Wolfsträume von Scarla ================================================================================ Prolog: Ein Traum ----------------- Ich hatte einmal einen Traum. In diesem Traum stand ich inmitten von so viel Schnee, wie ich es niemals zuvor, und auch niemals danach jemals wieder gesehen hatte. Ich stand da, es war windstill und der Vollmond, umschlossen vom vielfarbigen Nordlicht, schimmerte am Himmel. Der Schnee blitzte und glitzerte, als wäre er mit tausenden Kristallen bestreut und reflektierte die Farben, die am Himmel leuchteten. Ich weiß nicht mehr, warum ich es tat, doch irgendwann drehte ich mich um. Ob es ein Geräusch gewesen war? Eine Ahnung? Oder das Wissen, dass dort etwas sein würde, was niemals jemand vor mir sah? Ich weiß es nicht, letzten Endes ist es auch egal. Ich drehte mich also um und sah sie. Eine weiße Wölfin. Auch sie war in die Farben des Nordlichts getaucht und schimmerte, wie mit Diamanten bestreut. Sie schaute mich an, ohne sich zu rühren, ohne zu blinzeln. Man hätte sie für eine Statue aus Schnee halten können, doch ihre wunderbaren Augen, die von einem inneren Feuer glühten und in denen sich die ganze Welt zu spiegeln schien, sprachen ihrem stillen, sehnsuchtsvollen Warten Lüge. Sie lebte, und sie wartete auf mich. Es hätte wohl Stunden gedauert, bis ich gewagt hätte, ihr zu folgen, doch es war ein Traum und so kam es mir wohl bloß so vor, als stünden wir bis in die Unendlichkeit der Zeit still da, bis ich letztlich tat, was sie wollte. Ich ging zögernd zu ihr, wartete, dass sie sich in Luft auflösen mochte, denn wie nur sollte so eine Wölfin Wirklichkeit sein? Sie war so schön, so edel, wie es niemals zuvor ein Wesen auf Erden gewesen war. Doch sie verschwand nicht, denn sie erwartete mich. Schließlich stand ich vor ihr, so nahe, dass ich bloß die Hand hätte ausstrecken brauchen, um sie zu berühren, aber ich wagte es nicht. Es wäre gewesen, als hätte ich dem Winter selbst meine Hand gereicht. Ja, sie war der Winter. Es war der Winter, der auf mich wartete, und den ich niemals zu berühren gewagt hätte. Da hob sie den Kopf und begann mit ihrem Lied, mit dem Lied der Einsamkeit und des Todes, voll grausamer Schönheit. Und ich stimmte mit ein, denn auch ich war zum Wolf geworden. So besangen wir Beide mit Hingebung den vollen Silbermond. Ich weiß nicht, wie lange, es muss eine weitere Unendlichkeit gedauert haben, doch irgendwann schließlich senkten wir unsere Schnauzen und als ich mit meinen Augen, die die Farben des Nordlichts angenommen hatten, wieder den Blick des anderen Wolfs suchte, da wurde sie in alle Winde verweht, als hätte es sie niemals gegeben, als war sie wirklich nur ein Wesen, gemacht aus Schneeflocken, Wirklichkeit geworden, nur für einen Augenblick, um dem Zauber des Augenblickes gebührend begegnen zu können. Ich wollte nicht, dass sie ging, ich lauschte mit meinen Ohren, die in die samtene Farbe des Nachthimmels getaucht waren, nach ihrem sehnsuchtsvollen Lied der Trauer, doch kein Laut mehr war zu hören. Nur das Rauschen des Windes. Da begriff ich, dass sie mich wirklich verlassen hatte, doch das wollte ich nicht, ich wollte, dass sie bei mir blieb, denn ich hatte das Gefühl, sterben zu müssen, wenn sie nicht wiederkam. Ich lief los, so schnell ich nur konnte, auf meinen Pfoten, so weiß glitzernd, wie der Schnee. Ich lief und lief, solange, bis der Morgen die schier ewig währende Nacht verscheuchte. In der Ferne sah ich eine Stadt und wusste, dass ich die Wölfin nicht mehr finden würde. Sie mied die Menschen und ihre Sterblichkeit. Doch ich konnte nicht mehr zurück, ich konnte nicht mehr weiter laufen. Meine Glieder waren schwer wie Blei und meine Pfoten hinterließen blutige Abdrücke im strahlenden Weiß. Ich legte mich in den Schnee und schlief ein. Als ich erwachte, war ich immer noch ein Wolf und ich war bei Maya. Doch… war es denn wirklich nur ein Traum gewesen…? Kapitel 1: Zurück in Altena --------------------------- Fjodor hielt mit halb geschlossenen Augen seine Nase in den Wind. Es war kalt, doch es störte ihn nicht, denn er war Kälte gewohnt. Dort, wo er mit Nea lebte, war es immer kalt, es war das einzige Land, in dem die Eiswölfe noch lebten, die er so liebte. Wie sollte es auch anders sein, war er doch selbst so lange Zeit einer gewesen. Doch er hatte schon vorher dort gelebt und die weißen Geisterschatten geliebt. »Es wird Schnee geben, wir sollten uns beeilen«, sagte er zu Nea. Er sprach leise, er wollte die Ruhe des Winters nicht stören. »Nach Altena ist es nicht mehr weit«, antwortete sie ihm mit einem Lächeln, aber so laut, dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Vielleicht aber lag es auch nicht an ihrer Lautstärke, sondern einfach nur an dem Klang des Namens der Stadt, die so kurz vor ihnen lag. Er verbannt keine schönen Erinnerungen mit Altena. »Keine Angst, du musst nicht dort bleiben und du brauchst ihnen auch nicht allein gegenüberzustehen. Ich bin bei dir.« Sie schien seine Gedanken lesen zu können. Vielleicht kannte sie ihn auch nur einfach sehr, sehr gut. Eigentlich war es aber auch egal, denn es war gleich, was sie wusste, und was sie sagte, nach Altena wollte er dennoch nicht. Er hasste sie, er kannte nichts, was er mehr hasste und zugleich fürchtete, als die Stadt der Zauberer. Und trotzdem ging er weiter. Zögernd nur und mit einem sehnsüchtigen Blick zurück, aber er folgte Nea. Er wusste, dass sie niemals zulassen würde, dass irgendjemand ihm etwas antat und was sollte ihm auch schon gefährlich werden? Er war mächtig, mächtiger als jene, die er treffen würde, vielleicht der Mächtigste überhaupt. Sie waren noch nicht viel weiter gelaufen, da blieb er stehen. »Was ist, Lugh Akhtar?«, fragte sie sanft. Lugh Akhtar. Ja, das war der Name, den er nun trug. Nicht mehr Fjodor. »Nea, ich will nicht!« Mit großen Augen starrte er in die Luft. »Ich weiß. Aber stell dir vor, es wäre eine andere Stadt. Und wer weiß, vielleicht treffen wir ja Tariq.« Sie lächelte aufmunternd und ergriff seine Hand, um ihn sanft weiter zu ziehen. Er folgte, doch sein Gesicht war verschlossen. Das war es fast immer. Nur Angst und Schmerz konnten es zu einer Regung verführen. Sie hatte schon so oft versucht, in seiner Miene zu lesen, doch das Einzige, in dem man lesen konnte, waren seine Augen. Seine wundervollen, ausdrucksstarken Augen, die in den Farben des Nordlichts schimmerten, und die immer und überall seine Gedanken und Gefühle vor sich her trugen, wie ein offenes Buch. Diese einzigartigen Augen und sein schneeweißes Haar, das über den Ohren zwei schwarze Flecken aufwies waren alles, was noch an seine Zeit als Wolf erinnerte. Jeder, der über die Verwandlung Bescheid wusste, erkannte ihn als Verzauberten, denn seine Augen verrieten es. Doch auch sein Haar hatte die Färbung des Wolfs angenommen. Fjodor allerdings wäre der Letzte, der sich darüber jemals beschwert hätte. Mit seinem Aussehen hatte er auch sein Nichtleben, wie er es nannte, hinter sich gelassen. Sein wirkliches Leben begann erst in jenem Moment, als er als Eiswolf Lugh Akhtar bei Maya erwachte. Davor hatte bloß sein Körper gelebt, nicht aber seine Seele. Damals hatte er auch Nea getroffen. Nea, die glücklose Zauberin, die es als Einzige mit seiner Macht hatte aufnehmen können, die ihren Zauber aber noch nicht hatte finden können. Sie war es gewesen, die seine eigene Macht genutzt und durch Tariq bis in die Unendlichkeit verstärkt hatte, um ihn aus der Wolfsgestalt zu befreien. Sie hatte ihren Zauber damals gefunden und die Beiden einander, das jeweils einzige Gegenstück, das niemals Angst haben würde. Denn ihre Macht ist sich gleich. Sie hatte ihm auch seinen Namen gegeben. Bisher hatte er sich immer selbst Namen gegeben. Er war der mächtige, böse Zauberer Fjodor, der gelehrige, sanfte Schüler Makani, der lebensfrohe, verspielte Tariq, und noch so unendlich viele mehr. Doch seinen wirklichen Namen, der Name des Wolfs, den hat Nea ihm gegeben. Und jenen hatte er gerne behalten. Und er war ihr gerne gefolgt. Er wäre ihr vermutlich bis ans Ende der Welt gefolgt, hätte sie es gewollt. Bald schon erreichten sie Altena und durchquerten die, von einem magischen Feuer gewärmte Stadt. Hier wurde es nie wirklich heiß, aber auch niemals wirklich kalt, denn in einer Stadt, die sich das Zentrum der Magie nannte, sollte der Zauber auch regieren. Die Menschen wussten nicht, dass die Magie immer und überall ihren eigenen Regeln und Gesetzen folgte, und dass ein Zauberer bloß in der Lage war, dass Hier und Jetzt dahingehend zu verändern, dass der Zauber tat, was er wollte. Niemals, weil er es ihr befahl, nur weil die Magie zufällig genau dies tun wollte. Es war schwierig zu erklären, deswegen versuchten die Zauberer es auch gar nicht erst. Doch die Menschen fragten auch nicht. Für sie reichte es, dass es so war. Fjodor schaute sich um. In seinem Blick las Nea mühsam unterdrückte Furcht. Sie nahm ihn mit einem Lächeln bei der Hand und zog ihn ganz nah an sich heran. »Sie werfen dir nichts vor, sie wissen nicht, dass du es warst«, flüsterte sie ihm zu, doch er schüttelte sacht den Kopf. »Selbst wenn, wäre es mir egal. Sie können mir nichts tun. Ich fürchte eher, dass die Stadt selbst mich nicht wieder gehen lassen will«, antwortete er ebenso leise. »Die Stadt?« Sie blickte ihn verwundert an. »Ja. Vergiss nicht, es ist eine magische Stadt und auch die Magie besitzt ein Bewusstsein. Sie hat nicht vergessen, was ich getan habe«, antwortete er und blickte sich weiter unbehaglich um. »Keine Sorge, dir geschieht nichts«, meinte sie und drückte beruhigend seine Hand. Doch Fjodor war gedanklich schon woanders. Es war ihm unangenehm, von allen angeschaut zu werden, obwohl er wusste, dass es nichts mit ihm selbst zu tun hatte. Es war sein weißes Haar und seine Nordlichtaugen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Doch er konnte es nicht ändern, er wollte es auch nicht, denn beides zeigte ihn als Lugh Akhtar. Sie würden ihn nicht erkennen. Sie standen vor dem Turm der Zauberer. Er betrachtete nachdenklich die Glasscheibe über dem Tor. »Wir werden Tariq hier gewiss nicht treffen«, meinte er, denn er wusste, dass Tariq dem Zauberlicht nicht würde widerstehen können. Das konnte kein Mensch, niemals. Dies war die wirkungsvollste Wache für den Turm, die man sich nur vorstellen könnte. Die beiden Männer davor waren lediglich dazu da, die Menschen vor dem Licht zu warnen. Oder eben nicht. Nea und ihn hielten sie jedoch nicht auf, als sie eintraten. Sie erkannten sie sofort. Dies war vermutlich das Einzige, in ganz Altena, auf das er sich gefreut hatte. Kaum waren sie eingetreten, explodierte ein Meer von Farben um sie herum. Es glitzerte und leuchtete, als wenn man in einen Regenbogen hinein gelaufen wäre, doch waren es nicht die blassen Farben, die entstanden, wenn man Licht durch Wasser brach, sondern sie leuchteten, als ginge es um ihr Leben. Dabei war es bloß Licht, das durch eine bunte Scheibe fiel. »Wer hat sich nur so etwas ausgedacht…?«, murmelte Nea. Sie fand das Licht gruselig, sie verstand nicht, wieso es hier war. Fjodor sah das anders, er freute sich einfach über das Leuchten, das sich in seinen Augen widerspiegelte, immer und überall. »Nea, Makani!« Ein Mann kam die Treppe hinab geeilt. Er war nicht jung, und nicht alt, er wirkte irgendwie Zeitlos. Als wäre die Zeit bei ihm zwischen Kindsein und Greiswerden irgendwo stehen geblieben. Nea lächelte ihn freudig an, Fjodor dagegen hielt sich eher im Hintergrund. Er verbannt keine guten Erinnerungen mit diesem Mann, der einmal sein Lehrer gewesen war. »Schön euch einmal wieder zu sehen. Es ist ja schon eine Weile her«, sprach er weiter. Fjodor schloss für einen Moment die Augen, wischte sich über das Gesicht und lächelte, als er Nikolai wieder anschaute. Nun war er nicht mehr Fjodor, sondern Makani, der seinen Lehrer mochte. Allerdings nur so lange, wie er ihm seine Freiheit ließ, denn als Makani wollte er nicht eingesperrt sein. Makani bedeutete Wind, und so wollte er auch sein. Frei wie der Wind. »Nikolai, eine Weile ist’s her, ja.« Sie waren nicht im Guten auseinander gegangen, doch er hoffte, dass der Mann merkte, wen er vor sich hatte, und begriff, dass er nichts fürchten brauchte. Solange Fjodor nicht da war, brauchte niemand ihn zu fürchten. Nea hatte Nikolai geschrieben, wer der weiße Wolf gewesen war, den sie bei sich hatte, als sie das letzte Mal in Altena und bei ihm gewesen waren, so hatte er den jungen Mann auch sogleich aller Veränderungen zum Trotz erkannt. »Ja, in der Tat. Aber gerne hätte ich dich unter glücklicheren Umständen wieder getroffen.« Der Herr wirkte müde und seltsam grau. »Du hast nicht geschrieben, um was es geht«, bemerkte Nea sogleich und Nikolai nickte. »Ja. Zum Einen um deinen Vater, Nea«, begann er, doch sein ehemaliger Schüler wischte den Rest seines Satzes mit wütendem Blick beiseite. »Ich habe mehrfach gesagt, dass ich damit nichts zu tun haben will«, knurrte er. Fjodor. »Ich weiß, aber du musst. Ein Zauberer darf niemals einem anderen Zauberer Schaden zufügen, seine Tat darf nicht ungestraft bleiben, selbst Nea sieht es so«, versuchte er es wieder, doch Fjodor schüttelte so entschieden den Kopf, dass er es nicht wagte, weiter zu sprechen. Mit Fjodor legte man sich nun einmal nicht an. »Ich werde nichts sagen, dass ihm schadet«, knurrte er böse und erklärte das Thema mit einer Handbewegung so endgültig für beendet, dass keiner es weiter zu verfolgen wagte. Stattdessen räusperte sich Nikolai vernehmlich. »Das andere Thema werdet ihr erst in einer Woche erfahren. Die entsprechende Versammlung wird genau in einer Woche in der Ratshalle stattfinden.« »Wieso dort?«, fragte Nea überrascht. Zauberdinge wurden sonst nur von Zauberern besprochen, und dazu war ein Umzug in die Menschenhallen nicht nötig. »Weil verschiedene Lords und Könige dieser Versammlung ebenfalls beiwohnen werden. Es geht sie genauso viel an, wie uns, also wollten wir dies mit ihnen besprechen«, erklärte Nikolai. »Es ist also alles, aber nicht angenehm. Aber warum sind wir überhaupt hier? Ich kümmere mich um meine eigenen Belange, alles andere kann mir einerlei sein. Wie kommst du darauf, dass es uns interessieren könnte?« Er war wieder der Zauberer. »Weil ich weiß, dass es zu deinen Belangen gehört. Vielleicht jetzt noch nicht, mich wundert es sowieso, dass du es noch nicht bemerkt hast, aber es wird dich nicht schonen«, antwortete der alte Mann. Da nickte Fjodor. »Habe ich das gleiche Zimmer, wie zu meiner Lehrzeit?«, kam er zu praktischeren Dingen. »Nein. Ich kann dich nicht eine Woche hier in Altena festhalten, mich hat es gewundert, dass ich es zehn Jahre geschafft habe. Ich habe eine Bauersfamilie gebeten, dich bei sich aufzunehmen, und sie überlassen dir entweder ihre Jägerhütte, oder auch den ganzen Hof. Wobei ihnen ersteres lieber wäre, obwohl sie das Gegenteil behaupten«, antwortete Nikolai. »Mir auch, eine einfache Hütte in der Stille des Waldes ist bei weitem besser, als ein Schloss in einer lauten, hektischen Stadt. Mit wem muss ich sprechen, um eine Wegbeschreibung zu meinem Heim zu bekommen?« »Die Familie mit dem größten Hof im Norden. Sie werden Bescheid wissen, wenn du sagst, dass ich dich schicke. Du, Nea, kannst bei deiner ältesten Schwester unterkommen, sie freut sich schon auf ein Wiedersehen«, sprach der alte Zauberer. »Oh, ich…«, begann sie und warf Lugh Akhtar einen schnellen Blick zu. »Du brauchst nicht mit mir kommen. Besuch ruhig deine Familie, ich komme schon zurecht«, erklärte er und lächelte aufmunternd. »Aber ich… möchte gerne, dass du mit mir kommst…«, antwortete sie leise. »Ich weiß, es ist dir unangenehm und du musst auch nicht, aber…«, beeilte sie sich zu sagen, doch Lugh Akhtar schüttelte sacht den Kopf und schaute in das Zauberlicht, bevor er antwortete. »Einigen wir uns darauf, dass ich mit dir komme und bleiben, so lange ich meine es aushalten zu können«, meinte er und ging die Treppe wieder hinab, würdigte jedoch dem völlig verblüfften Nikolai keines Blickes mehr. Nea verabschiedete sich schnell mit einem glücklichen Lächeln und lief dann Lugh Akhtar nach. Kapitel 2: Bei Rose ------------------- »Nein, kein Wort, aber tief haben wir auch nicht gerade gebohrt…«, antwortete Nea auf die Frage ihrer Schwester. »Genau genommen hab ich bloß einmal nachgefragt, was die Sache mit uns zu tun habe«, fügte Lugh Akhtar hinzu. Dabei wandte er nicht einmal den Blick. Er hätte sich kaum ein besseres Haus innerhalb der wehrhaften Mauern dieser Stadt suchen können. Es lag direkt am Rand, in einer ruhigen Gegend, in der nicht mehr viel von der magischen Kraft Altenas zu spüren war. Hier lag Schnee, vom Fenster aus konnte man die weite Winterlandschaft und den unendlichen Sternenhimmel sehen und eigentlich hatte man nicht mehr das Gefühl, in Altena zu sein. »Lass mich raten, er hat dich komplett ignoriert und stattdessen etwas unglaublich Weises, was aber keiner versteht, von sich gegeben, stimmt’s?«, lachte Rose. »Nein. Er hat mir gekonnt einer seiner Nichtantworten gegeben und wir haben es dabei belassen. In einer Woche wissen wir es sowieso«, antwortete Lugh Akhtar und fuhr mit der Hand durch die Luft, über die schmale Mondsichel, als wolle er die Wolken davon wischen. Doch er ließ keine Magie wirken. »Nun gut, von mir aus auch so, es ist aber trotzdem typisch für ihn«, fand Rose und streckte sich, wobei dem jungen Mann auffiel, wie passend doch ihr Name war. Sie war wunderschön anzusehen, doch hatte sie das Herz einer Löwin, eine Zunge wie ein Dolch und war so unberechenbar wie der Wind. Ein wenig wie Dornen. Nea wollte gerade etwas sagen, vermutlich, dass sie nicht so gemein gegenüber dem guten alten Herrn sein sollen, da öffnete sich die Tür und zwei neugierige Kinderaugen lugten durch den Spalt. Eine Löwin konnte man zähmen, den Wind mit Magie beherrschen und auch ein Dolch wurde stumpf, und alles durch die Hand eines Menschen…, dachte sich Lugh Akhtar und lächelte still und wissend in sich hinein, als er sah, wie Roses Töchter sich darum stritten, wer nun als Erste hineingehen sollte. Auch ihre Mutter indes hatte die offene Tür bemerkt und riss sie mit einem Ruck auf. »Was wollt ihr?«, fragte sie barsch. Rose fand offensichtlich, dass man Kinder streng erziehen musste, und sie setzte es gnadenlos in die Tat um. Wie sollte es auch anders sein, wenn man mit zwölf jüngeren Geschwistern aufgewachsen war. Und die Mädchen, mit dem Löwenherz der Mutter gesegnet, ließen sich davon nicht beeindrucken, oder gar verschrecken. »Wir wollen bei Tante Nea sein«, erklärte die Jüngere kühn, obwohl sie und ihre Schwester Nea bisher keines Blickes gewürdigt hatte. Lugh Akhtar dafür umso mehr. Rose wollte eben loswüten, da kam Nea den Beiden zur Hilfe. »Lass sie hier, Rose, es würde mich sehr freuen. Und du kannst sie sowieso nicht die ganze Woche bis zur Versammlung aussperren, und wer weiß, wie lange es dann noch dauert, bis wir wieder gehen…!« Dem konnte sich Rose nicht verschließen und so nickte sie, überschüttete die Beiden aber sogleich mit allen möglichen Ermahnungen. Dies ignorierte vor allem die Jüngere sehr gekonnt. Sie lächelte zufrieden, ging dann zu Lugh Akhtar, kletterte ungefragt auf seinen Schoß, um ihn von dort aus mit großen Augen anzusehen und zu fragen: »Wieso hast du so seltsame Augen? Bist du wirklich der große, böse Zauberer, wie Papa behauptet?« Sogleich schien es, als wolle Rose komplett in die Luft gehen, doch Lugh Akhtar lächelte freundlich. »Ja, manchmal bin ich der böse Zauberer, aber nicht immer. Du musst wissen, dass ich verschiedene Personen sein kann, je nachdem, wie ich es gerne möchte«, erklärte er und die Mädchen schauten ihn mit großen Augen an. »Und deine Augen? Ich möchte auch solche Augen, sie sehen aus, wie ein Regenbogen«, erklärte die Ältere sehnsuchtsvoll. »Die habe ich, weil mich einmal ein anderer, mächtiger Zauberer verwandelt hat. In einen Wolf. Und Nea hat mich zurückverwandelt«, erklärte er wahrheitsgetreu. Die Kleine auf seinem Schoß blickte erst ihn, dann Nea und noch einmal ihn mit gerunzelter Stirn an, bevor sie meinte: »Großmama und Tante Robin haben überlegt, ob ihr zwei, also du und Nea, ob ihr nicht irgendwann heiraten werdet!« Da hatten sich die Mädchen jede Chance verspielt, den Abend mit ihnen zu verbringen. Während Rose zeternd und keifend ihre Töchter aus dem Wohnzimmer verbannte, warf Lugh Akhtar Nea einen kurzen Blick zu, um sich dann den Fußboden genauer zu besehen. Nea dagegen wurde feuerrot und besah sich eifrig die Decke des Raums. »Entschuldigt, ich wusste, dass so etwas passieren würde, deswegen wollte ich…« Rose runzelte verwundert die Stirn, als sie die Beiden so sitzen sah, dann lachte sie laut. »Oh nein, meint ihr das ernst? Ihr seid wirklich ein Paar?« »Nein, sind wir nicht!«, ereiferte sich Nea und machte damit jedoch alles eher noch schlimmer. Rose kicherte: »Ihr benehmt euch, wie zwei Schulkinder. Warum hast du mir nichts von deinem Geliebten erzählt?« »Weil er nicht mein Geliebter ist! Er ist… bloß ein guter Freund«, antwortete sie, noch immer rot im Gesicht. »Und wie siehst du das, Lugh?« Rose hatte sofort angekündigt, ihn bloß so zu nennen, denn sein voller Name war ihr zu lang. »Geliebter…?« Er lauschte nach der Melodie des Wortes, doch sie gefiel ihm nicht. »Ich denke nicht. Wegbegleiter, ja, Zuhörer ebenfalls und auch Mutsprecher. Ein Freund eben. Aber nicht ihr Geliebter.« »Du liebst Nea also nicht, ja? Kein Stück, nicht einmal ein Bisschen?«, lauerte Rose. »Liebe… das ist so ein großes Wort… ich denke nicht, dass ich es ausfüllen kann. Ich brauche sie, das ist ein Teil von Liebe, aber mehr…?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich denke nicht…« Er merkte es nicht, doch Rose spürte die tiefe Enttäuschung ihrer Schwester sofort. Äußerlich ließ sich Nea nichts anmerken, doch innerlich überfiel sie die Trauer. »Ich denke, es ist spät, wir sollten schlafen gehen«, bot Rose ihrer Schwester sogleich die perfekte Möglichkeit, sich zurück zu ziehen. Nea nutzte die auch sofort dankbar, indem sie lächelte und zustimmend nickte. »Dann geht schlafen, ich bleibe noch ein wenig hier… wenn die Dame des Hauses es gestattet, heißt das«, erklärte er und blickte Rose fragend an. Die zuckte mit den Schultern, während sie aufstand. »Mach, was du willst.« »Geht leider nicht. Ich denke nicht, dass es Nikolai gefallen würde, wenn ich nun einfach nach Hause ginge.« Er lächelte milde. Rose schnitt eine Grimasse, dann verließ sie mit Nea gemeinsam den Raum. Lugh Akhtar schaute noch einen Moment die geschlossene Tür an, dann schaute er wieder aus dem Fenster hinaus. Er dachte nach, dachte an Nea und ihre Schwester und an die Liebe, an ewig währendes Glück. Das Leben als Mensch war schon verwirrend, wie einfach war doch alles gewesen, als er noch als Wolf sein Dasein fristete. Doch das war vorbei. Er war tief in Gedanken versunken, da öffnete sich die Tür und Roses Ehemann trat ein. Es war dunkel, denn alle Kerzen waren verloschen, deswegen bemerkte er Lugh Akhtar im ersten Moment nicht. »Oh, entschuldige, ich dachte, du wärst mit den Damen gemeinsam schlafen gegangen«, erklärte er und wollte schon wieder gehen, doch Lugh Akhtar starrte ihn nur still an, da blieb er doch, druckste einen Moment herum, bevor er zu einem der Sessel ging, und sich setzte. »Du bist der Zauberer Fjodor, nicht wahr?«, fragte er leise. »Ja«, antwortete Lugh Akhtar. »Wieso bist du hier? Ich dachte, du wolltest Altena für immer den Rücken kehren…?« Es klang neugierig, nicht vorwurfsvoll. »Man sagte mir, es sei auch für mich von Bedeutung, was auf der Versammlung besprochen werden soll. Ansonsten wäre ich gewiss nicht gekommen. Und ich werde auch schnell wieder gehen«, antwortete er. »Weißt du, worum es gehen wird?« »Nein.« »Ich schon.« Lugh Akhtar erinnerte sich. Ja, Roses Ehemann hatte zu seiner Lehrzeit schon einen recht hohen Rang inne gehabt, und er wird wohl noch weiter empor geklettert sein. »Und worum wird es gehen? Oder darfst du es mir nicht verraten?« »Eigentlich nicht, selbst Rose weiß nicht Bescheid. Aber ich werde es dennoch tun…« Er seufzte tief und schaute einmal kurz in Lugh Akhtars Augen. Zum ersten Mal, wie dem sofort auffiel. »Nun, es ist so. Der Winter, er wird immer kürzer und auch immer wärmer. Natürlich, die Menschen freut es, sie müssen nicht mehr so lange hungern und frieren, sie brauchen ihre Häuser nicht mehr winterfest machen, keine großen Vorräte für sich, oder das Vieh anlegen, Winterkleidung nähen, Schneestürme fürchten und so unendlich vieles mehr, aber…« Er zuckte die Achseln. »Die Natur hat keine Zeit mehr, sich von dem zu erholen, was wir ihr jedes Jahr abverlangen.« Lugh Akhtar wusste trotzdem, wie der Satz endete. Er zuckte gleichmütig die Schultern. »Das lassen die Zauberer von jeher nicht zu. Sie halten die Stadt doch schon seit Jahren künstlich warm, deswegen blüht hier auch schon seit Jahren nichts mehr. Aber wieso dazu eine Versammlung einberufen?« »Wir wollen diskutieren, ob wir nicht einen künstlichen Winter erzeugen wollen. Deswegen sind auch die Menschenherrscher dabei, sie müssen uns ihre Erlaubnis geben, es zu tun«, antwortete er. Lugh Akhtar schaute ihn Wort- und Bewegungslos an und dachte nach über den Namen des Mannes. Der schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie hat Kathlyn sich ausgedrückt? Der Winter ist davon gelaufen, weil wir böse zu ihm waren. Und jetzt müssen wir ihn davon überzeugen, Heim zu kehren…« Es sollte wohl eine scherzhafte Bemerkung sein, doch Lugh Akhtar starrte ihn irritiert an. Ihm war wieder sein Traum eingefallen. Wie nur hatte er ihn vergessen können? Doch er war sich nun nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Traum war. »Was wäre, wenn sie recht hätte?«, fragte er langsam. »Womit? Das man den Winter bestechen muss, damit er wieder kommt?« Er lachte. Lugh Akhtar schüttelte den Kopf. In seinen Gedanken wuchs ein Plan heran. Er stand auf und ging zur Tür. »Ich denke, auch für dich wird die Versammlung noch eine Überraschung werden«, erklärte er, lächelte und verließ den Raum, um sich in seinem Zimmer schlafen zu legen. Kapitel 3: Der Stein -------------------- Es dauerte nicht mehr lange, da trafen sie auch Tariq wieder. Er war als Stellvertreter des Königs von Lanta da und trieb sich seit Tagen schon in der Nähe des Zaubererturms herum, in der Hoffnung, dass er seine Freunde wieder treffen würde. Er wusste, dass auch Lugh Akhtar und Nea eingeladen waren, so hoffte er, sie bei ihrer Ankunft treffen zu können. Doch es war Kathlyn, die er fand. Sie war mit Nea und Lugh Akhtar einkaufen gegangen und mir nichts, dir nichts einfach verschwunden, um ihre Neugierde zu befriedigen. Und Roses ältere Tochter war sehr neugierig. Da sah sie also Tariq auf dem Rand des Brunnens sitzen und den Zaubererturm beobachten, stellte sich vor ihm auf und fragte mit Unschuldsblick: »Willst du in den Turm?« Im ersten Moment blinzelte der Prinz verblüfft, denn bisher hatte ihn nicht nur niemand angesprochen, sondern die Mütter hatten ihren Kindern auch eingeschärft, sich von dem seltsamen jungen Mann fern zu halten. »Nein, ich warte auf jemanden. Er wird in den Turm gehen, wenn er kommt, deswegen bin ich hier«, antwortete der freundlich. »Wieso bist du dir da so sicher?«, erkundigte sich das Mädchen. »Weil er keine Verwandten in der Stadt hat, bei denen er unterkommen könnte. Und weil er ein mächtiger Zauberer ist. Er wird hierher kommen«, erklärte der junge Prinz. »Klingt logisch. Ist es ein guter Freund von dir?« »Ja, der Beste, den ich je hatte. Der Beste, den sich ein Mensch nur wünschen kann«, lächelte er. »Das freut mich, gute Freunde kann man nie genug haben, sagt Mama immer.« Sie lachte ebenfalls, dann schaute sie sich suchend um. »Ich glaube, ich muss gehen, Tante Nea wird sich bestimmt schon wundern, wo ich bin.« Da stutzte Tariq. »Deine Tante Nea… Ist sie eine Zauberin?« »Ja, und eine besonders mächtige noch dazu! Sie wohnt im Moment bei uns gemeinsam mit ihrem Freund. In Wirklichkeit ist er bestimmt ihr Geliebter, aber sie wollen es nicht zugeben.« Sie kicherte. »Das denkt Mama auch, aber sie ist jetzt ein bisschen sauer auf ihn, weil er so tut, als wäre ihm Nea egal. Und er begreift auch gar nicht, dass er böse zu Nea war. Aber niemand will ihm das sagen, Nea nicht, weil sie ihn ja liebt und Mama und Papa nicht, weil sie ein bisschen Angst vor ihm haben, auch wenn sie es abstreiten.« »Das ist sehr… interessant… Ist sein Name zufällig… nein, anders. Nennt Nea ihn immer Lugh Akhtar?«, fragte er aufgeregt. »Ja, macht sie«, antwortete der Zauberer, der unbemerkt an sie heran getreten war. Ohne seinen alten Freund zu beachten, trat er an Kathlyn heran und ergriff grob ihren Arm. »Wo bist du gewesen? Du kannst doch nicht einfach verschwinden, Kath! Und schon gar nicht, wo hier so viele Menschen sind. Sie hätten dich einfach mit sich fortziehen können, vielleicht hättest du dann nicht mehr zurück gefunden. Weißt du, was sich Nea für Sorgen um dich macht? Von ihren Selbstvorwürfen ganz zu schweigen. Kath, das kannst du doch nicht tun.« Seine Stimme war immer ruhiger und leiser geworden. Kathlyn starrte ihn aus großen Augen ängstlich an, dann begann sie fürchterlich zu weinen. »Ich will es nicht wieder tun, es tut mir Leid«, rief sie und vergrub ihr Gesicht in Lugh Akhtars Kleidern. »Ich weiß doch, dass du es nicht absichtlich getan hast, Kath. Versprich mir einfach, dass du es nicht wieder tun wirst, ja?«, bat er leise und das Mädchen nickte mit tränenverschmiertem Gesicht. »Ich will ganz lieb und brav sein«, versprach sie. Lugh Akhtar nickte und wandte sich dann Tariq zu. »Schön, dich wieder zu sehen, alter Freund«, sprach er. »Die Freude liegt ganz bei mir«, lachte Tariq, während die Drei einem stillen Einvernehmen folgend in Richtung von Kathlyns zu Hause liefen, das kleine Mädchen immer ein paar Schritte vor den beiden jungen Männern. »Es ist ja schon eine Weile her. Du hast dich verändert«, fand der Zauberer und hatte recht damit. Das letzte Mal, als der den jungen Prinzen gesehen hatte, hatte Tariq zierlich und verletzlich gewirkt, mehr wie ein junges Mädchen, denn wie der mächtige König, der er einst werden würde. Nun tat er dem schon mehr Ehre. Er war größer und kräftiger geworden, sein Haar war gewachsen, was ihm ein wildes Aussehen verlieh, und er hatte vor allem diese weiblichen Züge verloren, die vorher so manchen an seinem Geschlecht haben zweifeln lassen. Aber was hatte man erwartet? Immerhin war es drei Jahre her, dass sie einander das letzte Mal begegnet waren, und diese Zeitspanne ließ wohl kaum einen Menschen unberührt. »Ja, du auch«, lachte Tariq und griff unvermittelt in die schwarzen Strähnen inmitten des weißen Haarschopfes. »Sie fallen sehr auf.« »Nicht so sehr, wie meine Augen, aber was hast du erwartet? Einen Verwandelten erkennt man immer«, lächelte Lugh Akhtar. »Mich wundert ein wenig, dass du wirklich her gekommen bist. Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, obwohl ich wusste, dass du eingeladen bist«, wechselte Tariq das Thema. »Manchmal muss man eben Dinge tun, die man nicht tun will. Mich wundert eher, dass bei so einer wichtigen Sache nicht dein Vater hier ist. Ich hätte damit gerechnet, dass er das Königreich von Lanta vertreten würde.« »Einer so wichtigen Sache? Weißt du etwa, worum es gehen wird? Und hat man bloß um unser Erscheinen gebeten.« »Der Ehemann von Rose, also Neas Schwager, hat es mir erzählt. Ansonsten wüsste auch ich von nichts.« Der Zauberer warf einen unbehaglichen Blick zu beiden Seiten. »Nun, ich bin im Namen meines Vaters hier, allerdings besitze ich alle Rechte. Ich kann in dieser Sache verfahren, wie es mir beliebt.« Man hörte dem jungen Prinzen deutlich an, wie wenig ihm dies gefiel. Er hatte immer schon unter dem Prinzsein gelitten und es war in den letzten Jahren nicht besser geworden. Er wäre viel lieber aus weniger politischen Dingen hierher gekommen. »Das ist gut. Ich denke nicht, dass allzu viele Herrscher hierher kommen werden und die wenigsten Vertreter werden volles Stimmrecht besitzen. Dabei wäre es gerade so wichtig… Wo bist du untergekommen?« »In einem verlassenen Haus, ziemlich zentral gelegen. Mein Leibwächter...« Tariq schnitt eine Grimasse. »...hätten das Wirtshaus räumen lassen, wenn ich es nicht gefunden hätte.« »Das wäre dein gutes Recht gewesen. Das Königreich schließt auch Altena mit ein. Ist dir eigentlich bewusst, dass diese Stadt von Rechtswegen dir gehört? Die Zauberer könnten nichts dagegen tun, wenn du sie für dich beanspruchen würdest.« Lugh Akhtar lächelte auf eine eigentümliche Art und Weise, die deutlich machte, dass er schon ein Wunschschicksal für die Stadt der Zauberer hatte. Allerdings war dies auch nicht schwer zu erraten, wenn man um seine Geschichte wusste. »Das stimmt so aber nicht ganz. Sie wird mir bald gehören, jetzt aber noch nicht.« Tariq schnitt eine Grimasse, wirkte dann aber angespannt und unglücklich. »Papperlapapp, Tariq. Natürlich gehört sie dir, vom Erbrecht her schon. Aber eigentlich ist es auch egal.« Der Prinz seufzte, nickte und schaute dann zum Himmel auf. »Wie schade, dass es hier keinen Schnee gibt…«, sagte er leise, da schien ihm etwas einzufallen, denn er begann hektisch in seiner Tasche zu suchen. »Wo ist es denn… eben hatte ich es doch noch…«, murmelte er vor sich hin. »Hast du etwas verloren?«, fragte Lugh Akhtar, doch Tariq zog schon lächelnd seine Hand aus der Tasche. »Ich hab es«, erklärte er und hielt es dem Zauberer unter die Nase. »Was… ist das? Und woher hast du es?«, fragte der und streckte die Hand danach aus, wagte jedoch nicht, es zu berühren. »Ich weiß es nicht. Es lag einfach eines Morgens auf meiner Fensterbank in Lanta. Daneben lag ein Zettel, dass es für dich sei, und dass es von großem Wert wäre. Unterschrieben hat niemand und die Schrift kannte ich auch nicht. Sie war so fein und geschwungen, dass ich mir nicht einmal sicher bin, dass es von einem Menschen geschrieben wurde. Ich meine, in einer Welt voller Zauberer und verwandelter Menschen kann man es nicht ausschließen…«, erzählte Tariq. »Es steckt auf jeden Fall voller Magie, ich spüre sie selbst hier noch«, erklärte Lugh Akhtar, obwohl seine Hand einige Zentimeter von dem Stein entfernt war. »Nun, es gehört auf jeden Fall dir, was auch immer es sein mag.« Da nickte der Zauberer und berührte es sacht und in dem festen Glauben, dass nun etwas geschehen würde. Dem war auch so, nur war es für Tariq nicht sichtbar. Eine ungeheure Macht durchströmte ihn. Etwas, was er noch nie zuvor gespürt hatte, es war nicht die Art Magie, der er sich sonst bediente. Doch auch sie wurde durch den Prinzen noch einmal um einiges verstärkt und war somit so mächtig, dass Lugh Akhtar, der als größter Zauberer seiner Zeit galt, vielleicht auch als größter Zauberer aller Zeitalter, es niemals geschafft hätte, sie zu zähmen, hätte sie böses tun wollen. Sie strömte einmal durch seinen Körper und versiegte dann wieder im Stein. Wäre es anders hätte sie ihn wohl getötet. Tariq bekam davon freilich nichts mit, er sah nur, wie sich die Hand des Zauberers fest um den Stein schloss und er mit einem Keuchen zurück taumelte. Schwer atmend sank er zu Boden und starrte dabei mit großen Augen auf den Stein. »Lugh Akhtar, was ist los?«, fragte der Prinz besorgt und sank ebenfalls zum Boden nieder, und auch die Passanten blieben besorgt stehen. Kathlyn begann zu weinen. »Nichts, es ist alles in Ordnung«, keuchte der Zauberer, ließ sich von Tariq aufhelfen und lief dann, so schnell es seine wackligen Beine zuließen in eine Seitengasse, in der sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. »Was ist los?«, fragte Tariq noch einmal eindringlicher. »So etwas habe ich noch nie… Tariq, ich weiß nicht, was es für ein Stein ist, aber er ist mächtiger, als alle Zauberer von Altena, einschließlich mir und Nea. Wenn die Magie böses wollte, wir könnten sie nicht bezwingen«, erklärte er und eine seltsame Mischung zwischen Machtbesessenheit, Todesangst und Neugierde fesselte ihn. Er wusste, dass er der Einzige war, der die wahre Macht des Steines nutzen konnte, auch wenn er noch nicht wusste, wieso dem so war. Und wer ihm einen solch mächtigen Zauber an die Seite stellte. »Ist nur Magie in dem Stein?«, fragte Tariq leise und mit ehrfürchtiger Stimme. »Ja. Er besteht aus reiner Magie. Aber ich habe keine Ahnung, worin sein Zauber besteht, ich glaube nicht, dass ich sie einfach so nutzen kann. Dazu ist sie zu… anders.« »Zu anders?« »Es ist nicht die Magie, derer die Zauberer sich sonst bedienen. Sie ist einfach… anders. Lass uns gehen«, bat Lugh Akhtar und Tariq folgte ihm. Kapitel 4: Die Versammlung -------------------------- »So kommen wir nicht weiter, und schon gar nicht zum Ende«, brummte einer der Südenlords. »Hört auf, euch zu streiten!« Doch natürlich hörten der Prinz von Osrya und der Inselkönig des Westmeeres nicht auf, sondern legten eher noch einmal nach. Und sogleich riefen alle Könige, Prinzen, Grafen, Fürsten und Lords durcheinander, sodass man das eigene Wort kaum noch verstand. Die Zauberer, die dieser Versammlung beiwohnten, seufzten tief und warfen sich viel sagende Blicke zu. Da stand Nikolai auf und gebot mit einer sachten Geste um Ruhe, die auch augenblicklich eintrat, denn niemand hätte es gewagt, die Stimme gegen ihn zu erheben. »Es wurden kluge Worte gesprochen, doch niemand hat sie gehört. So finden wir kein Ende, also wäre meine Bitte, nun nacheinander zu sprechen und einander nicht ins Wort zu fallen.« Auf seine Worte herrschte zustimmendes Schweigen, sodass er lächelte und fortfuhr. »Nun, es gibt Sprecher, und es gibt Denker, die wahr vorzügliche Idee haben, sie aber nicht auszusprechen wagen, bei so viel Trubel. Also lassen wir doch einmal die Denker zu Wort kommen. Prinz Fjodor von Lanta, wollt Ihr beginnen?« Tariq bemerkte im ersten Moment nicht einmal, dass jemand das Wort an ihn richtete. Er war es nicht gewohnt, mit vollem Namen angesprochen zu werden, so dauerte es einen Augenblick, bis er begriff, nickte, aufstand, und das Wort erhob. »Ich habe eine Weile oben im Norden gelebt, deswegen weiß ich, was ein wirklicher Winter mit der Natur tut. Ich habe niemals einen schöneren Sommer gesehen, wie jene, die nach einem besonders langen Winter folgten. Ich weiß, wie gut es den Menschen geht, wenn sie nur wissen mit dem Winter umzugehen. Sie sind nicht schlechter dran als wir, nur weil sie mehr Schnee haben und häufiger mit der Kälte leben müssen. Deswegen stimme ich den Bitten der Zauberer im Namen meines Vaters zu. Das Land um Lanta wird sich auf einen kalten Winter einstellen müssen. Allerdings habe ich Bedingungen, die wir jedoch zu späterer Stunde klären sollten«, schloss der junge Mann und setzte sich wieder. Nikolai nickte dankbar, denn er wusste, dass Lanta einen großen Einfluss auf die anderen haben würde. Er deutete Nea weiterzumachen. »Die Idee als solche ist gut. Selbst den Jüngeren wie mir ist schon aufgefallen, dass sich das Land verändert hat und das nicht zum Guten. Aber das ändert nichts daran, dass wir das Übel bei der Wurzel packen müssen. Wir müssen irgendwie herausfinden, was geschehen ist, dass der Winter immer kürzer und immer wärmer wird.