter und energischer als beabsichtigt, sodass mein Bruder leicht erschreckt. „Du bist in letzter Zeit oft gereizt, wenn es um Tai geht. Warum? Habt ihr euch gestritten?“ „Nein. Lass uns jetzt gehen, sonst fängt der Film ohne uns an.“ Nachdenklich rühre ich mit der Kelle im Topf herum. Taichi hatte mich nur von sich geschoben und gelacht. Er nahm meine Aussage nicht ernst. Am liebsten hätte ich ihm sofort bewiesen, dass ich nicht scherzte, allerdings befanden wir uns auf dem Schulflur und die Umstehenden schauten uns ohnehin schon wegen der Umarmung seltsam an. Mein Verlangen, ihn gewaltsam zu spüren und spüren zu lassen, bleibt also weiterhin ungestillt. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn er seine Finger um meinen Hals legt und meine Hauptschlagader abdrückt. Oder wenn ich die Gewalt über ihn habe. Würde Taichi sich meinem Schmerz öffnen, so wie ich seinen in mich aufnehmen möchte? Meine Gedanken verwirren mich etwas. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich schon immer gern mit Tai geprügelt habe, ihn oft sogar absichtlich provozierte. Es reicht aber nicht. Inzwischen will ich mehr. Ein bloßer Schlagabtausch ist zu primitiv, der Schmerz zu einseitig, zu gering. „Yamato, ich glaube du lässt gerade unser Abendessen anbrennen“, bemerkt mein Vater, der sich gerade im Flur seiner Schuhe entledigt. Hektisch ziehe ich den Topf vom Herd. Jetzt vernehme auch ich den verbrannten Geruch. Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken, dass ich nicht einmal die Anwesenheit meines Vaters mitbekam. „Ich konnte heute etwas früher Feierabend machen. Denkst du, das ist noch genießbar?“ Er deutet auf den Topf. „Ich denke schon. Tut mir leid“, antworte ich noch immer etwas abwesend und stelle zwei Schüsseln auf den Tisch. „Am besten, wir rühren den Eintopf nicht mehr um, dann bleibt das Verbrannte unten.“ Mein Vater lacht und setzt sich auf seinen Platz. Eine Weile nehmen wir schweigend unser Abendessen zu uns. Meine Gedanken kreisen noch immer um meinen besten Freund. „Wie war es heute in der Schule?“, will mein Gegenüber schließlich wissen. „Es gab nichts Besonderes. Jeder Tag ist gleich. Immer dasselbe“, antworte ich monoton, während ich gelangweilt meinen Eintopf löffle. „Und dein Treffen mit Takeru? Das war doch heute, oder?“ „Ja, wir waren im Kino. Er vermisst dich und würde dich auch gerne einmal wiedersehen, deshalb kommt er das nächste Mal zu uns. Ich werde ihn abholen, für ihn allein ist der Weg zu weit.“ Der Blick meines Vaters wird ernst. „Keine Angst, ich werde vor der Eingangstür warten, dann sehe ich sie nicht.“ Er lässt seinen Löffel sinken, steht auf, macht ein paar Schritte in meine Richtung und beugt sich auf Augenhöhe zu mir hinab. Besorgt streichelt er über meine Wange. „Yamato, nur weil deine Mutter und ich uns nicht mehr verstehen und getrennt leben, heißt das nicht, dass du ebenfalls keinen Kontakt mehr zu ihr haben darfst.“ „Ich weiß, Papa.“ Mit einem Lächeln versuche ich ihn zu beruhigen. „Geht es dir ansonsten gut? Du wirkst in letzter Zeit, als würde dich etwas beschäftigen und bist oft mit deinen Gedanken woanders.“ Liebevoll fährt er mit seinen Fingern durch meine Haare. „Ja, es ist alles okay.“ Ich kann nicht einmal sagen, ob diese Antwort der Wahrheit oder einer Lüge entspricht. Schweißgebadet wache ich auf. Es ist dunkel in meinem Zimmer, somit also nach wie vor Nacht. Meine Atmung ist schwerfällig, wieder habe ich von dieser Welt geträumt. Diesmal wurde die Gruppe voneinander getrennt. Ich landete in einer Gegend, die von Schnee und Eis bedeckt war. Bei meiner Suche nach Takeru traf ich auf Taichi. Sofort gerieten wir wieder aneinander, schlugen aufeinander ein. Noch immer habe ich das Gefühl, den Körper meines besten Freundes spüren zu können, den Schmerz seiner Schläge, seine Haut, die meine berührt. Warum fühlen sich diese Träume so real an? Beschämt lasse ich meine Hand unter die Decke gleiten. In letzter Zeit reagiert mein Körper oft auf diese Weise, aber wie ich feststellen muss ausschließlich in Verbindung mit Gewalt beziehungsweise Schmerz. Um jenem Zustand Abhilfe zu verschaffen, fasse ich mich an, empfinde jedoch nichts dabei, abgesehen davon, dass es mir unsagbar peinlich ist. Müde stehe ich auf, um meine Hände waschen zu gehen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es halb fünf ist, zumindest soweit ich die Stellung der Zeiger in der Dunkelheit richtig erkennen kann. Leise, um meinen Vater nicht zu wecken, schleiche ich ins Bad. Nachdem ich meine Hände gereinigt und mit einem Handtuch getrocknet habe, schaue ich in den Spiegel. Der Junge mit den blonden Haaren, der mir skeptisch entgegenblickt, widert mich an. Ihm ist seine Abartigkeit förmlich anzusehen. Voller Ekel wende ich mich ab und gehe zurück in mein Zimmer. In meinem Bett liegend versuche ich krampfhaft einzuschlafen. Unruhig wälze ich mich hin und her, schaffe es nicht, meine Gedanken abzuschütteln. Dafür hasse ich mich. Allgemein verspüre ich immer mehr den Wunsch, diesem stärker werdenden Selbsthass Ausdruck zu verleihen. Nervös kratze ich über meinen Arm, übe sogleich mehr Druck aus, um die Haut von meinem Fleisch zu lösen. Dummerweise sind meine Fingernägel zu kurz, um ernsthaften Schaden anzurichten. Vermutlich bleiben lediglich einige rote Striemen zurück. Unzufrieden ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Ich fühle mich merkwürdig haltlos und einsam. Ist mein derzeitiger Zustand das, was man im Allgemeinen Pubertät nennt? Werde ich mich demnächst wegen irgendwelcher Mädchen wie ein Vollidiot verhalten? Bisher interessieren sie mich in keiner Weise. Die meisten Jungs aus meiner Klasse finden Mädchen sogar überwiegend doof und können es nicht lassen, sie zu ärgern. Generell erscheinen mir meine Mitschüler oft ziemlich zurückgeblieben. Ihr Verhalten ist kindisch, albern und oft extrem hirnlos. Gähnend schließe ich meine Augen und schlafe kurz darauf ein. „Hey.“ Ich schaue meinen besten Freund fragend an, als er vor meinem Tisch stehen bleibt und mich hoffnungsvoll ansieht. „Hey“, antworte ich nur knapp, um ihn weitersprechen zu lassen. „Wartest du heute nach dem Unterricht auf mich? Ich habe noch Klassendienst.“ „Aus welchem Grund sollte ich warten? Nur damit wir zusammen nach Hause gehen können? Ich dachte, du bist schon alt genug, um keine Angst mehr zu haben und den Weg allein zu finden“, ziehe ich ihn auf. „Sehr witzig. Ich wollte eigentlich mit zu dir kommen. In letzter Zeit gehst du mir offenbar aus dem Weg und ich möchte wissen, warum.“ „Dafür musst du aber nicht extra zu mir kommen. Außerdem schenkst du meinen Worten ohnehin keinen Glauben.“ Ich schaue ihn durchdringend an. „Wie kommst du darauf?“ An seinen Augen erkenne ich, dass er tatsächlich nicht weiß, worauf ich anspreche. Genervt erhebe ich mich und lasse ihn ohne weiteren Kommentar stehen. „Wohin willst du, es klingelt gleich wieder zum Unterricht“, ruft Tai mir nach. „Zur Toilette. Willst du etwa mitkommen?“ Ich warte keine Antwort ab, sondern verlasse mit finsterer Miene den Raum. „Was ist los mit dir? Und jetzt behaupte nicht, es sei alles in Ordnung. Du bist permanent gereizt, ziehst dich zurück und lässt mich überhaupt nicht mehr an dich ran.