« Sie zögerte einen Moment und schüttelte dann bedauernd den Kopf. »Allerdings weiß ich nicht, wie…« »Womit wir beim Kern des Problems wären…«, murmelte Nikolai und schaute auffordernd zu Lugh Akhtar. »Hast auch du noch etwas zu sagen, Makani?« Der junge Zauberer, der zuvor nur dumpf brütend vor sich hin geblickt hatte, schrak aus seinen Gedanken auf. Scheu warf er erst Nikolai, dann der Runde um sich herum einen kurzen Blick zu und stand dann zögernd auf. Unruhig, langsam und vorsichtig lief er die Längsseite des Tisches ab und stellte sich an die Stirnseite, genau vor das große Fenster. Von dem Platz aus, wo er vorher gesessen hatte, hätte ihn kaum ein Bruchteil der Anwesenden sehen können, hier war er für jeden gut erkennbar und, was ungleich wichtiger war, er hatte das offene Fenster im Rücken, das ihm eine Fluchtmöglichkeit gab. Es gab zwar weit und breit nichts, wovor er hätte flüchten müssen, doch ein Teil seiner Selbst war noch immer der weiße Wolf, der auf so eine Möglichkeit bestand. »Nun, ich möchte mit einem Traum beginnen, den ich einst träumte. Er gehört zu dieser Sache, denn in diesem Traum bin ich dem Winter begegnet.« Seine Stimme, sonst ruhig und leise, erhob sich kraftvoll und laut. Seine Worte klangen durch den Raum, wie Musik und es gab nicht einen, der ihm nicht gespannt und wie verzaubert gelauscht hätte. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Da begann er zu erzählen. Er erzählte von seinem Traum in der Schneeweite, wie er mit dem Winter das Nordlicht besang und wie verzweifelt er war, als der Winter ging. Und wie er als Wolf erwachte. Nachdem er geendet hatte und der Zauber seiner Worte verblasst war, erhob sich lautes, spöttisches Lachen überall im Saal. Nicht nur die unzähligen Menschen lachten, sondern auch die Zauberer, denn sie wussten, dass er mit dieser Geschichte die Frage heraufbeschwören wollte, ob es wirklich ein Traum gewesen war. Und alleine, dass er nur für eine Sekunde daran glaubte, dass es Wirklichkeit sein könnte, war für sie so abwegig, dass sie ihn auslachten. Doch Lugh Akhtar wäre nicht er selbst gewesen, hätte er sich von so etwas irritieren lassen. Statt sich zu grämen lächelte er nur still vor sich hin, bis sie zu Ende gelacht hatten. »Ihr lacht mich aus. Ich habe nichts anderes erwartet. Wenn man etwas nicht versteht, dann lacht man darüber, oder man bekämpft und tötet es. Aber nicht alle sind so. Kinder nicht. Was sie nicht verstehen, das erkunden sie und begegnen neuen Dingen mit einem offenen Herzen. Es gibt hier ein kleines Mädchen in der Stadt, als sie erfuhr, dass der Winter kürzer wird, >weniger< wird, da stellte sie die Vermutung an, dass wir den Winter vielleicht beleidigt haben mögen. Auch sie stellt sich den Winter als lebendes, denkendes Wesen vor. Wieso ist es in euren Augen nur so abwegig?«, fragte er. Darauf herrschte Stille. Sie wussten nicht, worauf er hinaus wollte. »Nun, wenn der Winter wirklich denkt und fühlt, wie wir es tun, dann müsste es ein mächtiges Wesen sein. Und etwas, das so mächtig ist, wird immer und zu allen Zeiten unverstanden und gefürchtet sein, außer von Kindern und von jenen, die ihm ebenbürtig sind. Und glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche«, erklärte er und schüttelte dann sacht den Kopf. »Das jedoch ist es nicht, was ich eigentlich sagen will. Das nämlich geht noch einen Schritt weiter. Was ist, wenn sie recht hat? Was ist, wenn mein Traum wahr ist? Und was ist, wenn wir es ignorieren…?« »Wenn Ihr recht habt, dann spielt es keine Rolle, ob wir es wahrnehmen oder verleugnen, denn den Winter Höchstselbst finden wir nicht«, meinte ein König aus dem Osten. »Außerdem ist es nicht wahr, der Winter kann nicht lebendig sein. Wenn du solche Vermutungen anstellst, dann tu es nächstes Mal nicht ohne Beweise, wenn du nicht abermals ausgelacht werden, und unsere Zeit verschwenden willst«, fauchte ein Graf aus dem Westen, dem man ansah, dass er dies alles für Zeitverschwendung hielt. Da lachte Lugh Akhtar laut und hell auf. »Ich hatte letzte Nacht noch einen Traum. Auch diesmal war wieder der Winter zugegen. Er sprach mit mir. Ich weiß nicht mehr, worüber genau, aber er bat mich darum, dass ich zu ihm kommen soll. Ich weiß nicht, wieso, aber ich habe vor zu gehen«, antwortete er. Nikolai runzelte die Stirn, und auch alle anderen wirkten seltsam irritiert. Doch bat der alte Meister seinen ehemaligen Schüler bloß leise darum, nach der Versammlung noch einmal zu ihm zu kommen. Doch Lugh Akhtar lächelte nur viel sagend und erklärte leise: »Ich habe Beweise.« Damit ging er wieder auf seinen Platz zurück, ohne auf die Fragen zu antworten oder irgendwen eines Blickes zu würdigen. Der Rest der Versammlung verlief in einer solch nervösen Unruhe, dass man sich schnell darauf einigte, sie auf den nächsten Tag zu verlegen. So verließen die hohen Herren einer nach dem anderen den Saal und nur Nikolai, Tariq, Nea und Lugh Akhtar blieben zurück. Es schien so, als wollte Nikolai auch Nea und Tariq hinaus schicken, doch bevor er auch nur eine Silbe sprechen konnte, hatte Lugh Akhtar schon sacht den Kopf geschüttelt. »Es gibt kein Geheimnis, das zu teilen ich nicht mit ihnen bereit wäre, also kannst du frei sprechen«, meinte er und Nikolai nickte Schicksalsergeben. »Gut, dann spreche ich offen… Makani, glaubst du wirklich, dass es wahr ist, was du erzählst? Ich meine… der Winter soll denken?« »Ja. Der Winter ist zu mir gekommen in der Gestalt einer weißen Wölfin, in deren Augen sich die ganze Welt spiegelt. Ich weiß nicht, wieso sie nicht mehr jedes Jahr zu uns kommt, aber ich weiß, dass ich es herausfinden kann, wenn sie es nur zulässt, dass ich sie finden mag. Und wenn sie sich nicht von mir finden lässt, von wem denn dann?« »Aber es waren Träume, Lugh Akhtar!«, warf Nea ein und auch Tariq schien nicht überzeugt. Sie beide standen auf Nikolais Seite. Da lachte der junge Mann abermals laut auf. »Nein Nea, das waren sie nicht. Das sind sie nie. In keinem Traum der Welt würde uns der Winter gegenübertreten, in keinem Traum kannst du ihr begegnen. Es war die Wirklichkeit, doch erscheint es einem wie ein Traum, weil ich mir niemals anmaßen würde, dass der Winter wirklich zu mir kommt.« Darauf schwiegen die anderen, nur Tariq erhob seine Stimme. »Nimm es mir nicht übel, mein Freund, aber ich mag an deinem Verstand zweifeln. Ich glaube, dass ich in deiner Gegenwart mehr phantastische Dinge sah, als jemals ein Mensch zuvor, doch dies hier scheint mir doch gar zu unglaublich…« Doch wieder lächelte Lugh Akhtar nur sanft und gar nicht böse. Es schien, als könnte ihn kein Wort der Welt erschüttern. »Makani… du wirkst dir deiner Sache so sicher. Wieso? Woher nimmst du diesen unbeirrbaren Glauben?«, wollte Nikolai wissen. Da zog Lugh Akhtar ein goldenes Halsband hervor. In den metallenen Plättchen waren sanft leuchtende blaue Steine eingelassen und in der Mitte baumelte jener blaue Stein, den Tariq ihm gab. »Weil ich Beweise habe.« »Was ist das?«, fragte Nikolai erstaunt. »Ein Geschenk des Winters. Der Stein ist kalt, als wäre er aus Eis, aber er ist es nicht. Er ist härter, als alles, was ich jemals in Händen hielt«, lächelte der Zauberer. »Hast du es mit Magie versucht?« Nikolai streckte die Hand nach dem Halsband aus, doch Lugh Akhtar verbarg es mit der anderen Hand. »Es besteht aus reiner Magie. Aber es ist ein anderer Zauber, als jener, dem wir uns sonst bedienen, deswegen weiß ich noch nicht, wie ich ihn kontrollieren kann, und auch nicht, wie er auf andere Zauberer reagiert. Es könnte dich töten, mich hätte es fast getötet, als ich es das erste Mal berührt habe. Diese Magie denkt bewusst, man kann sie nicht einfach so beeinflussen. Sie hat mich als den erkannt, zu dem sie gehen sollte, deswegen tat sie mir nichts. Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass es mit dir ebenso ist«, lächelte er überlegen. »Dann will ich es auch nicht versuchen, ich vertraue auf dein Urteil. Aber wieso nur glaubst du, dass es vom Winter an dich gegeben wurde?« »Weil sie es mir gesagt hat. Dieser Stein wird mir helfen, sie zu finden. Deswegen werde ich gehen.« Er drehte sich zu seinen Freunden um. »Werdet ihr mich begleiten?« Erstaunt betrachteten Nea und Tariq den Stein. Für sie Beide erschien es so unglaublich, was sie gehört hatten, doch ließ Lugh Akhtars fester Glaube auch sie daran glauben, dass es Wahrheit war. »Ich werde mit dir ziehen, mein Freund«, sagte Tariq schlussendlich. »Nea…?« Er schaute die junge Frau fragend an. »Ich, ich… weiß… nicht…« Unsicher blickte sie zu Boden. Dann sprach sie weiter und hörte sich dabei ein wenig schnippisch an. »Ich meine... natürlich, du brauchst mich, aber…« Da blinzelte Lugh Akhtar erstaunt. Nikolai und Tariq warfen ihnen verwirrte Blicke zu, doch keiner der Beiden machte Anstalt, irgendetwas zu erklären, stattdessen lachte der junge Zauberer leise. »Och nein, Nea… das meinst du jetzt nicht ernst, oder?«, fragte er belustigt. »Was genau soll ich nicht ernst meinen?«, fauchte sie leise. Der junge Zauberer schüttelte sachte den Kopf, lächelte aber unbeirrt weiter. »Lass uns das nachher klären, Nea. Dann bist du gewiss nicht mehr sauer«, lachte er leise und verließ ohne weiteres den Saal. »Was war denn?«, fragte Tariq sogleich neugierig, doch sie warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu und ging dann ebenfalls ihrer Wege. »Nun, Prinz Fjodor, dann solltet Ihr Euch auf Eure Reise vorbereiten. Ich weiß nicht, was Makani genau vor hat, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht unbedingt angenehm sein wird, für Euch«, stellte Nikolai fest. Tariq nickte seufzend und folgte seinen Freunden. Zu guter Letzt verließ auch der alte Zauberer den Saal. Er schloss die Türen hinter sich und seufzte. Wie sollte das nur am nächsten Morgen weiter gehen…? Kapitel 5: Wohin der Weg führen wird ------------------------------------ Ein strahlend blauer, unendlich wirkender Himmel zog sich über die glitzernden, schneebedeckten Weiten vor Lugh Akhtar, Nea und Tariq. Sie waren schon seit einiger Zeit unterwegs, Lugh Akhtar so froh und gut gelaunt, wie sie ihn selten erlebt hatten, Nea und Tariq eher misstrauisch. Sie wussten nicht, wohin dieser Weg sie führen würde und egal wie oft sie den jungen Zauberer fragten, eine klare Antwort erhielten sie nicht von ihm. Stattdessen lachte er zumeist oder antwortete: »Zum Winter. Oder dorthin, wohin sie uns haben will.« Den Stein trug er nun an dem goldenen Halsband befestigt um den Hals, so dass es schien, als würden die Edelsteine und seine Augen um die Wette leuchten. Nea hatte dies mit deutlichem Missfallen registriert, denn nach ihrer Aussprache suchte sie seine Nähe mehr als je zuvor. Der Stein jedoch verhinderte jeden Kontakt, denn sie hütete sich davor, ihn zu berühren. Jedoch wurde den Beiden sehr schnell klar, dass Lugh Akhtar sich eines Zaubers bediente, denn am selben Abend noch hatten sie das Einflussgebiet der Stadt der Zauberer hinter sich gelassen. Es wunderte die Beiden jedoch herzlich wenig, dass der junge Zauberer die Stadt schnell hinter sich lassen wollte. »Magst du uns nicht langsam aufklären, wohin es geht? Oder weißt du es selbst nicht so genau?«, fragte Nea, als sie am Abend beisammen um ein Lagerfeuer herum saßen. »Wir gehen zu keinem bestimmten Ort, Nea. Er hat keinen Namen, oder zumindest kennen wir ihn nicht. Wir laufen einfach und irgendwann sind wir dann da«, erklärte er und spielte gedankenverloren mit dem Stein. »Du weißt es also wirklich nicht«, stellte Tariq nüchtern fest und seufzte. »Doch, aber wenn ich es euch jetzt schon verrate, werdet ihr nicht mehr mit mir kommen wollen.« Er lächelte traurig. »Lass es doch auf einen Versuch ankommen«, schlug der junge Prinz vor und Lugh Akhtar dachte wirklich einen Moment darüber nach. »Okay. Ich verrate es euch, auch wenn ich weiß, dass ich dann alleine gehen muss. Wobei… früher oder später würdet ihr sowieso gehen, denn irgendwann wüsstet ihr eh, wohin es geht. Wir werden über die Mauer gehen.« Tariq runzelte darauf nur verwundert und fragend die Stirn, doch Nea starrte ihn erst ungläubig an, dann lachte sie laut auf. »Ein guter Scherz«, meinte sie geringschätzig. »Das ist kein Scherz, Nea, das meine ich ernst.« Er lächelte milde. »Lugh Akhtar, das kannst du nicht ernst meinen! Ich meine… die Mauer!«, rief sie aus und sprang auf. »Was meinst du? Was ist die Mauer?«, fragte Tariq und schaute fragend von Nea zu Lugh Akhtar und wieder zurück. »Sie bildet das Ende der uns bekannten Welt«, lächelte Lugh Akhtar und stand auf. »Es gibt Geschichten über sie, aber keine Tatsachen. Niemand ist jemals zurückgekommen, der sie überquert hat, um davon erzählen zu können.« »Und weil keiner weiß, was dahinter liegt, fürchten es alle? Nur deswegen? Wer hat dort überhaupt eine Mauer gebaut, und warum reißt ihr sie nicht einfach nieder? Ich meine, für Zauberer ist das doch kein Problem, und für dich schon gar nicht. Immerhin hast du Altena im Alleingang zerlegt«, stellte Tariq fest. »Der Mauer kann man durch Magie keinen Schaden zufügen, je näher man ihr kommt, desto weniger Magie liegt in der Luft. Und ohne Magie können wir auch keinen Zauber wirken lassen. Zauberer halten sich fern von der Mauer. Warum sie gebaut wurde oder wer es getan hat, und warum dort keine Magie wirkt, weiß ebenso wenig wer, wie es über die Mauer und wieder zurück geschafft haben: Also keiner«, erzählte Lugh Akhtar. »Aber darum geht es gar nicht. Es gibt überall in der bekannten Welt Orte ohne Magie. Die Mauer aber ist tausende Meter lang, es ist egal, welcher Seite man folgt. Sie endet nie. Man kommt hinauf, aber es gibt keinen Weg auf die andere Seite. Zauberer, die Unverzeihliches getan haben, werden auf die andere Seite in die Verbannung geschickt, von dort aus können sie nicht fliehen. Lugh Akhtar, wir können dort nicht hin.« Nea schien verzweifelt. »Nein, du musst dort nicht hin, ich schon. Nea, sie erwartet mich dort. Ich weiß nicht, wieso, aber sie will, dass ich dorthin komme.« Er seufzte. »Ich wusste, dass du so reagierst, deswegen wollte ich es dir nicht sagen.« »Ich will da aber auch nicht hin«, meldete sich Tariq. Lugh Akhtar schwieg einen Moment, dann seufzte er und fragte leise: »Wollt ihr mich zumindest bis zur Mauer begleiten?« »Ja.« Nea nickte, wirkte aber nicht begeistert. Tariq zögerte einen Moment, nickte dann aber auch. »Danke.« »Hast du… keine Angst, dass du nicht mehr zurückkommen kannst? Oder dass du einem der Verbannten begegnest?«, fragte Tariq nach einer Weile leise. »Wenn ich nicht mehr zurück kann, dann bleibe ich dort. In dieser Welt will man mich sowieso nicht haben. Und eigentlich ist es nur Nikolai zu verdanken, dass ich überhaupt noch hier bin. Weil es seine Schuld war. Und weil er viele gute Worte für mich eingelegt hat. Sonst würde ich dazu gehören, Tariq«, antwortete der junge Zauberer. »Wieso?«, fragte der erschrocken. »Weil er Altena zerstört hat. Er hat seine Macht missbraucht auf eine schändliche Art und Weise, darauf steht eigentlich Verbannung. Dass er noch hier ist, liegt alleine daran, dass Nikolai die Schuld komplett auf sich genommen hat, und dass dabei kein Mensch umgekommen ist. Es gab keinen Toten, sonst hätte auch Nikolai ihm nicht mehr helfen können«, erklärte Nea. »Also bist du schon ein wenig ein Verbannter. Du gehst bloß dorthin, wo du sowieso sein solltest, ja?« »Irgendwie schon, ja. Das ist auch ein Grund, warum ich so weit im Norden lebe. Es hat den angenehmen Nebeneffekt, dass sie mich dort nicht ständig im Blick haben. Wenn ich dort einen Fehler mache, merkt es kaum einer. Würde ich in Altena leben bräuchte es bloß einer falschen Geste, damit der Rat meine Verbannung durchsetzen würde. Bei der Versammlung habe ich mich auf so dünnem Eis bewegt, dass es wohl nicht nur mich erstaunt, dass es gehalten hat. Es war ein so schmaler Grad, zwischen Freiheit und Verderben, dass ich mich eigentlich selbst hätte spalten müssen, als ich darauf balancierte. Ich verstehe es nicht, aber ich bin heil wieder herausgekommen. Nur um nun als freier Mann dorthin zu gehen, wohin ich sonst hätte als Gefangener gehen müssen.« Eine ganze Weile beobachtete Tariq den jungen Zauberer, dann schüttelte er ungläubig den Kopf und lachte bitter. »Ich werde mit dir gehen, und sei es bis zum Ende der Welt, Lugh Akhtar«, erklärte er dann. »Vielen Dank, Tariq. Aber… wieso?« Darauf schwieg der junge Mann und blickte dumpf brütend in die Flammen des Lagerfeuers. Auch Lugh Akhtar schwieg. Er verstand den Prinzen auch ohne Worte, er wusste, was er fühlte. Dazu musste Tariq nichts erklären. Nea indes stand unruhig auf. »Ich begleite dich zur Mauer, aber ich… ich habe Angst, Lugh Akhtar. Im Gegensatz zu dir fürchte ich das Unbekannte, das Nichts.« »Ich auch, aber… meine Furcht hat keine Macht über mich, Nea. Ich bin nur meinem Herzen verpflichtet, nicht meiner Angst. Also folge ich meinem Herzen, wohin es mich auch immer führen mag.« Er lächelte sanft. »Aber es ist doch nicht dein Herz, das dich führt, es ist der Winter«, stellte sie bitter und nüchtern fest. »Nein, das stimmt nicht. Es ist mein Herz, denn mein Herz will, dass ich dorthin gehe. Was auch immer mich dort erwarten mag.« »Dann hoffen wir, dass dein Herz dir nicht den falschen Weg weist. Und dass meines gut daran tut, deinem folgen zu wollen«, stellte Tariq trocken fest. Kapitel 6: Die Mauer -------------------- »Das ist… ich…«, stammelte Tariq ungläubig. »Das ist sie«, wiederholte Lugh Akhtar noch einmal lächelnd. »Wollen… wollen wir dort wirklich hinüber?«, fragte Nea leise und blickte ängstlich in die Ferne, wo die Mauer trotz der dunstigen Luft zu sehen war. »Ja. Aber du kannst umkehren, wenn du magst. Ich wäre dir nicht böse.« Er wandte sich zu Tariq um. »Das gleiche gilt für dich.« »Ich weiß, aber…« In den Augen des Prinzen blitzte es auf. Erst hielt der junge Zauberer es für Furcht, nahe an der Grenze zur Panik, dann erkannte er, dass es pure Abenteuerlust war. Tariq freute sich auf das Unbekannte, selbst, wenn es ihm den Tod bringen mochte. Nea dagegen drängte sich Schutzsuchend an ihn. Sie hatte Angst und das, was Tariq fehlte, das war wohl zu ihr geflüchtet. »Gehen wir das letzte Stück«, sprach Lugh Akhtar leise und ging los, die beiden Anderen folgten ihm und schlossen schnell wieder zu ihm auf. Nur das Ziel vor Augen schritt Tariq sowieso weiter und beschwingt aus, Nea eher vorsichtig und ängstlich, und der Zauberer zwar vorsichtig, aber doch bestimmt. Sie hingen ihren eigenen Gedanken nach und versuchten, auf die höchsteigene Art und Weise mit der Situation umzugehen, denn so teilnahmslos, wie es gerade der junge Zauberer vorgab, waren sie alle nicht. Sie waren schon ein ganzes Stück gelaufen und hatten nun schlussendlich das letzte Stück Wald hinter sich gelassen, als Tariq sich wieder zu Wort meldete. »Ich denke, ich weiß wieso niemand zurückgekehrt ist.« Er versuchte mit gerunzelter Stirn die Höhe der Mauer zu schätzen, musste jedoch schnell einsehen, dass er es nicht konnte. Oder zumindest kamen ihn seine Schätzungen so absurd vor, dass er sie gleich verwarf. »Und wieso?«, fragte Lugh Akhtar neugierig. »Naja, wenn man bloß von dieser Seite aus hinauf kommt, und Magie hier nicht wirkt, dann gibt es ja auch bloß einen einzigen Weg, auf der anderen Seite wieder hinab. Und ein Zauberer, der nicht zaubern kann, ist ja auch bloß ein einfacher Mensch. Und ein Mensch überlebt es nicht, wenn man ihn aus so einer Höhe hinunter wirft«, stellte der junge Prinz trocken fest. Darauf mussten Lugh Akhtar und Nea so lachen, dass sie für einen Moment stehen bleiben mussten. Tariq gefiel es gar nicht, ausgelacht zu werden und so verzog er die Lippen zu einem Schmollen. »Tut mir leid, aber alleine diese Idee…«, kicherte der Zauberer. »Wieso? Wie bekommt man sie sonst auf die andere Seite?«, fragte der Prinz erstaunt. »Es gibt ein Seil, das ist lang genug, es reicht auf der anderen Seite bis zum Boden hinab«, erklärte Lugh Akhtar nachsichtig. »Mal ganz davon abgesehen, dass es nirgendwo ein so langes Seil geben wird, könntet ihr es niemals wieder hinaufziehen. Und wenn man es unten ließe würden die Verbannten einfach wieder hinaufklettern und fliehen können.« Tariq war alles andere als überzeugt und blickte skeptisch. »Recht hast du, aber es ist kein gewöhnliches Band. Es ist aus Wind geflochten, deswegen wiegt es kaum etwas, trotz der Länge«, erklärte Nea. »Aus Wind geflochten?« Nun lachte Tariq laut auf. »Mir scheint, ihr nehmt mich alle Beide auf den Arm. So etwas könntet nicht einmal ihr Beiden. Außerdem würde es nicht geflochten bleiben, denn die Magie, die es dazu bräuchte, würde hier verfliegen wie nichts, wie Staub im Wind. Das habt ihr selbst gesagt.« »Das weiß ich wohl, aber… versuche die Wunder dieser Welt nicht zu verstehen, Tariq. Es wird dir nicht gelingen. Es gelingt nicht einmal mir, und ich bin ein Zauberer«, antwortete Lugh Akhtar augenzwinkernd. »Und kaum einer kennt sich besser mit Wundern aus, als Zauberer«, lächelte Nea. »Das glaub ich dir gerne. Sag, weiß einer von euch, wie hoch sie ist?« »Nein.« Lugh Akhtar blickte dorthin, wo der Himmel auf die Mauer traf. Sie konnten ihren Fuß nicht sehen, denn er lag hinter Bäumen verborgen, doch auch auf diese Entfernung hin wirkte sie enorm. Und unendlich düster. Es war, als hätte der Erbauer gewusst, wozu das Gebiet, was sie einschloss, einst dienen würde, denn sie war komplett aus schwarzem Stein erbaut. Sie schien das Tageslicht zu schlucken, strahlte Kälte und Macht aus. Nicht zum ersten Mal fragte sich der Zauberer, wozu sie eigentlich errichtet wurde. Sollte sie ein mächtiges Zauberwesen dort drinnen halten, oder waren vielmehr sie selbst es, die draußen gehalten wurden, vor denen etwas geschützt wurde? »Es gibt eine Menge Geschichten über sie. Mich wundert ein wenig, dass du bisher nichts von ihr gehört hast, Tariq«, meinte Nea unvermittelt. »Es ist gut möglich, dass mir einige dieser Geschichten bekannt sind, aber ich denke nicht, dass ich sie dann mit diesem Bauwerk in Verbindung gebracht hätte. Ich… hätte es niemals für real gehalten«, antwortete er leise. »Ich glaube…« Lugh Akhtar blieb stehen. »Ja?«, fragte Nea. »Ich… nein, vergiss es. Es ist nicht wichtig.« Er ging wieder weiter. Nea und Tariq warfen sich verwunderte Blicke zu und folgten dann. Sie liefen noch den ganzen Tag, nicht zuletzt, weil langsam aber sicher auch Tariq das Fehlen der Magie bemerkte. Dieses so ungewöhnliche Gefühl, das mit jedem Schritt stärker wurde, ließ sie langsamer laufen, doch irgendwann kamen sie dann doch an. Die Sonne war dem fernen Horizont schon sehr, sehr nahe gekommen, als sie letztendlich vor der Mauer standen und hinauf blickten. Von hier aus konnten sie die Spitze nicht mehr sehen, sie lag zu weit oben. »Wo kommen wir hinauf? Und wie lange müssen wir dann laufen?«, fragte Tariq leise. »Ich weiß es nicht, ich bin noch nie hier gewesen. Ich war… damals nicht dabei…«, sprach Nea leise, mehr zu sich selbst, als zu den beiden jungen Männern. Doch der junge Prinz horchte dennoch auf. »Was meinst du?«, fragte er, doch Nea antwortete ihm nicht. »Der Feuerfuchs ist dein Bruder gewesen, nicht wahr?« Lugh Akhtar schaute immer noch in den Himmel hinauf. »Du… hast davon gehört?« Nea wich aus und schaute ihn scheu von der Seite her an. »Ich war bei seiner Anhörung dabei. Jetzt weiß ich auch wieder, wo ich deine Augen schon einmal gesehen hatte. Ich wusste gleich, dass ich sie kenne.« »Welche Anhörung, und welcher Feuerfuchs?«, wollte Tariq wissen, doch er erhielt keine zufrieden stellende Antwort. »Frag nicht danach, Tariq. Es gibt Dinge, die willst du nicht wissen.« Der Zauberer schaute den jungen Prinzen lange an, doch der gab keine Antwort mehr. Stattdessen schwieg er einige Zeit, bevor er drei Schritte zurück tat und dann hinauf und zu beider Seiten schaute. »Keine Rampe, keine Treppe oder Leiter. Und wenn ich mir die Mauer selbst so ansehe, wird man auch nicht an ihr hinaufklettern können.« Der junge Zauberer nickte, trat an den schwarzen Stein und legte sacht und zögernd eine Hand darauf. Sie war glatt wie ein Spiegel und durch die tief stehende Sonne, reflektierte sie auch sein Spiegelbild. Eine Weile betrachtete er sich selbst in dem schwarzen Stein und war dabei mit seinen Gedanken weit fort. Wie in Trance hob er die andere Hand an den Anhänger und berührte ihn, nur um sie gleich wieder fortzureißen, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. »Was ist?«, fragte Tariq sogleich alarmiert, der die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. »Der Stein verliert seine Magie nicht…«, sprach Lugh Akhtar leise und löste das Halsband. »Das kann nicht sein. Hier verliert jedes magische Objekt seine Zauberkraft.« Nea runzelte ungläubig die Stirn, doch der junge Zauberer hielt ihr das Halsband so nahe an die Hand, wie es irgend ging, ohne dass sie ihn berührte. »Du hast recht…«, flüsterte sie. »Aber warum?«, fragte Tariq und kam auch ganz nahe heran. Auch er spürte ein wenig, dass da etwas war, auch wenn er von selbst nicht hätte sagen können, was es war. »Ich… denke, dass es diese Andersartigkeit dieser Magie ist, die sie hier verweilen lässt. Der Zauber des Winters vielleicht. Die Mauer hält wohl nur jene Magie fern, die wir zu unseren Gunsten manipulieren, nicht aber diese hier«, überlegte Lugh Akhtar. »Das könnte sein. Was unterscheidet aber diese beiden Arten von Magie?«, fragte Nea. »Das weiß ich nicht. Vielleicht alles, vielleicht gar nichts. Ich möchte nur wissen, wieso der Winter ihn mir überlassen hat. Was soll ich mit dem Stein tun?« Der junge Zauberer schloss die Hand um ihn. »Könnte es sein… dass der Winter ein wenig Rätselraten mit uns spielen mag? Vielleicht langweilt er sich ja«, war dagegen Tariqs Überlegung. »Ausschließen können wir es wohl nicht, aber ich denke, dass sie andere Beweggründe hat. Der Weg die Mauer hinauf liegt rechts von uns. Wollen wir heute noch dorthin laufen, oder bleiben wir hier?« Der Zauberer schaute nachdenklich in die angewiesene Richtung und dann zu seinen Gefährten. »Lass uns dort unser Lager aufschlagen und Morgen den Weg hinauf nehmen«, fand die Zauberin und der Prinz nickte zustimmend. Also gingen sie langsam weiter, die Abendsonne im Rücken, ihre langen Schatten vor sich im Schnee. »Woher weißt du, wo der Aufgang liegt?«, sprach mit einem mal Tariq ganz unvermittelt und schaute Lugh Akhtar an, doch der antwortete nicht. »Warst du… auch bei seiner Verbannung dabei?«, fragte dagegen Nea leise, doch auch hier antwortete er erst einmal nicht. Erst, als keiner von beiden noch mit einer Antwort gerechnet hatte, bekamen sie eine. »Es gibt Dinge über mich, die ihr nicht wisst, genauso wie es Dinge gibt, die ich über euch nicht weiß. Weil wir nicht darüber sprechen wollen. Auch wenn ich vor jedem Fremden das Gegenteil behaupten würde, so ist es doch eine Tatsache, dass wir Geheimnisse haben, die nur uns gehören. Belassen wir es dabei, ich denke, dass es besser so ist«, erklärte er langsam und nachdenklich. »Ich habe keine Geheimnisse vor dir«, widersprach der junge Prinz jedoch sogleich, bekam aber ein sachtes Kopfschütteln zur Antwort. »Meinst du das wirklich?« »Natürlich.« Da lachte der junge Zauberer wieder und schüttelte noch einmal entschiedener den Kopf. »Jeder hat Geheimnisse, Tariq.« »Ich nicht. Und Nea auch nicht.« Bockig zog er die Stirn kraus. »Ach nein? Deswegen weißt du auch, wer der Feuerfuchs ist, ja?«, fragte Lugh Akhtar sarkastisch. »Oder warum ich weiß, wie wir dort hinauf kommen.« Er deutete auf die Mauer und schaute hinauf. Der Prinz runzelte unwillig die Stirn. »Ja, okay, du hast recht«, brummte er und dachte dabei an sein Geheimnis, das er nicht Preis zu geben bereit war, und von dem die beiden Zauberer vielleicht nicht einmal wussten, dass es existierte. Doch er hatte auch nicht vor, es ihnen zu sagen. »Dort vorne ist es schon, seht«, meinte Lugh Akhtar unvermittelt und deutete nach Osten. Und sie sahen es. Nea folgte der Treppe mit ihrem Blick und seufzte dann. »Das wird ein weiter Weg Morgen«, stellte sie entmutigt fest. »Der Weg dahinter wird noch weiter, befürchte ich«, antwortete ihr der junge Zauberer und er sollte recht behalten. Kapitel 7: Angst, Entschlossenheit und Zögern --------------------------------------------- Unendlich. So wirkte das Land, das sich bis zum Horizont vor Lugh Akhtar, Nea und Tariq erstreckte. Weit über den Erdboden mit einem niedrigen Himmel und nichts als einer ewigen Grasebene zwischen dem Hier und dem Dort, wirkte es, als würde es kein Ende geben. Die Wolken wirkten so nahe, als müsse man nur die Hand ausstrecken, um die zu berühren. Seit einer schieren Ewigkeit standen sie schon so da, und schauten einfach. Der Aufstieg hatte den ganzen Tag gedauert, doch alleine für diese phantastische Aussicht hatte es sich für die Drei mehr als nur gelohnt. »Wieso ist dort kein Schnee?« Tariq war der erste, der sich wieder regte. Er schaute fragend zu den beiden Zauberern, doch schien es, als hätten sie ihn nicht gehört. Er runzelte verwundert die Stirn, da fielen ihm die Sehnsucht und die Hoffnung in den Augen der beiden auf. Doch er wusste nicht, wonach sie sich sehnten und nicht, welche Hoffnung es war. »Lugh Akhtar, Nea. Hört ihr mir zu?«, fragte er laut. »Ich denke, die Mauer schützt das Gebiet vor dem Schnee«, antwortete Nea abwesend. »Nein, immerhin trägt der Nordwind den Schnee mit sich. Er kommt von hier.« Er schaute sie stirnrunzelnd an. »Dann weiß ich es nicht.« Sie seufzte und wandte den Blick ab, schaute zu dem Prinzen und zu Lugh Akhtar. »Wollen wir weiter?« »Wir müssen dieses Seil suchen, von dem ihr gesprochen habt. Meint ihr wirklich, dass es existiert?« Der Zweifel in der Stimme des jungen Mannes war überdeutlich. »Wir brauchen es nicht«, antwortete Lugh Akhtar unvermittelt und drehte sich um. »Wieso?«, wollte Nea mit gerunzelter Stirn wissen. »Ich bin ein Zauberer. Also, werde ich zaubern«, lächelte er. »Lugh Akhtar.« Die Zauberin seufzte. »Hier gibt es keine Magie, hier kannst du nicht zaubern.« »Weiß ich wohl, aber…« Er schaute wieder auf die weite Ebene. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Es würde zu lange dauern, wer weiß, wo die Verantwortlichen es versteckt haben. Vertraut mir.« »Das kommt ganz darauf an, was du nun tun willst«, antwortete Tariq misstrauisch. Da lächelte er, machte einen Schritt zurück, und ließ sich einfach fallen. Er hörte ihre entsetzten Schreie und sah, wie sie sich so weit über den Rand beugten, wie irgend möglich, ohne selbst zu fallen. Er sah die Panik und die Fassungslosigkeit in ihren Augen, doch er lächelte immer noch. Er fiel zwar, doch er spürte wie sich etwas um ihn herum verdichtete und ihn langsamer werden ließ. »Danke«, flüsterte er und umschloss mit der Hand den Stein, der zu glühen begonnen hatte. Er drehte sich und breitete die Arme aus. Der Weg nach unten war weit, und da er nicht mit voller Geschwindigkeit fiel, dauerte es eine Weile, bis er angelangt war, doch dieses Gefühl vom Fliegen ließ ihn die Zeit vollkommen vergessen. Er landete sacht im weichen Gras. Als er an der Mauer hinaufblickte sah er, dass Nea und Tariq zu ihm wirklich Vertrauen hatten, und auch schon fast unten angelangt waren. Er wandte sich von der Mauer ab und lief ein Stück über die Ebene, um ein Gefühl für das neue Land zu bekommen. »Wohin… gehen wir jetzt?« Die Stimme der jungen Zauberin zitterte und als er zu ihr zurück blickte, merkte er, dass sie noch immer eine riesige Angst hatte. Sie war ihm wohl nicht freiwillig gefolgt. Und auch Tariq machte einen sehr verschreckten Eindruck. »Lasst uns erst einmal hier bleiben, damit ihr euch erholen könnt. Ihr seht aus, als wärt ihr eben einem Toten begegnet«, bemerkte Lugh Akhtar und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Haha«, machte Tariq böse und ließ sich auf den Hosenboden fallen. Auch Nea ließ sich zu Boden sinken. »Wir müssen uns trotzdem überlegen, was wir nun tun. Und wie wir wieder zurück kommen können. Warum hast du nicht gewartet, bis wir zumindest das überlegt hatten?«, meinte sie vorwurfsvoll. »Weil es keinen Sinn macht, sich darüber jetzt schon Gedanken zu machen, Nea. Wir werden es wissen, wenn es an der Zeit dafür ist. Jetzt aber werden wir einfach nach Norden gehen und schauen, was wir finden«, antwortete er. »Du hast absolut keine Ahnung, was du hier eigentlich willst und lässt deswegen alles einfach auf dich zukommen, ja?«, fasste Tariq zusammen. »Genau so ist es.« Lugh Akhtar lächelte. »Das hab ich befürchtetet.« Der Prinz seufzte tief. Eine Weile blieben sie noch dort, dann jedoch machten sie sich auf den Weg nach Norden. Die Ebene zu durchqueren hätte eigentlich Tage in Anspruch nehmen müssen, doch der junge Zauberer wusste nun, wie er die Magie aus dem Stein in entsprechende Bahnen bringen konnte, sodass sie kaum länger brauchten, als den Rest des Tages. Die Magie, die sie sonst kannten, kam nicht wieder, deswegen war er auf den Stein angewiesen. Es war schon dunkel und das Nordlicht glitzerte am Himmel, als sie sich in einer kleinen Waldschonung niederließen. Hier waren sie geschützt vor dem Wind und vor dem Schnee, der ganz unverhofft über sie hereingebrochen war. Es hatte zwar bloß ein paar Stunden geschneit, doch die weiße Decke war dick und dicht und federte ihre Schritte ab. »Meint ihr, hier sind wir sicher?«, fragte Nea leise. Das waren die ersten Worte, die einer von ihnen seit ihrem Aufbruch sprach. »Als Menschen sind wir hier nirgendwo sicher…« Lugh Akhtar biss sich auf die Unterlippe. Man sah ihm an, dass ihn etwas beschäftigte. »Was ist?«, fragte Tariq deswegen auch gerade heraus. »Wir… je weiter wir nach Norden kommen, desto kälter wird es werden. Als Menschen können wir hier nicht überleben«, erklärte er unglücklich. »Und was sollen wir dagegen tun?« »Das weiß ich ja nicht. Mir fällt nichts ein.« Er strich nachdenklich über die Erde. »Verwandle uns in Tiere«, meinte Nea fest. »Was?« Die beiden jungen Männer schauten sie verwundert an. »Tiere leben hier, ich habe Vögel gesehen. Als Tiere haben wir weniger Probleme. Oder zumindest sind sie anderer Natur. Um das hier halbwegs unbeschadet zu überstehen, nehme ich auch die vielfarbigen Augen gerne in Kauf«, erklärte sie und wirkte dabei seltsam entschlossen. Für einige Momente schien es, als wollte er darauf etwas antworten, doch dann zog sich Lugh Akhtar wieder in sich selbst zurück, wie eine Schildkröte in ihren Panzer. »Sie hat recht. Mit Flügeln wären wir sehr viel schneller und ein dichter Pelz würde uns vor Wind und Kälte schützen«, stimmte ihr Tariq zu und schaute den Zauberer eindringlich an. »Das weiß ich wohl, aber das ist nicht so einfach…«, widersprach er, doch Nea unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ein Leben als Verwandelt gekennzeichnet ist einem Tod in dieser Eiswüste eindeutig vorzuziehen. Welche Bedenken kann man da noch haben?«, wollte sie schroff wissen. »Nea, wir haben hier keine Macht. Weder du noch ich. Ich weiß nicht, ob ich die Steinmagie davon überzeugen kann, unsere Gestalt zu verändern. Und selbst wenn, Vögel sind für mich ganz und gar ausgeschlossen, du kennst die Verwandlungsgesetze. Zudem habe ich als Tier keine Macht mehr, weder hier, noch drüben. Dein Zauber war vonnöten, mir meine Gestalt wieder zu geben, schon vergessen?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Um unser Aussehen mache ich mir als letztes Sorgen.« Darauf schwiegen die Beiden, jedoch nicht für lange. »Versuch es trotzdem«, bat Tariq. »Lieber bleibe ich als Tier hier, denn als Mensch dort.« Er deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lugh Akhtar schaute ihn lange an. Er brauchte nicht lange suchen, ein Blick in die braunen Augen des Prinzen reichte schon, um die Entschlossenheit und den Ernst zu entdecken, und damit auch das Wissen, dass Tariq zu dem stand, was er sagte. Doch er brauchte eine Zeit, um sich gewiss zu sein, dass der Prinz seine Meinung auch nicht wieder ändern würde. »Nea, wie denkst du darüber?« Er wandte sich zu der Zauberin um. »Ich habe Angst. Ich glaube, ich hatte niemals zuvor vor irgendetwas so große Furcht, wie vor diesem Land und dem, was es für Schrecken bergen mag. Aber nun bin ich hier. Und ich habe mich dazu entschlossen, meine Angst nicht übermächtig werden zu lassen, sondern lebend, und erfolgreich in Altena ein zu marschieren, um diesen Ignoranten zu zeigen, wie dumm es war, sich über dich lustig zu machen.« Entschlossen und ernst suchte sie seinen Blick und hielt ihn fest. Lugh Akhtar war tief beeindruckt. So etwas hätte er von Nea nicht erwartet. Sie gab so schnell auf und fand sich mit dem Unvermeidlichen so schnell ab. Doch dies Mal trat sie fest und ohne einen Zweifel zu lassen auf. »Also soll ich es versuchen?«, fragte er leise. »Ja. Ein Leben ist in jeder Form kostbar, also soll es mich nicht grämen, es als Tier zu verbringen. Solange ihr an meiner Seite seid, übersteh ich jede Gefahr.« »Gut. Aber ich verspreche nichts. Es kann sein, dass es einfach nicht genügend Magie ist, dass sie nicht stark genug ist, obwohl sie so mächtig ist. Vielleicht kann ich sie auch einfach nicht überzeugen. Es kann funktionieren, oder nicht«, antwortete er. Er schloss die Augen und konzentrierte sich schon, da meldete sich Tariq zu Wort. »Warum legt ihr eure Kräfte nicht zusammen und nutzt mich wieder als Stärkung? So wie damals, als wir Lugh Akhtar wieder zum Menschen machten. Ich meine, es unterscheidet sich nicht allzusehr und wir sind alle da. Der Kraftgeber, der Verstärker und der Lenker«, warf er ein. »Weil diese Art der Magie eine andere ist. Ich kann sie nicht manipulieren oder gar kontrollieren. Ich bin rein auf ihr Wohlwollen angewiesen. Es könnte euch töten, weil sie euch nicht leiden mag. Ich möchte dieses Risiko nicht eingehen.« Er wusste noch zu genau, wie nahe er dem Tod war, als er den Stein berührte. Ein falscher Gedanke hätte gereicht, und er wäre ins Totenreich eingekehrt. »Ich bin dazu bereit. Wenn es uns Erfolg bringt, werden wir leben, wenn du es alleine nicht schaffst, dann ist es sowieso einerlei, dann sind wir dem Tod versprochen.« Nea rutschte vor Lugh Akhtar, der sie erstaunt anblickte. »Lass es uns gemeinsam versuchen.« Der Zauberer jedoch zögerte. Sie hatte recht, mit allem, was sie sagte, doch diese Skrupellosigkeit, die sie plötzlich an den Tag legte, erschreckte ihn. Auch Tariq wirkte mehr als nur irritiert. »Nea, was ist los? Das bist doch nicht du, die dort spricht«, erklärte Lugh Akhtar gerade heraus. »Wer soll es sonst sein?«, erkundigte sie sich bissig. »Ich bin nur so, wie es meinem wahren Wesen entspricht. Hier muss ich mich nicht mehr verstecken.« Der Zauberer runzelte vielsagend die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es deinem wahren Wesen entspricht. Aber nun gut, dann lass es uns versuchen.