“ Auf meinem Sofa sitzend redet Taichi auf mich ein, während ich an meinem Schreibtisch versuche die Schularbeiten zu erledigen. Angespannt lasse ich meinen Stift sinken. „Was empfindest du, wenn du mich schlägst oder von mir geschlagen wirst?“, will ich schließlich wissen. Kurz stutzt mein bester Freund. „Ich bin wütend auf dich, verzweifelt wegen deiner Sturheit und Dickköpfigkeit. Warum fragst du? Was empfindest du denn?“ Entschlossen lege ich meinen Stift beiseite, erhebe mich und gehe auf Tai zu. Vor ihm bleibe ich stehen und beuge mich zu ihm hinab, wobei ich meine Finger um seinen Hals lege. „Ich sagte dir bereits, dass ich dich besitzen will.“ Langsam übe ich Druck auf die Hauptschlagader meines Gegenübers aus. Mit stechendem Blick mustert Taichi mein ausdrucksloses Gesicht und umschließt mit festem Griff meine Handgelenke. Ein Lächeln legt sich auf seine Lippen, welches ich noch nie zuvor bei ihm gesehen habe. Mit einem merkwürdigen, für mich nicht zuordenbaren Gefühl lasse ich von Tai ab. „Du meintest deine Aussage neulich in der Schule also wirklich ernst“, stellt er nüchtern fest. „Wie genau äußert sich dein Besitzanspruch?“ Ich nehme neben meinem besten Freund auf dem Sofa Platz. Die Richtung, in die sich das Ganze bewegt, gefällt mir nicht, denn es kommt mir so vor, als würde ich die Kontrolle verlieren. „Vergiss meine Worte. Es war eine Lüge“, versuche ich Tai einzureden. „Ach wirklich?“ Das Lächeln verschwindet nicht aus seinem Gesicht. Wut über Taichis Verhalten steigt in mir auf, doch eigentlich ist es eher die Wut auf mich selbst, die meinen Körper zum Beben bringt. Ich balle meine Hand zur Faust und drücke sie derart fest zu, dass ich den Schmerz, den meine sich in mein Fleisch bohrenden Fingernägel verursachen, deutlich spüren kann. Allmählich werde ich ruhiger, es ist erstaunlich, was Schmerz bewirken kann. Ich schließe meine Augen und atme tief durch. „Nein“, revidiere ich meine Aussage erneut. „Aber ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ „Wieso?“ Tais Gesichtsausdruck zeigt, dass er irritiert ist. „Geh einfach.“ Gelangweilt sitze ich auf einer Bank am Spielfeldrand und schaue Taichi bei seinem Training zu. Warum er diesen Sport so leidenschaftlich ausübt, habe ich nie verstanden. „Hey, Yamato“, höre ich eine mir bekannte Stimme meinen Namen rufen. Sora, Tais beste Freundin, kommt mit einem Lächeln auf mich zu und nimmt ungefragt neben mir Platz. „Du schaust Tai oft beim Fußballspielen zu“, stellt sie fest, während ihre Augen unentwegt an meinem besten Freund haften. „Ich habe nichts Besseres zu tun.“ „Bist du in keiner AG?“ Sora blickt erstaunt zu mir. „Nein“, antworte ich knapp. Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten. Schon gar nicht mit ihr. Es ist nicht so, dass ich sie nicht leiden kann, im Grunde ist sie mir ziemlich egal, aber Tai mag sie und das nervt mich. Jedes Mal, wenn ich mit ihr rede, frage ich mich erst recht, was er an ihr findet. Sie ist so extrem empathisch und aufopferungsvoll, dass mir schlecht wird. Ich frage mich, ob Taichi auch so philanthropisch veranlagt ist. Nach außen wirkt es auf jeden Fall so, aber ich bin mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, ob das nicht täuscht. In den vergangenen Wochen habe ich meinen besten Freund ein wenig beobachtet, denn sein Lächeln, welches er mir entgegenbrachte, als ich meine Finger um seinen Hals legte und leicht zudrückte, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Noch jetzt verspüre ich eine merkwürdige Aufregung, wenn ich an die Situation von damals denke. Seitdem ist zwischen uns allerdings nichts weiter vorgefallen. Ich versuche meine Gefühle zu unterdrücken, dieses Gewaltverlangen, welches sich immer stärker herausbildet und mich in seiner Nähe hält. Ihm aus dem Weg zu gehen, funktioniert nicht mehr. „Sieh nur, Tai hat ein Tor geschossen“, holt mich die Stimme seiner besten Freundin aus meinen Gedanken. Ich schaue auf das Spielfeld und muss feststellen, dass Taichi gerade in unsere Richtung sieht. Seine Augen fixieren mich. Er lächelt. Plötzlich spüre ich Soras Hand auf meinem Oberschenkel. Erschreckt drehe ich meinen Kopf und blicke sie mit Missfallen an. „Yamato…“, beginnt sie einfühlsam. „Hast du Probleme? Du bist ständig in Gedanken, wirkst traurig oder teilnahmslos. So wie jetzt.“ Versucht höflich umgreife ich Soras Handgelenk und entferne ihre Hand von meinem Bein, wobei ich sie scheinbar etwas zu hart anfasse, da sie leicht zusammenzuckt. „Ich habe keine Probleme“, sage ich schließlich freundlich, aber bestimmt, wodurch ich verdeutlichen will, dass ich an keiner weiteren Unterhaltung interessiert bin. Obwohl ich mit Taichis bester Freundin bisher kaum etwas zu tun hatte, kommt es mir so vor, als würde ich viel Zeit mit ihr verbringen. Sie ist ebenfalls in dieser digitalen Welt, eines der aktuell acht Kinder. Aber warum? Sind es wirklich nur Träume? Eigentlich fühlt es sich dafür zu real an. Ich spüre sogar beim Aufwachen noch den Schmerz, der mir in Kämpfen mit bösartigen, digitalen Wesen zugefügt wird. Oft brauche ich dann eine Weile, um mich zu orientieren, die Realität zu erkennen. „Das Training ist vorbei“, bemerkt Sora. „Ich gehe mal kurz zu Tai.“ Wozu sie mich darüber informiert, verstehe ich nicht, doch meine Stimmung sinkt merklich, als ich den vertrauten Umgang der beiden Freunde miteinander beobachten muss. Vermutlich werden sie gemeinsam nach Hause gehen, da sie in derselben Richtung wohnen. Mein Blick verfinstert sich. Entschlossen stehe ich auf und mache mich auf den Weg zu den Umkleidekabinen. An die Mauer der Jungenumkleidekabine gelehnt warte ich darauf, dass mein bester Freund diese verlässt. Ich muss mit ihm reden, doch eigentlich habe ich keine Ahnung, was ich sagen will, geschweige denn, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Eine normal freundschaftliche Ebene ist in Anbetracht meiner Gedanken kaum möglich, die Aufregung in meinem Inneren irritiert mich zusätzlich. Woher kommen die ganzen widersprüchlichen Empfindungen? Ich will Taichi verletzen, ihn von allem fernhalten, isolieren, spüren, an mich binden und zugleich von mir stoßen. Allmählich treiben mich diese Gefühle in den Wahnsinn, sie zermürben mich. Ich ertrage sie nicht, sie sind zu intensiv, zu schmerzvoll und doch klammere ich mich aus genau diesem Grund an ihnen fest. „Hier bist du“, höre ich Soras Stimme sagen. Ich schaue auf und ihr direkt ins Gesicht. Sie lächelt. Wie immer. „Du warst auf einmal verschwunden. Ich habe mir ein wenig Sorgen gemacht, weil du heute so einen abwesenden Eindruck auf mich machst“, gibt sie leicht verlegen zu. Ohne darauf einzugehen, schaue ich wieder zu Boden. Ich verstehe selbst nicht, warum mir Soras Gegenwart momentan derart unangenehm ist. Vielleicht liegt es daran, dass Taichi nicht dabei ist, denn eigentlich habe ich mich noch nie viel mit ihr unterhalten und immer ging die Initiative, so wie jetzt, von ihr aus. Ich reagiere lediglich. „Wartest du auch auf Tai?“ Ich nicke. „Also gehst du mit uns zusammen nach Hause?