« Er ergriff sanft und zögernd Neas Hand. Er spürte, wie heftig ihr Herz schlug, und auch, wie sie zitterte. Natürlich, es war Angst, die aus ihr sprach. Da drängelte sich Tariq zwischen sie und nahm jeweils eine Hand von ihnen. »Wenn, dann gemeinsam«, lächelte er. So schlossen sie endlich die Augen und konzentrierten sich. Lugh Akhtar zögerte eine ganze Weile, bis er die Magie losließ, doch dann strömte sie schnell und erschreckend stark durch ihre Körper. Er wusste nicht, was genau mit ihnen geschah, er merkte nicht, ob sich sein Körper veränderte, oder ob etwas anderes geschah. Er spürte nur die Macht des Zaubers, Tariqs Entschlossenheit zu seiner rechten, und Neas übermächtige Angst, gegen die sie tapfer ankämpfte, zu seiner linken. Es hatte kaum einen Augenblick gedauert, bis sich die Magie wieder in den Stein zurückzog, doch kam es ihnen vor, als wären Jahrhunderte vergangen. Erschöpft sanken sie zu Boden, und ohne dass einer von ihnen etwas sagte, oder auch nur die Augen öffnete, kamen sie stillschweigend darin überein, dass sie nun schlafen mochten. Am liebsten tausend Jahre lang. Kapitel 8: Sly und Ice ---------------------- Noch bevor er die Augen öffnete, ja, noch bevor er einen bewussten Gedanken tat, wusste er schon, dass es funktioniert hatte. Zumindest bei ihm. Jemanden zu verwandeln, der schon einmal Tiergestalt besessen hatte, war um einiges einfacher, als bei jenen, für die es das erste Mal war. Doch der Menschengeruch, den er wahrnahm, war weit fort, als wären hier seit Wochen keine gewesen. Er sog die tausend Gerüche tief ein, dann öffnete er die Augen und rappelte sich auf. Zu beider Seiten lagen andere Wölfe, die soeben erst erwacht zu sein schienen. In der roten Wölfin, deren weiße Abzeichen sich gelblich von dem Schnee abhoben, erkannte er Nea. Seltsamerweise waren ihre Augen weiterhin so blau, wie sie es seit jeher waren. Der andere Wolf war Tariq, mit seinem schwarzen Fell, wie einst sein Haar auch war, und den spärlichen, weißen Flecken. Auch seine Augen waren nach wie vor braun. »Lugh Akhtar… es hat… funktioniert… nicht wahr?«, fragte sie langsam und betrachtete neugierig ihre Pfoten und ihre buschige Rute mit der weißen Spitze. »Ja, hat es.« Er betrachtete nachdenklich die glitzernden Pfoten. Als er den Kopf bewegte, spürte er, dass nach wie vor der Stein um seinen Hals baumelte. Seine Macht war ungebrochen, ebenso groß, wie sie zuvor auch gewesen war. Die Verwandlung schien die Magie nicht einmal müde gemacht zu haben. Während er noch darüber nachdachte, drehte der Wind und er nahm den Geruch von zwei fremden Wölfen wahr. Er drehte sich um und wollte sich schon korrigieren, denn das, was er sah, wirkte mehr wie ein Fuchs, doch dann fiel ihm auf, dass er viel zu groß dafür war, und blieb bei Wolf. Einen zweiten sah er jedoch nicht. »Entschuldige, wir wollten nicht in dein Revier eindringen. Wir werden gehen«, rief er zu dem Wolf hinauf. »Lass dir Zeit«, antwortete der und lief mit ein paar Sätzen die Schneewehe hinab. Zögernd trat er Lugh Akhtar entgegen. »Du bist ein Verwandelter.« »Ja.« Der weiße Wolf zuckte unruhig mit den Ohren. War der Fuchswolf auch ein Zauberer, der ebenso verwandelt wurde? Oder war er ein wirklicher Wolf, der etwas über Zauberei wusste? »Sie auch?« Der Rote deutete auf Nea und Tariq. »Ja. Wir sind… von jenseits der Mauer«, antwortete Lugh Akhtar. »Aus dem Verbotenen Land also… ich bin…« Er zögerte einen Moment und bleckte dann die Zähne zu einem Lächeln. »Hier ist mein Name Sly.« »Hier? Was meinst du damit?«, fragte Nea misstrauisch und bewegte sich zögernd an Lugh Akhtars Seite. Sie war das Laufen mit vier Pfoten noch nicht gewohnt. »Die Tiere hier. Sie nennen mich Sly. Ich… bin nicht von hier, ich komme von weit her. Aber ich lebe hier und hier bin ich Sly. Deswegen braucht ihr meinen wirklichen Namen nicht wissen, mal ganz davon abgesehen, dass ich… na ja, ich glaube, ich hab ihn vergessen.« Sly grinste noch breiter. Lugh Akhtar, Nea und Tariq warfen sich vielsagende Blicke zu, doch sie sagten nichts dazu. »Du bist nicht alleine hier, hab ich recht?«, fragte der weiße Wolf. »Stimmt. Aber ich habe keine Ahnung, wo Ice wieder steckt… der kann aber auch gut auf sich selbst aufpassen. Ihr vermutlich nicht… was tut ihr hier? Warum seid ihr hier?« »Wir… suchen jemanden. Aber ich denke nicht, dass du sie kennst.« Tariq setzte sich umständlich, nur um sofort wieder aufzustehen. Er blickte nachdenklich auf die buschige Rute, wandte seine Aufmerksamkeit dann jedoch wieder Sly zu. »Das Land ist riesig. Ich lebe schon seit Jahren hier, und ich kenne noch lange nicht jeden, also, denke ich, dass du recht hast. Aber das heißt, dass ihr keine Verbannten seid.« Er schaute von einem zum anderen. »Nein, das sind wir nicht. Wir sind freiwillig hier«, bestätigte Nea. »Das ist… ungewöhnlich. Ich… würde euch helfen, wenn ihr möchtet. Ihr braucht bestimmt jemanden, der euch ein bisschen etwas über die hiesigen Sitten erzählt, oder?«, fragte er, und wirkte dabei so unterschwellig und Misstrauen erweckend, dass bei den Dreien sogleich alle Alarmglocken schrillten. »Warum?«, fragte Nea misstrauisch. »Weil ich dann eine Bitte habe. Entweder stehe ich euch gut zur Seite und dann soll das mein Lohn sein, oder aber ich versage und dann ist es sowieso egal.« Er lächelte schwach. »Was wäre deine Bitte?«, wollte Tariq misstrauisch wissen. »Oh, nichts Schlimmes. Ihr sollt einfach nur einem Menschen, der mir sehr am Herzen liegt, eine Nachricht von mir überbringen. Ich kann hier nicht fort, aber ihr könnt es. Das ist mein Lohn, nicht mehr, nicht weniger«, erklärte er ernst. Lugh Akhtar wandte sich zu den Anderen herum und ging mit ihnen ein paar Schritte. »Was denkt ihr?«, fragte Tariq. »Ich weiß nicht… meint ihr, er meint das ernst?« Nea zuckte unruhig mit der Rute. »Er ist ein Verbannter…«, warf Lugh Akhtar ein und wurde sogleich von den beiden Anderen erstaunt angeblickt. »Woher weißt du das?« Tariq spitze neugierig die Ohren. »Ich habe ihm zugehört. Er will, dass wir jemandem eine Nachricht überbringen. Warum tut er es nicht selbst? Die einzige Erklärung die ich habe, ist die, dass er nicht mehr dorthin zurück kann. Natürlich, das könnte auch einen hiesigen Ort beschreiben, aber wenn wir sie nicht finden, oder aber keine Möglichkeit finden, wieder zurück zu kommen, dann ist es egal. Das hat er selbst gesagt. Also, muss er von der anderen Seite der Mauer kommen«, erklärte er. Verblüfft blickten die anderen Beiden ihn an. »Dann ist er ein Verbannter, sonst hätte er uns seinen Namen genannt«, spann Nea den Gedanken weiter. »Genau so ist es. Ich denke, dass wir ihm trotzdem vertrauen können, aber was meint ihr?« Er schaute den Beiden tief in die Augen. »Er… macht nicht den Eindruck, als ob er böses wollte… aber er ist trotzdem ein Verbannter«, warf Nea ein. »Nea… ich… hast du jemals bei der Anhörung eines Verbannten zugehört? Warst du jemals dabei?«, wollte Lugh Akhtar leise wissen. »Nein… wieso?«, fragte sie leise. »Weil ich nicht glaube, dass sie alle wirklich schuldig waren… der Feuerfuchs zum Beispiel hat sich selbst zwar in allen Punkten schuldig gesprochen, aber… ich habe in seinen Augen gesehen, dass da mehr war… ich… denke, dass es bei Sly ähnlich sein kann…«, überlegte der weiße Wolf und schaute zu dem Wolf zurück, der sich gesetzt hatte, und nachdenklich mit der Hinterpfote über sein Ohr strich. Das sah so seltsam aus, dass Lugh Akhtar unwillkürlich die Ohren hängen ließ und verwundert schaute, doch er fing sich schnell wieder. »Ich denke, wir sollten ihm vertrauen. Er ist allein, wir sind zu dritt, was soll er uns schon anhaben? Zumal du ja den Stein benutzen kannst, um zu zaubern«, meinte Tariq zu ihm. »Ich denke auch, dass wir ihm vertrauen sollten. Aber wir müssen dennoch vorsichtig sein.« Nea schaute nachdenklich zu dem Roten hinüber. »Dann gehen wir auf sein Angebot ein.« Sie kamen wieder zu ihm. »Und, was ist nun?«, fragte Sly und stand wieder auf. »Hilf uns in dieser Welt, und wir werden dir auch helfen«, antwortete Lugh Akhtar. »Gut. Also, wen sucht ihr?« Der Fuchswolf neigte fragend den Kopf. »Den Winter.« Offensichtlich hatte Sly mit so ziemlich allem gerechnet, nur damit nicht. Er schaute sich einmal vielsagend um und schaute dann wieder Lugh Akhtar an. »Das war einfach. Er ist hier, überall um uns herum«, erklärte er ernst. »Nein, eben nicht. Das hier ist nur, was sie hinterlässt. Aber sie selbst ist auch ein lebendes Wesen. Sie ist in der Gestalt einer weißen Wölfin zu mir gekommen, und nun suche ich sie, um zu erfahren, was sie mir sagen wollte. Hilf uns, sie zu finden.« Lugh Akhtar lächelte spöttisch. »Den Winter finden… ich würde ja behaupten, dass es unmöglich ist, aber… ich habe… einiges unmögliches gesehen… Wohin wollt ihr gehen?« Sly legte nachdenklich die Ohren an. »Das wissen wir nicht… ich denke, dass wir nach Norden gehen sollten.« Lugh Akhtar blickte in die entsprechende Richtung. »Gut… dann lasst uns gehen.« Sly grinste auf eine wölfische Art und Weise und lief voraus. Gemeinsam waren sie schon ein gutes Stück voran gekommen, als Tariq plötzlich stehen blieb. »Was ist?« Sly war der Erste, dem es auffiel und der zurückschaute. Nicht einmal Nea, die immer wieder schaute, wo Lugh Akhtar und Tariq waren, und aufmerksam die Ohren in alle Richtungen drehte, hatte es bemerkt. »Ich weiß nicht… ich höre etwas, aber ich weiß nicht was…«, erklärte er und tänzelte leichtfüßig an Lugh Akhtars Seite. Der schaute fragend zum Fuchswolf, der lauschend den Kopf neigte. »Ich höre nichts«, erklärte Sly nach einigen Augenblicken. »Da ist aber etwas, ich habe… eine Art Schnaufen oder Grunzen gehört…« Tariq brachte es fertig, auch in der Gestalt eines Wolfs ganz eindeutig die Stirn zu runzeln. »Ich höre aber auch nichts.« Der weiße Wolf drehte die Ohren in jene Richtung, aus der sie gekommen waren, doch er hörte nichts, und er sah auch nichts, außer ihre eigenen Pfotenabdrücke im strahlend weißen Schnee. »Dann sollten wir erst recht von hier verschwinden. Etwas, was sich bemüht, leise zu sein, kann nicht gut für uns sein, oder sehe ich das falsch, Sly?« Nea schaute den Fuchswolf fragend an. »Es gibt hier kaum etwas, was uns wirklich gefährlich werden kann, Kleines. Höchstens ein anderes Rudel, aber wir sind nur vier, das ist im Allgemeinen zu wenig, um angegriffen zu werden. Und schon gar nicht, dass sie sich die Mühe machen würden, uns anzugreifen.« Sly schaute Nea nachdenklich an. Sie wirkte nicht überzeugt, so seufzte der Fuchswolf und trabte an ihnen vorbei. »Ich gehe nach schauen«, erklärte er und sprintete davon. Nea, Tariq und Lugh Akhtar warteten und schauten, wie er hinter einem Hügel verschwand. »Meint ihr, er hat recht und es sind wirklich nur fremde Wölfe, die uns gefährlich werden könnten?« Nea setzte sich in den Schnee und schaute fragend zu ihren Freunden. »Ich weiß es nicht… vielleicht ist er auch einfach noch nicht lange genug hier, um die wirklich gefährlichen Wesen kennen gelernt zu haben.« Lugh Akhtar setzte sich ebenfalls, nur Tariq blieb stehen und trat unruhig auf der Stelle. Es dauerte nur noch Momente, bis Sly wie von einer Hornisse gestochen heran gefegt kam. »RENNT!«, brüllte er, als er vorbei gefegt kam und dachte aber nicht einmal daran stehen zu bleiben. Es dauerte nur noch Sekunden, bis auch die Anderen rannten. Erst jedoch schauten sie ihm fragend und verwirrt hinterher, bis sie noch einmal fragend in jene Richtung blickten, aus der der Fuchswolf gekommen war. Doch das, was dort heran gewalzt kam, ließ sie kommentarlos herum fahren und laufen, wie niemals zuvor in ihrem Leben. Keiner von ihnen hatte auch nur die entfernteste Idee, was es war, aber eigentlich wollten sie es auch gar nicht so genau wissen. Es wirkte, wie eine sehr große, sehr böse Katze, die zudem noch sehr schnell laufen konnte. Lugh Akhtar, der schon einmal auf vier Pfoten unterwegs gewesen war, hätte ihr alleine wohl entkommen können, doch Nea und vor allem Tariq stockten immer wieder im Schritt, denn sie konnten ihre vier Pfoten noch nicht so optimal koordinieren. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis einer von den Beiden stolperte und fiel. Doch bevor es so weit kam, fuhr von irgendwoher ein blauer Schatten auf die Katze und stieß sie grob beiseite. Ein himmelblauer Wolf verbiss sich in den Hals des Tieres, sodass ein weiß-schwarz-blaues Knäuel entstand. Lugh Akhtar, Nea und Tariq blieben im gebührenden Abstand stehen, zögerten, ob sie eingreifen sollten. Nach kurzer Zeit gesellte sich auch Sly dazu, der die Situation mit einem Blick erfasste, jedoch auch nur stehen blieb, bis der blaue Wolf gewonnen hatte, und die Katze fauchend davon lief. »Super, Ice!« Sky tänzelte dem blauen Wolf entgegen, der jedoch wirkte alles andere als begeistert darüber, den Fuchswolf zu sehen. Der jedoch wandte sich freudig um. »Das ist Ice, ein guter Freund von mir. Der, von dem ich sagte, dass er gut auf sich selbst aufpassen kann, wenn ihr euch erinnert«, lächelte der Fuchswolf, während der Blaue langsam auf ihn zukam. »Ja, da hast du recht. Ich kann durchaus auf mich selbst aufpassen. Du leider nicht«, knurrte er und stieß Sly grob zu Boden. »Was war das denn schon wieder für eine Aktion? Man sollte meinen, du wärst ein kleines Kind, so oft, wie du dich schon in Schwierigkeiten gebracht hast!« »Das war mal zur Abwechslung nicht meine Schuld!«, ereiferte sich der Fuchswolf. »Ach, wessen dann?« Ice schaute ihn eindringlich an, doch darauf wusste Sly nichts mehr zu sagen. Stattdessen rappelte er sich wieder auf und machte ein paar Schritte zwischen Ice und die anderen Drei. »Die Drei hier sind von der anderen Seite der Mauer. Sie suchen den Winter. Und sie werden wieder zurückgehen, wenn sie ihn gefunden haben. Ich möchte ihnen helfen«, erklärte er ernst. »Den Winter zu finden? Hast du sie noch alle beisammen?« Ice schaute so verdutzt, dass Sly grinsen musste. »Ich schon, die vielleicht nicht. Aber ich muss es einfach tun. Sie… könnten mir helfen. Wenn ich ihnen helfe«, erklärte er und lächelte. Ice neigte den Kopf und schaute Sly lange aus seinen grünen Augen an, dann seufzte er. »Warum…? Warum nur lasse ich mich immer wieder von dir zu so etwas hinreißen? Eigentlich sollte ich es doch mittlerweile gelernt haben«, knurrte Ice. Sly dagegen lächelte dankbar. »Weil du eben ein sehr guter Freund bist«, sagte er leise. Ice' Gesicht ließ keine Regung erkennen. Stattdessen schaute er die anderen Drei an. »Wer seid ihr überhaupt, dass ihr den Winter sucht?«, knurrte er leise. »Sie hat mich zu sich gerufen. Mein Name ist Lugh Akhtar«, antwortete der weiße Wolf ruhig. »Lugh Akhtar… du bist ein Zauberer, hab ich recht?« »Ja.« Ice blickte ihn noch einige Momente lang in die Nordlichtaugen, bevor er sich Tariq zuwandte. Er schaute den jungen Prinzen nur einige Momente lang an, wandte sich dann Nea zu. »Okay. Wir werden euch helfen, wenn es vonnöten sein sollte. Aber den Weg selbst müsst ihr alleine finden. Wir kennen ihn nicht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Ice ab und verschwand mit ein paar Sätzen wieder irgendwo im Schnee. »Ist er… immer so?«, fragte Nea sogleich verdutzt. »Ja. Man gewöhnt sich dran, glaub mir«, lächelte Sly. »Zumal er im Grunde seines Herzens sehr aufgeschlossen und offenherzig ist. Auch wenn es nicht immer so wirkt, ich kann euch dennoch versichern, dass er der beste Freund ist, den man sich nur wünschen kann. Wenn er euch zu seinen Freunden zählt, wird er alles für euch tun. Seid ihr aber seine Feinde, dann gnade euch Gott.« »Wir werden es uns merken«, antwortete Lugh Akhtar unsicher. »Gut. Dann lasst uns gehen«, lächelte Sly und lief an ihm vorbei, weiter gen Norden, dem Unbekannten entgegen. Kapitel 9: Erinnerungen ----------------------- »Sly?« »Ja?« Der Fuchswolf schaute schlaftrunken zu Lugh Akhtar auf. Der schaute nachdenklich zu seinen Freunden zurück und setzte sich dann neben Sly. »Darf ich… dir ein paar Fragen stellen?« Der weiße Wolf schaute nachdenklich in die blauen Augen seines Gegenübers. »Natürlich. Frag, was auch immer du willst. Ob ich dir jedoch antworte ist eine andere Frage.« Der Fuchswolf schien zu lächeln. »Gut, dann gehe ich von keiner Antwort aus, die Frage ist nämlich sehr persönlich.« Lugh Akhtar zögerte noch einen Moment. »Du bist ein Verbannter, oder?« Erst schien es, als wollte Sly ihm wirklich nicht antworten, doch dann seufzte er, warf sich auf den Rücken und streckte alle vier Beine von sich in die Luft. »Du bist noch jung, stimmt's, Lugh?«, fragte er nun seinerseits und schaute den Wolf dabei forschend, aber auch wohlwollend an. »Ja.« »Das merkt man. Du musst wissen, es ist nicht immer alles nur schwarz und weiß. Es gibt Dinge, die man nicht sofort durchschauen kann. Es gibt kaum etwas, was wirklich schwarz und wirklich weiß ist…« Sly schaute nachdenklich in den Nachthimmel. »Ich weiß. Doch leider… gibt es viel zu viel grau auf der Welt. Es wäre alles einfacher, wenn es nur gut und böse gäbe.« Der weiße Wolf neigte nachdenklich den Kopf. »Es wäre in erster Linie langweiliger. Ich denke, dass es schon gut so ist, nur leider teilen viele die Welt in schwarz und weiß ein. Weißt du, auch ein Verbannter ist nicht unbedingt böse…« Sly schnaufte und rollte sich wieder um, sodass er nun auf der Seite lag, abermals alle viere von sich gestreckt. »Ich weiß. Ich war ab und an bei einer Anhörung dabei. Es gab einige, denen ich ihr Schuldbekenntnis nicht geglaubt habe, doch ich weiß nicht, wieso sie es dann taten. Natürlich versuchte ich den anderen Anwesenden dies zu erklären, aber mich hat niemals jemand verstehen können.« Lugh Akhtar ließ nachdenklich die Ohren hängen. »Weil sie dir nicht wirklich zugehört haben?« Sly lächelte mitfühlend. »Sie hörten mich sprechen, aber sie verstanden die Tiefe der Worte nicht.« »Das kenne ich nur zu gut. Wie viele Anhörungen hast du miterleben müssen? Und wie viele haben ihre Strafe deiner Ansicht nach verdient?«, erkundigte sich Sly erwartungsvoll. »Nicht einer. Niemand hat es verdient, auf diese Art und Weise bestraft zu werden, so fernab von allem, was einem lieb und teuer ist. Nicht einmal, wenn sie etwas wirklich Schlimmes getan haben. Ich… bin für viele von ihnen wohl selbst der Teufel in Person und es gab einiges, auf das ich nicht stolz bin, aber… manchmal wird man einfach zu Dingen gezwungen, obwohl man es eigentlich nicht will…« Der weiße Wolf schloss gequält seine Augen und schüttelte heftig den Kopf, wie um etwas zu vergessen, was er nicht vergessen konnte. »Denkst du nicht, dass es manche doch verdient haben? Stell dir vor, jemand würde deinen Freunden etwas antun. Würdest du dann nicht auch Rache wollen? Und wie soll man dich zu etwas zwingen, was du nicht tun willst?« Sly schaute ihn aus großen Augen an. Er war auf die Antwort gespannt. »Ich… denke nicht, dass ich Rache wollte. Es würde doch zu nichts führen, außer zu noch mehr Schlechtem in der Welt. Ich denke, ich wäre traurig, aber ich glaube nicht, dass ich jemanden wirklich dafür zur Rechenschaft ziehen würde… Aber… doch, man kann andere dazu zwingen, Dinge zu tun, die man nicht tun will. Weißt du… als ich noch ein anderer war, da haben sie es getan. Ich wollte einfach nur gehen dürfen, ich wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben, aber er wollte es nicht zulassen, bis ich ihm bewiesen habe, dass ich mächtiger bin als er. Als er sah, dass ich mehr kann, als jeder andere der lebt, da erst hat er mich ziehen lassen. Ich habe es bereut, mich dazu verleiten zu lassen, denn obwohl durch meine Hand niemand körperlich zu Schaden kam, hat es doch Tote gegen. Und einfach nur, weil ich existiere habe ich so unendlich vielen Menschen Leid zugefügt… Ich glaube, es wäre besser, wenn es mich niemals gegeben hätte…« Lugh schaute in den unruhigen, vom Nordlicht erhellten Himmel hinauf, und obwohl er ein Wolf war, lief eine glitzernde Träne seine Wange hinab. »Lugh Akhtar… wer bist du…? Wie kannst du durch deine bloße Existenz heraus jemandem Schaden zufügen?« Sly starrte ihn fassungslos an. »Ich… bin jetzt Lugh Akhtar… das war ich nicht immer. Ich bin immer jemand anderes, her nachdem, wie es am besten passt.« Der weiße Wolf lächelte gequält und legte sich nieder. »Wie meinst du das?« Der Fuchswolf blinzelte verblüfft. »So, wie ich es sagte. In jedem Abschnitt meines Lebens war ich ein anderer.« Der Fuchswolf schaute ihn eine ganze Weile einfach nur an, dann lächelte er plötzlich auf eine väterliche Art und Weise, sodass Lugh Akhtar ein Gefühl verspürte, das es in seinem Leben bisher nicht gegeben hatte. Er konnte es auch nicht einordnen, aber er wusste, dass er das Gefühl sehr gerne mochte. »Erzählst du mir von deiner Vergangenheit? Dann erzähle ich dir von meiner«, bot der rote Wolf an. Lugh Akhtar überlegte lange, ob er auf seinen Vorschlag eingehen sollte. Er würde natürlich gerne mehr über seinen neuen Gefährten erfahren, doch von der eigenen Vergangenheit zu erzählen würde bedeuten, sie noch einmal neu erleben zu müssen. Und das wollte er nicht. Doch letzten Endes nickte er. »Nun, ich stamme aus einer Bauernfamilie. Meine Mutter war eine wunderbare Frau, sie war immer… wie ein helles Licht. Mein Vater war anders, er hat mich immer so seltsam angeschaut. Vielleicht hat er gewusst, dass ich ein Zauberer bin, vielleicht hat er auch gedacht, dass ich nicht wirklich sein Sohn bin. Ich weiß es nicht, ich habe ihn nie gefragt. Wenn ich Geschwister habe, so kenne ich sie nicht. Ich habe auf dem Hof gelebt, bis ich fünf Jahre alt war, dann kam Nikolai, der Meister der Zauberergilde. Er kam irgendwann nachts, es hat gestürmt. Nicht einmal er hatte es durch diesen Sturm geschafft, deswegen klopfte er an die erste Tür, an die er kam. An unsere. Meine Mutter bot ihm natürlich sofort ein Lager für die Nacht und Nikolai nahm an. Beim Abendessen unterhielten sie sich über Erwachsenenzeug. Mit fünf interessiert einen das nicht wirklich, ich war anderweitig beschäftigt. Anfangs würdigte mich Nikolai auch nicht eines Blickes, erst als ich mich zum Spielen ans Feuer setzte, da nahm er mich überhaupt wahr. In meiner Gegenwart haben immer schon seltsame Dinge stattgefunden, doch niemand hat das jemals einer Bedeutung beigemessen. Erst Nikolai erkannte den Grund dahinter. Er sprach mit mir, stellte mir eine Menge seltsamer Fragen. Dann schickte mich meine Mutter ins Bett, nur um mir am nächsten Morgen zu sagen, dass ich mit Nikolai gehen würde, denn ich sei ein Zauberer. Ich wollte nicht, aber ich ging doch. Ich dachte ja, dass ich in ein paar Jahren zurückkehren könnte.« Lugh Akhtar seufzte und starrte für einen Moment vor sich hin, in Gedanken schien er in der Vergangenheit zu sein. »Ich fuhr mit Nikolai nach Altena. Er hatte meine Eltern nicht nach meinem Namen gefragt, und ich habe ihm meinen wirklichen Namen nicht verraten. Ich sagte ihm, dass er mich wie den Wind nennen solle. Aus dem Bauernsohn Fjodor war der Zauberer Makani geworden…« Der weiße Wolf zögerte, als er das Erstaunen in Slys Augen sah. »Fjodor? Der verfluchte Name… Und Makani, Nikolais bester Schüler… ich weiß wer du bist, Lugh, ich kenne dich. Du hast gut bei ihm gelernt, du warst schon nach kurzer Zeit so viel besser, als jeder andere. Doch hast du dir damit nicht nur Freunde gemacht. Ich kenne Leute, die dich vom tiefsten Grunde ihres Herzens gehasst haben. Ich habe nie dazu gehört, denn du warst bloß ein Kind, das nichts für all das konnte, aber andere haben das niemals so sehen können… Ich habe leider nicht erfahren können, was aus dir geworden ist, aber ich habe viel von dir gehört, bis ich hierher kam. Wie lange ist es her, dass du aus der Lehrzeit getreten bist? Und was hast du getan?« Der Fuchswolf schaute ihn durchdringend an. »Ich war fünfzehn, glaube ich. Diese Zeit ist für mich ein wenig, als wäre sie einem bösen Traum entsprungen, deswegen weiß ich es nicht genau. Nikolai versuchte wie immer mir etwas neues beizubringen, doch es langweilte mich nur. Stattdessen schaute ich aus dem Fenster und sah jene junge Frau, die dort im Schnee liegt und schläft…« Zärtlich blickte Lugh Akhtar auf Nea, die sich eng an Tariq gekuschelt hatte, dabei jedoch seine Gegenwart zu vermissen schien, denn ihr Schlaf war unruhig. »Nikolai war das natürlich gar nicht recht und wir stritten uns. Ich wollte wieder gehen dürfen, aber er ließ es einfach nicht zu, obwohl er genau wusste, dass er mir nichts mehr beibringen konnte. Ich fragte ihn, was ich tun müsse, um ihm zu beweisen, dass ich besser bin, als er jemals war, und er antwortete mir, dass ich ganz Altena vollkommen alleine zerstören müsste…« Lugh Akhtar hörte sich so sachlich und kalt an, dass Sly wohl blass geworden wäre, wär er in der Gestalt eines Menschen dort gesessen. »Hast du… es etwa getan?«, fragte er leise und legte ängstlich die Ohren an. »Ja. Es war meine einzige Möglichkeit, endlich gehen zu dürfen. Ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten, es war zu laut, zu hektisch, zu eng. Ich habe gedacht, dass ich wahnsinnig würde, und für einen Moment war ich es wohl. Ich habe so viel von der Stadt zerstört, wie es nötig war, um Nikolai von meiner berechtigten Bitte zu überzeugen. Doch dann habe ich den Wahnsinn in mir freigelassen, und habe die restliche Stadt in Flammen aufgehen lassen. Ich wollte sie zerstören, und ich habe es getan. Dann durfte ich endlich gehen.« Sly schaute ihn eine ganze Weile schweigend an, und Lugh Akhtar wartete, bis der Fuchswolf sich sein Urteil gebildet hatte. »>In seinen Augen sieht man die Welt, sein Name klingt wie der Wind und seine Macht ist so groß, wie der Zauber der Sterne…< das hat einmal meine Schwester über dich gesagt. Damals habe ich gelacht und gesagt, dass es keinen Zauberer gibt, dessen Macht sich mit dem der Sterne messen kann. Ich habe mich geirrt. Lugh Akhtar, ich habe niemals von einem so mächtigen Zauberer gehört, wie von dir.« Sly neigte respektvoll den Kopf, doch in seinen Augen las Lugh Akhtar keine Angst. Der Erste, dessen Macht an seine niemals heran reichen würde, der keine Furcht vor ihm im Herzen trug. Und das machte ihn glücklich. Er lächelte, als er weiter sprach. »Ich ging. Ich wollte niemandem schaden, ich habe damals auch niemandem geschadet. Ich wusste nicht, dass es einen Zauberer gab, der meinen Tod so sehr herbeiwünschte, dass er bereit dazu war, andere zu töten, nur weil sie mir ähnelten. Ich wusste von Menschen, die verschwanden, doch wusste ich damals noch nicht, dass es wegen mir geschah. Eines abends dann, als ich mit Tariq beisammen saß, klopfte es an der Tür und als ich öffnete, stand dieser Zauberer in der Tür. Er bezichtigte mich des Diebstahls an der Magie seiner Tochter. Ich glaube nicht, dass er richtig bei Verstand war, aber ich ließ ihn gewähren. Ich wollte einfach nicht mehr, ich sah keinen Grund in meinem Leben. Er warf diese Magie auf mich und ich wehrte mich nicht. Ich verabschiedete mich von Tariq und ging in den Wald um zu sterben. Doch ich starb nicht, ich verwandelte mich in einen Wolf. Und ich traf den Winter. Danach begann meine eigentliche Geschichte. Ich wachte bei einem Mädchen auf, ich wusste nicht einmal mehr meinen Namen…« Lugh Akhtar erzählte von seinem ersten großen Abenteuer, wie er von Maya gefunden und gepflegt wurde, wie die glücklose Zauberin ihn fand, wie sie Tariq trafen, wie sie seine Vergangenheit wieder fanden. Wie er ein Mensch wurde, und wie er abermals nach Altena ging. Wie dieses Abenteuer begann. »Bei jedem anderen, Lugh, würde ich nach wie vor lachen bei der Vorstellung, dass der Winter in Gestalt zu ihm gekommen sei. Aber nun, wo ich deine Geschichte kenne, da lache ich nicht mehr. Da neige ich ehrfürchtig mein Haupt, denn du bist größer als ich es jemals sein könnte« Sly schloss die Augen und neigte abermals den Kopf. »Tue das nicht, Sly. Ich will das nicht, ich bin nicht mehr als du. Ich bin mit dir gleich«, lächelte Lugh Akhtar. Der Fuchswolf schaute ihn nachdenklich an, nickte dann und grinste ein wölfisches Grinsen. »Jetzt bin ich wohl dran…« Er stand auf und machte ein paar Schritte. »Nun, meine Geschichte ist nicht so aufregend, wie deine. Ich habe eine ältere Schwester, ihr Name ist Rose. Und ganze elf jüngere Geschwister. Ich denke, du hast schon eine gewisse Idee, wer ich bin, was?« Er wandte sich zu Lugh um, und der nickte. »Der Feuerfuchs. Neas Bruder«, antwortete er. »Du kennst Nea?« Lugh Akhtar blickte vielsagend zu der roten Wölfin hinab und lächelte. »Sie?«, fragte Sly verblüfft. »Ja. Sie ist es.« Sly schaute eine Weile auf seine kleine Schwester hinab, die er so lange schon nicht mehr gesehen hatte, dann lächelte er. »Nun, dann ist ja klar, dass ich ein wenig älter bin, als du es bist. Ich bin Neas ältester Bruder. Ich und Ice waren schon seit Kindertagen sehr gut befreundet, obwohl er immer deutlich besser war, als ich. Deswegen ist er übrigens auch blau, mir ist der Zauber mal wieder… schief gelaufen.« Sly grinste bei dem Gedanken daran, fuhr dann aber fort. »Wir machten alles zusammen, und wir waren auch in den gleichen zwielichtigen Vereinigungen… Du weißt ja, dass ich wegen Nekromantiescher Experimente und Mord an Sventje Jarenz angeklagt wurde… Und du hattest recht, ich habe beides nicht begangen, und Ice auch nicht. Aber diejenigen, die es taten, sind zu mächtig, gegen sie wäre ich niemals angekommen. Niemand hätte mir geglaubt… Und sie haben mir gedroht, dass sie Nea etwas antun, wenn ich die Schuld nicht auf mich nehme. Ice wusste davon nichts, aber… er ist wirklich ein guter Freund, deswegen ist er bei mir geblieben. Und um Nea zu schützen bin ich gegangen.« Sly schaute wieder zu seiner Schwester hinab. »Erzähl es ihr bitte nicht. Sie würde es nicht verstehen, Lugh. Und selbst wenn, es würde sie bloß unnötig in Gefahr bringen, das will ich nicht…« Lugh Akhtar nickte nachdenklich. Dann schaute er den Fuchswolf jedoch fragend an. »Was weißt du noch?« »Einiges. Ich kenne keinen Namen von den Mitgliedern, aber die Vereinigung existiert schon seit Jahrzehnten. Es geschieht immer wieder, dass Zauberer wegen ihnen angeklagt und verurteilt werden. Sie machen vor niemandem halt. Sagt dir der Name Kanoa Kuroi etwas?« Sly blickte Lugh Akhtar fast schon herausfordernd an. »Ja. Ich habe ihn nicht kennen gelernt, aber Nikolai hat mir von ihm erzählt. Er gehört dazu, nicht wahr?« »Ja. Ich frage mich, ob du wohl auch.… aber das ist jetzt nicht von belang. Er war der zehnte. Er hätte Nikolai jederzeit von seinem Platz als Gildenmeister verscheuchen können, aber er hat es nie getan. Macht war ihm nicht wichtig. Ich habe ihn getroffen, als ich etwa acht Jahre alt war. Ich glaube, weder davor, noch danach hat mich ein einzelner Mann so sehr fasziniert. Er war etwas Besonderes. Und er war ebenfalls unschuldig. Sie haben ihm die gleichen Dinge angehangen, wie mir, wieso er sich nie gewehrt hat, habe ich bis Heute nicht verstanden. Aber er hat es niemals getan. Er hat hier gelebt, ich habe von einem Fuchs gehört, dass er sich einem Rudel anschloss und noch ein paar Jahre hier verbrachte.« »Wenn sie einen so mächtigen Mann so nieder strecken konnten… Weißt du genaueres über das, was sie tun?« »Nein. Aber sie töten Menschen. Und zwar nicht nur Zauberer. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass sie sich mit Nekromantie beschäftigen, ansonsten fiele mir kein Grund ein, wieso alle ihre Opfer deswegen angeklagt werden sollten«, meinte Sly. »Ich habe das Gefühl, dass wir, nachdem wir den Winter gefunden haben, noch ein anderes Geheimnis lösen müssen. So können wir das nicht belassen, dagegen müssen wir etwas tun…« Lugh Akhtar schüttelte kurz den Kopf und schaute dann wieder in die Sterne hinauf. »Ich würde gerne mit dir kommen, aber sie würden mich erkennen…« »Nicht in dieser Gestalt. Nicht einmal deine Schwester hat dich erkannt… Aber erst einmal müssen wir sie finden…« Der weiße Wolf schaute lächelnd den Fuchswolf an, dann hob er die Schnauze und ließ ein lang gezogenes Wolfsheulen hören. Sly schaute ihn eine Weile an, dann hob auch er mit tiefer Stimme an. Aus einiger Entfernung stimmte auch Ice in ihren Gesang mit ein, sodass sie zu dritt sangen. Nea und Tariq in der Zeit lagen beisammen und schliefen und schienen gar nichts von dem zu bemerken, was um sie herum geschah. Doch Sly und Lugh Akhtar wurden in dieser Nacht zu Vertrauten. Und zu Freunden. Kapitel 10: Cinder ------------------ »Also, fassen wir noch einmal zusammen. Das hier ist das Gebiet des Schattenfangrudels und sie nennen sich so, weil sie sich mit den >dunklen Schattenzähnen der Nacht< vergleichen? Hab ich das jetzt so richtig verstanden?« Tariq schaffte es, trotz seiner Wolfsgestalt, so irritiert und zweifelnd auszusehen, wie es sonst wohl nur ein Kind vermochte. »Ja. Alle Rudel vergleichen sich hier mit irgendetwas. Es gibt auch noch das Eisfellrudel, das Nordwindrudel und das Blutmondrudel. Die zumindest kenne ich«, antwortete Sly. »Also, gibt es noch mehr? Sind sie Einzelgängern eher freundlich oder böse gesonnen?«, fragte Lugh Akhtar und hob schnüffelnd die Nase in den Wind. »Mir und Ice haben sie nie etwas getan, aber wir waren nur zu zweit. Wenn sie ab und an mal ein Kaninchen an uns verloren, war ihnen das ziemlich gleich. Wir haben uns beim Jagen immer auf die Rudelgebiete verteilt«, berichtete Sly. »Wo wir nun aber zu fünft sind, könnte sich das ändern?« »Genau. Das Eisfellrudel hat eine recht eigenwillige Anführerin, sie hat uns zwei immer schon nur unter Vorbehalt geduldet«, führte der Fuchswolf weiter aus. »Warum habt ihr euch nie einem Rudel angeschlossen? Dann hätte euch das doch nicht mehr weiter gestört«, fand Nea. »Im Prinzip hast du recht, das Blutmondrudel besteht sogar nur aus Leuten wie uns. Aus Verwandelten. Sie hätten uns sofort aufgenommen, aber… mir reicht Ice als Gesellschaft, was anderes als Kaninchen brauche ich nicht im Magen und die festen Rudelgebiete sind auch nichts für meine auf Freiheit drängende Seele.« Sly grinste unsicher. »Ja, kann ich gut nachvollziehen.« Lugh Akhtar bewegte sich geschmeidig an ihm vorbei, dabei glitzerte sein Fell und schien so zu leuchten, wie sonst nur der Schnee um sie herum. »Dann sollten wir aber schnell weiter, ich möchte eher ungern Bekanntschaft mit einem bösen Wolfsrudel machen«, bemerkte Tariq. Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: »Die fressen Menschen…« Darauf folgte ein solcher Heiterkeitsausbruch seitens Lugh Akhtar und Sly, dass er verdutzt stehen blieb und die Ohren angelegte. »Das sind Kindermärchen, Tariq. Es hat niemals einen Wolf gegeben, der einen Menschen bewusst und voller Absicht jagte und zur Strecke brachte«, erklärte der weiße Wolf und spreizte die Ohren lachend von sich. »Und woher sind dann die Geschichten?«, brummte der Prinz unwillig. »Unfälle. Du könntest genauso gut behaupten, dass Zauberer Menschenkiller wären, bloß weil irgendwann irgendwo irgendein Zauberer versehentlich mit einem Zauber tötete«, fügte Sly hinzu. Tariq wollte eben antworten, da fegte Ice über eine Schneewehe hinweg auf sie zu. Dabei legte er ein solches Tempo vor, dass Lugh Akhtar sich sicher war, in einem Wettrennen niemals eine Chance gegen den blauen Wolf haben zu können. »Cinder hat Ärger mit Fang, auf welcher Seite stehen wir?« Er legte die blauen Ohren an und sein Blick sagte eindeutig, dass Sly nun nichts Falsches antworten sollte. »Cinders Seite«, antwortete der Fuchswolf und ohne ein Wort der Erklärung fegten die Beiden von dannen. Tariq, Nea und Lugh Akhtar folgten, nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatten. Ihr Weg war auch nicht weit, da hörten sie schon wütendes Geschrei und Geknurr. Als sie die nächste Schneewehe erklommen hatten, sahen sie die Kontrahenten auch. Auf der einen Seite stand eine haselnussfarbene Wölfin, hinter der sich fünf verschiedenfarbige Wölfe aufgestellt hatten. Ihr gegenüber stand ein vierköpfiges Rudel, dem sich auch Sly und Ice angeschlossen hatten. Angeführt wurde es von einer aschgrauen Wölfin mit einem weißen Halbmond auf der Stirn. Als Lugh Akhtar sie sah, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Er kannte die Wölfin, zumindest schien sie ihm so vertraut, wie kaum ein Wesen zuvor. Nea und Tariq blieben ebenfalls stehen und blickten ihn fragend an. Doch er erklärte nicht, stattdessen liefen sie zu dritt die Schneewehe hinab und blieben zwischen den Wölfinnen stehen. Hier sah er nun auch, dass die Braune, die wohl Fang heißen mochte, grasgrüne Augen hatte. Und er sah, dass seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Die aschfarbene Wölfin trug stolz einen weißen Halbmond auf der Stirn, ihre Augen waren von unterschiedlicher Farbe und sie wirkte ihm so seltsam nahe. Einige Augenblicke blickten sie sich schweigend an, dann trat der weiße Wolf zurück, wobei ihm Cinder und Fang mit ihren Blicken folgten. »Noch mehr Verstärkung für dich, ja? Obwohl du dich im Unrecht befindest!«, fauchte die Braune böse und machte zwei steife, drohende Schritte zwischen Lugh Akhtar und die graue Wölfin. Dabei blickte sie den weißen Wolf böse an. »Ich kenne die drei nicht«, antwortete Cinder kalt. »Aber ich kenne die Grenzen meines Territoriums.« »Dann halte dich auch an sie!«, schnappte Fang und warf sich zähnefletschend herum. »Das tue ich! Das ist Schattenfang-Gebiet! Nur weil wir es euch die letzten Jahre überließen, bedeutet es noch lange nicht, dass wir es euch komplett überlassen!«, fauchte Cinder zurück, bevor sie sich zähnefletschend Lugh Akhtar, Nea und Tariq zuwandte. »Was euch betrifft: Sagt mir, was ihr hier auf fremdem Gebiet zu suchen habt oder verschwindet!« Lugh Akhtar schaute sie für eine Weile einfach nur still an, bevor er antwortetet: »Ich möchte mit dir reden, wenn ihr euren Streit ausgetragen habt.« Dann wandte er sich um, lief etwa fünf Meter weit und legte sich dann in den Schnee. Nach kurzem Zögern folgten seine Freunde langsam und ließen sich neben ihm nieder. Cinder beobachtete den weißen Wolf noch einen Moment, dann wandte sie sich wieder der knurrenden Fang zu. »Verschwindet friedlich, oder wir machen dir Beine«, knurrte sie kalt. Fangs Antwort bestand darin, dass sie Cinder an die Kehle sprang. Die jedoch hatte damit gerechnet und wich problemlos aus, nur um postwendend ihrerseits Fang zu attackieren. Nur Augenblicke später bissen und kratzten sie einander, während die anderen Rudelangehörigen ihre jeweilige Leitwölfin durch lautes Jaulen anfeuerten. Dabei war das Fell gesträubt und sie sprangen tobend hin und her und pöbelten gelegentlich gegen das andere Rudel. Die Beißerei der Wölfinnen wurde dabei immer heftiger, bald schon stoben Fellfetzen durch die Luft und Blut färbte den Schnee rot und noch immer ließen sie nicht voneinander ab. Nea und Tariq wollten dazwischen gehen, sie konnten es sich nicht länger mit ansehen, dass keiner etwas tat, doch Lugh Akhtar hielt sie auf, indem er sich ihnen in den Weg stellte. »Bleibt hier, ihr würdet ihnen nicht helfen, wenn ihr dazwischen geht«, sprach er leise, während es nun so aussah, als erhielte Fang nun die Oberhand. Sie stand über Cinder, die Lefzen zurückgezogen, sodass ihre weißen Zähne gefährlich blitzten. Doch die graue Wölfin war noch nicht besiegt. Sie zog alle vier Beine an sich, nur um sie anschließend in den sandfarbenen Bauch der Kontrahentin zu rammen. Fang wurde davongeschleudert und Cinder stürzte sich sogleich auf sie und verbiss sich in ihren Hals. Den hielt sie gepackt, bis Fang laut kreischte und als sie losließ, rannte sie davon, ihr Rudel hinterher. Sogleich nahmen Cinders Wölfe die Verfolgung auf, drehten nach ein paar Metern jedoch wieder ab, um ihre Leitwölfin zu feiern. Die jedoch richtete ihre ganze Aufmerksamkeit Lugh Akhtar zu. Während Blut weiter ihr dunkles Fell verklebte oder rot im Schnee aufleuchtete, trat sie zu ihm und setzte sich ihm gegenüber nieder. Die anderen Wölfe sammelten sich in einem Halbkreis, wobei Sly und Ice ganz außen saßen. Tariq und Nea ließen sich zu beider Seiten ein wenig hinter dem weißen Wolf nieder, sodass sie ein wenig wie seine Leibgarde wirkten. »Du wolltest mit mir sprechen. Sag, was immer du mir zu sagen hast.« Sie klang nicht unfreundlich, als sie das sagte. Lugh Akhtar blickte erst lange in ihre unterschiedlichen Augen. Eines war golden wie der Mond, das andere war… seltsam. Es leuchtete ebenso hell und strahlend, und doch wirkte es seltsam stumpf. Es dauerte einige Sekunden bis er begriff, dass sie auf dem Auge blind war, und eigentlich verriet es ihm auch nur ihr Ohr auf der gleichen Seite. Sie lauschte damit viel mehr auf ihre Umwelt, als mit dem anderen. Und je länger er sie auch dieses Mal anblickte, desto vertrauter schien sie ihm. Er erkannte an ihrem Blick, dass es ihr nicht viel anders zu ergehen schien. »Mein Name ist Fjodor, ich bin ein Zauberer von jenseits der Mauer«, stellte er sich mit seinem richtigen Namen vor. »Das an meiner Seite sind Nea und Tariq, meine Freunde.« Sie nickte verstehend, doch wusste er nicht, wie er weiter sprechen sollte. Alle Worte schienen ihm so seltsam nichts sagend. Da kamen ihm Ice und Sly zu Hilfe. »Sie sind wie wir, nur dass sie nicht hier bleiben werden«, sprach Ice, der auf ihrer blinden Seite saß. »Sie suchen nur jemanden, wenn sie ihn gefunden haben, werden sie zurückkehren«, fügte Sly hinzu und lächelte. »Ihr sucht jemanden? Dann solltet ihr euch an Blutmond wenden, dort…«, begann sie, doch Lugh Akhtar schüttelte langsam den Kopf. »Es ist keine Person im eigentlichen Sinne. Wir suchen den Winter.« Der weiße Wolf lächelte leicht. Doch nun geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Anstatt zu spotten und zu lachen schaute ihn Cinders Rudel geradezu ehrfürchtig an und auch die aschgraue Leitwölfin selbst schien verblüfft. Dann fiel ihr Blick auf sein Halsband und den Stein, der daran baumelte. Sie stand auf, machte zwei Schritte auf ihn zu und wollte den Stein mit ihrer Nase berühren, als Lugh Akhtar vorsichtshalber vor ihr zurückwich. »Ich denke nicht, dass es klug wäre, den Stein zu berühren, seine Macht könnte dich zermalmen«, erklärte er und neigte entschuldigend den Kopf. »Glaubst du?«, fragte sie lächelnd und stupste nach dem Stein. Kaum hatte sie ihn berührt, da leuchtete er hell auf, jedoch spürte der weiße Wolf, dass es ein positives Leuchten war. Die aschfarbene Wölfin schien so vertraut mit der Magie des Steines. »Wer bist du nur?«, fragte er leise. »Jemand, der den Winter kennt«, antwortete Cinder leise und lächelte wölfisch. Es schien erst, als wolle der weiße Wolf weitere Fragen stellen, doch stattdessen nickte er sacht. »Haben wir die Erlaubnis auf dem Territorium des Schattenfang-Rudels zu bleiben?«, fragte er leise. »Vielleicht«, antwortete sie und zuckte launisch mit einem Ohr. »Welche Bedingungen stellst du?« »Nur die, dass du mir auf meine Fragen mit wahrem Wort antwortest. Sollte mir die Antwort jedoch nicht gefallen, musst du ebenfalls gehen.« Sie stand auf und wandte sich langsam um. Während sie noch den Kopf drehte und ihm ihr sehendes Auge zuwandte, legte sie ihre Rute in einer verführerischen Geste auf die Schulter. »Komm mit mir, ich möchte mir deine Antworten alleine anhören.« Zögernd und erst nach einem fragenden Blick zu Sly und Ice erhob er sich. Sie lief voran und er folgte ihr durch die weite Schneelandschaft, bis sie zu einem Wäldchen kamen. In der Mitte erhob sich ein großer Felsen, darauf ließ sie sich nieder. Er setzte sich zu ihren Füßen nieder und schaute fragend zu ihr auf. »Deinen wahren Namen?«, begann sie in einem selbstgefälligen Anführertonfall. »Mein Geburtsname ist Fjodor, aber ich denke, mein wahrer Name ist Lugh Akhtar.« »Woher hast du den Stein?« »Von dem schwarzen Wolf, Tariq. Er ist ebenso wie ich ein Mensch. Er fand ihn eines Tages auf der Fensterbank mit der Nachricht, dass er für mich sei.« »Wieso suchst du den Winter?« »Weil sie mir ein paar Mal schon im Traum erschien. Sie bat mich, dass ich zu ihr kommen möge.« »Und wieso…« Ihre Augen blitzten und er erkannte, dass alles von Beginn an nur auf diese Frage hingelaufen war. »Wieso kenne ich dich? Und woher kennst du mich?« Sie stellte erwartungsvoll die Ohren auf. Darauf schwieg der weiße Wolf und dachte lange nach. »Kennst du die Schatten in deinem Kopf? Du weißt, dass du sie kennst und du weißt ebenso, dass sie wichtig sind. Und trotzdem kannst du den Gedanken nicht fassen, als wäre er eben nur ein Schatten. Ich kenne den Halbmond auf dunklem Fell, aber mehr als dieses Wissen ist noch nicht da.« Er senkte nachdenklich den Kopf. »Ich verstehe, was du meinst, mir geht es ebenso«, flüsterte sie. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Bleibt auf Schattenfang-Gebiet, so lange ihr es wünscht. Ich muss zu meinem Rudel zurück und du zu deinen Freunden. Lass uns gehen.« Sie sprang vom Felsen hinab und lief stolz erhobener Rute voran. Und er folgte ihr, wissend, dass er es bis ans Ende der Welt tun würde, sollte sie so weit laufen. Und er verstand nicht einmal, wieso. Kapitel 11: Der schwarze Wolf ----------------------------- Cinders Rudel bestand aus sieben Wölfen. Jeweils zwei Rüden und zwei Wölfinnen hatten dem Kampf beigewohnt, ein weiterer Rüde und zwei Wölfinnen waren zurückgeblieben. Eine dieser verbliebenen Wölfinnen mit rötlichen Flecken an den weißen Beinen und einem dick geschwollenem Bauch kam ihnen entgegen. »Cinder, bist du schwer verletzt worden? Sie haben nichts erzählen wollen!«, fragte sie fürsorglich und leckte der Leitwölfin über das Gesicht. »Nein Leila, mach dir keine Sorgen um mich«, beruhigte Cinder sie geduldig. »Dann ist ja gut…« Sie setzte sich erleichtert auf eine komplizierte Art und Weise nieder und erst jetzt verstand Lugh Akhtar, dass der dicke Bauch daran lag, dass sie Nachwuchs erwartete. Das verwunderte ihn ein wenig, normalerweise war es die Leitwölfin, die die Jungen gebar. Nur kurz darauf kam der Rüde zu ihnen, der nicht an den Streitereien teil genommen hatte. »Cinder, Artemis war hier. Sie möchte eine Versammlung einberufen, sie wird dir Bescheid geben, wann genau. Ansonsten möchte sie mit dir über die drei Streuner sprechen, die hier neu aufgetaucht sind«, erklärte er, schaute dabei Lugh Akhtar an und zuckte mit den Ohren zu Nea und Tariq, die unsicher bei Sly blieben. »Sie dürfen auf unserem Gebiet bleiben, alle drei«, beantwortete die Leitwölfin seine unausgesprochene Frage. Dann wandte sie sich dem weißen Wolf zu. »Ich spreche mit Artemis, es sollte kein Problem darstellen, dass ihr auch in ihr Rudelgebiet dürft. Blutmond wird euch sowieso freudig aufnehmen, wenn ihr dort eure Geschichte zum Besten gebt. Einzig dem Gebiet der Eisfelle solltet ihr euch fern halten«, meinte sie. »Wieso ist Fang Fremden gegenüber so… unaufgeschlossen?«, erkundigte er sich. »Ist sie grundsätzlich gar nicht, aber ihr Rudel besteht aus vierzehn Wölfen, es ist doppelt so groß wie meines. Dazu haben sie im Moment heranwachsende Welpen und es ist Winter. Eisfell kann es sich einfach nicht leisten, Beute zu teilen. Vermutlich wird es bei ihnen auch so schon Tote geben«, antwortete Cinder, während sich Sly, Ice, Nea und Tariq zu ihnen gesellten. »Dann hättest du ihnen das Gebiet überlassen sollen«, fand Nea vorwurfsvoll. »Tue ich doch«, fand die aschfarbene Wölfin. »Sie kennen die hiesigen Sitten nicht, sie wissen nicht, was du getan hast«, mischte sich schnell Sly ein, der sich sogleich an Nea wandte. »Das Gebiet ist vom Schattenfangrudel, allerdings dürfen die anderen Rudel, besonders die Eisfelle, dort jagen. Damit sie das Gebiet allerdings nicht komplett übernehmen, müssen die Schattenfang die anderen ab und an daran erinnern, wessen Terrain es eigentlich ist. Damit sie, sollte es jemals nötig sein, die Jagdrechte nicht an die anderen abgetreten hat, ohne es zu wollen«, erklärte er. »Also… war das eigentlich gar nicht ernst gemeint?«, fragte Tariq vorsichtig. »Bei richtigen Gebietskämpfen kämpft das ganze Rudel und es gibt durchaus Tote und Verletzte«, merkte Ice an. Nea sah entsetzt aus und auch Tariq kauerte sich ängstlich nieder. »Es sind Wölfe, für sie gehört der Tod viel mehr dazu, als zu uns Menschen«, versuchte Sly zu erklären, doch Nea blitzte ihn wütend an. »Ja, wer weiß, wie viele du schon auf dem Gewissen hast…«, knurrte sie böse. Sly war zutiefst verletzt, das sah man ihm nur allzu deutlich an. Er schaute sie noch einen Moment lang an, dann wandte er sich ab und ging ohne ein Wort. »Das war sehr, sehr unfair von dir«, merkte Ice an, der genau zu wissen schien, wer Nea war. Er blitzte sie böse und verächtlich an, bevor er Sly hinterher lief. Wohl um ihn zu trösten, doch sicher war Lugh Akhtar sich nicht. Bei Ice war er sich nie ganz sicher. »Ich… muss das nicht verstehen, nehme ich an?«, erkundigte sich Cinder zögernd. »Nein. Das eben war typisch für die menschliche Rasse, es war eine typische Verhaltensweise. Die solltest du weder verstehen, noch annehmen. Wann meinst du, kannst du mit Artemis sprechen? Ich möchte… das ganze schnell hinter mich bringen und dann nach Hause gehen.« Lugh Akhtar fühlte sich mit einem Mal überfordert. Er spürte all die alten Selbstzweifel wieder aufkommen und sehnte sich vom Herzen wieder zurück in seine Hütte, die so weit abseits der großen Städte lag, dass man ihn in Ruhe ließ. Die einzigen Gedanken, die er sich dort machen musste, waren die, wann wohl der Schneesturm sich so weit beruhigt haben mochte, dass die Bewohner der Umgebung ihm wieder gefahrlos gegenübertreten konnten. »Morgen, wenn sie nicht vorher schon zu uns kommt.« Cinder streckte sich und stupste den Rüden freundschaftlich in den dicken Pelz. »Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen sollte?« »Nein. Leila geht es gut und anderen Besuch hatten wir nicht«, erklärte er. »Gut. Ich… möchte gerne mit dir ein paar Dinge besprechen, River. Komm mit.« Sie lief davon, ohne abzuwarten, ob er ihr auch folgte. Lugh Akhtar wandte sich seinen Freunden zu. »Ich denke, wir sollten uns ein gemütliches Fleckchen suchen und etwas schlafen. Bis Morgen können wir wohl sowieso nichts tun.« Tariq nickte, doch Nea schien woanders mit ihren Gedanken. »Mach dir keine Sorgen, Sly wird nicht lange böse sein«, riet er ins Blaue hinein, doch so, wie sie zuckte und ihr schuldbewusster Blick dazu, sagte deutlich, dass er richtig geraten hatte. Jedoch ging keiner weiter darauf ein, stattdessen suchten und fanden sie einen Ort, an dem sie sich zum Schlafen niederlegen konnten. Es war schon späte Nacht, als Lugh Akhtar wieder erwachte. Cinders Rudel schlief ganz in der Nähe, an seiner Seite lag Nea und schlief fest. Er hörte den Schrei einer Eule, doch die würde ihm wohl kaum gefährlich werden. Doch da war noch ein anderes Geräusch, als wenn leise Pfoten durch den Schnee schlichen, und er musste an das gefleckte Ungetüm denken, das Ice verscheucht hatte, als sie gerade erst angekommen waren. Das war wirklich gefährlich gewesen. Er stand auf und beschloss sich die Sache einmal genauer anzusehen. Er folgte den leisen Schritten, bis hinter eine Schneewehe, dann verklangen sie. Er hob die Nase in den Wind, doch einzig der Geruch des schlafenden Rudels, nun außerhalb seiner Sicht, lag in der kalten Luft. Er wandte sich zum Gehen, als er eine Bewegung hinter sich gewahr. Langsam und ohne Hast, wissend dass ihm nichts geschehen würde, drehte er sich um. Ein Wolf, den er im schwachen Licht der Aurora am Himmel für Cinder hielt, stand vor ihm. Jedoch sah er die Unterschiede fast ebenso schnell. Dieser Wolf besaß nachtschwarzes Fell, kein graues, das konnte er trotz des schummrigen Lichtes erkennen. Außerdem besaß er eine andere Fellzeichnung und seine Augen… sie hoben sich fast nicht vom Leuchten des Himmels ab, sie waren… wie seine eigenen. Jene Nordlichtaugen, die nur ganz besondere Wesen in ihrer verwandelten Tiergestalt trugen. Wonach es sich genau richtete, war ihm unbekannt, doch war ihm dennoch klar, dass sein Gegenüber nicht irgendwer sein konnte. »Hallo, Fjodor«, begrüßte ihn der schwarze Wolf, auf dessen Stirn ebenso der Halbmond prang, wie der Cinders. »Woher kennst du meinen Namen?«, wollte Lugh Akhtar wissen, doch der schwarze Wolf ging nicht darauf ein. »Ich will dir helfen, dich zu erinnern. Du hast mich fast schon vergessen, das ist nicht gut«, erklärte er stattdessen. »Ich habe dich vergessen?« Der Wolf wirkte ihm ebenso vertraut, wie auch Cinder schon, doch dass es schlecht sein sollte, dass er sich nicht erinnerte, das fand er nun doch übertrieben. »Deswegen bin ich hier. Ich bin immer bei dir, wenn du meine Hilfe benötigen solltest. Vergiss das nicht. Vielleicht bin ich nicht als Gestalt da, aber bei dir bin ich dennoch. Es ist wichtig, dass du das nicht vergisst«, sprach der Fremde so eindringlich, dass der weiße Wolf unwillkürlich zwei Schritte zurück trat und die Ohren anlegte. »Wieso?«, fragte er, fast schon verzweifelt, doch er erhielt keine Antwort mehr. Stattdessen nickte der Schwarze zufrieden und löste sich in Dunkelheit auf. Verblüfft starrte Lugh Akhtar auf die Stelle, an der der schwarze Wolf nur Sekunden zuvor noch gestanden hatte, doch zeugten nur noch die Pfotenabdrücke von seiner Existenz. Er schaute sich um, hielt Ausschau nach weiteren Abdrücken, doch die einzigen, die er noch gewahr, waren seine eigenen. Eigentlich hätte er nicht einmal verwundert sein dürfen, denn auch der Winter kam und ging auf dieselbe Art und Weise, wie es ihm beliebte, doch der Winter manifestierte sich aus dem Schnee, der zu Haufen lag. Der schwarze Wolf schien nicht einmal das zu benötigen. Und er hatte ihn verwirrt. Eine ganze Weile noch blieb Lugh Akhtar so in der eiskalten Winternacht stehen, schaute auf den, vom Nordlicht glitzernden, Schnee. Irgendwann zogen – von ihm ganz unbemerkt – Wolken auf, verschluckten das zauberhafte Glitzern und es fing an zu schneien. Da hob er die Schnauze, spürte, wie weiße Schneeflocken auf seiner schwarzen Nase landeten und merkte, wie sie sich in seinem ebenso weißen Fell verfingen. Da spürte er ein Lachen in seiner Kehle und er ließ es frei. Ein bellendes Lachen, das laut, aber seltsam dumpf und abgeschirmt über den Schnee hallte. »Ich hab dich nicht vergessen, Zauberer! Ich hab für eine Weile nicht an dich gedacht, doch vergessen habe ich dich nie!«, rief er in die schneehelle Nacht hinaus. Als ihn ein leichter Wind umwehte und ihm ein glockenhelles Lachen schenkte, da wusste er, dass der schwarze Wolf ihn gehört hatte. Und dass er erleichtert und zufrieden darüber war. Mit einem Lächeln im Mundwinkel kehrte er zu den Anderen zurück. Alles schlief noch ebenso tief und fest, wie sie es getan hatten, als er gegangen war. Er legte sich wieder zu Nea und leckte ihr liebevoll über die Schnauze. Ihn überfiel eine Welle der Zuneigung, während er die rote Wölfin beobachtete. Und ein Gefühl, das ihm bisher unbekannt gewesen war. Es ging tiefer als die Zuneigung, die er empfand. Viel tiefer. Er konnte es nicht einordnen, doch war es ihm unangenehm. Und mit diesem wunderbaren Gefühl in sich schlief er langsam ein. Kapitel 12: Das erste Treffen der Leitwölfe ------------------------------------------- Lugh Akhtar hatte mit vielem gerechnet, was geschehen würde, als am nächsten Tag ein Bote der Nordwinde kam und Cinder über ein Treffen der Leitwölfe am selben Tag noch informierte. Was er jedoch sah, als er auf die anderen hinab blickte, schien ihm so anders, als erwartet. Ein Treffen der Leitwölfe. Cinder hatte ihm erklärt, dass jedes Rudel ein solches Treffen einberufen durfte und alle Leitwölfe dem Folge zu leisten hatten. Nicht, dass sich je wer geweigert hätte. Ein solches Treffen war ausnehmend selten, meistens betraf es auch nur die Rudel einer bestimmten Region. Dass wirklich alle sieben Leitwölfe daran teilnahmen, hatte Cinder erst einmal erlebt. Auch dieses Mal betraf es nur die vier südlichen Wolfsrudel, von den nördlichen würde keiner dabei sein. Eigentlich hätte er selbst gar nicht dabei sein dürfen, denn zu diesen Treffen kamen lediglich die Rudelführer, niemals andere Wölfe, doch Cinder hatte darauf bestanden, dass einer von ihnen mitkam. Mit fünf Mitgliedern waren sie einfach zu viele, um als Einzelgänger durch zugehen, und so hatten sie abgestimmt. Ice und Lugh Akhtar hatten Sly favorisiert, Nea und Tariq Lugh Akhtar. Sly hatte sich den Beiden angeschlossen, so war nun der weiße Wolf es, der gemeinsam mit Cinder zu der Versammlung ging, obwohl er von den Sitten und Gebräuchen so viel weniger verstand. Und so war er es, der verblüfft auf die drei Wölfe hinab blickte, die schon da waren. Zum einen stand dort Fang, die er mit ihrem haselnussbraunen Fell schnell erkannte. Er erkannte eine falbfarbene Wölfin, die gegen einen schwarzen Wolf mit stechend hellblauen Augen anging. Sie schnappte immer wieder nach ihm, dabei hatte sie ihre Leftzen zu einem bösen Knurren verzogen und das Fell gesträubt. »Das sind...?«, fragte Lugh Akhtar unsicher. »Die Helle ist Artemis von den Nordwinden, der Schwarze Ikaika, der Leitwolf der Blutmonde. Fang von den Eisfellen kennst du ja«, erklärte sie, bevor sie ihm voran zu den Dreien hinab lief. »Cinder!«, fauchte Artemis, als sie die Beiden entdeckte. »Du weißt genau, dass es verboten ist, andere Wölfe mitzubringen!« »Er ist der Leitwolf eines neuen Rudels, dem sich Sly und Ice angeschlossen haben«, erklärte sie und setzte sich zu den anderen Wölfen. »Ein neues Rudel…?«, fragte Ikaika unsicher und kam näher, dabei schaute er Lugh Akhtar an. »Mehr oder weniger… Meine Freunde und ich sind auf der Suche nach jemandem und da haben sich Sly und Ice uns angeschlossen, um uns zu helfen. Wir werden aber nicht hier bleiben«, erklärte er ruhig und hielt sich ein wenig auf Distanz. »Wohin wollt ihr? Und woher kommt ihr?«, fragte Artemis, noch immer böse, und schaute ihn fragend aus ihren hellsilbernen Augen an. »Wir… wollen nach Norden, wir ziehen weiter, so schnell wir können. Wir kommen von… der anderen Seite der Mauer«, erklärte er verunsichert. »Also seid ihr Verbannte. Ihr könnt euch jederzeit Blutmond anschließen, wenn ihr wollt«, mischte sich Ikaika ein, und zuckte verbittert mit dem Ohr. »Nein. Wir sind freiwillig hier. Es ist… eine lange Geschichte«, antwortete Lugh Akhtar. Das brachte ihm einen verblüfften Blick des schwarzen Wolfs ein, denn wie konnte man denn nur freiwillig über die Mauer gehen? »Erzählst du sie mir? Später? Die anderen Neuen, die im Laufe der Zeit hergekommen sind, wissen fast nichts, sie sind… immer so uninteressiert gewesen…«, merkte Ikaika an und blickte traurig zu Boden. »Ich erzähle dir alles, was ich weiß«, versprach Lugh Akhtar und duckte sich, bis er Ikaika in die Augen blicken konnte. »Aber ich möchte, dass du mir auch ein paar Fragen beantwortest, es könnte wichtig sein.« »Was auch immer du wünscht, weißer Wolf«, lachte Ikaika und schüttelte sich. Da schnaubte Artemis unwillig. »Ich fürchte, indem du ihn da mitgebracht hast, hast du das Treffen schon überflüssig gemacht, Cinder«, fauchte sie und stolzierte an Fangs Seite. »Hast du es nur einberufen, um über die Streuner zu beratschlagen?«, fragte die aschfarbene Wölfin zweifelnd und lächelte. »Ja«, knurrte sie schnippisch, doch Fang lachte bellend. »Du weißt doch, dass du Artemis ihre großen Auftritte nicht nehmen darfst«, grinste sie. »Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass jeder Leitwolf, der von der Versammlung wusste, auch daran teilnimmt«, antwortete Cinder ruhig. »Er gehört noch nicht zu uns! Er ist ein Fremder«, knurrte die Falbfarbene. »Ich… gehe auch wieder, wenn es dir lieber ist. Ich… wir hatten sowieso nicht vor, lange hier zu bleiben. Wir brauchen lediglich die Erlaubnis, eure Gebiete durchqueren zu dürfen, damit wir weiter nach Norden können«, erklärte Lugh Akhtar. Darauf herrschte Stille, solange, bis Ikaika laut auflachte. »Weißt du eigentlich was genau du gerade erbeten hast, weißer Wolf?«, fragte er lauernd. »Freies Geleit durch Feindesland«, antwortete Lugh Akhtar verunsichert. »Nein, viel mehr als das. Du hast eben Freundschaft erbeten. Aber Rudel sind niemals miteinander befreundet. Nicht auf diese Art und Weise. Wenn wir dir freies Geleit versichern, Lugh Akhtar, würdest du dich auf gewisse Weise unserem Rudel anschließen, doch wie kann ein Rudel zugleich zu einem anderen gehören? Es ist… verrückt, nur ein Mensch kann eine solche Bitte stellen. Spätestens jetzt hättest du deine Herkunft verraten, weißer Wolf«, erklärte er grinsend. »Dann…« Lugh Akhtar schaute Cinder fragend an. »Was bedeutet das?« »Was meint er?«, wollte Fang misstrauisch wissen. »Er hat die Erlaubnis, auf Schattenfang-Gebiet zu bleiben«, lächelte die aschgraue Wölfin. Hätte sie verkündet, der Mond viele auf die Erde, die Aufregung hätte nicht größer sein können. »Das gab es niemals zuvor, was maßt du dir an!«, fauchte Artemis. »Bleibt doch einmal ruhig, lasst mich erklären«, lachte Cinder und erhielt schnell die Aufmerksamkeit der Anderen. »Lugh Akhtar sucht den Winter. Den wirklichen Winter, das, was uns jedes Jahr den Winter bringt, versteht ihr?« »Ja«, nickte Fang und wich ängstlich drei Schritte zurück. Sie duckte sich und legte die Ohren an. »Sehr gut sogar.« Auch Ikaika und Artemis nickten, doch sie alle wirkten nicht begeistert. »Ich…« Sie wandte sich Lugh Akhtar zu. »Ich möchte mit euch gehen.« Damit hatte der weiße Wolf nicht gerechnet. Erstaunt blickte er die aschfarbene Wölfin an. »Wieso?«, fragte er verblüfft. »Weil ich den Winter kenne… zumindest in gewisser Weise. Ich habe Fragen an sie, und ich weiß, dass du sie finden kannst, Lugh Akhtar. Ich möchte mit euch kommen«, erklärte sie bittend. »Das kann ich nicht allein entscheiden, Cinder. Außerdem braucht… dich doch dein Rudel… oder nicht?«, fragte er unruhig. »Nein. Ich habe mit River gesprochen, er wird das Schattenfangrudel führen und ich weiß, dass er was gut machen wird. Und ihr braucht jemanden, der sich im Norden auskennt, es ist… dort anders, als hier… und Sly und Ice waren noch nie dort«, erklärte sie. »Wirst du deine Freunde nicht vermissen?«, fragte er leise. »Nein. Es wird ihnen gut gehen, das weiß ich. Und… ich möchte auch wissen, wer du bist, Lichterstern«, erklärte sie. »Lichterstern…?« »Ja. Das bedeutet dein Name… hat mir… Sly erzählt.« Sie schaute unsicher zu Boden. »Lichterstern… Wenn die Anderen einverstanden sind, dann komme gerne mit uns. Mir ist es nur recht, Cinder. Aber das verhilft uns immer noch nicht zum freien Geleit durch die anderen Rudelgebiete.« Er schaute fragend zu den anderen drei Wölfen. »Das kommt darauf an, wie man es sieht. Cinder ist aus dem Norden, wir würden ihr und ihrem Rudel heile Rückkehr versprechen. Das ist etwas anderes, als wenn ihr einfach so durch unser Gebiet wollt. Blutmond wird euch nicht im Wege stehen«, antwortete Ikaika und ein anerkennendes Blitzen lag in seinen Augen. »Einer Rückkehr können wir uns nicht entgegenstellen, auch Eisfell wird euch unbehelligt lassen«, stimmte Fang zu. »Nordwind wird euch solange auf seinem Land dulden, wie es nötig ist, es zu durchqueren«, sprach Artemis. »Danke. Wir werden euer Gebiet nicht länger als nötig beanspruchen«, dankte Cinder. Darauf folgten einige Belanglosigkeiten unter den drei Wölfinnen. Cinder erklärte, warum ausgerechnet River ihre Nachfolge antreten würde, und Ikaika kam zu Lugh Akhtar. »Ich nehme an, dann wirst du mir deine Berichte nicht liefern können?«, fragte er leise. »Wir werden wieder zurückkehren, wir werden wieder über die Mauer gehen. Und bevor wir das tun, müssen wir wieder hierher, dann werden wir uns lange unterhalten müssen«, antwortete der weiße Wolf ernst. »Gut. Dann warte ich auf dich«, antwortete Ikaika. Sie wollten eben die Versammlung auflösen, als eine fremde Wölfin auf sie zugelaufen kam. »Cinder! Cinder, da bist du endlich!«, rief sie schon vom Weiten. »Soul? Soul, was tust du hier?« Die graue Wölfin lief der Schwarzen entgegen. »Ich will dich warnen, Schwester! Mutter will eine Versammlung der sieben Rudel einberufen«, erklärte die hastig. Lugh Akhtar musste diese Welt nicht kennen, um zu wissen, dass das etwas ganz besonderes war. Da reichte schon ein Blick in die Gesichter der anderen Wölfe. Kapitel 13: Cinder und Soul --------------------------- »Also wird nun River der Leitwolf von Schattenfang, wer hätte das gedacht. Er war immer so… nun ja, viel zu lieb um sich durchzusetzen, gar nicht zum Anführer geeignet… irgendwie«, fand Soul und setzte elegant über einen Baumstamm. Cinder folgte ihr leichtfüßig, nur Lugh Akhtar blieb stehen und neigte nachdenklich den Kopf. »Ich verstehe das irgendwie nicht alles…«, merkte er an und ließ verwirrt die Ohren hängen. »Es hat dir ja auch noch keiner erklärt«, warf Soul ein und ihre Augen blitzen wissend auf. Cinder dagegen lächelte, schüttelte dann aber besänftigend den Kopf. »Es ist gar nicht so kompliziert. River und ich kommen eigentlich aus dem Eismond-Rudel«, begann sie. »Eismond?«, Lugh Akhtar setzte nun ebenfalls über den Baumstamm. »Ich sehe schon, Sly hat dir wirklich nichts erzählt«, seufzte sie. »Er erzählte von vier Rudeln, die er kennt. Schattenfang, Nordwind, Eisfell und Blutmond. Sie leben hier in dem Gebiet. Und du hast von den Treffen der Leitwölfe erzählt«, er beobachtete sie genau durch seine Nordlichtaugen. »Ja, das Gefüge unserer Welt aber viel tiefer. Innerhalb des schwarzen Berges leben sieben Wolfsrudel. Die südlichen vier kennst du ja. An Schattenfang-Gebiet liegen Eisfell und Blutmond im Norden und Nordwind im Süden. Hinter Eisfell und Blutmond gibt es erst einmal eine ganze Weile nichts, dann beginnt das Gebiet der Wolkenjäger. Daran grenzt Lichtfänger und ganz im Norden liegt Eismond. Weißt du, welchen Sinn die Rudel überhaupt haben?«, sie schaute ihn fragend an, während sie nebeneinander herliefen. »Sie bieten Schutz vor Feinden, außerdem lässt sich so mehr Beute machen und…«, wollte er erklären, doch Soul lachte auf und auch Cinder schnitt ihm mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln das Wort ab. »Glauben Menschen das wirklich?«, fragte sie ruhig. »So… wurde es mir beigebracht. Es macht Sinn und in Wolfsgestalt ist mir noch kein Eiswolf über den Weg gelaufen, den ich fragen könnte«, brummte er mit einem unwilligen Zucken des Ohres. »Dann mögt ihr das ruhig glauben, doch so ist es nicht. Nicht nur. Unser Leben ist sehr viel komplexer, als das es bloß aus Jagd und der Arterhaltung besteht. Wir sind hier im Reich des Winters, es ist sein höchsteigenes Reich. Hier muss sie nichts mit einem anderen teilen. Hier gibt es keinen Frühling oder einen Herbst und einen Sommer schon gar nicht. Hier zählt allein der Wille des Winters, und der Wille ihrer Geschwister bedeutet hier nichts«, erklärte Soul und schaute zu ihnen zurück. »Geschwister?«, fragte Lugh Akhtar verblüfft. »Ja. Sommer, Frühling und Herbst sind ihre Geschwister«, lächelte Cinder. Lugh Akhtar schwieg verblüfft, wartete darauf, dass Soul fortfuhr. »Innerhalb des schwarzen Berges besteht nur ihr Wille und wir müssen auf ihre Gnade hoffen. Sie gibt uns Gnade, sie sorgt dafür, dass alles vorhanden ist, was wir zum Leben benötigen. Dafür sind wir ihre Wächter in jenen Tagen, in denen sie Schwach und Krank ist. Und wir folgen ihrem Ruf, wechseln in ihr Rudel, wenn einer ihrer Gefährten stirbt«, erklärte die auch schon weiter. »Wie meinst du das, wenn einer ihrer Gefährten stirbt? Und in ihr Rudel überzuwechseln…?«, fragte der weiße Wolf unsicher. »Das würde zu weit führen. Du wirst es verstehen, wenn du den Winter erst einmal getroffen hast. Aber das ist ja jetzt eher unwichtig. Immerhin wolltest du wissen, was mit River und mir ist, oder?«, Cinder lächelte schüchtern. »Ja. Und auch, woher du sie kennst«, er warf Soul einen kurzen, scheuen Blick zu. Sie kam ihm seltsam vor. Sie trug einen Pony, der eines ihrer Augen verdeckte, auf eine so menschlich wirkende Art und Weise. Zudem hatte sie einen lilanen Reif um ihre Rute und ihre Hinterbeine zierten eine Art goldener Fesseln, in dem ihr Name eingraviert war. Sogar noch einzelne Kettenglieder hingen daran. »Die ist meine kleine Schwester«, antwortete Cinder, einige Grade kühler, als zuvor, als schien sie seine Gedanken gelesen zu haben. »Wir sind Zwillinge«, warf Soul gleich ein. »Du bist trotzdem jünger. Zwar nur ein paar Minuten, aber jünger ist und bleibt jünger. Ist jetzt aber auch egal. River und ich kommen aus Eismond. Meine Mutter ist Duana, sie ist im Moment dort die Leitwölfin, und Soul ist meine Schwester. Allerdings ist Duana immer ein wenig… abweisend Soul gegenüber gewesen, als wenn sie ihr nichts bedeuten würde… Vielleicht liegt es daran, das ich unserem Vater ähnlich sehe, vielleicht…«, Cinder wurde von Lugh Akhtar unterbrochen. »Du siehst deinem Vater ähnlich?«, fragte er mit gespitzten Ohren und blieb abermals stehen, um sie aus großen Augen anzustarren. »Ja«, antwortete Cinder und neigte den Kopf. Sie verstand seine Reaktion nicht. »Ich glaube… dass ich ihn getroffen habe… vor noch nicht allzu langer Zeit…«, erklärte er leise. »Das kann nicht sein. Er ist tot, seid Jahren schon«, sie schaute ihn misstrauisch aus ihren ungleichen Augen an. »Tod…? Aber wie…«, Lugh Akhtar schüttelte langsam den Kopf. »Wie kann das sein…?« »Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber es war gewiss nicht unseren Vater«, Cinder ging wieder weiter und Lugh Akhtar folgte ihr langsam und zögernd. »Duana auf jeden fall zog mich bei allem vor«, fuhr Cinder fort und merkte gar nicht, das der weiße Wolf ihr eigentlich gar nicht mehr wirklich zuhörte. »Irgendwann ist es mir dann zu viel geworden. Ich mochte nicht mehr mit ansehen, wie sie meine Schwester zusetzt und ich bin gegangen. River hat Duana erzählt, das mich ein Bär erwischt hätte und ist mir dann mit Soul gefolgt. Soul ist bei Sternenfänger geblieben, aber River ist mit mir nach Süden gezogen, bis wir auf Schattenfang trafen. Der damalige Leitwolf hat uns beide aufgenommen und wir sind dort geblieben. Er hat sich dann dem Winterrudel angeschlossen, und mich zu seiner Nachfolgerin gemacht. Soul besucht uns ab und an noch, und das ist schon die ganze Geschichte.« Sie schaute zu ihm zurück und merkte, dass er nur mäßiges Interesse zeigte. »Worüber denkst du nach, Lugh Akhtar?«, fragte sie so. »Über deinen… euren Vater. Erzählt mir von ihm, ich habe das Gefühl, das er wichtig sein könnte« bat er die Schwestern. »Nun… er war ein nachtschwarzer Wolf. Er hatte weiße Beine und noch ein paar andere weiße Flecken. Und einen weißen Halbmond auf seiner Stirn, das habe ich von ihm. Seine Augen schimmerten wie das Nordlicht, genauso wie deine und wie…«, Cinder warf Soul einen Blick zu, und Lugh Akhtar folgte ihrem Blick. Doch Souls Auge war blau, deswegen verstand er ihren Blick nicht. »Er war stolz und gerecht. Egal was wir auch anstellen mochten, er hat war niemals wirklich böse mit uns. Nur besorgt. Er hat immer daran geglaubt, dass jedes Wesen, egal wie schrecklich und grauenvoll seine Taten auch sein mögen, im Grunde seines Herzens gut ist. Er hat immer viel gelacht und war immer gut gelaunt. Er hat uns jeden Abend eine Geschichte erzählt, über das, was er erlebt hat, als er noch jung war, und über das, was hinter den schwarzen Bergen liegt«, fuhr sie fort. »Mit den schwarzen Bergen meinst du die Mauer?«, fragte Lugh Akhtar Gedankenversunken. »Ja, ich denke schon. Ikaika sagt auch immer Mauer«, nickte sie. »Wusste er wirklich, was hinter ihr liegt, oder war es nur eine Geschichte?« »Das wissen wir nicht, den wir waren niemals dort. Er erzählte und von einem riesigem Land, in dem Menschen leben. Zauberer und solche, die nicht mit der Magie umgehen können. Es gibt Städte, so groß wie ein ganzes Rudelgebiet, und die Größte, die Mächtigste, heißt Altena. Dort gibt es einen Turm, der so hoch ist, wie der Himmel und in seinem Innern funkelt ein Licht, das tausendmal schöner ist, als das Nordlicht. Es gibt aber auch kleinere Städte und Dörfer, in denen die Menschen ein einfaches Leben leben«, mischte sich Soul ein. »Dann war es keine Geschichte, dann ist er dort gewesen. Von dort komme ich, aber glücklich war ich in den Menschenstädten nie«, nickte Lugh Akhtar. »Gibt es Altena denn wirklich? Und diesen Turm?«, fragte Cinder aufgeregt. »Ich habe es immer für eine Geschichte von Ikaika und unserem Vater gehalten.« »Altena gibt es, und auch den Turm. Ich habe dort gelebt und gelernt. Wie hieß euer Vater?«, der weiße Wolf setzte sich nieder. »Kanoa Kuroi«, antwortete ihm Soul und sogleich starrte er sie aus großen Augen an. »Kanoa Kuroi?«, keuchte er. »Ja«, antwortete Cinder misstrauisch. »Was sagt dir der Name?« »Oh, eine Menge«, lache Lugh Akhtar bitter. »Ich habe ihn nie persönlich kennen gelernt, er wurde in die Verbannung geschickt, noch bevor ich meine Lehre bei Nikolai begann. Aber Kanoa Kuroi ist dennoch so ziemlich jedem Zauberer ein Begriff. Obwohl Nikolai der Meister der Zauberergilde ist, war Kanoa immer ungleich mächtiger, als es Nikolai jemals sein könnte. Er ist… eine Legende… und er ist euer Vater… ihr könntet zu den mächtigsten Zauberinnen dieser Welt gehören!«, rief er aus. »Was? Er war ein Mensch?« »Wie auch ich, ja. Er war ein Verwandelter, einst ein Mensch, ein Zauberer«, nickte Lugh Akhtar. »Ein Mensch… wir sind zur Hälfte Menschen…«, Cinder setzte sich in den Schnee und starrte vor sich hin. »Ist doch egal, was wir sind, wir sind jetzt hier«, fand Soul und stellte sich neben ihre Schwester. »Das stimmt. Wir sind hier… lasst uns zurückkehren«, Cinder stand wieder auf und wollte weiterlaufen. Soul folgte ihr, doch der weiße Wolf blieb stehen. »Geht vor, ich komme gleich nach«, sagte er leise. Sogleich lief Cinder weiter, doch Soul schaute ihn und dann die Luft neben ihn eine ganze Weile an. »Kannst du ihn auch sehen?«, fragte sie leise. »Sehen? Wen?«, Lugh Akhtar neigte den Kopf. »Wieso begleitet er dich? Wieso nur schließt er sich einem Fremden an, statt bei seinen Töchtern zu bleiben?«, fragte sie bitter und ihre Augen blitzten böse auf die Luft an seiner Seite. »Ich… weiß nicht, was du meinst«, antwortete der weiße Wolf unsicher und machte zwei Schritte zurück. »Er ist hier, Lugh Akhtar. Kanoa, mein Vater. Er steht an deiner Seite. Er ist bei dir er begleitet dich, er ist dir so nah. Und das, obwohl du ihm nicht einmal begegnet bist. Ich verstehe nicht, wieso!«, sie schüttelte heftig den Kopf und lief davon, dabei glitzerte eine Träne in ihrem Auge. Verwundert und mit einem beklemmenden Gefühl im Magen schaute er ihr nach. Er verstand nicht, was geschehen war, wen nur sollte er sehen? Und sie konnte Kanoa hier sein, wenn er doch Tod war? Und doch, der schwarze Wolf war schon einmal zu ihm gekommen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass es sich um dieselbe Gestalt handelte. Dazu hatte er viel zu viel Erfahrung mit dem Schicksaal. »Kanoa Kuroi… Kanoa! Wo bist du? Ich möchte mit dir reden!«, rief er in die Schneelandschaft hinaus. Natürlich tat sich nichts, eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Dennoch blickte er mit gespitzten Ohren um sich. »Warum nur bist du zu mir gekommen? Was steckt nur hinter deiner Geschichte…? Ich habe so unglaublich viele Fragen an dich…«, sprach er leise vor sich hin und blickte traurig zu Boden. Da war es mit einem mal, als würde ihm der Wind antworten. Er hob den Blick und lauschte und tatsächlich war es ihm, als flüsterte es um ihn herum eine Botschaft, die nur für ihn bestimmt war. Bald, Fjodor, bald wirst du Antworten bekommen, flüsterte er und es war dem weißen Wolf so, als spürte er wieder tiefe Geborgenheit in seinem Herzen. Er nickte langsam und mit einer tiefen, inneren Ruhe wandte er sich um und folgte den Spuren Cinders und ihrer Schwester, zurück zu seinen Freunden. Kapitel 14: Streit ------------------ Lugh Akhtar erschauderte unwillkürlich und duckte sich, wie zur Verteidigung. Er wusste, dass ihm hier keine Gefahr drohte, denn sonst wären Cinder und Soul nicht so ruhig gewesen, doch er spürte, dass auch Sly sich in Verteidigungshaltung begab und Ice die Beine so versteifte, als hätte jemand Stöcke hineingetrieben. Nea drängte sich eng an ihn, während Tariq sich niederkauerte. »Wo sind wir hier?«, fragte der weiße Wolf flüsternd. »Das hier ist das Reich von Cloud und ihren Wolkenjägern.« Cinder setzte sich ruhig nieder, in den Schnee hinein und blickte nachdenklich auf das, was sich vor ihr für ein Schauspiel bot. »Es sieht nicht immer so aus, doch offensichtlich haben sie gute Beute gemacht«, fügte Soul hinzu und ließ ihre Zähne bei einem wölfischen Grinsen blitzen. Wäre Lugh Akhtar ein Mensch gewesen, so wäre er wohl blass geworden. Jetzt starrte er die schwarze Wölfin nur erschrocken an. Die lachte daraufhin laut auf. »Das war ein Scherz«, griente sie. Lugh Akhtars Blick sagte wohl sehr deutlich, dass er ihr nicht glaubte, denn auch Cinder lachte nun. »Das hier ist die Blutebene. Sie sieht immer so aus, jeden Tag, immer dann, wenn Tag und Nacht tauschen«, erklärte sie. Der weiße Wolf indes blickte immer noch steif, aber mit gespitzten Ohren auf die weite Ebene vor sich. Er konnte den Namen mehr als nur verstehen, denn was er sah, sprach seine eigene Sprache. Der Schnee inmitten dieses Tals war rot wie Blut. Es wirkte, als habe jemand ein Blutbad, ein Massenschlachten veranstaltet, und der Schnee hätte den roten Lebenssaft gierig wie ein Schwamm in sich hinein gesogen. »Kommt es… von der Sonne?«, fragte Nea leise an seiner Seite. »Ja. Aber wie genau das von statten geht, weiß ich nicht.« Cinder blickte kurz zu ihr hin. »Es ist auf jeden Fall gruselig. Lasst sie uns durchqueren und dann vergessen«, bat Tariq leise und mit zitternder Stimme. Lugh Akhtar wandte sich zu ihm um und machte einen zögerlichen Schritt in seine Richtung. Der schwarze Wolf machte einen elenden Eindruck. In seinen Augen war etwas zu sehen, was das Herz des weißen Wolfs mit Mitleid erfüllte. Die braunen Augen waren glanzlos und er zitterte leicht. »Was ist los, Tariq?«, fragte er leise, doch der Prinz antwortete nicht. Der weiße Wolf wollte eben noch einmal lauter nachfragen, als der Wind ihm einen fremden Geruch zutrug. »Bewegt euch nicht, das ist Cloud mit ihrem Rudel!« Cinder blickte starr vor sich hin. »Wieso?«, fragte Nea leicht verunsichert, zugleich aber auch seltsam bissig. Doch die graue Wölfin kam nicht mehr zum Antworten, da fegte schon ein achtköpfiges Rudel so nahe an ihnen vorbei, dass sich ihre Fellspitzen berührten und ihnen ein Luftstoß nachfolgend das Fell zerwühlte. Erschrocken starrten sie alle bloß geradeaus. Da kam das Rudel auch schon zurück und umstellte sie. Eine Wölfin mit auffälligem Fell und himmelblauen Augen trat vor sie und knurrte. »Erklärt euch«, grollte sie böse. »Hallo Cloud!«, grüßten Soul und Cinder zeitgleich und stürzten sich schweifwedelnd auf die elfenbeinweiße Wölfin. Die ignorierte die Schwestern ebenso, wie sie Neas und Tariqs Anwesenheit nicht zur Kenntnis nahm. Ihre komplette Aufmerksamkeit erhielten lediglich Ice, Sly und Lugh Akhtar. »Habe ich mich unklar ausgedrückt? Erklärt euch!