“, versucht sie das Gespräch aufrecht zu erhalten. „Nein, ich denke nicht. Ich will nur kurz mit ihm reden“, antworte ich gleichmütig. „Ach so.“ Sie klingt enttäuscht, weshalb ich verwundert aufblicke. Das Lächeln ist für einen Augenblick aus Soras Gesicht verschwunden. Was will dieses Mädchen überhaupt von mir? Gerade als ich ihr diese Frage stellen möchte, sehe ich meinen besten Freund die Umkleide verlassen und auf uns zukommen. „Yamato, du hast auch auf mich gewartet?“, fragt er überrascht und bleibt direkt vor mir stehen. „Ja, können wir reden?“, trage ich Taichi mein Anliegen direkt vor, Sora dabei anschauend. „Klar, worüber denn?“ Unverwandt ruht mein Blick auf seiner besten Freundin. Während Tai zwischen uns hin- und hersieht, scheint diese meine subtile Andeutung zu begreifen. „Ich warte am Schultor“, bemerkt sie knapp und lässt mich mit Taichi allein. „Was gibt es denn so Geheimnisvolles, dass…“ Er stockt, als ich ihn unsanft gegen die Wand des Gebäudes der Jungenumkleide in seinem Rücken drücke, eine Hand um seinen Hals gelegt. Überrascht blickt mein bester Freund mich an. Ich verstärke den Druck auf seine Kehle langsam, presse meinen Körper gegen seinen und berühre mit meinen Lippen beinahe sein Ohr. „Ich will das Lächeln vom letzten Mal sehen“, raune ich und gehe einen Schritt zurück, um sein Gesicht sehen zu können, jedoch ohne gänzlich von ihm abzulassen. Taichi hat die Augen geschlossen. „Magst du es, wenn ich das mit dir mache?“, möchte ich flüsternd wissen. Mein bester Freund schaut mich an, erneut mit diesem von mir ersehnten, vielsagenden Lächeln, welches ich nicht zu deuten vermag. Trotzdem oder gerade deswegen übt es eine unglaubliche Anziehung auf mich aus. Hitze und ein nervöses Kribbeln durchfluten meinen gesamten Körper. „Drück fester zu. Das ist es doch, was du willst, oder?“, fordert Tai mich mit erstickter Stimme auf. Ohne zu zögern, leiste ich seinen Worten Folge, bis seine Beine zu zittern beginnen und schließlich nachgeben. Kraftlos sackt mein bester Freund in sich zusammen, sodass ich meinen Griff um seinen Hals löse. Nur mit Mühe gelingt es mir, ihm Halt zu geben. Er beginnt krampfhaft zu husten. Behutsam, ihn fest mit meinen Armen umschließend, sinken wir zu Boden. Genervt registriere ich, dass zwei von Tais Teammitgliedern, beide gehen in unsere Parallelklasse, aus der Umkleidekabine auf uns zugelaufen kommen. Offenbar haben sie das Husten meines besten Freundes gehört. „Tai, was ist passiert? Ist alles okay?“, fragt einer der beiden besorgt und beugt sich zu uns hinab, während der andere mich skeptisch mustert. Ich erwidere seinen Blick herausfordernd, wobei ich Taichi stärker an mich presse. Dieser beruhigt sich allmählich, der Hustenkrampf lässt nach. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur verschluckt.“ Er lacht verlegen. Genau jenes Lachen, welches ich bei ihm abgrundtief hasse. Es wirkt auf mich so ekelerregend falsch, dass ich mich beinahe übergeben muss. Sein Umfeld allerdings reagiert positiv darauf, ein Beweis für ihre Dummheit und Oberflächlichkeit. Oder lassen die Menschen sich freiwillig blenden, weil sie sowieso nur sehen, was sie sehen wollen? Ich löse mich von Tai, stehe auf und wende mich zum Gehen, ohne ihn noch einmal anzusehen. „Yamato, das reicht dir noch nicht, hab ich recht?“, ruft dieser mir mit kratziger Stimme nach. Ich drehe mich zu ihm um. „Nein, noch lange nicht.“ Mit einem Gefühlschaos verlasse ich das Schulgelände und gehe allein nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)