«, knurrte sie böse und machte einen Satz nach vorne, sodass sie direkt vor Sly stand und ihn so böse anblickte, als wäre alles Übel dieser Welt ganz und gar alleine seine Schuld. »Ich, ähm, wir…« Sly brach verdutzt ab und grinste ein hilfloses Wolfsgrinsen. »Cloud, das sind Freunde«, lachte Cinder und stupste sie sanft in die Seite ihrer Schnauze. »Freunde!« Sie sprach das Wort aus, als wäre es etwas schmutziges, ekliges. »Von dir hätte ich mehr erwartet, Cinder. Und von dir auch, Soul.« »Was meinst du?«, wollte die aschgraue Wölfin verblüfft wissen. »Schau sie dir doch an! Der eine ist von den Biestern aus Blutmond, der zweite ist ein Fuchs und, das ist ja mit Abstand das Schlimmste! Der dritte ist BLAU!« Wäre die Situation als solche nicht schon völlig Absurd gewesen, hätten sie jetzt alle wohl laut losgelacht. So jedoch schauten die Drei sich hilflos und verdutzt an. »Ich bin aber nicht blau.« Sly ließ die Ohren hängen und schaute so Mitleid erregend, wie es sonst nur ein junger Hund zu tun vermochte. Da schaute nun auch Cloud verdutzt und die Anspannung, die zuvor noch fast greifbar in der Luft gelegen hatte, löste sich in einem lauten Lachen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich alle wieder beruhigt hatten und nicht alle hatten zuvor mitgelacht, doch irgendwann wurde es wieder stiller. »Dann stellt mir doch einmal eure Freunde vor«, bat Cloud und setzte sich elegant in den Schnee, während der seine blutrote Farbe verlor und langsam in ein gräuliches Blau wechselte. »Nun, dein Blutmondmitglied nennt sich Lugh Akhtar, der Fuchs ist Sly und der blaue ist Ice.« Cinder wurde von Cloud unterbrochen. »Sly und Ice? Die beiden Einzelgänger aus den südlichen Gebieten?« Ihre Augen blitzten gefährlich, als sie das fragte. »Ja«, bestätigte Ice und er und Sly spannten sich kaum merklich, als erwarteten sie einen Angriff. »Ich… habe schon von euch gehört…« Sie ließ nicht erkennen, ob dies Gutes oder Schlechtes bedeutete, doch wandte sich nun ihre Aufmerksamkeit Nea zu. Sie sagte nichts, sondern betrachtete das rotbraune Fell abfällig, bevor sie ihren Blick Tariq zuwandte. Sie schaute ihn nur für einen Augenblick an, da machte sie einige Schritte zurück und knurrte. »Er ist krank«, knurrte sie. »Krank?«, fragte Lugh Akhtar verwundert und schaute zu seinem Freund zurück. »Eine Erkältung, Cloud. Du willst ihn doch deswegen gewiss nicht davon jagen, oder?« Cinder stellte sich zwischen die elfenbeinfarbenen Wölfin und den schwarzen Prinzen. Cloud dachte einige Momente lang nach, dann verneinte sie. »Solange er sich von meinen Leuten fernhält, darf er wohl bleiben. Ich nehme an, ihr alle wollt bleiben?«, fragte sie misstrauisch. »Ja. Nur für diese Nacht, wir wollen nach Norden. Zurück zu Duana«, erklärte Cinder. »Übermorgen ist das Leitwolftreffen. Du wirst für Schattenfang anwesend sein, oder?« »Nein. River ist jetzt der Rudelführer. Ich begleite bloß einen Freund«, antwortete sie unruhig und peitschte nervös mit der Rute. Cloud beobachtete sie nachdenklich, doch ließ sie sich auch dieses Mal nicht ansehen, was sie dachte. Irgendwann zuckte sie mit dem Ohr und machte einen Satz zurück. »Ihr wisst, wo das Rudellager ist, wir erwarten euch da«, erklärte sie und fegte davon, bevor jemand antworten konnte. Ihr Rudel folgte ihr sofort, wie auf einen stummen Befehl hin. »Ich dachte, es sei eher unüblich, dass man fremden Wölfen hilft, wenn man in einem Rudel ist…«, merkte Lugh Akhtar an. »Bei Cloud ist das etwas anders. Sie ist seit Jahren schon mit Soul und mir befreundet, und ich wage ja zu behaupten, dass sie mit River früher eine engere Beziehung hatte, als die Beiden zugeben würden.« Cinder zwinkerte mit ihrem blinden Auge und setzte sich wieder. »Seid ihr auch aus dem gleichen Rudel?« Sly schaute sie fragend an. »Nein. Aber die Welpen der drei nördlichen Rudel waren damals alle sehr gut befreundet. Allerdings gab Duana auch Cloud und ein paar anderen Freunden aus den anderen Rudeln die Schuld an meinem >Tod<. Deswegen ist die ganze Situation auch ein wenig… angespannter. Nichtsdestowenigertrotz sind wir weiterhin alle gut befreundet und das Cloud hier Leitwölfin ist, vereinfacht das ganze ungemein. Allerdings…« Sie wandte sich Tariq zu. »Mit deiner Erkältung solltest du wirklich nicht zu nahe an ihr Rudel kommen, sie könnte sonst ein wenig rüde reagieren.« Tariq zuckte mit den Ohren, sagte aber nichts. Stattdessen beschlossen sie gemeinsam, dass sie sich nun einen Schlafplatz suchen wollten. Jedoch nicht in der Nähe des Rudels, sie wollten ihr Glück nicht überstrapazieren. Sie fanden einen gemütlichen Platz, bei ein paar Felsen, der mit Tannen so umgeben war, dass auf der kleinen Lichtung kaum Schnee lag und der Wind nicht bis zu ihnen hin drang. Cloud kam eine Stunde nachdem die Sonne komplett untergegangen war zu ihnen und sprach lange mit Cinder und Soul. Die drei hatten sich ein wenig abseits auf den Felsen niedergelassen und die ernsten Blicke sprachen ihre eigene Sprache. Das Gesprächsthema schien nicht gerade angenehm zu sein. »Worüber sprechen sie?«, wollte Nea leise von Lugh Akhtar wissen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er und zuckte mit dem Ohr. Dann schaute er zu Sly und Ice hinüber, die ebenfalls ein wenig abseits saßen. Der blaue Wolf sprach leise auf den Fuchswolf ein, der wiederum schüttelte ab und an den Kopf, antwortete aber nicht. Auch worum es in diesem offensichtlichen Streitgespräch ging, wusste er nicht. »Sag mal, Nea…« Er wandte sich wieder seiner Freundin zu. »Ja?«, fragte sie und lehnte sich an ihn. Der weiße Wolf überlegte einen Moment, welche Frage er zuerst stellen sollte, doch als er Tariq allein außerhalb der Lichtung im Schnee liegen sah, da war es klar. »Weißt du, was mit Tariq ist? Er ist so… seltsam. Eine Erkältung hat er weiß Gott oft genug gehabt, als er damals für eine Weile bei mir gewohnt hat, aber so habe ich ihn trotzdem noch nicht erlebt…« Der weiße Wolf legte sich in den Schnee. Nea schwieg darauf eine Weile und legte ihre Schnauze in seinen Nacken. »Das ist… nicht so einfach, Lugh Akhtar…«, meinte sie leise. »Wieso? Was… ist denn mit ihm?« Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, sie anzuschauen. »Es liegt nicht an seiner Erkältung. Ich glaube, Tariq ist… unglücklich und fühlt sich zurückgesetzt«, erklärte sie vorsichtig. »Wieso?«, fragte er verblüfft und schaute mit fragenden Augen auf den schwarzen Wolf. Nea seufzte und stupste ihn in den Mundwinkel. »Ach, mein weißer Wolf… Es ist so, Tariq ist ein Prinz. Ja, er benimmt sich nicht so, er ist viel lieber und aufgeschlossener, als die Hohen Herren in Lanta, aber er ist es dennoch. Und als Prinz ist er es gewohnt, dass sich alles um ihn dreht. Dazu ist er noch ein Einzelkind. Es hat vermutlich niemals in seinem Leben eine Zeit gegeben, wo er nicht wichtig war. Alles hat ihn immer betüddelt und bemuttert, und selbst als wir damals nur zu dritt unterwegs waren, ist es dennoch immer mit um ihn gegangen. Jetzt aber nicht. Jetzt bist nur du wichtig. Und mit einem Mal ist auch nicht mehr er dein bester Freund, denn mit einem Mal gibt es Sly. Und für die anderen ist er auch nicht mehr, als jeder andere. Mit einem Mal ist er gewöhnlich und seinen besten Freund hat er auch noch verloren. Er hat einfach das Gefühl, dass er überflüssig ist«, versuchte sie zu erklären. »Aber das ist doch schwachsinnig. Du bist doch auch nicht anders, als sonst, und dir muss es doch ähnlich gehen«, fand er und sprang auf. Doch da fiel ihm wieder seine andere Frage ein, die er Nea stellen wollte. Wieso sie Cinder gegenüber so abweisend war. Doch nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Du bist auf Cinder eifersüchtig.« Sogleich verengten sich Neas Augen und sie legte die Ohren an. »Wieso sollte ich?«, knurrte sie schnippisch. Da lachte der weiße Wolf leise. »Ich glaube es nicht. Du bist eifersüchtig auf Cinder! Aber wieso?« Sie zog die Lefzen hoch, knurrte ihn böse an, ließ dann jedoch die Ohren hängen und senkte den Blick. »Weil sie dir näher steht, als ich es tue. Und das will ich nicht. Lugh Akhtar, ich…« »Aber das tut sie doch gar nicht«, unterbrach er sie sanft. »Wie könnte sie auch? Ich kenne sie doch erst seit ein paar Tagen. Du wirst immer meine beste Freundin sein.« Da stand die rote Wölfin auf, bedachte ihn mit einem eiskalten Blick und stolzierte mit einem gefauchten »Idiot!« steifbeinig davon. Lugh Akhtar blickte ihr verwundert nach. Er verstand nicht, was er falsch gemacht hatte, dass sie so böse war. So schaute er ihr noch einen Moment lang nach und lief dann zu Tariq hinüber. »Ich verstehe die Frauen einfach nicht. Da versichert man ihnen ewige Freundschaft und sie wird böse«, beschwerte er sich leise und setzte sich neben seinen Freund. »Könnte daran liegen, dass du ein Idiot bist«, antwortete der schwarze Wolf. »Ja, das hat sie auch gesagt… warum allerdings nicht. Dass du hier im Schnee liegst, ist übrigens nicht gerade förderlich für deine Erkältung.« Der weiße Wolf beugte sich zu Tariq hinab und stupste ihn an. »Ich weiß, aber es ist ja doch egal. Wen interessiert es schon, ob ich gesund bin, oder nicht? Dich gewiss nicht«, schnappte der. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Lugh Akhtar ruhig. Durch Nea kam dieser Ausbruch nicht gerade unvorbereitet. »Stell dir vor, ich bin nicht dumm. Ich weiß, was vor sich geht, auch wenn keiner mit mir reden mag!« Tariq sprang auf und warf sich Zähnefletschend zu Lugh Akhtar herum. »Ich denke, dass du einfach nur eine Menge in Dinge rein interpretierst, die gar nicht zutreffend sind, mein Freund«, versuchte der weiße Wolf, den Schwarzen zu beruhigen, doch erreichte er damit eher das Gegenteil. »Ach, jetzt bin ich dein Freund? Jetzt, wo Sly nicht mit dir seine Zeit verbringt, sondern mit Ice? Weißt du was? Du kannst mich mal! Du hast deine neuen Freunde, also lass mich und Nea jetzt endlich in Ruhe! Du begreifst sowieso nicht, was wirklich wichtig ist!« Der schwarze Wolf brüllte wie ein Löwe. Lugh Akhtar machte zwei Schritte zurück, begegnete seinem Freund aber dennoch mit Ruhe. »Aber so ist es doch gar nicht, Tariq…«, wollte er weiter sprechen, doch der unterbrach ihn ruppig. »Nenn mich nicht Tariq«, knurrte er kalt. »Nenn mich Prinz Fjodor. Du hast nicht mehr das Recht, mich als Freund zu bezeichnen.« »Gut, dann eben Prinz Fjodor«, antwortete der weiße Wolf deutlich kühler und stellte sich gerade hin. Unwillkürlich sträubte sich sein Fell. »Habe ich nun Eure Erlaubnis, zu sprechen, Mylord?« »Ich will deine Lügen gar nicht hören. Ich bin es leid von dir belogen zu werden, Makani.« Der junge Prinz wandte sich verbittert ab. »Ich belüge dich aber nicht. Ich möchte mit dir reden.« Traurig blickte Lugh Akhtar zu Boden. »Bitte hör mir doch zu.« »Natürlich, mal wieder soll ich dir zuhören. Hast du mir jemals zugehört? Für dich bin ich doch immer nur ein lästiges Kind gewesen, einst gut genug dazu, dir die Langeweile zu nehmen, doch jetzt wirfst du mich weg, wie ein altes Kleidungsstück.« »Das ist doch nicht wahr.« Der Wolf flüsterte nur noch traurig und wandte sich ab. »Du solltest mich doch besser kennen… Du bist mein Freund, immer schon gewesen…« »Sei einfach ruhig. Nea und ich gehen zurück und schließen uns Ikaikas Rudel an, solange bis wir einen Weg über die Mauer zurück nach Hause finden«, knurrte der schwarze Wolf. »Was tut ihr?« Fassungslos starrte Lugh Akhtar ihn an. »Wir gehen zurück.« Tariq blickte in den nachtenden Himmel. »Und Nea kommt mit dir? Wieso hat sie es mir nicht gesagt?«, fragte der weiße Wolf mit großen Augen. »Weil du ein Idiot bist. Weil du nicht zuhörst. Weil du denkst, dass du immer alles weißt, alles kannst und so viel besser bist, als wir.« »Das stimmt doch gar nicht...« Lugh Akhtar kauerte sich auf dem Boden nieder. Tariq antwortete darauf nicht mehr, sondern blitzte ihn von oben herab böse an. Dann schnaubte er und ging mit gesträubtem Fell und steifen Beinen zu Nea, die unter den Tannen saß und wütend vor sich hin starrte. Eine ganze Weile später kam Ice zu ihm. Das war das erste Mal, dass der blaue Wolf zu ihm kam. Er setzte sich neben ihm in den Schnee und schaute auf das weiße Fell hinab. »Warum versinkst du hier in Selbstmitleid?«, fragte er hart. »Mein bester Freund hasst mich und die Frau, die mir so wichtig ist, wie nichts auf der Welt, will mit ihm gehen, ohne mir auch nur ein Wort davon gesagt zu haben.« Lugh Akhtar vergrub seine Schnauze zwischen die Pfoten. »Und deswegen liegst du hier herum und lässt alles geschehen, ja?« Ice seufzte und setzte sich. »Was soll ich denn sonst tun? Tariq spricht nicht mit mir und Nea offensichtlich auch nicht.« Der weiße Wolf schaute mit seinen Nordlichtaugen zu ihm hoch. »Davon lässt du dich wirklich so unterkriegen? Ich weiß, dass du Nikolais Schüler bist, Sly hat es mir erzählt. Dir ist bisher doch nun wirklich alles in den Schoß gefallen, jetzt tu doch endlich einmal selbst etwas dafür, dass es weiter bergauf geht«, fand der blaue Wolf mitleidlos. »Mir ist gar nichts in den Schoß gefallen«, antwortete Lugh Akhtar verbittert. »Ach nein? Das sehe ich aber anders. Bis mich ein Zauberer als Lehrling angenommen hat, musste ich weit mehr tun, als mich einfach nur finden lassen. Ich habe seit Jahren hart trainiert und ich bin trotzdem bloß Durchschnitt. Vielleicht einen Hauch besser, aber an dich werde ich niemals herankommen. Die… die einzige Frau, die mir wirklich etwas bedeutete, beachtet mich nicht mehr als einen Käfer, während deine Herzdame nur noch deutlicher werden kann, indem sie es ausspricht. Mein bester Freund hört nicht auf mich, obwohl er genau weiß, dass ich recht habe, während dein bester Freund gerade verzweifelt nach einem Rat schreit und alles dafür tun würde, dass du ihm den endlich auch einmal gibst. Und jetzt sag mir noch einmal, dass dir nicht alles in den Schoß fällt.« Ice verzog die Lefzen zu einem wölfischen, freudlosen Grinsen. Lugh Akhtar schaute ihn nachdenklich an. »Siehst du es jetzt ein? Einmal laufen auch für dich die Dinge nicht ganz so leicht. Also steh jetzt auf, vertrag dich mit Tariq und frag ihn endlich danach, was ihn wirklich beschäftigt. Und dann erteil ihm den Rat eines Freundes, nicht einen, den er gerne hören möchte. Danach gehst du zu Nea und sprichst nicht das aus, was in deinem Kopf ist, sondern das, was in deinem Herzen wohnt, das ist nämlich viel, viel wichtiger.« Damit stand Ice auf und gesellte sich zu Cinder, die unruhig um die Felsen herumstrich. Lugh Akhtar schaute ihm nach, zuckte dann mit dem Ohr und stand langsam und zögernd auf. Er beobachtete erst Ice und Cinder und ahnte, von welcher Frau der blaue Wolf gesprochen hatte. Doch hatte er nicht vor, sich dort einzumischen, das war eine Sache zwischen der aschfarbenen Wölfin und Ice. Stattdessen lief er langsam zu Nea und Tariq hinüber, die ihn misstrauisch und alles andere als freundlich beäugten. »Ich will mit euch reden«, erklärte er so fest, wie es ihm möglich war. Gott sei dank zitterte seine Stimme dabei nicht. »Wir aber nicht mir dir«, antwortete Tariq böse, doch der weiße Wolf schüttelte entschieden den Kopf. »Das war keine Bitte, Prinz Fjodor«, erklärte er und ein seltsamer Mut erfüllte sein Herz. »Das war eine Ankündigung. Ihr beide werdet jetzt hier bleiben und ich werde mit euch reden. Und wehe euch, dass ihr mir wieder aus dem Weg gehen wollt. Vergesst nicht, ich bin immer noch durchaus in der Lage, euch mithilfe meiner Magie zu zwingen.« Obwohl es eine vollkommen unverhohlene Drohung war, klang seine Stimme nicht danach. Im Gegenteil, sie war ruhig und fest, und stand im kompletten Gegensatz zu seinem Inneren, den dort tobte ein Sturm der Unsicherheit und Unruhe. Durch dieses selbstsichere Auftreten jedoch, waren Nea und Tariq durchaus dazu bereit, ihn anzuhören. Keiner widersprach mehr, stattdessen schauten sie ihn fragend an und warteten auf das, was er zu sagen hatte. Und so setzte sich der weiße Wolf nieder. Kapitel 15: Das zweite Treffen der Leitwölfe -------------------------------------------- Lugh Akhtar zitterte vor Aufregung. Nervös blickte er zu Sly und Ice hinüber, die genauso aufgeregt wirkten, wie er auch. Da stupste ihn Soul aufmunternd in die Seite und blitzte ihn freundlich an. »Ganz ruhig, so schlimm ist eine große Versammlung auch wieder nicht«, fand sie und lächelte. »Ist es überhaupt rechtens, wenn wir dabei sind?«, fragte er unsicher. »Ja, keine Sorge. Bei einer großen Versammlung dürfen alle Wölfe teilnehmen, die möchten, nicht nur die Leitwölfe, wie bei einer kleinen Versammlung«, erklärte sie. »War eure Mutter eigentlich sehr sauer, dass ihr sie so lange belogen habt?«, wollte der weiße Wolf unvermittelt wissen, und traf dabei unbewusst einen wunden Punkt. Soul senkte den Blick und wirkte bedrückt. »Es… hätte schlimmer kommen können«, fand sie und trat von einem Bein aufs andere. »Wieso, was hat sie getan?« Lugh Akhtar rieb seine Schnauze an ihrer. »Nichts… nichts, was man ändern könnte.« Sie zog sich vor ihm zurück, machte einen Schritt von ihm weg. »Soul, wenn ich irgendetwas tun kann…«, begann er, doch sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, kannst du nicht. Es… es ist egal.« Sie schaute zu Cinder hinüber, die auf das Tal hinab blickte, in dem die Versammlung stattfinden würde, aber in just diesem Augenblick aufstand. »Lasst uns gehen«, rief sie, ohne zu den anderen zurück zu blicken. Als Lugh Akhtar neben sie trat, sah auch er, dass die Versammlung wohl bald beginnen würde, denn abgesehen von den Sternenfängern waren schon alle da. So sprangen sie über den Rand hinweg und stürzten die steile Böschung hinab zum Rest der Wölfe. Alle Leitwölfe hatten noch mindestens zwei Begleiter dabei, sodass es viele verschiedene Tiere waren, die auf das letzte Rudel warteten. Das ließ auch nicht lange auf sich warten, da stürzten drei Wölfe, vorne weg eine nachtschwarze Wölfin, hintendrein ein grauer Rüde und eine hübsche Braune lief an ihrer Seite. Während der Graue und die Braune zwischen die anderen liefen, blieb die Schwarze mit den durchdringenden, kalten Magentaaugen ein wenig außerhalb auf einem kleinen Felsen stehen. »Sind alle da?«, fragte sie herrisch und blickte einmal herablassend über die Menge. »Ihr wart die letzten«, merkte Hunter, ein okerfarbener Rüde, der als Leitwolf der Lichtfänger auftrat, an. »Gut. Ihr fragt euch sicher, was geschehen ist, dass ich eine große Versammlung einberufe, nicht wahr?« Duana genoss es sichtlich, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. »Dann erzähl mal, Schätzchen. Ich für meinen Teil habe noch anderes zu tun.« Ikaika lief leichtfüßig direkt zum Felsen und setzte sich vor Duana. Ein unwilliges Zucken ihres Ohres bezeugte, dass ihr das so gar nicht recht war, doch sie sagte dazu nichts. Stattdessen schnaubte sie böse und fuhr fort. »Es geht darum, dass Nordlicht nicht mehr so eifrig ihre Dienste tut, wie sie es sonst immer getan hat. Und auch Schnee war die letzten Wochen nicht gerade fleißig.« Duana setzte sich und ordnete ihre Rute um die Pfoten herum. »Ist doch egal. Wenn sie ihre Arbeit nicht tun, dann ist das eine Sache des Winters, das geht uns nichts an«, fand Artemis. »Im Prinzip hast du recht, das kann aber auch bedeuten, dass sie beide bald…«, Cinder suchte nach Worten. »Ausgetauscht werden müssen?«, half Fang weiter. »Ich hätte es zwar ein wenig anders ausgedrückt, aber ja, im Prinzip meine ich genau das«, nickte Cinder. »Danke mein Kind, genau darauf wollte ich hinaus.« Duana warf Cinder einen liebevollen Blick zu. »Dann ist das aber auch nicht unsere Sache, auch das entscheidet der Winter«, mischte auch Cloud sich ein. »Aber was ist, wenn der Winter es nicht entscheiden will? Oder kann? Weil sie schwach und krank ist?«, überlegte Soul. Sie hatte kaum die letzte Silbe beendet, da stürzte sich Duana auf sie und biss ihr heftig in die Schulter. Die schwarze Wölfin ließ zwar auch sofort wieder von ihr ab, aber Ice war trotzdem sofort zwischen den beiden schwarzen Wölfinnen, noch bevor ein anderer reagieren konnte. »Sei ruhig, du kleines Aas«, fauchte Duana böse und ihre Augen blitzten. »Hör auf, so gegen sie anzugehen, sie hat genauso viel Recht hier zu sprechen, wie du«, bemerkte Ikaika, während er an Duana und Ice vorbei zu Soul ging. Er fragte sie leise etwas, woraufhin sie den Kopf schüttelte, aufstand und an den Rand der Gruppe schlich. Sly und Ice begleiteten sie. »Ja, Grundsätzlich hat sie es, aber das war auch keine Reaktion zwischen gleichberechtigten, sondern das habe ich eben als Mutter getan. Und als solche darf ich ihr durchaus den Mund verbieten, Ikaika.« Duana sprach den Namen wie eine Beleidigung aus. Doch Ikaika ignorierte diese Anfeindung. Da wurde Lugh Akhtar eines bewusst: Entweder mochte man den schwarzen Wolf, oder man tat es nicht. Allerdings gab es hier nur schwarz und weiß, kein grau. Es gab kein >Vielleicht<, oder >Ich weiß nicht<. Es gab nur zwei Aussagen, die man über Ikaika treffen konnte. »Dann erziehe deine Töchter nicht mehr in meiner Gegenwart auf diese Art und Weise, das nächste Mal schaue ich nicht zu«, antwortete der mit gebleckten Zähnen. Daraufhin erhob sich ein leises Knurren. »Es ist nicht üblich eine so hochrangige Leitwölfin wie Duana so offen anzufeinden«, erklärte ihm Cinder leise, als er gerade ebenfalls etwas sagen wollte. »Aber es war nicht richtig, was sie getan hat«, antwortete er leise. »Das liegt nicht in deinem ermessen, zu entscheiden, Lugh Akhtar. Verschiedene Arten zu Leben bedeutet auch immer, ein verschiedenes Empfinden von Recht und Unrecht. Ich finde es auch nicht gut, wenn meine Mutter meine Schwester so hart angeht, aber ist trotzdem in Ordnung so«, fand die aschfarbene Wölfin. Lugh Akhtar starrte sie irritiert an. Meinte sie wirklich, was sie sagte? Ihm schien das unbegreiflich. Eine Mutter, die die eigene Tochter so behandelte, und die anderen hießen das auch noch gut? Er schüttelte entschieden den Kopf. »Eure… Welt ist schwer zu verstehen«, fand er und wandte sich ab. Er wollte eine mögliche Antwort von Cinder gar nicht hören. Zumal Ikaika und Duana aufgehört hatten, sich gegenseitig anzufauchen. Stattdessen hatte sich River zaghaft zu Wort gemeldet. »Was ist denn nun der Grund, dass wir hier sind?«, fragte er ruhig. »Nun…« Die schwarze Wölfin trat unruhig von einer Pfote auf die andere. »Soul hat recht. Der Winter hat mich darum gebeten, dass wir die nächsten Nachfolger bestimmen, sollte es sich als nötig erweisen. Sie hat zu tun, sie erwartet wichtige Gäste.« »Mehr müssen wir nicht wissen, komm mit«, flüsterte Cinder Lugh Akhtar ins Ohr. Sie drängelte sich zwischen den Leibern hindurch zu Soul, Ice und Sly, die ein wenig abseits warteten. Er folgte ihr, zwar eher unwillig, aber er tat es. »Was haben sie noch besprochen?«, fragte Sly, kaum dass die beiden in Hörweite waren. »Nichts, was für uns von Bedeutung wäre. Oder hast du vor, dich dem Rudel des Winters anzuschließen, wenn… einer aus ihrem Rudel stirbt?« Cinders Blick wurde abweisend. »Dem Rudel des Winters?«, fragte der weiße Wolf erstaunt. »Du wirst es verstehen, wenn wir bei ihr sind«, meinte Soul mit belegter Stimme. »Was tun wir jetzt?«, wollte Sly weiter wissen. »Wir gehen weiter. Solange Duana nicht da ist, werden die anderen uns bestimmt in Frieden ziehen lassen«, meinte Cinder. »Und wenn nicht?« Ice setzte sich neben Soul. »Dann hoffe ich, dass ihr ein dickes Fell und scharfe Zähne habt, um euch zu verteidigen«, knurrte die aschgraue Wölfin schlecht gelaunt und stand auf, um den anderen voran weiter zu laufen. Die anderen folgten nicht sofort, stattdessen warfen sie Soul einen fragenden Blick zu. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist«, antwortete die, denn sie hatte die Blicke richtig verstanden. »Sie macht sich Sorgen um Nalani.« River war ganz unbemerkt zu ihnen getreten. »Wer ist Nalani?«, wollte Sly wissen. »Sie war Leittier von Schattenfang, als wir Beide uns dem Rudel anschlossen. Als das Nordlicht damals starb, hat der Winter sie ausgesucht. Cinder mochte Nalani ausgesprochen gerne, die beiden waren einander so nahe, wie Schwestern… nichts für ungut.« Er nickte entschuldigend in Souls Richtung. »Schon in Ordnung. Warum hat mir Cinder nie von ihr erzählt?« Soul trat näher an River heran. »Ich denke, weil sie dich nicht kränken wollte. Sie wollte nicht, dass du dich unerwünscht fühlst, nur weil sie eine solch gute Freundin gefunden hatte. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Den wahren Grund kennt wohl nur Cinder selbst.« »Du sagtest Leittier. Nicht Leitwolf. Wieso?«, fragte Lugh Akhtar ganz unvermittelt. »Weil Nalani kein Wolf war. Sie war eine Polarfüchsin, dir nicht ganz unähnlich…«, bemerkte River und betrachtete den weißen Wolf mit einem seltsamen Glanz in den Augen. »Wie meinst du das?«, wollte Sly sofort wissen und baute sich vor dem Leitwolf auf. »Es ist… schwierig zu beschreiben. Ich glaube, auch sie stammte von der anderen Seite der schwarzen Berge, aber ich habe sie nie gefragt. Ihre Augen waren… seltsam. Sie waren eigentlich schwarz, doch manchmal, wenn das Licht darauf fiel, dann schimmerten sie in einer anderen Farbe. Und ihr Fell schien immer einen Schimmer der Farben ihrer Umgebung zu haben. Als hätte das Land gewusst, dass sie einmal das Nordlicht sein würde und verzweifelt versucht, sich einen Platz inmitten ihres Pelzes zu suchen…« River schien in Gedanken. »Wieso hat ein Wolfsrudel eine Polarfüchsin als Leittier akzeptiert? Mich hat damals schon gewundert, dass sie Cinder angenommen hatten, obwohl sie nicht im Rudel geboren wurde. Aber wieso eine Füchsin?«, erkundigte sich Ice. »Ich weiß es nicht. Ich habe niemals darüber nachgedacht. Es war einfach so, und niemand hat es jemals angezweifelt. Es war einfach… richtig so. So, wie es richtig war, dass Nalani zum Winter gegangen ist. Oder wie es richtig ist, dass Lugh Akhtar hier ist. Versteht ihr? Es gibt Dinge, die sind einfach richtig, ohne dass man weiß wieso«, fand er und verzog die Schnauze zu einem sanften Lächeln. »Genauso, wie es Dinge gibt, die falsch sind. Und man kann dennoch nichts daran ändern«, nickte Soul und warf dabei dem weißen Wolf einen Blick zu, den man nur allzu leicht für Hass halten konnte. Doch er verstand, dass es tiefer ging. Sie hasste ihn nicht. Sie verstand nur etwas nicht und er konnte es ihr nicht erklären, obwohl sie sich sicher war, dass nur er allein auf der Welt die Macht hatte, ihr diese eine Frage zu beantworten. Es war Unsicherheit, von dem ihr Blick erzählte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. »Ihr solltet jetzt gehen. Cinder wird sich bestimmt schon wundern, wo ihr bleibt«, unterbrach River ihr stummes Zwiegespräch. »Eine Frage noch. Wenn ihr bestimmt, wer sich als nächstes dem Winter anschließt… wieso bist du dann nicht dort und berätst mit?«, wollte Ice unvermittelt wissen. »Weil ich nicht einmal dann gehen würde, wenn der Winter selbst mich darum bäte. Oder es mir befiele. Und wer stattdessen geht interessiert mich nicht wirklich.« »Hängst du etwa so sehr an dieser Welt?«, fragte Soul erstaunt. »Nein. Aber ich werde bald Vater«, antwortete River stolz. »Deswegen werde ich auch nach Hause gehen. Ich will Leila nicht allzu lange alleine lassen.« So verabschiedeten sie sich von ihm und zogen Cinder nach. Weiter nach Norden, dem Winter selbst entgegen. Kapitel 16: »Bis ans Ende der Welt...!« --------------------------------------- Lugh Akhtar hob den Blick und sah nichts anderes, als eine unruhige weiße Wand. Das Schmelzwasser des Schnees war schon vor Stunden durch sein Fell gedrungen und hatte ihn komplett durchnässt, sodass er sich nun zitternd weiter schleppte. Er lauschte für einen Moment hoffnungslos in den Wind, doch natürlich, die anderen hörte er nicht. Sie waren fort, er war allein hier, seit Stunden schon. Er verstand nicht wieso er sich immer noch weiterschleppte und sich nicht einfach in den Schnee legte und auf den Tod wartete. Was anderes würde ihm hier gewiss nicht begegnen. Vielleicht war es die Hoffnung, doch noch einmal zurückkehren zu können, vielleicht war es auch einfach nur ein Selbsterhaltungstrieb, ein Instinkt, der weit über seinem bewussten Denken stand. Er lief weiter. Er wusste nicht, wohin. Er hatte sich inmitten des wogenden Schnees schon vor langer Zeit verlaufen, und der Schnee deckte seine Spuren so schnell wieder zu, dass er womöglich schon seit Stunden im Kreis lief, ohne es auch nur zu merken. Vielleicht bildete er sich auch einfach nur ein, immer noch durch den Schnee zu irren, während sein Körper schon tot, steif und zerschmettert in einer Felsspalte lag und niemand wohl jemals davon erfahren würde. Er wusste es nicht, er dachte auch nicht darüber nach. Er lief einfach, den Blick stur auf den Boden gerichtet, nur ab und an gehoben, um zu sehen, ob der Sturm vielleicht langsam nachließ. Gelegentlich lauschte er auch noch einmal auf ein Geräusch, doch eigentlich wusste er, dass er nichts hören würde. Es war nicht so, dass er an gar nichts dachte. Im Gegenteil, so müde er auch war, so blutig und schmerzend seine Pfoten auch waren und so erfroren seine Ohren, so waren seine Gedanken doch seltsam klar. Er dachte über seine Reise nach, überlegte, dass ihm eigentlich am Anfang schon hätte klar sein sollen, dass es kein gutes Ende nehmen konnte, wenn er versuchte, einem solch mächtigen Wesen wie dem Winter gegenüber zu treten. Sie hatten ihn zu recht ausgelacht, sie hatten gut darin getan, ihn zu verspotten und Nikolai darin, ihn zu warnen zu gehen. Er selbst hatte nicht hören wollen. Dieser Gedanke wäre weit weniger schmerzhaft, hätte es nur ihn allein getroffen, doch er hatte zielgerichtet auch andere mit in sein Verderben gestürzt. Angefangen mit Nea und Tariq. Ein bitteres Lachen entkam seiner Kehle, als er an die Beiden dachte. Sie waren freiwillig mit ihm gegangen, ja, aber dennoch war es seine Schuld, dass sie nun hier gefangen waren. Er musste an ihr letztes Gespräch denken. Er hatte Tariq gefragt, was es wirklich war, was ihn beschäftigte. Es war so banal gewesen, so ungemein normal, dass Lugh Akhtar für einen Moment einfach nicht hatte verstehen können, wie man sich um so etwas Gedanken machen konnte, wenn man inmitten eines fremden Landes stand, nicht wusste, wer Freund und wer Feind war. Doch eigentlich lag der Gedanke gar nicht so fern. Tariq war ein Mensch. Es machte einen Unterschied, ob man ein Zauberer war, oder ein Mensch. Menschen dachten nicht nach, sie fühlten einfach nur. Und dennoch, waren sie nicht eigentlich gleich? Verzehrte sich nicht auch sein Herz nach eben den gleichen Dingen, wie es auch das Herz des jungen Mannes tat? Und dachte nicht auch Tariq manchmal Dinge, die so vollkommen unpassend waren, wie nur irgend möglich? Es war verwirrend, es war deprimierend, es war ein unlösbares Rätsel. Worin unterschieden sich Mensch und Zauberer? In ihrem Handeln und ihrem Fühlen waren sie sich gleich. Und nur die Magie konnte sie doch nicht so entzweien! Eigentlich aber, war es egal. Tariqs Kummer war für ihn nah und verständlich. Er konnte ihn nicht mindern, zumindest jetzt noch nicht, aber wenn sie wirklich wieder in die bekannte Welt zurückkehrten, dann war es ein Leichtes. Er sehnte sich nach einem anderen Menschen, nach einem Mädchen. Ihren Namen hatte der junge Prinz nicht verraten, doch Lugh Akhtar war es einerlei. Es war nicht wichtig, wer sie war, sondern nur, dass sie Tariq glücklich machte. So wie Nea ihn glücklich machte. Er erinnerte sich noch so gut an jenen Tag, als er sie das erste Mal sah. Er war fünfzehn gewesen, da war sie einfach an ihm vorbei gelaufen. Er hatte damals nicht verstanden, wieso ausgerechnet sie ihm auffiel, war sie doch eigentlich nicht anders, als jedes andere Mädchen. Begleitet von einer ihrer vielen Schwestern war sie einfach nur zum Turm der Zauberer geschlendert, und er hatte auf dem Rand des Brunnens gesessen und war sogleich von ihr verzaubert worden. Hatte es seitdem je einen Tag gegeben, an dem er nicht nach ihr Ausschau gehalten hatte? Hatte es einen Moment gegeben, an dem er nicht an sie dachte? Er wusste es nicht. Er hatte darüber nachgedacht, ob es Liebe war, was ihn so sehr an sie band, doch nein. Dieses Gefühl ging so viel tiefer, als es dieses eine Wort jemals auszudrücken vermochte. Zumal man es so oft schon für alles Mögliche nutzte, dass es seine wahre Bedeutung schon lange verloren hatte. Er brauchte sie. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen, wie das Wasser zum trinken und das Korn zum essen. Sie war für ihn so viel mehr, als man es mit einem Wort ausdrücken könnte. Alle Worte dieser Welt hätten ihm nicht gereicht, denn alle Worte dieser Welt erschienen ihm so nichts sagend und klein gegen ihr. Und obwohl sie ihm lieber war, als alles andere auf der Welt, konnte er es ihr nicht sagen. Eine ganz besonders bittere Art der Ironie. Jene Menschen, die man von allen am liebsten hatte, waren doch immer auch jene, die man am meisten verletzte. Doch was war es eigentlich, was er ihr sagen wollte? Dass er sie brauchte? Das hatte er doch schon und es hatte sie nicht glücklich gemacht. Und es gab wohl nichts, was er lieber tun würde, als sie glücklich zu machen. Doch konnte er von Liebe sprechen, wenn er sich nicht sicher war, dass es genau das war, was er empfand? Liebe. Ein seltsames Wort. Ein Wort, so oft benutzt. Ein leeres Wort, ohne jede Bedeutung. Und dennoch ein Wort, das er nicht auszusprechen wagte. Ein Wort, das er nicht ausfüllen konnte. Ein Wort, das nichts, zugleich aber auch alles bedeutete. Ein Wort, das in ihm Angst säte. Und zugleich aber auch Sehnsucht. Aber waren Worte an sich nicht seltsam? Nutzte man sie falsch konnte man einen Menschen schlimmer verletzen, als jede Waffe es zu tun vermochte. Doch für die wirklich wichtigen Dinge, für das, was wirklich zählte, da reichten sie nicht aus. Sie waren ein Klang, eine Melodie, eine wahre Symphonie! Sie erzählten von Wahrheit und von Harmonie. Von Glück, von Lachen, von Leben. Und dabei konnten sie grausam sein, voller Hass, voller Schmerz, voller Leid, voller Tod. Sie erzählten Geschichten, sie erzählten Leben, sie erzählten von Freiheit, von Leidenschaft, von allem, was wirklich wichtig war im Leben. Aber zugleich aber machten sie Angst, sie warnten, sie logen, sie betrogen. Sie ließen einen im Stich, wenn man sie am nötigsten hatte. Sie umschmeichelten einen in guten Tagen und sie waren die Ersten, die gingen, wenn es einem schlecht ging. Der weiße Wolf lachte bitter auf. Der Wind, die Kälte, der Schnee schienen ihm den Verstand geraubt zu haben. Was dachte er nach über Worte! Wie sollten ihm Worte nur hier weiterhelfen? Doch wusste er genau, dass Worte, unausgesprochen, tief in seinem Herzen verborgen, der einzige Grund waren, warum es ihn grämte. Hätte er nur auf Ice gehört. Dann wäre es ihm einerlei, dass er nun hier zugrunde ging. Wüsste er, dass Nea sein Herz kannte, dann wäre es ihm ein Leichtes, sich in den Schnee zu legen. So jedoch trieb es ihn weiter. So tat er weiter rote Spuren in das strahlende Weiß, so grübelte er weiter vor sich hin, so wartete er weiter im Gehen auf seinen Tod. Er stolperte, er stürzte. Und er blieb liegen. Das Weiterlaufen hatte ja doch keinen Sinn. Da war es besser, wenn er einfach nur auf den Tod wartete. Jetzt war es nicht mehr von Belang, was er Nea gesagt hatte, oder eben auch nicht auszusprechen wagte. Jetzt konnte er es nicht mehr ändern. Er schloss die Augen. »Steh wieder auf, Fjodor.« Eine Stimme, so zärtlich, wie der Schnee, der in leichten Flocken auf sein Haar niederfiel. Er erinnerte sich daran. »Du darfst nicht im Schnee liegen bleiben, sonst wirst du noch krank.« Ein Lächeln, ein tiefgehendes Gefühl. Wie vor so vielen Jahren. Damals, im Winter. So unendlich viele Jahre zurück. In einem anderen Leben. In seinem ersten Leben. Einem Leben, das angefüllt war von Glück, von Liebe, von Geborgenheit. Und diesem einen Lächeln. »Aber der Weg ist so weit«, antwortete er. Wie damals. Mit geschlossenen Augen, vom Mut verlassen, mit Tränen, die die Wangen hinab liefen. »Der Weg ist immer nur so weit, wie du ihn werden lässt.« Kein Spott, kein Anklagen, nur Wärme. Er hob den Kopf. Er war wieder der kleine Junge. Er hatte sich im Wald verlaufen. Doch dieser Mann hatte ihn gefunden. Er wollte ihn zurück nach Hause bringen. Er war ein Zauberer. Er hielt den Sturm zurück. »Aber wie kann ein Weg denn kürzer werden, nur weil ich es möchte?«, fragte er und setzte sich langsam auf. »Du kannst alles, wenn du es nur willst, Fjodor.« »Mir ist kalt.« »Dann bitte die Kälte darum, dass sie fortgeht. Sie wird es tun, wenn du nur freundlich genug bist.« »Bitte liebe Kälte, bleibe fern von mir!« Da legte sich ein dicker Umhang um das kleine Kind. »Ich bin müde, ich kann nicht mehr laufen.« »Ich werde dich tragen, wenn du es möchtest.« »Aber bist du denn nicht müde?« »Nein.« Aus dem Lächeln wurde ein Gesicht. Er kannte dieses Gesicht. In seinen Träumen hatte er es so oft gesehen. Der Mann trug ihn. Er war warm und sein gleichmäßiger Herzschlag beruhigte ihn. »Gehen wir zu Mama nach Hause?« »Ja. Wir gehen zu Mama nach Hause. Damit sie aufhören kann, sich Sorgen um dich zu machen.« Seine Stimme vibrierte in seinem Körper. »Sie wird ganz fürchterlich mit mir schimpfen.« »Ich bleib bei dir, dann ist es halb so schlimm.« »Sie wird denken, dass ich ein kleines Baby bin. Weil du mich trägst.« »Dann läufst du die letzten Meter allein. Ich werde ihr nichts sagen.« Der kleine Junge schaute zum Gesicht des Mannes hoch. Weiche Gesichtszüge, ein sanftes Gesicht. Ein warmes Lächeln, gütige, sanfte, braune Augen. Schwarzes Haar, hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden, rochen nach der Schokolade, die er kurz zuvor noch gemeinsam mit der Mutter auf die frisch gebackenen Kekse gestrichen hatte. »Ich wollte wirklich nicht davonlaufen«, erklärte das Kind unvermittelt. »Ich weiß.« »Ich konnte wegen dem ganzen Schnee nicht zurück. Der Winter ist eine so schlimme Jahreszeit«, fand der kleine Junge. Da blieb der Zauberer stehen, starrte für einen Moment in den Wald, dann zu dem Jungen in seinem Arm. »Nein Fjodor. Sie ist ein wunderbares Wesen.« »Aber wegen ihr wäre ich fast erfroren.« »Nein, so ist es nicht. Der Winter kann dir ebenso wenig anhaben, wie ich es kann. Niemals würden wir dir etwas tun wollen. Vergiss das nicht. Sie kann dir nichts Ernstes anhaben. Sie kann machen, dass du frierst, dass du dich schlecht fühlst, aber wirklich schaden kann sie dir nicht. Nie.« »Wieso?« »Weil sie dir zu nahe steht. Irgendwann wirst du sie treffen, dann wirst du es verstehen.« »Werden wir sie gemeinsam treffen?« Der kleine Junge schaute hoffnungsvoll zum Zauberer auf. »Ja, Fjodor. Das werden wir. Ich werde immer bei dir bleiben. Bis ans Ende der Welt.« »Bis ans Ende der Welt… Aber du bist doch gegangen…«, flüsterte der weiße Wolf und weinte leise vor sich hin. »Nein Fjodor. Ich bin immer noch bei dir«, flüsterte der Wind in seinem Ohr. Er öffnete die Augen und blickte in die vielfarbigen Augen des schwarzen Wolfs. »Bis ans Ende der Welt, wie ich es dir versprochen habe.« Für einige Augenblicke schauten sie einander an, dann stand Lugh Akhtar auf. Seine Beine waren wacklig, wie mit Pudding gefüllt, doch er stand. »Wir treten dem Winter gemeinsam gegenüber«, sprach der schwarze Wolf langsam weiter, während Stolz in seinen Augen zu sehen war. »Aber wie wollen wir dem Sturm entkommen?«, fragte Lugh Akhtar. »Du musst den Schnee nur darum bitten, uns ziehen zu lassen.« Der weiße Wolf nickte zögernd und wandte sich zur Seite um. »Bitte, lieber Schnee! Lass uns ziehen, wir sind auf der Suche nach dem Winter! Sie erwartet uns!«, rief er über das Tosen des Sturms hinweg. Da ballte sich der Schnee und mit einem leisen Lachen erschien eine Wölfin. Sie bestand aus losen Flocken, die einfach nur inmitten einer Art Wolfsform tosten, doch war sie so wirklich, wie Lugh Akhtar selbst. Und auch, wie der schwarze Wolf an seiner Seite. »Geht, sie wartet schon auf euch«, erklärte der Schnee mit einem weiteren, glockenhellen Lachen. Dann verschwand sie und um die beiden Wölfe herum erhob sich eine weite Schneelandschaft. Über ihm war die samtene Schwärze der Nacht zu sehen, jedoch schien das Nordlicht nicht. Von einem Felsen springend, und so, dass es schien, als setzte sie aus dem Himmel selbst, kam Cinder zu ihnen. Ihr goldenes Auge und jenes, welches normalerweise silbergrau, nun aber Blutrot leuchtete, glitzerten vor Tränen, als sie neben ihn trat. Begleitet wurde sie von einer schillernden Polarfüchsin, die sanft lächelte und den schwarzen Wolf mit einem Nasenstupsen begrüßte. Und über einen See, der ganz in ihrer Nähe zu Eis erstarrt war, sprang Soul, begleitet von einer großen weißen Katze mit schwarzen Streifen über das Eis zu ihnen. Sie schaute teilnahmslos, ja fast schon abweisend auf Kanoa und ein wenig fragend auf die Polarfüchsin, sagte jedoch nichts, als sie sich auf die andere Seite neben den weißen Wolf stellte, die Katze, die die beiden Anderen mit einem Schwanzzucken begrüßte, neben sich. »Wo sind Sly und Ice?«, fragte Lugh Akhtar. »Sie sind in Sicherheit, aber nicht hier«, antwortete eine Stimme hinter ihnen. Sofort fuhren die drei Wölfe herum, nur die Füchsin, die Katze und der schwarze Wolf erschraken nicht, und wandten sich nur langsam um. Dort stand sie. Die weiße Wölfin, in dessen Augen sich die ganze Welt zu spiegeln schien. Um sie herum gruppierte sich ihr Rudel, einzig das Nordlicht fehlte. Denn sie stand nun an Cinders Seite. »Ich habe euch bereits erwartet. Fjodor, Cinder und Soul.« »Und so stehen wir nun wirklich gemeinsam vor dem Winter«, flüsterte der weiße Wolf leise. »Natürlich, ich halte meine Versprechen«, antwortete Kanoa sanft. Dann verschwand er und tauchte an der Seite des Winters wieder auf. Sie rieben kurz ihre Schnauzen aneinander, dann widmete sie sich jedoch wieder ihren Gästen. »Willkommen zurück, ihr drei. Ich freu mich, euch wieder zu sehen.« Kapitel 17: »Bewahre dir dieses Lächeln...« ------------------------------------------- Das Nordlicht leuchtete nur sehr schwach über Cinder. Sie schaute sich um, doch natürlich sah sie auch jetzt niemanden ihrer Freunde. Sie wusste nicht, wann sie die anderen verloren hatte, doch so weit sie auch blicken konnte, in dieser schier unendlich wirkenden Ebene, so konnte sie dennoch keinen von ihnen sehen. Sie war schon einmal hier gewesen. Sie wusste nicht, was das genau für eine Welt war, aber sie wusste, dass hier der Winter mit seinem Rudel lebte. Vielleicht war es eine Art Zwischenwelt, oder etwas, was neben der eigentlichen Welt existierte. Deswegen war das Nordlicht auch so wichtig, es schuf den einzigen Zugang zu dieser Anderswelt. Doch jetzt glitzerte es nur so schwach über ihr. Sie wusste, was das hieß. Sie wollte Nalani noch einmal besuchen, doch in dieser fremden Welt kannte sie den Weg nicht. Da gewahr sie in der Ferne ein paar Felsen, vielleicht auch der Beginn eines Berges. Sie überlegte nicht lange, sondern lief los. Vielleicht war das der Weg in den Himmel, und wo sollte man das Nordlicht auch sonst suchen? Sie hätte gerne jemanden gefragt, doch nichts Lebendes schien auf dieser Ebene zu sein. Nichts, außer ihr. Sie kletterte und sprang die scharfen Felsen hinauf, dabei riss sie sich Fellbüschel aus, und riss sich die Haut auf, sodass sie bald eine blutige Spur hinter sich her zog. Doch sie spürte den Schmerz gar nicht. In ihren Gedanken und in ihrem Fühlen war sie bei Nalani. Sie kletterte immer höher hinauf. Sie wusste nicht, wie lange sie schon kletterte, aber eigentlich war es auch egal, solange sie nur irgendwann ankam. Es schienen Äonen vergangen zu sein, als es keinen neuen Felsen mehr gab, auf dem sie springen konnte. Sie war ganz oben angekommen. Ihre Haut und ihr Fell hingen ihr nur noch in Fetzen herab, sie war unzählige Male gestürzt und blutete aus zahlreichen Wunden, doch sie war angekommen. Da sackte sie in sich zusammen. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie wollte weiter, sie musste doch zu Nalani, doch sie konnte einfach nicht. Mit einem Mal legte sich Dunkelheit über sie. Sie war zu schwach, die Augen zu öffnen, doch spürte sie dennoch, wie die Dunkelheit sie zudeckte. »Ist sie wirklich allein bis hier hinauf geklettert?«, fragte eine Stimme, die seltsam ruhig und klar wirkte. »JA!«, wollte Cinder schreien, doch blieb sie stumm. Sie konnte nicht mehr. Und wenn ihr Leben davon abhinge. »Hilf ihr«, bat eine matte Stimme, die Cinder nur zu gut kannte. Nalani war hier. »Aber sie dürfte eigentlich nicht hier sein.« »Wenn nicht sie, wer dann? Weißt du nicht, wer sie ist?« »Sie ist jemand, der nicht hier sein sollte.« Nalani lachte leise. »Sie hat mehr recht, hier zu sein, als wir es haben, mein Freund. Und jetzt hilf ihr. Tu es für mich.« Die fremde Stimme seufzte. Dann spürte Cinder, wie sich etwas über sie legte, für das sie keine Beschreibung fand. Es war ein wenig, wie eine Decke, aber eine, die viel zu dick war und sie zu erdrücken schien. Dann walzte sich eine Welle der Müdigkeit über sie und sie schlief ein. Als sie erwachte, wusste sie, dass Stunden vergangen waren. Für einen Moment benebelte noch der Schlaf ihre Sinne, doch als der Gedanke von Nalani in ihre Gedanken kam, da war sie hellwach und zuckte hoch. Es war immer noch Nacht, tausende von Sterne funkelten am Himmel, aber das Nordlicht war erloschen. »Ausgeschlafen?«, fragte die fremde Stimme. Als sie in die entsprechende Richtung blickte, gewahr sie einen Wolf. Er wirkte seltsam, einerseits, als könnte man ihn berühren, ganz nah und wie samt, andererseits auch seltsam fern und rauchig. Außerdem funkelten in seinem Fell tausende von Sternen. Als sie jedoch in seine Augen blickte, da erschrak sie. Er besaß keine Augen, sondern an ihrer Stelle waren zwei Scheiben in seine leeren Augenhöhlen gesetzt worden. Die Wunde blutete, es wirkte, als weinte er blutige Tränen. Auf den Scheiben war ein silberner Halbmond und ein goldener Vollmond zu sehen. »Du musst nicht erschrecken, ich tue dir nichts«, sprach er und stand auf. Als er einen Schritt auf sie zu tat, machte sie unwillkürlich einen Schritt zurück. »Entschuldige, aber deine Augen…!« Er verzog die blutverkrustete Schnauze zu einem grausamen Lächeln. »Nett anzusehen, oder?«, fragte er böse. »Ich…« Cinder wusste nicht, was sie antworten sollte. »Es tut nicht weh, es sieht einfach nur sehr… fies aus. Geht es dir besser?«, fragte er, mit einem Mal sehr fürsorglich. »Ja«, antwortete Cinder erstaunt. Nun, da sie einmal darauf aufmerksam gemacht wurde, fiel ihr auf, dass ihr nichts mehr schmerzte. Sie schaute auf ihre Hinterläufe und stellte fest, dass sie wieder genauso heile und gesund waren, wie vor ihrem Aufstieg. »Warst du das?« »Zum Teil… lass es mich so sagen: Ich habe geholfen, den Löwenanteil daran hast aber du gebracht«, antwortete der schwarze Wolf. »Ich wusste nicht, dass das Rudel des Winters über Heilkräfte verfügt…«, bemerkte Cinder lauernd. »Tut es auch nicht. Keiner von uns kann heilen, aber… weißt du, wer ich sein könnte?«, fragte er aufmerksam. »Ich… vielleicht… die Winternacht?«, fragte sie unsicher. »Ganz genau. Die Polarnacht, oder von mir aus auch Winternacht. Die Nacht. Und weil ich die Nacht bin, habe ich die Fähigkeit, anderen Wesen den Schlaf zu schenken. Wenn er dieses Geschenk denn annehmen möchte, heißt das. Und du warst mehr als nur dazu bereit«, erklärte er. »Und… deswegen hat mein Körper geruht und konnte die Wunden schneller verschließen.« Sie nickte verstehend, aber auch ein wenig traurig. Sie hätte es lieber gehabt, wenn er ihr von irgendwelcher Zaubermacht erzählt hätte. Dann hätte er vielleicht auch Nalani heilen können. »Genau so ist es. Aber was tust du hier? Für dich ist es gefährlich, in den Himmel zu laufen«, fand er. »Aber ich bin noch nicht dort, wo ich hin möchte. Ich möchte das Nordlicht besuchen, bevor es stirbt. Ich habe ihr noch so viel zu sagen!« Tränen glitzerten in den ungleichen Augen. »Dann musst du noch viel höher gehen. Dann nämlich, führt dich dein Weg nicht nur an die Grenze des Himmels, sondern in den Himmel selbst.« Die Nacht schien nicht glücklich über ihre Antwort. »Dann zeig mir bitte den Weg. Ich bin bereit, jedes Opfer zu bringen, jeden Preis zu zahlen, wenn ich nur Nalani noch einmal sehen kann, bevor sie geht!«, ereiferte sich die aschgraue Wölfin. »So leicht ist das aber nicht. Du wirst über den Himmel laufen müssen, ich weiß aber nicht, ob du das kannst. Über das Licht laufen wäre einfacher, über die Nacht laufen ist aber so schwer für euch…«, fand der schwarze Wolf ruhig. »Ich kann es versuchen!«, rief Cinder verzweifelt aus. »Natürlich kannst du das. Aber was passiert, wenn du es nicht schaffst? Du hast nicht unendlich viele Versuche. Wenn du aus dem Himmel stürzt, dann stürzt du solange, bis du am Boden bist, und dort wirst du zerschmettern. Und das würde mir das Nordlicht niemals verzeihen.« Die Nacht machte einen neuerlichen Versuch, einige Schritte an sie heranzutreten und nun ließ sie es geschehen. »Um noch einmal mit ihr sprechen zu können, würde ich bis ans Ende der Welt laufen. Ich habe keine Angst davor, am Boden zu zerschmettern, ich habe Angst davor, nicht alles versucht zu haben«, weinte sie. Da schwieg die Nacht für eine ganze Weile. Wenn seine Augen nicht durch die Scheiben geöffnet wären, hätte er wohl die Augen geschlossen. So jedoch brütete er nur dumpf vor sich hin, bis er offensichtlich zu einem Entschluss kam, denn er nickte. »Sag mir, wie ist dein Name?«, fragte er leise. »Cinder«, antwortete sie, nur unmerklich lauter als er. »Der Name der Asche. Was nur macht das kalte Feuer im Reiche des Winters?« Er schüttelte den Kopf und machte noch einen Schritt auf sie zu. Nun stand er direkt vor ihr, und sie konnte sich selbst in den Scheiben sehen. »Welche Farbe haben deine Augen, Cinder?«, flüsterte er und offenbarte damit, dass er blind war. Die funkelnden Mondscheiben schmerzten ihn zwar nicht, aber sie brachten ihn auch darum, die Welt in all ihrer Pracht bestaunen zu dürfen. »Sie… ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Aber siehst du sie denn nicht? Im Spiegel des Mondes?«, fragte er leise. »Ich sehe nur das Eine. Und wenn ich den Kopf bewege, um auch das Andere zu sehen, dann verliere ich den Blick darauf«, erklärte sie mit einem heiseren Flüstern. »Dann bist du mir gleich. Dann versuche es, Sternenwanderin. Tue es dem gleich, der deinem Rudel seinen Namen gab. Versuche es und folge mir«, sprach die Nacht. Dann wandte er sich um und setzte über den Rand der Felsen hinweg. Statt jedoch zu fallen, bis auch er am Boden zerschmettert wurde, lief er durch die Luft weiter. Cinder zögerte nicht eine Sekunde. Sie war mit zwei Sätzen beim Rand und ohne langsamer zu werden, lief auch sie weiter. Und auch sie stürzte nicht in den sicheren Tod, sondern lief den Sternen entgegen. Es war ein seltsames Gefühl, durch die Nacht zu laufen, ohne Erde unter den Pfoten. Überall um sich herum die Sterne zu sehen, die normalerweise nur am Himmel leuchteten. Sie hatte auch nicht gedacht, dass es so viele Sterne gab, denn in den meisten Nächten schluckten Wolken oder das Nordlicht das Sternenlicht. Und wenn dies nicht der Fall war, so schlief sie doch meist. Sie liefen gemeinsam auf den Mond zu, der einer großen, silbernen Scheibe gleich. Cinder hätte nicht geglaubt, dass der Mond wirklich so groß war, doch je näher sie kam, desto größer wurde er. Wie ja auch die Sterne, auch sie waren hier oben so viel größer als von der Erde aus. Der Weg bis zum Mond hinauf musste Ewigkeiten gedauert haben, doch ihr kam er nur vor, wie wenige Augenblicke. Dann berührten ihre Pfoten den großen Himmelskörper, den sie so oft schon von der Erde aus bewundert hatte. Er fühlte sich seltsam an, seltsam weich und nachgiebig. Wie verfestigter Nebel vielleicht. »Das ist der Mond?«, fragte sie leise und unsicher. »Ja. Er liegt außerhalb des Winterreichs, denn den Mond sieht man jede Nacht, unabhängig davon, wer außerhalb des Winterreichs regiert«, erklärte die Nacht. »Dann gehörst du auch den anderen Rudeln an?«, fragte sie staunend. »Ja. Ich und meine Schwester. Im Rudel des Sommers bin ich allerdings nicht gern gesehen, ebenso, wie sie sich hier nicht gerne verweilt. Deswegen liegen unsere Lager auch außerhalb der eigentlichen Rudelgebiete«, erklärte er lächelnd. »Und warum ist dann das Nordlicht hier? Sie gehört doch nur dem Winter an… oder?« »Ja. Aber wir herrschen zu dritt über den Himmel, deswegen haben wir… nun, nennen wir es eine Sonderstellung.« Cinder nickte langsam, kam dann aber zum Wesentlichen zurück. »Wo ist das Nordlicht?« Darauf antwortete die Nacht nicht, sondern blickte nur auf ein schwaches Leuchten, ein Stück entfernt. Sogleich lief Cinder darauf zu und er folgte ihr langsam. Auf dem Boden lag eine Polarfüchsin. Nalani. »Nalani… ich habe dich gefunden«, flüsterte die aschgraue Wölfin leise. »Cinder… du solltest nicht hier sein. Es gibt einen viel wichtigeren Ort, an dem du sein solltest«, antwortete die Füchsin leise und mit matter Stimme. »Ich bin an deiner Seite. Das ist der einzige Ort, zu dem ich gehöre.« Sie legte ihren Kopf auf die Schulter der Füchsin und legte sich neben sie. »Ich werde später wiederkommen und dich abholen, Sternenwanderin«, erklärte die Nacht leise und verschwand. »Nalani… ich habe dich vermisst«, flüsterte Cinder leise. »Ich weiß, mein Herz, aber das hättest du nicht tun müssen. Ich war immer bei dir, zumindest irgendwie.« »Ich wollte, es wäre wie früher. Dass du da bist, dass wir mit River gemeinsam jagen gehen. Wieso nur bist du gegangen?« »Weil es meine Bestimmung war, Cinder.« Die Füchsin verdrehte den Kopf um die Wölfin anzuschauen. »Aber wieso? Du hättest es auch zu deiner Bestimmung machen können, weiter mit uns zu leben.« »Nein. Es war mein Schicksal, nur dafür ist das alles passiert. Nur dafür bin ich in das Winterreich gekommen. Weil ich beim Winter sein musste. Sie brauchte mich.« »Aber ich auch!« »Nicht so sehr, wie sie«, lächelte die Füchsin nachsichtig. »Braucht sie dich denn jetzt nicht mehr? Oder warum lässt sie dich sterben?« »Es ist mein eigener Wunsch zu gehen, mein Herz. Meine Zeit ist gekommen, dafür fängt deine aber erst an.« »Und was ist, wenn ich eine Zeit ohne dich nicht will?«, fragte Cinder leise. »Ich werde auch danach noch bei dir bleiben. Ich werde dich nicht verlassen, solange auch nur ein Teil von dir an mich denkt und um mich trauert. Denn du wirst meine Nachfolgerin sein«, lächelte die Füchsin. »Nachfolgerin? Aber ich will nicht das Nordlicht werden.« »Diese Nachfolge meine ich auch nicht. Aber du wirst es verstehen. Nicht jetzt, nicht Morgen, aber irgendwann.« »Ich will doch bloß, dass du bei mir bleibst. Du und Soul und River. Nur wir vier.« »Nein Cinder. Das geht nicht und das weißt du. Gehe mit der Nacht, er wird dich dorthin führen, wo du viel dringender gebraucht wirst. Er hat ein Geschenk für dich, ein sehr, sehr kostbares Geschenk.« Die Stimme der Füchsin wurde leiser. »Ich will kein Geschenk. Ich will, dass das erste Wesen, das mir vollkommen fremd war, und mich dennoch genommen hat, wie ich bin, dass dieses Wesen bei mir bleibt«, weinte die Wölfin. »Ich bleibe bei dir. Ich komme mit dir, aber auf eine andere Art und Weise. Wir sehen uns schneller wieder, als du glaubst. Weine nicht mehr, mein Herz, denn es ist nicht nötig. Ich will dich viel lieber lächeln sehen…« Da lächelte Cinder. Es war ein trauriges Lächeln, es zerriss ihr schier das Herz, jetzt gerade fröhlich aussehen zu wollen, aussehen zu müssen, doch für Nalani lächelte sie. Da lächelte auch die Füchsin. Und während sie lächelte, wurde ihr Körper zu Licht. Zu einem Leuchten, zu unzähligen Sternen, die um Cinder herumflogen. »Bewahre dir dieses Lächeln, mein Herz. Es steht dir so viel besser als die Tränen. Und es lässt Herzen leuchten«, flüsterte das Licht zärtlich, bevor es in alle Himmelsrichtungen zerstob und seinen Platz unter den Sternen einnahm. Für einen Moment blieb Cinder allein mit ihrem Schmerz, doch dann war die Nacht bei ihr, ebenso plötzlich, wie er verschwunden war. Sie schmiegte sich eng an ihn und weinte bitterlich, solange, bis keine Träne mehr in ihr war. »Du musst nicht weinen. Der Tod ist für manche nicht das Ende. Vor allem nicht für jene, die im Leben so sehr geliebt wurden«, tröstete der schwarze Wolf sie, als ihre Tränen versiegt waren. »Aber sie ist tot«, antwortete Cinder bitter. »Nein. Wirklich tot sind nur jene, die vergessen werden. Also, vergiss sie nicht, dann wird sie ewig leben«, antwortete die Nacht. Und damit half er Cinder mehr über ihren Schmerz hinweg, als alle anderen Worte dieser Welt es zu tun vermocht hätten. »Jetzt trockne deine Tränen und komm mit mir. Du wirst noch woanders gebraucht. Und ich habe ein Geschenk für dich«, flüsterte er, während er aufstand. Auch Cinder erhob sich und schaute ihn fragend an. »Wieso willst du mir etwas schenken? Immerhin bin ich eine Fremde für dich«, fand sie. »Nicht so fremd, wie du glauben magst. Immerhin bist du meine Nichte«, lächelte die Nacht. Da schaute ihn Cinder erstaunt an. »Duana hat gesagt, dass unser Onkel gestorben sei«, meinte sie. »Nein. Ich bin nur zum Winter gegangen«, lächelte der schwarze Wolf. »Also bist du wirklich Drafnar?« »Ja. Aber ich hätte auch so ein Geschenk für dich, Sternenwanderin«, erklärte er und lächelte. Sie sprach darauf nichts mehr, doch Drafnar lächelte. Um ihn herum glitzerten Sterne und einer dieser Sterne flog auf Cinder zu. Er flog zu ihrem blinden Auge, sodass sie ihn nicht mehr sah, doch wusste sie, dass ihr nichts geschehen würde, und so zuckte sie nicht zurück. Und da geschah es. Als sie abermals in die Schieben blickte, die Drafnars Augen ersetzten, da sah sie in der einen ihr goldenes Auge und in der anderen das zuvor blinde. »Du hast… mir das Augenlicht auf meinem blinden Auge geschenkt?«, fragte sie erstaunt. »Nicht nur das. Aber den zweiten Teil meines Geschenks musst du selbst herausfinden. Und nun komm mit, die Anderen warten schon auf uns«, erklärte die Nacht. Gemeinsam liefen sie wieder zurück zur Erde. Kurz vor den Felsen blieben sie stehen. »Ab hier musst du alleine gehen, doch der Weg ist nicht mehr weit. Und es gibt jemanden, der dich dabei begleiten wird«, lächelte Drafnar und nickte an Cinders Seite. Als sie den Kopf wandte, stand dort Nalani und lächelte. »Ich bin bei dir. Komm mit, wir gehen gemeinsam«, sagte sie leise. Obwohl Cinder nicht verstand, wie das möglich war, fragte sie nicht weiter. Stattdessen sprang sie gemeinsam mit der Polarfüchsin zu Boden, dabei weinte sie, vor Freunde und vor Leid. Ein wenig entfernt sah sie Lugh Akhtar neben einem schwarzen Wolf mit einem weißen Halbmond stehen. Kanoa. Sie verstand auch nicht, wieso er hier war, doch für den Augenblick war es ihr gleich. Sie lief zu ihm. Nalani begrüßte Kanoa mit einem Nasenstupsen, doch Cinder und Lugh Akhtar schwiegen. Da lief Soul, begleitet von einer großen, weißen Katze mit schwarzen Streifen von der anderen Seite über das erstarrte Eis eines Sees auf sie zu. Sie schaute teilnahmslos, ja fast schon abweisend auf Kanoa und ein wenig fragend auf die Polarfüchsin, sagte jedoch nichts, als sie sich auf die andere Seite neben den weißen Wolf stellte, die Katze, die die beiden Anderen mit einem Schwanzzucken begrüßte, neben sich. »Wo sind Sly und Ice?«, fragte Lugh Akhtar. »Sie sind in Sicherheit, aber nicht hier«, antwortete eine Stimme hinter ihnen. Sofort fuhren die drei Wölfe herum, nur Nalani, die Katze und Kanoa erschraken nicht, und wandten sich nur langsam um. Dort stand sie. Die weiße Wölfin, in dessen Augen sich die ganze Welt zu spiegeln schien. Um sie herum gruppierte sich ihr Rudel, einzig das Nordlicht fehlte. Denn sie stand nun an Cinders Seite. »Ich habe euch bereits erwartet. Fjodor, Cinder und Soul.« »Ist das der Winter?«, fragte Cinder so leise, dass nur Nalani sie hörte und Ehrfurcht schwang in ihrer Stimme. »Ja. Das ist sie. Aber für mich ist sie nicht mehr wichtig. Das bist nur noch du«, antwortete Nalani ebenso leise. »Und so stehen wir nun wirklich gemeinsam vor dem Winter«, flüsterte Lugh Akhtar an ihrer Seite. »Natürlich, ich halte meine Versprechen«, antwortete Kanoa sanft. Dann verschwand er und tauchte an der Seite des Winters wieder auf. Sie rieben kurz ihre Schnauzen aneinander, dann widmete sie sich jedoch wieder ihren Gästen. »Willkommen zurück, ihr drei. Ich freu mich, euch wieder zu sehen.« Kapitel 18: »Kämpfe für unsere Träume!« --------------------------------------- Soul zögerte. Vor ihr erstreckte sich eine riesengroße Seelandschaft. Sie war zwar zugefroren, doch wusste sie nicht, ob das Eis sie tragen würde. Sie lief einen Moment am Ufer entlang, bevor sie zögernd eine Pfote auf das Eis setzte. Sie prüfte kurz, dann trat sie ganz hinauf. Es hielt zwar, knackte aber bedrohlich, sodass sie mit angelegtem Ohr wieder hinunter stieg. Sie schaute sich suchend um und seufzte dann. Es half ja nichts. Weit und breit gab es keine andere Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen, und zurück laufen wollte sie nicht. Sie blickte zurück und dachte nach. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie die Anderen verloren hatte, bis sie eben nicht mehr da gewesen waren. Natürlich war sie zurück gelaufen und hatte sie gesucht, doch nachdem sie feststellen musste, dass ihre eigenen Pfotenabdrücke nicht mehr da waren, hatte sie beschlossen, dass sie sich hier nur verlaufen würde. Und damit war niemandem geholfen. Sie schüttelte sich unwillig. Sie hatte Angst. Als sie das Eis gesehen hatte, war die Angst über sie hereingebrochen, doch sie hatte sie niedergekämpft. Sie wusste, dass ihr Angst nun nicht mehr weiterhalf. So sprang sie auf das Eis, ohne weiter darüber nachzudenken. Wenn sie nicht dachte, konnte sie sich nicht fürchten. Es hielt. Zumindest für diesen Moment. Sie zögerte noch einen Moment, dann jedoch lief sie los, bevor ihr wieder bewusst werden konnte, was sie tat. Es gab nur zwei Optionen, und sie hatte keinen Einfluss darauf. Also, verbannte sie weitere Überlegungen aus ihren Gedanken und legte ihr Schicksal einfach in fremde Hände. Sie rannte einfach, so schnell sie konnte. Das zurückliegende Ufer war schon nicht mehr zu sehen, und sie fragte sich langsam, wie weit es wohl noch sein mochte, bis sie auf der anderen Seite ankam, da geschah es. Sie hörte ein sehr lautes Knacken und bevor sie noch einmal reagieren konnte brach das Eis innerhalb von Bruchteilen von Sekunden unter ihr weg. Sie schrie erschrocken auf, als das eiskalte Wasser über ihre Pfoten schwappte. Die Eisscholle, wegen der sie gerade so nur mit den Pfoten im Wasser stand, rutschte unter das Eis, dabei rutschte sie so unglücklich ab, dass sie mit einem neuerlichen Kreischen im Wasser landete. Sie tauchte unter, wurde von einer unsichtbaren Strömung unter das Eis gedrückt. Die Kälte presste ihr die Luft aus den Lungen und ängstlich begann sie zu Paddeln. Sie wusste wo in etwa das Loch lag durch das sie eingebrochen war. Als sie jedoch in die entsprechende Richtung schwamm, und es nicht fand, und ihr langsam der Sauerstoff ausging, da begann Panik in ihr aufzusteigen. Hektisch warf sie sich hin und her, doch immer wenn sie meinte das Loch gefunden zu haben, dann entpuppte es sich als Lichtreflektion von Eis und Mondlicht. Sie spürte, wie Schwärze nach ihren Gedanken griff. Ihr Blick verschleierte sich und alles erschien ihr dunkler, als es war. Ihre Glieder wurden schwer wie Blei. Sie bäumte sich noch einmal verzweifelt auf, dann jedoch gab sie auf. Sie wusste, dass es vorbei war. Sie hatte keine Chance. Sie hatte schon einmal zuschauen müssen, wie jemand unter dem Eis zu Tode kam. Sie schloss die Augen und wartete auf das Ende. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht aufgeben darfst?«, flüsterte eine Stimme. Einbildung. Nichts anderes konnte es sein. »Ich komme hier nicht mehr hinaus. Ich gebe nicht auf, ich füge mich einem unausweichlichen Schicksal«, flüsterte sie und begann zu weinen. Natürlich, auch diese grausame Art und Weise zu sterben war nur ein weiterer Teil ihrer Strafe. »Oh nein, so kannst du dich nicht herausreden. Gebe niemals auf!«, ereiferte sich die Stimme. »Es ist aber kein Aufgeben! Es ist ein hinnehmen dessen, was sowieso kommen wird«, antwortete Soul verzweifelt. »Oh nein. Etwas hinnehmen, sich dem Schicksal stellen, das ist gleichbedeutend mit Aufgeben. Und das weißt du auch. Also, kämpfe jetzt! Wer aufgibt, der kann nichts verändern! Nur wer kämpft kann etwas verändern!« »Ich will aber nicht mehr kämpfen. Ich habe so lange all diese Strafen ertragen, jetzt kann ich einfach nicht mehr«, flüsterte sie. »Nein Soul. Die letzten Jahre waren keine Strafe. Sie haben dich stark gemacht, Soul. Stärker als irgendwen sonst. Deswegen musst du jetzt auch kämpfen. Jetzt bist du stark genug. Du kannst die Welt verändern, wenn du dich nur traust, es zu wagen«, flüsterte die Stimme zärtlich. »Aber ich bin allein. Wie soll ich allein die Welt verändern könne?«, fragte die schwarze Wölfin leise. »Du bist aber nicht allein. Du hast Freunde, Soul. Gute Freunde, die immer für dich da sind. Und du hast mich. Ich werde immer bei dir bleiben. Wir werden immer Freunde sein«, erklärte die Stimme. Da öffnete Soul die Augen. Sie war nicht mehr unter Wasser. Es war nicht einmal mehr Nacht. Strahlendes Sonnenlicht überflutete den Schnee und der Himmel war tiefblau. Eine Gestalt lief lachend an ihr vorbei und verwundert blickte Soul ihr nach. Die große Katze blieb stehen und schaute lachend zu ihr zurück. »Jetzt schau doch nicht so ernst! Das meinte ich zwar ernst, aber das soll nicht heißen, dass du jetzt wie auf einer Beerdigung aussehen musst«, erklärte sie lächelnd. »Laiya?«, fragte die schwarze Wölfin mit großen Augen. »Oh, schön, meinen Namen kennst du noch«, lachte die Katze und kam leichtfüßig näher. »Was ist hier los, ich meine, du bist doch…«, flüsterte die mit schreckensgeweiteten Augen. »Total verwirrt? Ja, ich denke schon.« Laiya stupste Soul freundschaftlich in die Seite. »Was ist nur heute los mit dir?« »Ich… ich weiß auch nicht. Eben war ich noch so gut wie tot und jetzt…« Souls Augen flackerten unsicher. »Hast du einen Sonnenstich?« Die ungleichen Augen schauten die schwarze Wölfin an, als wäre sie verrückt. »Einen was?«, blinzelte sie verwirrt. »Ach, nichts. Das ist etwas, das geschieht manchmal jenseits der schwarzen Berge, ist für uns aber nicht wichtig. Hier ist es vermutlich zu kalt dazu.« Laiya bleckte ihre langen Zähne zu einem Grinsen. Sie war ein wenig jünger als Soul, doch war sie größer und ungleich stärker. Soul hatte niemals zuvor und auch niemals danach solch ein Tier wie Laiya gesehen. Sie kannte die gefleckten Vertreter ihrer Art, aber die waren kleiner, hatten kürzere Schweife, gelbe Augen und eben Flecken. Laiya dagegen hatte schwarze Streifen auf dem weißsilbernen Fell. Dazu war eines ihrer Augen blau, während das andere golden funkelte. Sie hatte einmal gesagt, das sie ein Tiger wäre und die anderen großen Katzen würde man Schneeleoparden nennen, doch diese Namen erschienen Soul so seltsam und fremd, dass sie lieber von einer gestreiften oder gefleckten Katze sprach. So hatte ihr Vater diese Tiere immer genannt. »Entschuldige. Ich glaube, ich war eben ein wenig zu sehr in Gedanken gewesen.« Sie setzte sich. Das Ganze war so seltsam, dass sie erst einmal ihre Gedanken ordnen musste. »Was ist mit dir?«, fragte die Tigerin besorgt und setzte sich neben Soul. »Ich… ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich habe eben geträumt… aber das ist nicht weiter wichtig.« Viel wichtiger war für die Wölfin, dass ihre Freundin wieder da war. »Hast du… wieder an deinen Vater gedacht?« Laiya wirkte nur noch besorgter. »An Kanoa? Nein… eigentlich nicht, aber…« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Laiya, wir sollten uns vom See fern halten.« »Wieso das? Über das Eis laufen ist doch das Schönste überhaupt!« Und wieder lachte die Tigerin. Erst jetzt, so lange Zeit nach ihrem Tod, da fiel Soul erst auf, dass sie nicht lachte, weil sie glücklich war. Sie lachte, um Soul aufzumuntern. Sie lachte, um der Welt und all ihren fürchterlichen Bewohnern ihren Schrecken zu nehmen. »Nein, das ist es nicht. Dabei kann so viel passieren«, sagte sie leise und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. »Soul. Ich werde wirklich, wirklich immer bei dir sein.« Laiya rieb ihre Nase an Souls Wange. »Das kannst du aber nicht, wenn du tot bist.« Tränen brachen aus ihr heraus. Alles Leid, alle Qualen, alles, was sich in den letzten Jahren aufgestaut hatte, brach aus ihr heraus. Sie weinte lange und sie weinte bittere Tränen. Die weiße Tigerin saß an ihrer Seite und wusste nicht, was sie tun sollte, denn das kam so unerwartet und sie wusste auch nicht, woran es lag, dass sie einfach nur dasaß und sich eng an die Wölfin drückte. Irgendwann wurde ihr Schluchzen leiser. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte Laiya sanft. »Ja«, flüsterte Soul. Die Tigerin lächelte, bevor sie seufzte. »Soul, hör mir zu. Und hör mir gut zu. Ich weiß nicht, woher es kommt, dass du so sehr Angst davor hast, dass einem von uns etwas passieren könnte, aber sollte das jemals passieren, dann ist das nicht so schlimm, wie du glaubst.« Die schwarze Wölfin blickte sie erstaunt an, doch als sie etwas sagen wollte, schüttelte Laiya sanft den Kopf. »Hör mir einfach nur zu. Es kann immer passieren, egal ob am See, im Gebirge oder sonst wo. Und deswegen will ich dir etwas sagen, was einmal meine Mutter zu mir sagte. Wirklich tot sind nur die, deren Träume niemand mehr träumt. Also, gib mir einfach ein Versprechen. Sollte mir etwas geschehen, dann glaube an meine Träume und träume sie für mich. Du kennst sie, besser als jeder andere auf dieser Welt. Träume sie für mich und kämpfe dafür, dass sie wahr werden. Kämpfe für unsere Träume. Ich werde auch dasselbe für dich tun. Dann leben wir bis in alle Ewigkeit. Oder sterben gemeinsam, wenn sie nicht wahr werden.« »Aber wenn sie zu groß sind, als dass wir sie erreichen könnten…« »Du musst immer nach den Sternen greifen. Wenn du etwas erreichst, was viel zu klein für dich ist, dann hast du nichts erreicht. Du musst immer nach dem streben, was unerreichbar ist. Sonst kannst du nichts verändern. Dabei hast du die Macht, die Welt zu verändern, Soul. Also, tue es, nutze deine Macht, kämpfe. Für meinen Traum.« Da nickte die schwarze Wölfin. Noch immer war ihr Fell nass vor Tränen, doch Entschlossenheit stand in ihrem Blick. »Außerdem werde ich nie ganz gehen. Ich werde immer bei dir sein, vergiss das nicht«, lächelte Laiya. Dann stand sie auf. »Und jetzt lass uns zum See laufen! Wer als erstes dort ist!« Sie sprintete davon und Soul blickte ihr traurig nach. Sie wusste, was weiter geschehen würde, auch wenn sie ihrer Freundin nicht weiter folgte. Laiya würde ins Eis einbrechen und ertrinken. Und sie selbst konnte rein gar nichts dagegen tun. Sie würde hilflos auf dem sicheren Teil des Eises stehen, zurückgehalten von River. Sie würde zusehen müssen, wie ihre Freundin starb. »Ich werde deine Träume leben. Ich werde dafür kämpfen, dass sie wahr werden«, versprach sie der gestreiften Katze, die schon kaum noch zu sehen war. Eine silberne Träne lief dabei über ihr Fell. Dann schloss sie die Augen. Und war wieder gefangen unter dem Eis. Jetzt jedoch brach keine Panik über sie herein, jetzt blieb sie ruhig. Sie spürte, dass etwas bei ihr war und als sie sich umblicke, gewahr sie Laiya im Wasser. Sie schwamm zu ihr und fand dabei wieder das Loch im Eis. Prustend kletterte sie hinaus und brach zusammen, hechelte für einige Minuten einfach nur nach Sauerstoff. Dabei stand die Tigerin neben ihr. »Wieso bist du hier?«, fragte Soul sie nach einer schieren Ewigkeit. »Weil manche von uns auch nach ihrem Tod nicht gehen, sondern lieber für die da sind, die ihnen im Leben so wichtig waren«, lächelte die. »Warst du die ganze Zeit bei mir?«, fragte Soul erstaunt. »Natürlich. Ich habe immer auf dich aufgepasst, und ich werde es weiter tun. Ich verlasse dich nicht, solange du an meine Träume glaubst. Und solange du mich nicht vergisst.« »Aber wieso habe ich dich nie gesehen? Ich… habe Kanoa bei Lugh Akhtar gesehen, aber dich nicht.« »Weil es nicht an der Zeit war. Du hättest es nicht verstehen können. Doch jetzt ist das anders, jetzt bist du bereit an Dinge zu glauben, die größer sind, als wir es jemals sein können. Komm mit mir Soul. Sie warten schon auf dich.« »Wer wartet?« »Komm mit mir, dann wirst du es sehen.« »Bleibst du bei mir? Egal, wohin ich gehen werde? Egal, wen ich auch treffen mag?« »Ja. Wir bleiben zusammen. Solange unsere Träume leben, bleiben wir zusammen.« »Gut. Dann will ich mit dir gehen.« So liefen Soul und Laiya gemeinsam über das Eis. Als sie das andere Ufer erreichten, da sah sie Lugh Akhtar und Cinder dort stehen, mit Kanoa und einer schillernden Polarfüchsin an ihren Seiten. Sie verstand immer noch nicht, warum ihr Vater bei Lugh Akhtar blieb, deswegen streifte sie ihn nur mit ihrem Blick. Die Füchsin schaute sie eher fragend an, doch sie sagte nichts, stellte sich stattdessen an Lugh Akhtars andere Seite, während Laiya Fuchs und Wolf mit einem Schwanzzucken begrüßte. »Wo sind Sly und Ice?«, fragte Lugh Akhtar. »Sie sind in Sicherheit, aber nicht hier«, antwortete eine Stimme hinter ihnen. Sofort fuhren die drei Wölfe herum, nur die Füchsin, Laiya und Kanoa erschraken nicht, und wandten sich nur langsam um. Dort stand sie. Die weiße Wölfin, in dessen Augen sich die ganze Welt zu spiegeln schien. Um sie herum gruppierte sich ihr Rudel, einzig das Nordlicht fehlte. Denn sie stand nun an Cinders Seite. »Ich habe euch bereits erwartet. Fjodor, Cinder und Soul.« »Ich habe mir den Winter nie so eindrucksvoll vorgestellt«, flüsterte Soul so leise, dass nur die Tigerin sie zu hören vermochte. »Lass dich nicht von ihr einschüchtern. Sie kann dir nichts anhaben«, antwortete die fast noch leiser. »Und so stehen wir nun wirklich gemeinsam vor dem Winter«, flüsterte Lugh Akhtar neben ihr. »Natürlich, ich halte meine Versprechen«, antwortete Kanoa sanft. Dann verschwand er und tauchte an der Seite des Winters wieder auf. Sie rieben kurz ihre Schnauzen aneinander, dann widmete sie sich jedoch wieder ihren Gästen. »Willkommen zurück, ihr drei. Ich freu mich, euch wieder zu sehen.« Kapitel 19: Winterkinder ------------------------ »Wiedersehen?«, fragte Cinder leise. Sie war zwar schon einmal hier gewesen, doch den Winter hatte sie dabei nicht getroffen. »Ja«, lächelte die weiße Wölfin. »Wieso zurück?«, erkundigte sich stattdessen Lugh Akhtar und musste gegen den Impuls ankämpfen, einige Schritte zurück zu weichen. Er wünschte sich, Kanoa an seine Seite zurück und war froh, dass Cinder und Soul dabei waren. »Weil ihr alle drei schon einmal hier gewesen seid«, lächelte der schwarze Wolf. »Es gibt gemütlichere Orte als die Heimat des Schnees und der Kälte für eine Unterhaltung«, bemerkte die Nacht plötzlich. »Den Mond vielleicht?«, spottete ein Wolf, der aus Nebel zu bestehen schien. »Oder ein Sternenfeld?«, lachte der Schnee. »Gemütlicher als hier ist es allemal«, antwortete der schwarze Wolf und bleckte die Zähne zu einem Grinsen. »Das Wasser ist heute gemütlich«, fand das Eis. Es war eine Wölfin, die aus scharfen Splittern zu bestehen schien. »Eine einfache Wiese wäre mein Vorschlag«, schaltete sich ein Wolf ein, dessen Fell so wirkte, als wäre es mit Eis überzogen und würde bei jeder Bewegung brechen. »Ruhe«, sagte darauf der Winter und alles schwieg. »Nacht, hat Duana schon entschieden, wer das Nordlicht wird?« »Nein. Darf ich sie bestimmen?«, fragte der schwarze Wolf. »Ja. Geh.« Darauf erhob sich unwilliges Gemurmel. Offensichtlich waren nicht alle damit einverstanden, dass die Nacht eine solch wichtige Entscheidung alleine treffen durfte, doch wagte keiner, offen zu widersprechen. »Jetzt geht. Ihr habt anderes zu tun«, bestimmte der Winter und die anderen Wölfe verschwanden. Die weiße Wölfin seufzte tief und schaute vielsagend zu Kanoa zurück, der sanft lächelte. »Sie werden sich niemals ändern.« »Ich weiß.« Sie wandte sich abermals ihren Gästen zu. »Bitte entschuldigt, aber gelegentlich benehmen sie sich nur zu gerne wie kleine Kinder.« »Warum darf Drafnar aussuchen, wer Nalanis Platz einnimmt? Wieso macht das nicht die Leitwölfin selbst?«, erkundigte sich Cinder angespannt. Sie wusste nicht, ob es ihr zustand, solche Fragen zu stellen. »Drafnar?«, fragte Soul darauf verwundert. »Ja. Er war unser Onkel, bevor er sich dem Winterrudel anschloss«, erklärte die aschgraue Wölfin knapp und blickte dann fragend in die Weltenaugen des Winters. »Das hat viele Gründe«, antwortete sie, während sie sich umwandte und mit einem Rutenzucken den Dreien deutete, ihr zu folgen. »Zum einen ist er am längsten in meinem Rudel und er war mir immer ein treuer Freund. Deswegen schon hätte ich keine Wahl ohne seine Meinung hingenommen, denn sein Rat war mir immer ein Guter. Zum anderen muss er mit ihr im Himmel wohnen und da wäre ein Wesen sinnvoll, mit dem er sich gut verträgt.« »Also bist du gar nicht diejenige, die alles bestimmt?«, erkundigte sich Soul fragend. »Nein, weiß Gott nicht. Ich nehme gerne den Rat eines anderen an, wenn er gut ist. Das macht einen weisen Herrscher aus. Nicht, dass ich mich als Herrscher über irgendetwas sehen würde«, erklärte sie und lächelte gütig. »Wenn du nicht herrschst, was tust du dann?« Lugh Akhtar zögerte bei jedem Schritt und war misstrauischer als die beiden Wölfinnen. Er lief etwa auf Höhe von ihrem Rücken. »Ich bin keine Königin oder gar eine Kaiserin. Ich bin der Winter, Fjodor. Ich herrsche über gar nichts, außer meinem eigenen Reich. Und auch hier herrsche ich nicht, sondern ich lebe hier einfach nur. Ich mache meine Arbeit könnte man fast sagen.« »Und wieso machst du sie nicht mehr jenseits der Mauer? Die Natur hat kaum noch Zeit, sich zu erholen.« Er verlor keine Zeit um auf den eigentlichen Punkt seiner Reise zu kommen. »Weil… es ist schwer zu erklären. Stell dir vor, es wäre Magie und wir wären vier Zauberer, die alle gleich gut mit ihr umgehen könnten. Jeder von uns hat eine bestimmte Zeit, um zu tun und zu lassen, was er möchte, bevor der nächste dran ist. Doch irgendwann verändert sich die Magie. Plötzlich bekommen drei der Zauberer mehr Zeit für ihr Wirken, ohne jedoch, dass es schlecht so ist«, versuchte die Wölfin zu erklären. »Du meinst, dass Frühling, Sommer und Herbst mächtiger werden?«, fragte Cinder bestürzt. »Ja, in gewisser Hinsicht schon. Aber das ist nicht immer schlecht. Ja, der Sommer ist nun stärker und ihre Macht wächst weiter, aber dafür habe ich Zeit, mich auszuruhen. Und wenn es an der Zeit dafür ist, werde dafür ich mehr Macht haben. Es ist alles im Gleichgewicht, es hat alles so seine Richtigkeit, und deswegen ist es nicht rechtens, wenn sich ein anderes Wesen darin einmischt.« »Du meinst die Zauberer?«, fragte der weiße Wolf und setzte seine Schritte noch zögernder. »Ja. Sie tun uns keinen Gefallen damit. Sie sollten uns einfach nur das tun lassen, was wir für richtig halten. Auch im Bezug auf ihre eigene Stadt.« Sie schaute ihn hart aus ihren sonst so gütigen Augen an. »Altena, ja.« Der weiße Wolf nickte zustimmend. »Ist es das, weswegen du mich her gebeten hast? Damit ich etwas gegen Altena unternehme?« Da lächelte der Winter gütig. »Nein, natürlich nicht. Im Gegenteil, vielleicht wirst du zu den Zauberern nicht wieder zurückkehren«, erklärte sie. Da blieb Lugh Akhtar stehen und legte knurrend die Ohren an. »Was hast du vor?«, grollte er. »Sie wird dir nichts Böses tun, Fjodor. Und es ist noch nichts entschieden, also, beruhige dich«, sprach Kanoa ruhig. »Was habt ihr vor?«, fragte er misstrauisch. »Nichts, zu dem du nicht nein sagen kannst und auch nichts, was dir irgendwie schaden wird«, lächelte der Winter. »Wieso sollte ich euch vertrauen?« Er setzte sich hin. »Du bist hier. Das wärst du nicht, wenn du dir nicht sicher wärst, dass dir nichts geschehen wird«, bemerkte der schwarze Wolf. Darauf senkte Lugh Akhtar zustimmend den Kopf und stand wieder auf. »Entschuldigt, aber man hat mir beigebracht, dass man sich nicht mit etwas einlassen sollte, was so viel größer ist, als man selbst. Es… hat nichts mit euch zu tun«, entschuldigte er sich und trat wieder zwischen Cinder und Soul. »Natürlich, es gibt so vieles, was ihr nicht verstehen werdet. Aber ich werde es euch erklären«, sagte der Winter sanft. »Wann?«, wollte Soul wissen. »Gleich«, antwortete sie. Und so plötzlich, wie sich alles in dieser Welt zu verändern schien, veränderte sich auch ihre Umgebung. Sie waren nicht mehr in der Schneelandschaft, sondern in einem Zimmer. Nein, vielmehr in einer Hütte, gebaut aus Holzstämmen. In einer Ecke stand ein Bett, in einer anderen waren Geschirr, Pfannen und Töpfe an der Wand angebracht und an der angrenzenden Seite war ein offener Kamin, in dem ein Feuer zischend und knackend Holzscheite verschlang. »Wo sind wir hier?«, fragte Soul erstaunt, aber nicht ängstlich. Die Angst, die Verzweiflung, die Unsicherheit waren von ihr abgefallen, wie Staub, den man sich gründlich aus den Kleidern geklopft hatte. »Zu Hause«, antwortete Lugh Akhtar ebenso erstaunt. Und er hatte recht. Sie standen in seiner Hütte in der Nähe der Stadt Forea, sehr weit im Norden seiner Welt. Hier lebte er für gewöhnlich. »Jenseits der schwarzen Berge?« Cinder hörte sich nicht begeistert an. »Ja. Aber wieso?« Er schaute sich fragend um. »Weil es hier so viel gemütlicher ist«, antwortete eine Frau, die auf dem Sofa vor dem Kamin saß. Ein Blick in ihre Augen verriet eindeutig, dass sie der Winter war, denn ihre Weltenaugen hatten sich nicht verändert. Doch war sie nun ein Mensch. Eine Frau, deren Alter unbestimmbar, einfach Zeitlos war. Ihre Haut war weiß wie Schnee, ihr Haar schimmerte blau wie Eis und ihr weißes Kleid schien aus Schneekristallen zu bestehen und glitzerte und glänzte dabei, wie es nicht einmal ein Diamant zu tun vermochte. »Du kannst deine Gestalt ändern?« Der weiße Wolf setzte sich vor ihr nieder. »Natürlich. Ich bin nicht, wie die Menschen«, lächelte sie zärtlich. »Kannst du jede Gestalt annehmen, die du dir wünschst?«, wollte Soul wissen. »Ja. Ich kann ein Mädchen sein. Oder eine Greisin. Eine Füchsin, eine Häsin. Oder eine Wölfin.« Sie verwandelte sich immer in jene Gestalt, die sie nannte. »Welches ist deine wahre Gestalt?«, erkundigte sich die schwarze Wölfin freundlich. »Jede. Keine meiner Gestalten ist wirklicher, als eine andere. Meine wahre Gestalt ist immer jene, die ich gerade besitze.« »Also, bist du alles. Und nichts.« »Eher das Nichts. Es gibt so vieles, was ein einfacher Mensch kann, was mir aber verwehrt bleibt.« Sie seufzte, schüttelte dann aber sanft den Kopf. »Ihr habt Fragen an mich. Und ich habe euch die Antworten versprochen. Also, fragt.« »Wieso sind wir hier?«, legte Lugh Akhtar gleich los. »Oh nein Fjodor. Nicht diese Frage und schon gar nicht zu allererst«, wandte Kanoa ein. »Aber wie-«, wollte der weiße Wolf gleich widersprechen, doch Cinder stupste in arg in die Seite, sodass er mitten im Wort abbrach. »Wer sind wir?«, fragte sie sanft. »Aber das ist doch-« Und wieder wurde Lugh Akhtar unterbrochen, diesmal, indem Soul ihm auf die Rute stieg. »Warum sind die Toten bei uns?«, war ihre Frage. »Was haben wir mit dir zu tun?«, machte Cinder weiter. »Und wieso sind es ausgerechnet wir Drei, die zu dir kommen?«, wechselte Soul. »Was ist so besonders an uns?« »Was an euch so Besonders ist, fragt ihr? Warum ausgerechnet ihr es seid, die ich erwartete? Nun, ihr seid meine Töchter. Das sollte als Antwort doch genügen«, lächelte der Winter. Darauf schwiegen die Schwestern. Aber nicht für lange. »Das kann nicht sein, Duana ist unsere Mutter«, sprach als erstes Soul. »Ja und nein«, warf Kanoa ein, dem sie darauf einen bösen Blick zuwarf. Doch er ignorierte ihn, lächelte stattdessen. »Wie meinst du das?« Cinder wusste ganz offensichtlich nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. »So, wie ich es sage.« »Lasst es mich erklären. Sie ist nicht so wirklich, wie ihr es seid. Sie hat keine eigene Gestalt, sondern sie ist auf die Gestalt anderer Wesen angewiesen. Und deswegen ist es ihr unmöglich, Nachkommen zu gebären«, begann Kanoa, doch Cinder schüttelte darauf entschieden den Kopf. »Dann kann nur Duana unsere Mutter sein«, warf sie ein. »Theoretisch schon, doch kann sie etwas anderes. Nichts lebt ewig müsst ihr wissen, nicht einmal die Jahreszeiten. Deswegen allein muss es auch für sie eine Möglichkeit geben, sich zu… reproduzieren. Und die hat sie, indem sie für eine bestimmte Zeit all ihre Macht an ein kurzlebiges Wesen gibt, in eurem Fall Duana«, erklärte der schwarze Wolf. »Also, war sie sozusagen für einen Moment Duana?«, hakte Lugh Akhtar noch einmal nach. »Genau so ist es. Wobei dieser Moment natürlich ein wenig länger war, immerhin wachsen zwei Welpen im Mutterleib nicht binnen ein paar Stunden«, lächelte der Winter. »Und in dieser ganzen Zeit bist du sie gewesen? Was… war in der Zeit mit Duana?«, fragte Soul. »Sie war bei meinem Rudel. In dieser Zeit hatte ich keine Macht, in dieser Zeit war ich so gewöhnlich, wie jede andere Wölfin auch. Ich wäre das Risiko niemals eingegangen, hätte ich nicht gewusst, dass die Wölfe mich um den Preis des eigenen Lebens beschützen würden, und wäre ich mir nicht sicher gewesen, dass auch mein Rudel diese Situation nicht zum eigenen Vorteil nutzen würde.« Sie legte sich auf dem Sofa lang hin. »Aber… du bist wirklich unser Vater?«, fragte Cinder misstrauisch den schwarzen Wolf. »Ja. Auch der Winter braucht ein männlichen Gegenpart«, grinste der. Dabei sträubte sich leicht sein Fell. »Wusstest du, wer sie ist?«, fragte Lugh Akhtar vom anderen Ende des Raumes aus. Er stand vor seinem Bett und schien zu überlegen, ob er es sich darin bequem machen sollte. »Natürlich«, antwortete der Winter an seiner statt, und obwohl der weiße Wolf ihren Blick nicht sah, spürte er doch, dass sie Kanoa einen Blick voller Liebe zuwarf. Er verstand, warum Cinder und Soul existierten. Und die beiden Schwestern auch. »Deswegen sind wir also hier. Deswegen leben wir, das macht uns besonders…«, flüsterte Cinder leise. »Ist das der Grund, warum die Toten bei uns sind?«, wollte dagegen Soul wissen. »Nein. Das hat nichts mit dem Winter zu tun«, antwortete Lugh Akhtar und schaute auf den schwarzen Wolf. »Weißt du etwas darüber?« Soul schaute ihn fragend an, als er langsam wieder zu ihnen kam. »Nicht mehr als ihr. Nur, dass es nichts mit dem Winter zu tun hat.« Woher er diese Sicherheit nahm, erklärte er nicht, und eigentlich war es egal, denn Laiya nickte. »Er hat recht. Wir begleiten euch, weil wir euch ausgesucht haben.« Sie strich um Soul herum, bis sie direkt vor dem Feuer stand. »Ausgesucht?«, fragte Cinder erstaunt und schaute Nalani an. »Ja«, antwortete die, bevor sie Kanoa einen fragenden Blick zuwarf. »Erklärt ihr es ihnen ruhig«, lächelte der. »Nun, ihm werden wir wohl nichts neues erzählen«, begann Laiya und nickte in die Richtung des weißen Wolfs. »Aber es gibt auf dieser Welt dreizehn Zauberer, die sich von den anderen unterscheiden.« »Die legendären Zauberer. Es sind dreizehn, weil dies eine magische Zahl ist. Eine mächtige magische Zahl. Und diese Zauberer sind immer besonders mächtig. Manchmal erkennt man nicht alle sofort, aber früher oder später hat man immer die dreizehn gefunden«, leierte er hinunter, was er über die mächtigen Dreizehn gelernt hatte. »Das ist… nicht ganz richtig«, meinte Nalani. »Du hast recht, wir sind immer dreizehn. Aber es sind nicht unbedingt die mächtigsten Zauberer, die wir uns aussuchen. Was sie so mächtig macht, das sind nämlich wir.« »Inwiefern das?« Der weiße Wolf zuckte unwillig mit dem Ohr. »Wenn einer der Dreizehn stirbt, dann geht er nicht fort. Er wird zu einem Schutzgeist und beschützt fortan jenen, den er als Nachfolger bestimmt hat«, erklärte Laiya weiter. »Und das ist es, was die Dreizehn so mächtig macht. Fast nichts auf der Welt kann euch wirklich schaden«, sprach nun wieder Nalani. »Ihr könnt uns dabei nicht sehen. Soul kann es, weil sie durch ihre zwei so unterschiedlichen Augen gleichzeitig in zwei verschiedene Welten blicken kann. Aber die anderen sehen uns nur, wenn sie in großer Gefahr sind.« Laiya warf der schwarzen Wölfin einen fast schon liebevollen Blick zu. »Zwei unterschiedliche Augen? Die hat Cinder doch auch…«, warf Lugh Akhtar ein, doch die aschfarbene Wölfin schüttelte lächelnd den Kopf. »Ja, das schon, aber Souls Augen sind trotzdem… anders. Etwas Besonderes. Zeig es ihm«, bat sie ihre Schwester. Da schüttelte Soul ihren Pony auf die andere Seite. Darunter kam ein Auge hervor, das ebenso vielfarbig schillerte, wie die von Lugh Akhtar. »Ich habe es von Geburt an. Sie schauen mich immer so seltsam an, wenn sie es sehen, deswegen verberge ich es lieber«, erklärte sie und lächelte ein wenig. »Deswegen also…« murmelte der weiße Wolf und schaute nachdenklich auf Kanoa. Er dachte an damals, als sie ihm so bittere Vorwürfe gemacht hatte, weil der schwarze Wolf bei ihm war, statt bei einer seiner Töchter. Durch diese beiden Augen hatte sie ihn damals schon sehen können. »Ihre Augen sind anders als eure, deswegen sieht sie die Welt auch anders. Sie kann die Schutzgeister immer sehen«, wiederholte Laiya noch einmal lächelnd. »Das ist… erstaunlich… Aber woher kommt es, dass jene, derer ihr euch annehmt, auch vorher schon zu den mächtigen Zauberern gehört haben? Oder gehören wir von Geburt an dazu?«, fragte Lugh Akhtar weiter. »Nein. Erst wenn einer der Dreizehn stirbt, nimmt er sich einem anderen an. Ihr seid es niemals von Geburt an, Cinder zum Beispiel ist es ja erst seid kurzem geworden. Und du hast recht, ihre Magie war auch damals schon sehr stark, doch das ist nicht unser Hauptaugenmerk. Wir wollen jene beschützen, die uns auch im Leben schon am meisten bedeutet haben, auch nach unserem Tode noch«, lächelte Nalani und schmiegte sich eng an die aschgraue Wölfin, die ihre Augen schloss. »Dann aber verstehe ich nicht, wieso Kanoa bei Lugh Akhtar ist.« Soul runzelte fast schon ärgerlich die Stirn. »Ich meine, was hat er mit ihm zu schaffen? Cinder und ich sind seine Töchter, wir sollten für ihn doch das Wichtigste auf der Welt sein.« Darauf schaute alles Kanoa fragend an, doch der lächelte nur stumm, wusste dabei genau, dass sie von ihm eine Antwort erwarteten. »Gut, das Rätsel wird sich wohl nicht so schnell auflösen«, seufzte der weiße Wolf, schaute Laiya und Nalani dann fragend an. »Wieso gibt es die Dreizehn eigentlich? Welchen Sinn hat ihre Existenz? Und wer sind die anderen zehn?« »Ihre Existenz… das ist schon etwas schwieriger. Eigentlich hat ihre Existenz als solche keinen besonderen Sinn. Es ist… wie mit deinem Namen, Fjodor. Er ist verflucht, wie du schon weißt«, begann die Füchsin langsam. »Oh ja, das habe ich schon bemerkt«, lachte der bitter auf, schüttelte dann den Kopf und deutete mit einem Rutenzucken, dass sie bitte fortfahren möchte. »Nun, mit uns ist es ähnlich. Es war vor langer Zeit einmal ein Mann, der liebte eine Frau. Er liebte sie mehr, als alles andere auf der Welt und sie liebte ihn ebenso sehr. Doch dann brach Krieg in ihrem Land aus und der Mann musste in den Kampf ziehen. Er starb dabei, wissend, dass er nun seine Geliebte nicht mehr schützen konnte«, begann Laiya die Geschichte zu erzählen. »Er war ein Zauberer, sich dessen aber nicht bewusst. Als ihm im Todeskampf klar wurde, in welcher Gefahr sie schwebte, da brach aller Zauber aus ihm heraus und seine Seele nahm die Gestalt eines Adlers an. Auf schnellen Schwingen flog er zurück zu seiner Geliebten und konnte sie in letzter Sekunde noch vor dem Feind beschützen«, fuhr Nalani fort. »Sie war ihm sehr dankbar dafür und sie blieb ihm auf ewig treu. Auch wenn sie nicht wusste, dass er in der Adlergestalt immer bei ihr blieb. Mehr noch, sie gebar ihm einige Monate später ein Kind, von dessen Existenz sie beide nichts geahnt hatten. Die Frau liebte ihr Kind so sehr, dass sie, nach ihrem Tod, ihrem Geliebten die Freiheit schenkte, aber nun ihrerseits ihr Kind beschützte. Und so war der Kreislauf geboren«, endete Laiya. »Und dies geschah auf ähnliche Weise dreizehn Mal im Land. Damit waren die Dreizehn geboren«, lächelte Nalani. »Eine schöne Geschichte«, fand Cinder und ihre Schwester nickte nachdenklich. »Wieso meinst du eigentlich, dass es mit dem Winter nichts zu tun haben kann? Natürlich, das hat es nicht, aber das konntest du vorher nicht wissen«, wechselte die abrupt das Thema und blickte ihn fragend an. »Nun, ihr zwei seid vielleicht die Töchter des Winters, aber von mir hat sie kein Wort gesagt«, lächelte er bitter. »Ich bin bloß ein einfacher Bauerssohn, bei dem niemand versteht, warum die Magie seiner so gutmütig ist.« »Das bist du nicht, Fjodor«, widersprach der Winter und lächelte. »Was bin ich dann? Ich kenne meine Eltern und da du Kanoa liebst, glaube ich nicht, dass du dich vorher mit jemandem wie meinem Vater eingelassen hast«, antwortete er und dachte eher geringschätzig an den Mann, der in seinen ersten fünf Lebensjahren eine solch große Rolle gespielt hatte. »Du erinnerst dich nicht, oder?«, fragte der schwarze Wolf sanft. »Woran?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »An ein glückliches Leben, bevor Nikolai es mir nahm?« »Nein. An mich.« Kanoa schaute ihn fast schon flehendlich aus seinen vielfarbigen Augen an. »Ich erinnere mich, dass auch du da gewesen bist, an jenem Tag im Wald. Du bist der Zauberer gewesen, der mich nach Hause gebracht hat und du…« Da fiel es dem weißen Wolf wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich wieder, was weiter geschehen war, als sie zu Hause ankamen. Die Mutter war erleichtert gewesen, ihren Sohn wohl behütet wieder zu sehen und Kanoa... er war nicht wieder gegangen. Wieso sollte er auch? Auch er hat dort gewohnt. Er hatte mit ihm gespielt, jeden Tag, den ganzen Abend lang. Ihm Geschichten erzählt, von Dingen, die so viel größer waren, als er, und hatte ihm immer beigestanden, hatte er Hilfe gebraucht. Bis er gegangen war. Aber nicht freiwillig. Kanoa hatte sich gewehrt, als die Wachen ihn gefangen genommen hatten, doch war er viel zu gutmütig, um jemand wirklich zu schaden. Das nächste Mal, als Lugh Akhtar ihn gesehen hatte, da war er in Ketten auf der Mauer gestanden. Die Zauberer hatten ihn verbannt, für etwas, was er nicht getan hatte. Und sie hatten Lugh Akhtar seinen wirklichen Vater genommen. Der Mann, der danach kam, war bloß ein billiger Ersatz gewesen. »Dann… sind sie ja…«, er schaute zu Cinder und Soul hin, dann zum Winter. »Bin ich deswegen hier?« »Ja. Auch«, lächelte sie sanft. »Was ist?«, fragte Soul sogleich, erhielt aber eine andere Antwort, als sie haben wollte. »Ihr Drei. Ihr könnt hier bleiben, wenn ihr es möchtet. Oder ihr könnt gehen. Es liegt an euch zu entscheiden, ob ihr ein Leben in meinem Reich, das zugleich auch das eure ist, oder ob ihr lieber euer altes Leben weiterführen mögt. Überlegt es euch, ihr habt die freie Wahl und egal, welche ihr auch treffen mögt, ich werde euch immer lieben. Aber natürlich wünsche ich mir, dass ihr hier bei mir bleiben mögt«, sprach die weiße Wölfin. Doch ihre Kinder mussten nicht lange überlegen. Sie brauchten sich nicht einmal einen Blick zu zuwerfen, geschweige denn erfragen, was die anderen wollten, da schüttelten sie auch schon alle Drei die Köpfe. »Ich will zurück. Es gibt da jemanden, dem bin ich es schuldig«, sprach Soul als Erste. »Ich möchte ebenfalls mein altes Leben weiterleben. Dies ist nicht meine Welt, ich denke nicht, dass ich hier glücklich würde«, fand auch Cinder. »Es gibt jemanden, dem ich noch so vieles sagen muss und von dem ich mich niemals trennen könnte. Auch ich möchte nicht hier verweilen«, stimmte auch Lugh Akhtar ein. Der Blick des Winters war traurig, doch sie nickte. »Ich werde es so akzeptieren. Aber nehmt dennoch ein Geschenk, das euch immer den Weg zu mir weisen wird, wohin euer Weg euch auch führen mag«, lächelte sie traurig. Die Drei nickten zögernd und da nickte auch der Winter. Ein Leuchten erfüllte mit einem Mal den Herzanhänger an Souls Kette, und den Sternenanhänger an Lugh Akhtars Halsband. Cinder erhielt ein ganz neues Halsband aus dunkelrotem Samt, an dem ein halbmondförmiger Anhänger baumelte. Auch er leuchtete. »Was… ist das?«, fragte die schwarze Wölfin unsicher und hob ihre Pfote an das silberne Herz. »Ich habe euch einen Teil meiner Macht gegeben. Ihr besitzt dieselbe Macht, wie auch ich, ihr könnt es schneien lassen, Eis gefrieren und so vieles mehr. Auch mein Rudel wird euch helfen, wo immer es kann, wenn ihr es darum bittet. Mehr kann ich euch nicht geben, aber es sollte euch dennoch helfen, solltet ihr in Not sein«, lächelte die weiße Wölfin. »Hab Dank«, sprach Cinder darauf und die beiden Anderen nickten. »Ich werde nun gehen. Kanoa wird euch zurückbringen«, sprach sie traurig weiter und nachdem sie einander verabschiedet hatten, verschwand sie und die Drei standen wieder im Schnee. »Folgt mir«, sprach der schwarze Wolf und lief los. Die Drei folgten ihm. »Sagst du mir jetzt, warum du bei Lugh Akhtar bist, und nicht bei uns?« Soul hatte nicht vor, locker zu lassen, jedoch bekam sie von dem schwarzen Wolf immer noch keine Antwort. Stattdessen war es der weiße Wolf an ihrer Seite, der antwortete. »Weil ich doch so bin, wie ihr Beide. Der Winter… sie ist meine Mutter, wie sie auch die eure ist. Deswegen bin ich mit euch hier. Und Kanoa. Er ist auch mein Vater. Ich hatte es nur vergessen.« Kapitel 20: Ein neues Ziel -------------------------- »Da seid ihr ja wieder!«, Sly lief Rute wedelnd auf sie zu, blieb auf halbem Weg jedoch erstaunt stehen. »Was ist? Ist etwas passiert?« »Ja, so könnte man es sagen«, antwortete Soul langsam und zuckte unwillig mit dem Ohr. »Was ist?«, wollte auch Ice wissen und schaute von einem zum anderen. »Das ist nicht so einfach zu sagen…«, begann Cinder, schüttelte dann aber verwirrt den Kopf. »Erzählt, wie es euch ergangen ist. Wir müssen nämlich noch ein wenig… darüber nachdenken könnte man sagen«, Lugh Akhtar setzte sich in den Schnee und schaute Sly fast schon flehentlich an, das er bitte zu sprechen beginnen möge. »Was uns passiert ist? Na ja, das ist eigentlich schnell erzählt«, meinte er unsicher und blickte auf die beiden Wölfinnen, die eng beieinander saßen und ebenso bittend schauten, wie auch Lugh Akhtar. Was war nur geschehen? »Wir waren auch erst im Reich des Winters, aber nicht lange. Ein schwarzer Wolf kam und erklärte uns, dass es für den Moment besser wäre, wenn wir wieder gingen. Der Winter hätte wichtigen Besuch. Da wart ihr drei schon nicht mehr da«, sprach Ice. »Nun, wir haben ihm erklärt, dass wir euch erst finden müssten, aber er meinte, dass das so schon seine Richtigkeit hätte. Also sind wir wieder zurückgegangen und haben uns hier zum Warten hingesetzt«, endete Sly. »Also erzählt. Was ist euch im Reich des Winters widerfahren?«, neugierig versuchte Ice einen Blick in die Augen der anderen zu erhaschen, doch sie waren eigentlich alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Doch da seufzte Lugh Akhtar und schaute sie nachdenklich an. »Ihr wisst, was die Dreizehn sind, oder?«, fragte er leise. »Natürlich«, antworteten die beiden wie aus einem Mund. »Wir drei gehören zu ihnen«, damit stand er auf und ging an ihnen vorbei. Sly schaute erst ihn verblüfft nach, wechselte dann einen beredenden Blick mit Ice, bevor er sich den Schwestern zuwandte. »Wie meint er das?«, wollte er wissen. »Na ja, wir sind sozusagen… Mitglieder dieses dreizehner Rudels«, Cinder grinste hilflos. »Alle drei?«, Ice Stimme schwang vor erstaunen. »Ja.« Der blaue Wolf und der Fuchswolf warfen sich einem langen, vielsagenden Blick zu, bevor sie einstimmig nickten. »Wohin wollen wir als nächstes gehen?«, fragte Sly freundlich. Cinder schaute ihn erstaunt an. »Wollt ihr nicht mehr wissen, was wir noch erfahren haben?«, fragte sie erstaunt. »Doch, aber wenn ich bereit seid, es uns zu sagen, dann werdet ihr es tun. Und vorher lange Fragen wird vermutlich einfach nicht viel Zweck haben, oder?«, lächelte er. »Es ist einfach so… unglaublich, was wir erfahren haben«, sie blickte zu Boden, auf den Schnee. »Deswegen ja. Lasst euch Zeit damit, denkt in Ruhe darüber nach. Und solltet ihr zu dem Schluss kommen, dass ihr es uns erzählen wollt, dann tut es. Wenn es uns aber nichts angeht, dann sagt es eben nicht«, der Fuchswolf streckte sich und machte Anstalt, Lugh Akhtar zu folgen. Die Schwestern warfen sich einen beredenden Blick zu und schlossen sich ihm Kommentarlos an. Ice folgte als letzter, nachdem er noch einen langen, nachdenklichen Blick zurückgeworfen hatte. Sie lagerten die Nacht in der Nähe der Eismond. Erst am nächsten Morgen, als die erste Dämmerung über das Land hereinbrach, stieß Lugh Akhtar wieder zu ihnen. »Wo bist du gewesen?«, fragte Soul gähnend. Nicht Vorwurfsvoll oder dergleichen, einfach nur interessiert. »Ich brauchte Zeit zum Nachdenken«, antwortete er lächelnd und setzte sich in den Schnee. »Die ganze Nacht?«, Sly streckte sich und schaute ihn zweifelnd an. »Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen, mach dir darüber keine Gedanken«, der weiße Wolf wirkte seltsam losgelöst, ja fast schon fröhlich. Ein Gemütszustand, den bisher kaum jemand jemals an ihm entdeckt hatte. »Was hast du getan? Hast du irgendetwas seltsames gefressen?«, wollte Cinder nervös wissen. So kannte sie ihn nicht, so wirkte er gruselig auf sie. »Nein. Aber ich weiß jetzt endlich, wer ich bin. Und warum die Magie mir so bereitwillig gehorcht«, lächelte er. »Ich muss mich jetzt nicht mehr selbst finden. Meine Suche ist zu Ende.« »Freut mich ja, das es dir so gut geht, aber… hast du eine Ahnung, wohin wir nun gehen sollten?«, Sly fiel es wirklich schwer, ihn nicht zu fragen, was im Winterreich geschehen war, das sah man ihm an. »Ja. Wir müssen zu Ikaika. Ich muss mit ihm und mit den Leuten aus seinem Rudel sprechen, außerdem müssen wir Nea und Tariq abholen. Und dann gehen wir zurück über die Mauer und klären ein für alle mal die Geschichte wegen der ihr Verbannt wurdet«, antwortete er ruhig und ohne zögern. »Und Cinder und Soul?«, fragte Ice. »Es ist… ihre Sache, was sie tun möchten. Aber…«, er wandte sich zu seinen Schwestern um. »Ich möchte euch gerne die Welt zeigen, aus der Kanoa kommt. Wenn ihr sie sehen wollt, dann begleitet uns.« »Ja«, antwortete Cinder sofort und ihre Augen leuchteten. »Und du Soul?« »Ich… weiß nicht… Gehst du auch dorthin, Ice?«, fragte sie und blickte unsicher in seine Richtung. »Ich denke schon«, auch der blaue Wolf wirkte unsicher. »Dann denke ich, dass ich auch mitkommen sollte«, erklärte sie und schaute zu Boden. Sly holte schon tief Luft, um etwas zu sagen, da wurde er grob von Lugh Akhtar in die Seite gestupst. Als der Fuchswolf in seine Richtung schaute, da schüttelte er sacht den Kopf und Belustigung blitzte in seinen Augen. »Nun… dann sollten wir vielleicht gehen«, bemerkte Cinder unsicher und machte zwei zögernde Schritte in die entsprechende Richtung, doch keiner folgte ihr. Soul und Ice waren viel zu sehr in ihrem Blick gefangen, Sly beobachtete sie mit undeutbarer Miene und Lugh Akhtar schaute sie nur mit einem Lächeln an. »Was ist?«, fragte Cinder unwillig. »Sly, Ice. Ihr müsst nicht alles wissen, was uns geschehen ist, aber zwei Dinge, die sind… die haben alles verändert«, erklärte er und warf seinen Schwestern einen beredenden Blick zu. »Du hast recht«, nickte Cinder. »Sie haben alles verändert.« Für einen Moment war der weiße Wolf verunsichert von ihrem kalten Blick, doch dann lachte die aschgraue Wölfin laut auf. »Lugh Akhtar ist unser Bruder. Und wir alle drei sind die Kinder des Winters«, erklärte sie lächelnd. Danach war es so still, das man eine Schneeflocke hätte fallen hören können. »Ihr seid Winterkinder?«, ätzte Ice, machte unwillkürlich ein paar Schritte zurück und starrte vom einem zum anderen. Sly tat es ihn mit großen Augen gleich. Damit verunsicherte er Soul und Cinder so arg, das sie verstört auf Lugh Akhtar blickten, der ruhig und mit einem Lächeln die Reaktion beobachtete. »Was… ist?«, fragte die schwarze Wölfin zögernd in die Runde. »Es gibt viele Geschichten, jenseits der Mauer, unter anderem auch von den Winterkindern«, erklärte der weiße Wolf eindeutig belustigt. »Und die sind nicht alle positiv?«, riet Cinder. »Es sind Gruselgeschichten, die man kleinen Kindern erzählt, damit sie nachts im Haus bleiben. Vor allen in den nördlichen Ländern wie Forea und Irian, aber auch in Altena und Lanta kennt man die Geschichten. Die bekanntest ist die, das der Winter ein großes Ungeheuer sein soll, das jeden Mensch, den er in einem Schneesturm entdeckt, in ein Winterkind verwandelt. Winterkinder sind ebenfalls Ungeheuer und sie bilden die Armee des Winters, die er aufbaut, um irgendwann die ganze Welt mit Eis und Schnee und ewiger Nacht zu überziehen. Kindermärchen eben«, erklärte Lugh Akhtar und lächelte sanft. »Und wie ist die Wahrheit?«, fragte Ice vorsichtig. »Die ist eine völlig andere. Der Winter ist kein Ungeheuer, im Gegenteil. Ich fand sie ausgesprochen freundlich, aber das muss nichts heißen. Sie ist nicht viel anders, als wir es sind. Wir verstehen ihr Tun vielleicht nicht, aber so muss es den gewöhnlichen Menschen wohl auch gehen, wenn sie mir uns Zauberern zu tun haben. Ansonsten sind Cinder, Soul und ich auch nicht anders, als ihr beide, außer eben, das wir ein paar bessere Tricks auf Lager haben«, sprach der weiße Wolf weiter. »Ein bisschen bessere Tricks?«, Sly schaute ihn fragend an. »Ja. Das Rudel des Winters ist uns sehr zugetan zum Beispiel. Ich hatte letzte Nacht eine längere Unterhaltung mit der Nacht, dem Schnee und der Kälte. Sie folgen unseren Bitten genauso, wie denen des Winters. Und noch die eine oder andere Sache, die ich noch nicht so ganz erprobt habe. Es Nacht werden lassen zum Beispiel oder es schneien lassen. Wobei, das konnte ich auch vorher schon und Nea auch, das hat also nicht unbedingt etwas mit dem Winter zu tun«, erklärte er weiter. »Und was hast du nun mit deinen neu gewonnen Tricks vor?«, wollte Ice wissen. »Gar nichts weiter. Ich habe nicht vor, anders zu leben, als vorher auch. Aber zu allererst müssen wir dafür Sorgen, das geschehenes Unrecht sich nicht wiederholt. Also, wollen wir langsam aufbrechen?«, lächelte der weiße Wolf. Da nickten die anderen und gemeinsam machten sie sich auf nach Süden. Dieses Mal durchquerten sie die Rudelgebiete unbehelligt, das einzige, was ihnen begegnete, waren ein paar Kaninchen dann und wann. Bevor sie jedoch zu Ikaika gingen, verbrachten sie noch eine Nacht im Schattenfangrudel. Als sie dort ankamen, wurden sie gleich stürmisch begrüßt, denn sie alle hatten Cinder vermisst. »Wo ist River?«, fragte sie lachend, als sie sich unter dem Fell eines grauen Rüden hervor gegraben hatte. »Bei Leila natürlich«, lachte eine cremefarbene Wölfin. »Wir können dich hin bringen«, erklärte der graue Wolf. Das ließ sich Cinder nicht zweimal sagen, und während sie sich zu einer Höhle aufmachten, in der Leila ihre Welpen zu Welt gebracht hatte, verabschiedete sich auch Lugh Akhtar für den Moment. Er wollte Nea und Tariq wieder sehen. Er fand sie ein wenig abseits des Rudels, wo sie gemeinsam im Schnee lagen und mit Ikaika sprachen. Sie bemerkten ihn nicht, als er langsam näher kam, doch das lag an einen kleinen Zauber, den er für sich nutzte. Er spielte gerne mit seinen neuen Fähigkeiten, sie zu beherrschen zu lernen war eine kleine Herausforderung für ihn. Sie waren so viel anders, als das, was er bisher getan hatte. »Worüber sprecht ihr?«, fragte er ganz unvermittelt, als er neben Nea stand und schaute lächelnd zu ihr hinab. Damit erschrak er seine Freunde so sehr, das Ikaika sich, von einem puren Reflex geleitet, auf ihn stürzte und Nea und Tariq erschrocken zurückstolperten. Jedoch hatte der schwarze Wolf keine Chance ihn zu bekommen, Lugh Akhtar wich ihm problemlos aus. »Ganz ruhig«, lachte er und sprang noch einmal beiseite, für den Fall, das Ikaika sich noch ein zweites Mal auf ihn stürzen würde. Doch der schwarze Wolf starrte ihn nur aus großen Augen an. »Lugh Akhtar?«, fragte Nea vorsichtig. Bevor er sich auch nur ganz zu ihr umgewandt hatte, da stürzten sie und Tariq sich auch schon auf ihn. Sie sprachen so schnell auf ihn ein, und erdrückten ihn schier bei dem Versuch, ihn zu begrüßen, dass er nicht einmal versuchte, ihnen zu antworten. Er ließ es einfach geschehen, wartete, bis sie schwer atmend von ihm abließen. »Ja, ich freu mich auch, euch zu sehen«, lachte er und schaute – auf dem Rücken liegend – zu ihnen hinauf. »Erzähl, was ist passiert?«, fragte Tariq aufgeregt und rutschte ungeduldig auf seinem Hintern hin und her. »Immer mit der Ruhe, wir haben alle Zeit der Welt«, lachte der weiße Wolf. »Bist du dem Winter begegnet?«, wollte Nea neugierig wissen und setzte sich vor ihm. »Ja, ich habe sie getroffen. Und mehr noch. Heute werde ich euch erzählen, was mir passiert ist. Und morgen, Ikaika, werden wir dafür sorgen, das Unrecht auf Gerechtigkeit trifft. Und du wirst mir dabei helfen«, erklärte er und schaute dem schwarzen Wolf lange in die Augen. »Was hast du vor?«, wollte der wissen. »Ich werde zurückgehen. Und Sly und Ice werden mich begleiten. Wir werden ihren guten Ruf wieder herstellen. Und wenn man dich genauso reingelegt hat, wie sie, dann hast du die Wahl, mit uns zu kommen«, bot der weiße Wolf an. Ikaika nickte zögernd. Da wandte sich Lugh Akhtar an sie alle. »Und jetzt ist es an der Zeit, euch alles zu erzählen, was ich weiß. Wer Sly ist, wer Ice ist, wer Cinder und Soul sind. Und wer ich bin«, lächelte er und begann ganz vorne, in jener Nacht, in der Sly und er zu Freunden wurden. Kapitel 21: Von Politik und lüsternden Füchsen ---------------------------------------------- Der weiße Gerfalke lachte laut auf, als er die Flügel eng anlegte und sich aus der Höhe der Wolken zur Erde fallen ließ. Erst wenige Meter, bevor er auf dem Boden zerschmetterte, breitete er die Flügel wieder aus und flog so knapp über den Schnee dahin, dass er mit seinen Klauen die weiße Decke zerfurchen konnte. Lachend ließ er sich vom Wind wieder in schwindelerregende Höhen tragen. »Ich liebe diese Flügel, ich glaube, ich verabschiede mich von der Wolfsgestalt!«, schrie er übermütig, als er um eine Rötelfalkin herumsauste. »Sei mal nicht zu übermütig, so etwas kann auch schnell ins Auge gehen«, bemerkte die und flatterte unsicher. »Sei nicht so ein Spielverderber, Schwesterherz! Ich find das auch super!«, rief ihr ein Rotmilan zu, der fast ebenso übermütig umher flatterte, wie der Gerfalke es tat. »SLY!!«, brüllte daraufhin der Kolibri auf seinem Rücken ängstlich. »Aber, sie hat recht, es kann wirklich eine Menge passieren, wenn ihr so übermütig seid«, lachte eine graubraune Wanderfalkin und tat es dem Gerfalken nach, indem sie sich zu Boden stürzen ließ und erst in letzter Sekunde die Flügel wieder ausbreitete. »Was macht eigentlich Tariq?«, wollte die Rötelfalkin wissen und schaute besorgt auf das kleine Häuflein Vogel, das auf dem Rücken des Gerfalken still vor sich hin litt. »Ich glaube, dem geht’s gut«, rief der übermütig und flatterte auf eine Laggarfalkin zu, die gerade ausprobierte, wie lange sie schweben konnte, bis sie wie ein Stein hinunterfallen würde. »Fliegen wir eigentlich noch in die richtige Richtung, Soul?«, fragte er. »Eigentlich schon«, antwortete sie und flatterte eifrig, um wieder an Höhe zu gewinnen. »Dann müssten wir ja bald an der Mauer sein«, lachte der Gerfalke und zog eine Schleife, um wieder an Neas Seite zu kommen. Eine zerrupft aussehende Krähe gesellte sich flatternd zu ihnen. »Das erste Mal, seit fünfzehn Jahren, dass ich wieder zu Hause bin«, erklärte die Krähe nostalgisch, hatte dabei Mühe, mit den ganzen Falken mitzuhalten. »So sehr wird es sich nicht verändert haben«, beruhigte der Gerfalke, während er noch eine Schleife flog. »Das ist es auch nicht, was mir Sorgen macht«, antwortete die Krähe grantig, als sich die Wanderfalkin meldete. »Auf der Mauer stehen Menschen«, erklärte sie. »Was?«, rief der Gerfalke alarmiert und spähte in die entsprechende Richtung. Doch offensichtlich konnte die Wanderfalkin besser sehen, als er, denn er nahm nur gerade so die Mauer wahr. Doch sie waren enorm schnell, viel schneller, als sie es als Wölfe gewesen wären, sodass er keine fünf Minuten später ebenfalls die Menschen ausmachen konnte. Und er erkannte sie auf Anhieb. »Was zum…!«, grollte er böse und legte noch einmal an Tempo zu, sodass er der Erste war, der zum Landeanflug auf die Mauer ansetzte. Nikolai, der eben noch von einer Schriftrolle das Urteil verlesen hatte, blickte nun erstaunt auf, als der weiße Gerfalke nur Zentimeter über seinen Kopf hinweg flog und dabei böse schrie. Er flog noch eine kleine Schleife um im Landeflug schon damit zu beginnen, sich zu verwandeln, sodass er den letzten Meter als Mensch auf den schwarzen Stein sprang. »Nikolai! Was tust du da?«, fauchte er böse und fegte beiläufig mit einer ausladenden Handbewegung die Zauberer beiseite, die Anstalt machten, sich auf ihn zu stürzen. Tariq schmiss er dabei regelrecht von sich, doch die kleine Amsel flatterte schnell wieder zu ihm zurück und setzte sich unsicher auf seine Schulter. »Makani! Du bist wieder zurück!«, rief der Meister der Zauberergilde erstaunt aus. »Ja!«, fauchte der junge Mann böse und blitzte den alten Mann warnend an, bevor er sich zum Gefangenen umwandte. Der Vater von Nea und Sly, die just in dem Moment auf dem Steingeländer der Mauer landeten, die den Gang auf einer Seite begrenzte. »Ich habe gesagt, dass ich nichts gegen ihn sagen würde, und das habe ich auch nicht getan! Und außer mir hat er keinem Zauberer geschadet, was wirfst du ihm also noch vor?«, fauchte er seinen ehemaligen Meister an, während Cinder, Soul, Ice und Ikaika sich um den Rötelfalken und den Rotmilan scharrten. Keiner von ihnen verwandelte sich, aber sie alle beobachteten neugierig, was geschah. »Aber, alle wissen, was er getan hat. Er hat es zugegeben«, wandte Nikolai ruhig ein. »Willst du dorthin gehen?«, wandte sich Lugh Akhtar bissig an den Mann, der verwundert die Szene beobachtete. Nun zuckte er zusammen und schaute zu Boden. »Ich weiß es nicht. Ich… möchte Hope noch einmal wieder sehen. Vielleicht lebt er ja noch«, murmelte er unsicher. »Hope?«, flüsterte Lugh Akhtar nachdenklich und warf Sly einen schnellen, fragenden Blick zu. »Mein Sohn. Mein ältester Sohn. Ich denke, ich habe ihm Unrecht getan, als ich die Anschuldigungen gegen ihn glaubte«, sprach der Mann leise. »Der Feuerfuchs, oder?«, vergewisserte sich der junge Mann noch einmal, und auf ein Nicken seines Gegenübers, schüttelte Lugh Akhtar entschieden den Kopf. »Ich habe ihn getroffen und ich denke nicht, dass er dir böse ist. Also, geh jetzt nach Hause, oder wohin du auch immer gehen willst und mach dir darüber keine Gedanken mehr. Solange du dir nichts mehr zu Schulden kommen lässt, wird dir keine Macht der Welt etwas anhaben, das verspreche ich dir bei meinem Leben.« Da schaute der alte Mann ihn erstaunt an. »Nach allem, was ich getan habe?« »Mir hast du niemals etwas getan, im Gegenteil. Aber das ist eine andere Sache und es gibt andere Leute, denen diese Worte eher gehören, als dir. Also, nimm es einfach so hin, dass ich dir nichts nachtrage, dir sogar Danke«, erklärte Lugh Akhtar und entließ ihn mit einer Geste. Dann wandte er sich Nikolai zu. »Lass ihn in Ruhe, es sei denn, du willst dir einen wirklich mächtigen Feind machen, Nikolai«, fauchte er. »Ich kenne deine Fähigkeiten, Makani, aber ich weiß auch, dass du ein gutes Herz hast. Du wirst mir nicht schaden nur aus einer Laune heraus«, lächelte der bloß. »Da magst du recht haben. Aber das muss nichts heißen«, antwortete der junge Mann und lächelte zufrieden, denn er sah die Unsicherheit in Nikolais Augen. »Was ist nur mit dir geschehen?«, fragte er unsicher. »Ich habe mich endlich selbst gefunden, Nikolai. Und ich habe gute Freunde. Ich stehe nicht mehr unter deiner Fuchtel«, lächelte er selbstbewusst. Dann wandte er sich ab und schaute zu seinen Freunden zurück. »Wollen wir weiter? Bis nach Forea ist es noch ein Stück«, lächelte er. Die Laggarfalkin schüttelte darauf knapp den Kopf und flatterte zum Boden, wo sie sich wieder in die Wölfin verwandelte. Auch Lugh Akhtar nahm diese Gestalt an. Im Gegensatz zu Nea konnte er die Sprache der Tiere nur dann verstehen, wenn er selbst eines war. »Was ist?«, fragte er sanft. »Er gehört auch zu den Dreizehn. Er hat eine Eule bei sich«, erklärte sie und schaute auf jene Stelle, wo die Eule wohl saß. »Ach ja?« Der weiße Wolf lächelte, blickte seinen Meister lange und nachdenklich an, bevor er Soul einmal dankbar über die Schnauze leckte und sich dann wieder in den Menschen verwandelte. Die schwarze Wölfin dagegen wurde wieder zum Falken. »Wir sehen uns ein anderes Mal, Nikolai. Und lass ihn bitte einfach in Ruhe. Er ist genug gestraft für das, was er getan hat«, erklärte der junge Mann, bevor er sich in den Gerfalken verwandelte und darauf wartete, dass die Amsel wieder auf seinen Rücken kletterte. Tariq zögerte zwar kurz, doch machte er es sich wieder auf Lugh Akhtars Rücken bequem. Dann flogen sie weiter. Das Land unter ihnen veränderte sich immerzu, doch nun kannte der Gerfalke den Weg. Und die Anderen folgten ihm. Irgendwann erblickten sie dann in der Ferne eine große Stadt, hatten sie vorher jedoch nicht ein Dörflein gesehen. »Es wird nicht viel los sein, im Winter bleiben die Leute lieber in ihren Häusern«, erklärte er den anderen, als Cinder ihn erstaunt fragte. »Häuser…?«, fragte sie zögernd weiter. »Stell es dir vor, wie eine Höhle, die sich die Menschen bauen, um dort drinnen zu leben«, lächelte er, während er langsam an Höhe verlor. Seine Hütte war bei weitem nicht groß genug für die vielen Leute, sie war ja für nur zwei Leute fast zu klein. Aber er wusste, dass das Schloss von Forea leer stand und jedem zugänglich war. So landeten sie einige Zeit später direkt vor dem Schloss. Die Nacht war schon über sie hereingebrochen. Während Soul, Cinder, Sly und Ice ihre Wolfsgestalt bevorzugten, blieben Tariq und Ikaika Vögel und wurden Nea und Lugh Akhtar wieder zu Menschen. Der junge Zauberer öffnete die Tür mit einer kleinen Handbewegung und entfachte ein Meer aus Licht mithilfe einer ausladenden Armbewegung. »Ich war noch nie hier drinnen, aber ich weiß, dass es einige gemütliche Zimmer geben soll«, erklärte er lächelnd und schaute sich in der staubigen Eingangshalle um. »Soul möchte wissen, warum hier niemand ist?«, übersetzte Nea. »Weil es den Hohen Herren von Forea zu kalt hier ist. Sie debattieren ihre Belanglosigkeiten in Lanta und überlassen die Menschen sich selbst. Das ist nicht einmal die schlechteste Methode, so haben sie wenigstens ihre Ruhe vor der ganzen Politik«, erklärte der junge Mann und betrachtete nachdenklich das große Gemälde einer jungen Frau. Er wusste, dass sie die erste Frau des Herrn von Forea war, aber sie war jung gestorben und er hatte nicht viel Zeit verstreichen lassen, da hatte er schon das nächste junge Mädchen geheiratet. »Tariq? Wenn du möchtest, verwandele ich dich jetzt wieder in einen Menschen. Die nächste Zeit werde ich für meinen Teil sowieso wieder auf zwei Beinen reisen«, wandte er sich der Amsel auf seiner Schulter zu. Der nickte, während die vier Wölfe sich aufmachten, das Schloss genauer zu begutachten. Mit der Hilfe der Wintermagie war es dem Zauberer ein Leichtes, seinen Freund wieder zum Prinzen von Lanta zu machen und auch Ikaika, der es wohl selbst gekonnt hätte, für den es aber ausgesprochen schwierig gewesen wäre, ließ sich wieder seine Menschengestalt zurückgeben. Danach verschwand er kommentarlos. »Ich bin in spätestens zwei Stunden wieder da«, verabschiedete sich auch Lugh Akhtar und ließ seine Freunde in dem Schloss allein. Er war schon so lange nicht mehr im Dorf gewesen, er musste erst einmal hier nach dem Rechten sehen, bevor er sich ausruhen konnte. So lief er alleine durch die stille, leere Stadt, während die Sterne am Himmel leuchteten. Cinder hatte ihm erklärt, dass es einige Tage oder Wochen dauern konnte, bis das neue Nordlicht wieder die funkelnden Lichter an den Himmel zaubern konnte. Er lief einmal durch die leeren Gassen der Stadt und verließ sie. Es zog ihn zu seiner Hütte, er hatte das Gefühl, dass ihn dort jemand erwartete. Und er hatte recht, als er die Tür öffnete, saß die Nacht in seiner Menschengestalt auf dem Sofa, an seiner Seite ein hübsches Mädchen mit hellem Haar und tiefblauen Augen. »Ich möchte dir das neue Nordlicht vorstellen. Und der Winter wollte sichergehen, dass ihr gut nach Hause gekommen seid«, begann die Nacht ohne jegliche Begrüßung. »Wer war sie in ihrem früheren Leben?« Der junge Zauberer schaute das Mädchen freundlich und wohlwollend an. »Sie kommt von den Schattenfängen, ihr Name ist Aurora. Cinder wird dir gewiss eine Menge über sie erzählen können«, lächelte der finstere Mann, wechselte dann aber das Thema. »Wenn dir der Zauberer viel Ärger macht, dann kann ich ihn gerne einmal ein wenig erschrecken.« »Nein, ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Er war mein Lehrmeister, kaum einer weiß über meine Fähigkeiten so gut bescheid, wie er. Er hat Angst vor mir, ich habe es in seinen Augen gesehen. Er fürchtet, dass ich nicht mehr der liebe Junge bin, den er von seiner Familie wegholte«, lächelte Lugh Akhtar zufrieden. »Das bist du ja auch nicht mehr«, bemerkte die Nacht. »Jeder verändert sich im Laufe seines Lebens«, antwortete der Zauberer. »Warum bist du eigentlich zu mir gekommen?« »Darf ich nicht?«, lachte sein Gegenüber. »Doch, aber mir ist sehr wohl aufgefallen, dass jeder von uns Dreien sagen wir… eine Art Paten bekommen hat. Und du hast dir ganz eindeutig Cinder ausgesucht, nicht mich. Deswegen wäre es viel sinniger, wenn du ihr als erstes das neue Nordlicht vorgestellt hättest.« »Das stimmt wohl. Du hast recht, jeder von uns hat seinen Liebling, und meiner wird immer Cinder sein. Sie ist mir so ähnlich… und genau deswegen möchte ich dich bitten, dass du gut auf sie acht gibst. Sie ist nicht so stark wie Soul und so dickfellig, wie du.« Darauf lachte Lugh Akhtar: »Ich? Dickfellig? Ich habe ja schon vieles über mich gehört, aber noch nicht, dass ich dickfellig sei.« »Von mir aus kannst du es auch anders nennen, es kommt dasselbe dabei heraus. Tatsache ist, dass Soul zu jung ist, als dass ich sie darum bitten könnte, auf ihre Schwester aufzupassen. Also, bleibst nur du. Gib auf sie acht«, bat die Nacht und nach einigen Augenblicken nickte der junge Zauberer. Darauf verschwand die Nacht und mit ihm das Nordlicht. Und der Zauberer kehrte zum Schloss zurück. Nea und Tariq hatten sich bereits schlafen gelegt, Ikaika, Sly und Ice waren nicht auffindbar, aber seine Schwestern saßen gemeinsam in einem gemütlichen Zimmer. Lugh Akhtar verwandelte sich wieder in den weißen Wolf, damit er verstand, was sie sagten, und gestellte sich zu ihnen. »Das hier ist ein so seltsamer Ort. Leben alle Menschen so?«, fragte Soul mit glänzenden Augen. »Nein. So leben nur die, die viel Macht haben. Die sich mit Politik beschäftigen. Aber auch viele Zauberer, die sich zu fein sind, ein einfaches Leben zu führen«, erklärte er lächelnd. »Lebst du dann auch in so einem großen Schloss?«, wollte Cinder wissen. »Schloss Forea ist nicht groß. Das Schloss von Lanta, also der Ort, an dem Tariq für gewöhnlich lebt, das ist groß. Aber nein, ich bin in einfachen Verhältnissen geboren und hatte nie Interesse daran, an so einem Ort zu leben. Im Gegenteil, ich habe Tariq deswegen immer bedauert.« »Warum ist Tariq in einem noch größeren Schloss zu Hause, wenn er doch eigentlich nur ein einfacher Mensch ist?« Soul schaute ihn aus ihrem blauen Augen fragend an. »Weil er ein Mensch ist, kein Zauberer… Lasst es mich anders erklären. Das Leben der Menschen ist eurem Leben nicht unähnlich. Jedes Land bildet sozusagen ein Rudel. Das hier ist das Rudel von Forea. Es gibt auch noch andere Rudel, Irian zum Beispiel, oder Rosaly. Das größte Rudel stellt hierbei Lanta. Und Lanta ist auch nicht irgendein Rudel, es ist sozusagen das Rudel des Winters. Ein Rudel, das niemand anzuzweifeln wagt, ein Rudel, das mächtiger ist, als alle anderen. Es steht über den anderen Rudeln. Sie folgen ihm. Und Tariq ist sozusagen der Sohn des Leitwolfs. Er wird einmal das Reich von Lanta regieren, und somit ist er der zweitmächtigste Mann der Menschen«, erklärte der weiße Wolf. »Und wie ist das mit den Zauberern? Sie sind doch mächtiger als die Menschen, sie könnten das Land einfach an sich reißen«, überlegte Cinder. »Theoretisch schon, ja. Aber Zauberer streben nicht nach irdischer Macht. Ein Zauberer ist mit anderen Dingen beschäftigt. Die meisten leben in Altena und wollen ergründen, was Magie eigentlich ist. Es gibt aber auch jene wie mich, denen es viel wichtiger ist, mit ihrer Magie den Menschen zu helfen. Es gibt sie überall, in dicht besiedelten Gebieten natürlich mehr, in den nördlichen Schneeländern dagegen kaum einen. Sie stellen auch häufig die Berater der Hohen Menschenherren dar, denn meistens stehen sie ein wenig außerhalb und können viele Situationen besser oder zumindest anders beurteilen. Allerdings mischen wir uns niemals in die Geschicke der Menschen ein.« »Wer ist der mächtigste Mann der Zauberer?« Soul sprang auf eine Liege, woraufhin eine Staubwolke aufstob. »Nikolai, mein Meister. Oder zumindest war er es Früher einmal. Er ist der Meister der Zauberergilde und lebt im höchsten Zimmer im Magierturm in Altena.« »Wie wird man ein solcher Meister?« Cinders Augen blitzen auf, sodass Lugh Akhtar einen Moment zögerte, bevor er antwortete. »Manche Zauberer, die Besonderes geleistet haben, oder gute Verbindungen besitzen, die werden zu Hochmagiern. Es gibt -« Er lachte kurz, bevor er den Satz zu Ende brachte, »immer Dreizehn. Sie eifern den mächtigen Dreizehn nach, aber in vielen Fällen sind sie nicht außergewöhnlich mächtig. Wenn der alte Gildenmeister abdankt oder stirbt, dann stellen sie den Neuen, wie das genau geschieht, weiß ich aber nicht. Auch nicht, worin genau ihre Aufgaben bestehen. Aber sie werden wir uns auch noch vornehmen, denn sie sind es, die Strafen verhängen. Sie haben Sly und Ice in die Verbannung geschickt.« Der weiße Wolf zuckte nachdenklich mit den Ohren. »Also, werden wir nach Altena reisen…« Cinder ließ nachdenklich die Ohren hängen und schaute ihren großen Bruder dann mit einem undeutbaren Blick an. »Ich habe eine Bitte, Lugh Akhtar«, sagte sie nachdenklich. »Welche?«, fragte er erstaunt. »Verwandele mich in einen Menschen.« Sie schaute ihn so fest aus ihren ungleichen Augen an, wie sie konnte. »Wieso das? Ihr könnt auch in Wolfsgestalt…«, wollte er argumentieren, doch Cinder schüttelte entschieden den Kopf. »Ich möchte ein Mensch sein. Ich möchte ihre Sitten lernen, sie sind so anders, als wir.« Ihre Augen leuchteten, als sie das sagte. Darauf nickte der weiße Wolf zögernd. »Ich möchte auch. Nicht… aus den gleichen Gründen, aber... ich möchte auch«, meldete sich Soul und schaute dabei nachdenklich und verträumt ins Nichts. Lugh Akhtar hatte sofort eine Idee, was sie meinte und lächelte. »Okay«, sagte er leise. Dann trat er erst zu Soul, verwandelte sich selbst und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Bleibe ganz ruhig. Entspann dich, versuche an Nichts zu denken«, flüsterte er ihr zu und schloss dann seinerseits die Augen. Er konzentrierte sich und spürte kurz darauf schon, wie sich Souls Gestalt zu verändern begann. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich Souls Gesicht verwandelt. Es war menschlich geworden. Es war das Gesicht einer jungen Frau von siebzehn oder achtzehn Jahren. Ihr langes, schwarzes Haar war von weißen Strähnen durchzogen, was sie älter wirken ließ. Nun sah man auch ihre ungleichen Augen besser, denn jetzt wurden sie nicht mehr von Unmengen an Haaren verdeckt. »Ich… fühle mich seltsam«, murmelte sie und schaute an sich herab. Sie trug keine Kleider, einzig ihre Fußfesseln und ihren Herzanhänger bedeckten noch Teile ihrer Haut. Lugh Akhtar betrachtete sie eine Weile emotionslos, bevor er sich Cinder zuwandte. Mit ihr wiederholte er das gleiche Spiel und als er die Augen wieder öffnete, da war auch sie ein Mensch. Auch ihr Haar hatte die Farbe ihres Fells, doch besaß sie nicht die weißen Strähnen, die Soul zur Schau trug. Ihre Augen schienen noch heller zu leuchten, in dem menschlichen Gesicht und auf ihrer Stirn prang etwas, das wie eine Brandnarbe aussah. Sie hatte die Form des Halbmondes. Auch Cinder trug keine Kleider, nur ihr dunkelrotes Samthalsband war ihr geblieben. »Bin ich… ein Mensch?« Sie betrachtete ihre Hände und strich mit ihnen nachdenklich über ihre Stirn. »Ja. Aber… ich weiß nicht, was schief gegangen ist… eigentlich sollte diese Narbe nicht sein«, flüsterte Lugh Akhtar und kniff unwillig die Augen zusammen, während er ihre Hand beiseite schob und den Halbmond genauer betrachtete. »Egal was es ist, ich bin ein Mensch«, lächelte sie und in ihren Augen glitzerten Tränen der Freude. »Ja…« Der junge Zauberer störte sich dennoch am Halbmond und seufzte. »Ich denke, ich sollte euch Kleider besorgen.« Er stand auf und wandte sich der Tür zu, als er die Stimme von Sly hörte. »Lugh, bist du hier irgendwo? Wir bräuchten mal deine Hilfe, mir ist ein kleines… Missgeschick passiert!«, rief er mit menschlichen Worten. »Ja, so kann man es auch nennen«, fauchte Ice kurz vor der Tür, die sich nur Sekunden später öffnete. Zwei junge Männer, etwa so alt wie Lugh Akhtar, schauten herein. Der eine, offensichtlich Sly, hatte auch so das fuchsrote Haar und die gleichen blauen Augen, wie Nea. Neben ihm, demnach vermutlich Ice, war dagegen komplett blau. Jedoch schien dieses Problem mit einem Mal nicht mehr wichtig, denn mit großen Augen und offenen Mündern starrten sie auf Soul und Cinder, die neugierig zurückblickten. »Meine Güte, wer sind die beiden Hübschen denn?«, fragte Sly, während sein Blick ganz unverhohlen über die intimen Bereiche der Mädchen wanderte. »Meine Schwestern, deswegen wäre ich euch auch dankbar, wenn ihr ein wenig mehr Schamgefühl zeigen würdet«, fauchte Lugh Akhtar und komplimentierte die beiden anderen jungen Männer unsanft nach Draußen und warf die Tür hinter sich zu. Er warf nur einen kurzen Blick auf die blaue Haut, die Ice zur Schau trug und seufzte dann tief. »Sly, du solltest die Hände von Verwandlungszaubern lassen«, seufzte er. »Ich weiß«, grinste der und lugte dabei an Lugh Akhtar vorbei zur Tür. »Du dagegen überhaupt nicht…« Kapitel 22: Schlechte Nachrichten --------------------------------- »Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie du das geschafft hast«, brummte Lugh Akhtar und warf Sly einen schnellen Seitenblick zu. »Ich bin gut in der Theorie, aber in der Praxis war ich noch nie sonderlich begabt«, antwortete der Rotschopf und grinste verhalten. »Ja, und warum bin immer ich dein Opfer?«, knurrte Ice schlecht gelaunt. »Weil du lange genug still hältst«, antwortete Sly selbstzufrieden und beobachtete, wie Lugh Akhtar nachdenklich die blaue Haut betrachtete. »Ich habe schlechte Nachrichten für dich, Ice. Und du solltest jetzt rennen Sly«, meinte der und verzog sein Gesicht. »Wieso? Muss er jetzt blau bleiben?«, lachte der. Da sprang Ice hitzig auf.s »Sollte das der Fall sein, Sly, dann kannst du davon ausgehen, dass ich dich eigenhändig zu Hackfleisch mache!«, drohte er und versuchte seinen Freund zu greifen, doch der war vorsorglich schon zwei Schritte zurück getreten, und da Lugh Akhtar Ice auf dem Stuhl hielt, konnte er ihn so nicht mehr erreichen. »Nein, ganz so schlimm ist es nicht«, lächelte der Zauberer und versuchte, Ice noch energischer runter zudrücken. »Sondern?«, fragte der misstrauisch. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sly genau getan hat, aber aus irgendeinem Grund kann ich deine Haarfarbe nicht mehr beeinflussen. Da wirst du blau bleiben müssen«, erklärte Lugh Akhtar und warf Sly noch einmal einen schnellen Blick zu. »SLY!« Ice nutzte die Gelegenheit, um sich auf den Rotschopf zu stürzen. Der jedoch huschte schnell um den Tisch herum, sodass der Holztisch zwischen ihnen stand. »Ich verspreche dir, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann erwürge ich dich eigenhändig!« »Beruhige dich erst mal, Ice, dann wirst du sehen, die Welt dreht sich weiter«, lachte Sly und lief nach links, als Ice versuchte, ihn von rechts zu erreichen. »Das ist alles nur deine Schuld! Nur weil du nicht in der Lage bist, einen vernünftigen Zauber auszuführen! Statt es aber sein zu lassen, musst du immer an mir herumprobieren!«, wütete der junge Mann und versuchte es nun in der anderen Richtung. »Sag mal… Sly, wenn du Neas ältester Bruder bist, dann müsstest du ja schon ein bisschen älter sein…«, begann Lugh Akhtar zögernd. »Kommt drauf an, wie lange war ich in Verbannung?«, lachte der Rotschopf und ließ Ice nicht aus den Augen. »Sieben Jahre«, antwortete Lugh Akhtar und fragte sich, wie Sly so unbekümmert darüber sprechen konnte. Offensichtlich sah man ihm seine Gedanken an, denn mit einem Schlag war der junge Mann ernst. »Man zählt die Tage nicht, wenn man keine Zukunft mehr hat«, antwortete er ernst. Dann jedoch grinste er wieder und duckte sich unter Ice' Händen weg, der die Chance genutzt hatte und über den Tisch gesprungen war. »Ich bin Dreißig, und Ice, der alte Mann da, ist Siebenundzwanzig«, lachte er und rollte sich unter dem Tisch durch. »Dann habt ihr euch aber erstaunlich gut gehalten«, bemerkte Lugh Akhtar. »Ja, ich weiß auch nicht, wie das kommt…«, bemerkte der Rotschopf lachend, während er sich wieder von Ice um den Tisch herum jagen ließ. »Jetzt bleib doch endlich mal stehen, damit ich dir endlich Schmerz zufügen kann!«, fauchte der. »Nein, ich verzichte«, lachte Sly. »Ice, wenn du jetzt endlich mal herkommst, dann kann ich dir auch eine normale Hautfarbe verpassen«, grinste Lugh Akhtar. Darauf ließ der blaue Mann mit einem letzten, bösen Blick von seinem Opfer ab und setzte sich genervt auf den Stuhl. »Bitte, damit ich mich voll und ganz der Aufgabe widmen kann, ihn zu erledigen«, knurrte er. Lugh Akhtar lächelte und wollte eben die Magie um sich sammeln, als sich die Küchentür öffnete. Neugierig wandte er sich um, um dann ebenso erstaunt zu schauen, wie die beiden Anderen auch. »Steht mir das Kleid?«, erkundigte sich Soul neugierig und kam etwas unbeholfen in die Küche gewackelt. So ganz ohne Schwanz und auf nur zwei Beinen fiel ihr das Laufen ausgesprochen schwer und das lange Kleid, das Nea ihr besorgt hatte, half ihr auch nicht gerade. Dennoch sah sie hinreißend aus. Das tiefblaue Kleid, das der Farbe ihrer Augen entsprach, war etwas kürzer, sodass man die Fußfesseln noch sah, und der Schnitt war einfach, aber Figurbetont. Es hatte einen Ausschnitt, der nicht zu viel sehen ließ, aber dennoch eine Ahnung dessen bot, wie es darunter weitergehen könnte. Außerdem besaß es lange Ärmel, die sich zu den Händen hin weiteten. »Soul, du bist…«, flüsterte Ice mit großen Augen und vollkommen fasziniert von ihrem Anblick. »Ich habe versucht, Lila zu finden, aber wirklich geglückt ist es mir nicht«, erklärte Nea, die hinter der jungen Frau in der Tür stand und das Band in der Hand hielt, das Soul in ihrer Wolfsgestalt um die Rute gebunden getragen hatte. »Deswegen muss sie erst einmal mit Blau auskommen, es sei denn, du kannst die Farbe ändern.« »Oh, das Blau steht ihr so ausgezeichnet, dass wir es erst einmal dabei belassen können«, antwortete Lugh Akhtar und verspürte eine Art absurdes Bedauern darüber, dass diese hübsche junge Frau seine kleine Schwester war. »Okay. Soul, setz dich mal bitte hin, dann mache ich dir die Haare«, bat Nea und zückte die Bürste, die sie in der anderen Hand gehalten hatte. Soul tänzelte lächelnd zu einem anderen Stuhl, und während Lugh Akhtar Ice von seiner blauen Haut befreite, bürstete Nea das lange, leicht struppige und verfilzte Haar, bis es glänzte, um es dann zu einem Pferdeschwanz hoch zu binden. Das tat Souls Aussehen keinerlei Abbruch, im Gegenteil: Es unterstrich ihren wilden, lebensfrohen Charakter und verlieh ihr die Art Charme, die sonst nur selbstbewussten Wirtinnen zu Eigen war, ohne ihr jedoch etwas von ihrer jugendlichen Frische zu nehmen. »Wo ist Cinder?«, fragte Sly, jedoch ohne seinen Blick von Soul zu wenden. »Sie stellt sich beim Laufen lange nicht so geschickt an, wie Soul, deswegen habe ich sie erst einmal in ein Unterkleid gesteckt und sie dazu angehalten, das Laufen zu üben. Für sie suche ich auch gleich ein Kleid, ich denke, schwarz würde ihr sehr gut stehen, aber dann sieht sie aus, als wäre sie in Trauer. Grün vielleicht…«, überlegte sie laut und verließ die Küche in Gedanken versunken. »Ist die Farbe der Kleidung hier sehr von Belang?«, erkundigte sich Soul neugierig und befühlte die Seide, aus der ihr Kleid bestand. »Für Frauen mehr als für Männer. Männer müssen einfach nur ihre Arbeit tun, Frauen dagegen sollten auch hübsch sein. Vor allem, wenn sie unverheiratet sind«, lächelte Sly und zwinkerte Ice viel sagend zu. »Sei du mal lieber ganz ruhig, ich habe nämlich immer noch das Bedürfnis, dir wirklich große Schmerzen zuzufügen«, knurrte Ice, doch war er von Soul noch immer so verzaubert, dass man ihm deutlich anhörte, dass er es gar nicht mehr ernst meinte. »Ich glaube, vielleicht solltest du Soul Privatunterricht geben, damit sie sich nicht versehentlich blamiert, wenn wir in Altena sind«, lächelte Sly und kam langsam näher. »Das lernt sie auch so schon alles, außerdem kann das Nea wahrscheinlich viel besser«, antwortete er brummig und wurde rot. »Worum geht es denn?«, wollte Soul beiläufig wissen, während sie durch den Raum tänzelte. Sie fand es offensichtlich ausgesprochen lustig, auf zwei Beinen zu laufen. »Dir ein paar Feinheiten und Kniffe beizubringen, die dir helfen sollen, dich nicht zum Lacher der Gesellschaft zu machen«, lächelte Lugh Akhtar. »Los, such dir einen Lehrer aus. Ice ist schon ganz scharf darauf«, zwinkerte Sly und legte seinen Kopf auf das blaue Haar, während er die Arme seines Freundes vorsorglich festhielt. »Nein, ich denke, Nea ist die bessere Lehrerin«, antwortete Soul und ein roter Schimmer huschte über ihre Wangen. »Das sehe ich auch so. Aber ihr zwei könnt mir trotzdem helfen. Mein Vorgänger hatte eine große Bibliothek in seinem Haus, alles Zauberbücher. Ihr könnt mir helfen, herauszufinden, wieso ihr offensichtlich nicht gealtert seid.« Der junge Zauberer machte eine einladende Handbewegung in Richtung Tür und lächelte dabei. »Ist okay«, nickte Sly und folgte der Einladung mit einem Lächeln. Nach kurzem Zögern erhob sich auch Ice und folgte dem Rotschopf. »Und du solltest wieder zu Nea gehen. Sie soll euch beibringen, wie ihr euch in Gesellschaft am besten verhaltet und Tariq soll euch ein bisschen etwas über Politik erzählen. Ich will euch nicht vollkommen unvorbereitet nach Altena schicken«, erklärte er Augenzwinkernd und folgte seinen Freunden. Lugh Akhtars Vorgänger hatte direkt in der Stadt gewohnt, nicht weit vom Schloss entfernt, sodass sie nicht weit laufen mussten. Es war ein kleines Haus mit einer großen Bibliothek, bei der gerade Slys Augen voller Freude aufblitzten. »Du musst wissen, ich war niemals sonderlich gut in der Praxis, aber die Bücher habe ich umso mehr geliebt«, erklärte er und zog ein dickes, ledergebundenes Buch hervor, das über und über mit Staub bedeckt war. Er pustete ihn hinunter und schlug es auf. »Wer war dein Vorgänger?«, wollte Ice wissen und fuhr über die Titel. »Er hatte eindeutig eine Vorliebe für Alchemie…« »Ich weiß es nicht, ich habe nie nach seinen Namen gefragt. Aber das ist mir auch aufgefallen«, nickte Lugh Akhtar und pustete ebenfalls einmal über die Bücher, damit er die Titel lesen konnte. »Das war ich«, bemerkte eine Stimme von der Tür her. Erschrocken fuhren die Drei herum und waren erleichtert, als sie nur Ikaika dort stehen sahen. »Du warst der Zauberer von Forea? Wie kommt es, dass du so weit ab von Altena den Hochmagiern ein Dorn im Auge werden konntest?«, fragte Sly und stellte das Buch zurück. »Ich habe keine Ahnung. Ich bin mir auch keiner Schuld bewusst, ich habe bloß im Bereich der Alchemie studiert und das war zu meiner Zeit nicht verboten«, antwortete der düster wirkende Mann und lehnte sich gegen ein Bücherregal. »Für was wurdest du überhaupt verbannt?«, erkundigte sich Ice und trat an den Schreibtisch. »Verrat am Imperium«, antwortete Ikaika und strich liebevoll über einen Buchrücken in Reichweite. »Was genau?«, wollte Sly neugierig wissen. »Versuchter Mord am Prinzen von Lanta. Ich war zu der Zeit nicht einmal in der Gegend. Ich war mit meinen Studien beschäftigt, aber dadurch hatte ich leider keinen Zeugen. Und leider gilt für die Hochmagier, dass du, wenn du keinen Zeugen aufweisen kannst, deine Schuld schon so gut wie bewiesen ist.« Er grinste böse, als er sich abstieß und an den Regalen entlang schlich. »Versuchter Mord am Prinzen…? Also, versuchter Mord an…«, murmelte Lugh Akhtar. »Prinz Fjodor von Lanta, ja. Aber ich habe es damals nicht getan und ich habe es auch jetzt nicht vor. Ich hätte es sonst ohne Probleme tun können, als du mit dem Winter ein Schwätzchen gehalten hast«, antwortete Ikaika und bleckte dabei die Zähne. »Ich habe dir auch weder etwas unterstellt, noch, auch nur eine Sekunde daran geglaubt.« Der junge Zauberer nickte jedoch nachdenklich. »Irgendwer wollte dich loswerden. Und Sly und Ice auch. Aber wieso?« »Ich habe keine Ahnung. Aber deswegen seid ihr gewiss nicht hier, oder?« Der alte Zauberer ging zum Fenster. »Nein, dabei geht es um Ice und mich. Wir sind nicht älter geworden, obwohl wir sieben Jahre in der Gestalt von Wölfen zugebracht haben.« Sly lehnte sich vorsichtig an ein Regalbrett. »Das ist leicht zu erklären.« Ikaika zog zielgerichtet ein Buch aus dem Regal und schlug es auf dem Tisch auf. Er musste nicht lange suchen, da fand er wohl die richtige Seite und die drei anderen Zauberer versammelten sich um den Tisch. »Wenn ein Zauberer sich in seiner Gestalt verwandelt, dann tut seine alte Gestalt sich nicht mehr weiterentwickeln. Für den anderen Körper bleibt sozusagen die Zeit stehen.« »Warum startet man in dem neuen Körper nicht wieder auf Null?«, wollte Ice wissen. »Das steht nirgendwo, vermutlich weiß es keiner. Aber der neue Körper ist immer so alt, wie der alte gewesen war, als man sich zum ersten Mal in die neue Gestalt verwandelte. Wenn man sich allerdings zurückverwandelt, bleibt auch für den neuen Körper die Zeit stehen«, versuchte er zu erklären. »Theoretisch könnte man mit dieser Methode ewig leben…« überlegte Ice. »Theoretisch ja. Wenn man sich in jungen Jahren schon in alle möglichen Gestalten verwandelt, schon. Nun, vielleicht auch nicht ewig, aber sehr, sehr lange auf jeden Fall«, bestätigte Ikaika. »Auf jeden Fall heißt das, obwohl schon dreißig Jahre gelebt, bin ich dennoch noch dreiundzwanzig… irgendwie zumindest.« Sly wirkte ungemein zufrieden, als er Ice anschaute. »Langsam gehst du mir auf die Nerven«, fauchte der, denn er wusste genau, worauf der Rotschopf abzielte. »Dafür benimmst du dich aber eher, wie dreizehn«, bemerkte Ikaika, allerdings erhielt er nur ein Grinsen zur Antwort. Da hörten sie von Draußen den Ruf eines Soldaten hereinwehen, der eine wichtige Ankündigung zu machen hätte. Sie schauten sich kurz an, standen dann auf und liefen nach Draußen. Fast ganz Forea hatte sich im Schnee um den Soldaten versammelt und murmelte ungeduldig, weil er nicht weiter sprach. Stattdessen fragte er nach dem zuständigen Zauberer. »Hier, ich!«, rief Lugh Akhtar mit einer bösen Vorahnung und drängelte sich durch die Menschen nach vorne. »Gut, dann sind ja alle wichtigen Leute hier«, bemerkte der Soldat und bedachte die Stadtbewohner mit einem abfälligen Blick. »Nun sag, worin besteht deine Ankündigung«, forderte der junge Zauberer, während Bilder von einer Gefangennahme seiner vor seinem Auge blitzten. Nicht, dass er Angst davor hätte, aber es bereitete ihm dennoch Magenschmerzen. Vielleicht hatte er Nikolai dieses Mal einmal zu oft gedemütigt. Und er sollte recht behalten, es waren wahrlich die schlimmsten Neuigkeiten, die sich innerhalb dieser Stadt jemand ausmalen konnte, wenn auch vollkommen anderer Natur. »Bürger und Zauberer von Forea! Ich habe eine wichtige Nachricht aus der Hauptstadt Lanta! Vor drei Tagen geschah das Undenkbare, der König fiel einem Anschlag zum Opfer!« Darauf herrschte schlagartig tiefe Stille auf dem Platz, bis mit einem Mal eine regelrechte Sturmflut an Worten über dem Platz zusammen schlug. Es dauerte eine Weile, bis der einsame Soldat sich wieder Gehör verschafft hatte. »Hinweise, die zur Ergreifung des Mörders führen, werden mit hunderttausend Goldlingen geahndet, des Weiteren wird jeder zum Tode verurteilt, der dem Mörder hilft oder ihm gar Schutz bietet. Auch Hinweise, die zum Verbleib von Prinz Fjodor von Lanta führen, erhalten hunderttausend Goldlinge«, rief er noch aus, dann ging er ohne ein weiteres Wort in Richtung des einzigen Gasthauses davon, während Lugh Akhtar zu seinen Freunden zurück drängelte. »Ich hoffe, Tariq weiß davon noch nichts«, flüsterte er ihnen zu. »Wieso?«, wollte Ikaika wissen. »Willst du es lieber sein, der es ihm sagt?« »Nein, im Gegenteil. Ich will, dass er es erst einmal gar nicht erfährt. Sobald er es nämlich weiß, wird er nach Lanta zurückkehren wollen, um seinen Platz auf dem Thron einzunehmen. Einfach nur, weil es seine Pflicht ist«, antwortete Lugh Akhtar leise. »Die ist es ja auch. Und das ist gut so, du wirst das ganze Imperium in Anarchie stürzen, wenn du ihnen den König vorenthältst«, bemerkte Ice trocken. »Ich werde meinen besten Freund aber nicht in den Tod schicken«, fauchte der junge Zauberer böse. »Wer weiß, wer der Mörder ist, und welche Absichten er hegt? Vielleicht will er auch ihm ans Leder, wir wissen es nicht. Und solange wir es nicht wissen, werde ich ihn nicht nach Lanta zurück lassen.« »Aber Ice hat recht, damit untergräbst du seine Autorität und verhinderst, dass das Land so schnell wie möglich in seinen normalen Rhythmus findet«, warf auch Ikaika ein. Daraufhin erhielt er einen nachdenklichen Blick von Sly. »Er kann es nicht gewesen sein«, interpretierte Lugh Akhtar sofort richtig. »Vor drei Tagen sind wir beim Blutmond-Rudel angekommen und Nea und Tariq waren den ganzen Tag mit ihm zusammen. Und danach war ich da, mir wäre es aufgefallen, wenn er für eine längere Zeit verschwunden wäre. Mal ganz davon abgesehen, dass du von dort bis nach Lanta und wieder zurück Wochen brauchst.« »Wie wäre es, wenn einer von uns mit Tariq gemeinsam nach Lanta geht? Ihn beschützt, und gleichzeitig vielleicht ein wenig recherchiert? Natürlich in einer unauffälligen Gestalt«, überlegte Ice. Darauf nickte der junge Zauberer nachdenklich. »Die Idee als solche ist nicht schlecht. Ein unerkannter Zauberer wird vermutlich viel mehr herausfinden können, als die Zauberer von Altena. Falls sie sich der Sache überhaupt annehmen«, überlegte er. »Wer soll dann gehen? Du kannst nicht, Lugh, du wirst hier gebraucht. Und es muss auch ein mächtiger Zauberer sein, damit er Tiergestalten annehmen kann, womit ich leider raus bin. Und Ice kann leider nicht das >unauffällig< erfüllen…«, überlegte Sly. »Wegen wem wohl«, warf Ice knurrend ein, schüttelte dann aber den Kopf. »Nea vielleicht?« »Nein, nicht Nea«, antwortete der Rotschopf scharf. »Ich werde sie nicht zwischen einen Prinzen und seinem Mörder stellen.« »Dann bleibst nur noch du, Ikaika«, Lugh Akhtar schaute den Zauberer durchdringend an. »Ich? Obwohl ich für Verrat am Imperium verbannt wurde?«, fragte der erstaunt. »Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du es nicht warst. Und du bringst alle nötigen Vorraussetzungen mit, zudem gibt es dir die Möglichkeit, denjenigen zu finden, wegen dem du so lange hinter der Mauer festgesessen hast.« Der junge Zauberer schaute fest in die blauen Augen seines Gegenübers. »Du geniest mein volles Vertrauen.« »Dann sollte ich dir vielleicht noch ein bisschen mehr über mich erzählen, damit ich es nicht umsonst genieße«, bemerkte der und um seinen Mundwinkel zuckte es unwillig. »Du musst wissen, ich hätte durchaus ein Motiv, den Prinzen aus dem Weg zu räumen. Der König war mein Halbbruder.« »Halbbruder?«, fragte Ice misstrauisch. »Ja. Unser Vater war der alte König und er war immer schon fasziniert von einer Hochmagierin, die in Lanta als seine Beraterin tätig war. Sie war meine Mutter. Ich bin zwar kein eheliches Kind und zudem noch der Sohn einer Zauberin, aber sollte Tariq etwas zustoßen, bin ich der Nächste, der Anspruch auf den Thron hat«, erklärte er lächelnd und wirkte dabei, wie ein Auftragsmörder, der nur auf seine Chance wartete. »Willst du den Thron denn?«, wollte Lugh Akhtar gerade heraus wissen. Ikaika seufzte und verneinte dann entschieden. »Ich habe ihn nie gewollt, was meinst du, warum ich hier gelebt habe? Man hat mir den Platz als Berater in Lanta öfter angeboten, als ich zählen kann, und ich habe immer wieder abgelehnt. Stattdessen bin ich nach Forea gekommen, um den Aasfressern zu entkommen. Die Falschheit der Menschen am Hof hat mich immer schon fast krank gemacht. Tariq ist wirklich nicht zu beneiden, genauso, wie ich meinen Bruder immer bedauert habe. Ich würde ihn nicht einmal dann wollen, wenn man ihn mir schenken wollte. Wenn du es immer noch möchtest, werde ich mit Tariq gehen, aber sobald die ganze Sache geklärt ist, und ich mich wieder frei unter Unseresgleichen bewegen kann, habe ich andere Pläne«, erklärte er. Lugh Akhtar nickte. Er glaubte Ikaika. »Dann geh mit Tariq und beschütze ihn und hilf ihm. Vor allem: Lass die Aasfresser nicht zu nahe an ihn heran. Er ist noch jung, sie könnten ihn nur allzu leicht beeinflussen.« »Gut. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Und… danke Lugh Akhtar. So viel Vertrauen hat mir lange keiner entgegen gebracht.« Kapitel 23: Schülerinnen für Ice und Lugh Akhtar ------------------------------------------------ Lugh Akhtar machte einen Schritt zurück und verbarg sich damit komplett hinter dem Baum. Er lauschte einen Moment, bevor er wieder kurz herumlugte um zu sehen, ob sie noch immer aufschaute, oder wieder mit spinnen beschäftigt war. Natürlich war sie. Vielleicht ahnte sie nicht einmal etwas von ihrem heimlichen Beobachter. Der weiße Wolf, der zu ihren Füßen im Schnee saß, dafür umso mehr. Er witterte in die Luft und wirkte seltsam unschlüssig. Sollte er Alarm geben? Immerhin war ein Fremder auf seinem Land. Andererseits schien er nichts böses zu wollen. Der junge Zauberer indes überlegte, was er tun sollte. Er schaute nachdenklich auf den Brief in seiner Hand. Er trug das königliche Siegel von Lanta und trug die Handschrift des jungen Königs. Lugh Akhtar wusste, was drinnen stand, während seine Freunde sich gewundert hatten. Jedoch wollte er das Mädchen nicht erschrecken, deswegen traute er sich noch nicht so recht, zu ihr zu gehen. Sollte er seiner Wolfsgestalt annehmen? Wobei, das könnte ihr nur noch mehr Angst einjagen. Also seufzte er und trat langsam hinter dem Baum hervor. Er wartete im Schatten ab, bis das Mädchen ihn bemerkte und abermals den Blick hob. »Guten Morgen junger Herr«, lächelte sie und hielt den weißen Wolf an seinem Halsband fest, damit er keine Chance hatte, den Zauberer anzufallen, sollte er ihn als Feind erachten. »Ich habe einen Brief für dich, Maya«, erklärte er, nachdem er eine Weile nur geschwiegen hatte. »Ihr… kennt meinen Namen?«, fragte sie verblüfft. »Ja, ich kenne dich«, nickte der Zauberer und kam näher um ihr den Brief auszuhändigen. Sie schaute darauf, doch erkannte sie das Wappen von Lanta wohl nicht, denn sie schaute mit gerunzelter Stirn darauf. »Woher?«, fragte sie stattdessen, als sie wieder aufblickte. Der Zauberer antwortete darauf nicht, stattdessen deutete er auf den weißen Wolf zu ihren Füßen. »Heißt er auch Schneeflocke?«, erkundigte er sich lächelnd. »Auch…? Oh, dann bist du mein Schneeflocke gewesen?«, fragte Maya erstaunt. »Wie ist sein Name?« Lugh Akhtar wich ihren Fragen bewusst aus. Er wollte ihr nicht antworten, er wusste auch nicht genau, wieso. »Lod. Das bedeutet Eis«, lächelte sie, während sie den Brief langsam öffnete. »Wer hat ihn geschrieben?« »Ich bin nur der Überbringer. Alles andere ist nicht meine Sache«, antwortete er und streichelte Lod zwischen den Ohren. Maya nickte darauf und begann zu lesen. Dabei wurde das Verblüffen auf ihrem Gesicht immer deutlicher zu sehen. Sie las mehrmals, bevor sie endlich von dem Blatt Papier abließ. »Ist… ist das ein Scherz, den Ihr Euch mit mir erlaubt?«, fragte sie ruhig und sachlich. »Nein. Das Siegel von Lanta ist echt«, antwortete der junge Zauberer und deutete auf das gebrochene Wachs. »Der Rabe und das Pferd.« »Aber das kann doch nicht… ich meine, das ist doch einfach…« Sie schaute ihn hilflos an. »Unmöglich? Nichts ist unmöglich in einer Welt voller Zauberei, Maya. Und schon gar nicht, dass ein König ein einfaches Mädchen liebt. Im Gegenteil, wenn aller Zauber geht, wenn alle Magie verschwindet, dann bleibt uns nur noch die Liebe. Ich kann ihm sagen, dass du nicht kommen magst, oder aber du reist zu ihm. Es ist deine Entscheidung, ich kann sie dir nicht abnehmen«, antwortete der junge Zauberer und fragte sich unwillkürlich, was wohl der weiße Wolf denken mochte. »Wer seid Ihr?«, fragte da mit einem mal eine andere Stimme hinter ihm. Er schaute schnell über den Rücken zurück um dort Mayas Vater zu sehen. »Niemand, den Ihr kennen müsst«, antwortete Lugh Akhtar und schaute ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. »Was tut Ihr mit meiner Tochter?«, brummte er und stellte sich schützend zwischen den Zauberer und Maya. »Vater, er hat mir einen Brief gebracht. Vom Prinzen«, flüsterte sie und stand auf. »Fjodor ist kein Prinz mehr. Er ist jetzt König«, berichtigte Lugh Akhtar und deutete dem Mann, sich das Siegel anzuschauen. »Das ist ja…!« Im Gegensatz zu seiner Tochter erkannte er das Siegel offensichtlich. »Das Pferd und der Rabe. Fjodor hat Ihre Tochter nach Lanta gebeten. Er möchte sie kennen lernen«, nickte Lugh Akhtar. »Aber wieso? Sie ist doch noch so ein kleines Mädchen! Was will der König von ihr?« »Erinnert Ihr Euch an den jungen Mann, der vor ein paar Jahren hier war, und ihr Lod gebracht hatte? Der ihr erzählte, was aus ihrem weißen Wolf geworden ist?« »Natürlich, aber was hat er mit…« Dem Vater schien ein Licht auf zu gehen, denn er starrte Lugh Akhtar ungläubig an. »Ja, das war Prinz Fjodor. Er hat sich in Maya verliebt, und nun möchte er sie kennen lernen. Natürlich nur, wenn sie es auch will. Er wird sie zu nichts zwingen. Es liegt alles alleine in ihrer Hand.« »Maya, du kannst ihm den Willen nicht abschlagen! Du musst hinfahren!«, ereiferte sich darauf der Vater. »Muss sie in keinster Weise. Fjodor wird es ihr nicht übel nehmen, wenn sie nicht kommt. Im Gegenteil, er hat betont, dass es ihr freier Wille sein muss. Er möchte sie nicht zwingen.« Lugh Akhtar ließ keine Regung erkennen. Damit verunsicherte er den Vater immer mehr. Wieso sprach der Fremde nur so, als ginge das alles ihn nichts an? »Ich… kann ich darüber nachdenken?«, fragte Maya leise. »Natürlich kannst du.« Der junge Zauberer zog einen Beutel aus der Tasche und hielt ihn dem Wolf so hin, dass er ihn entgegennehmen konnte. »Darin ist genug Geld für die Reise. Nutz es dafür, oder wofür du auch immer möchtest, es ist dir überlassen, aber wenn du reisen solltest…« »Was… was ist dann?«, fragte Maya erstaunt und schaute mit großen Augen auf den Beutel, den Lod ihr brachte. »Dann nimm deinen Wolf unbedingt mit. Er wird dich beschützen, besser als jeder andere es könne.« Lugh Akhtar strich dem weißen Wolf noch einmal über den Kopf und lächelte. Damit wandte er sich um und ging davon. Im Laufen noch verwandelte er sich in den weißen Wolf, schaute noch einmal zurück, und sprintete dann über den Schnee davon. »Ich wusste, dass er es war«, lachte Maya, als sie ihren Schneeflocke sah. Dabei wusste sie schon, dass ihre Entscheidung bereits fest stand. Lugh Akhtar indes lief über den Schnee, bis er irgendwann auf Sly traf. Er verwandelte sich zurück. »Fertig mit dem, was du tun wolltest?«, fragte der Rotschopf lächelnd. »Ja, aber was tust du hier?«, erkundigte sich der junge Zauberer erstaunt. »Ice ist beschäftigt.« Sly grinste breit. »Womit?« »Mit Soul. Du musst wissen, auch bevor Nea aus ihr eine Dame gemacht hat, war er schon hin und weg von ihr.« »Ja, das ist mir auch aufgefallen. Und auch, dass sie ihn nicht so konsequent abweist, wie er immer dachte.« Lugh Akhtar lächelte. »Na ja, immerhin passiert Ice jetzt auch mal was Gutes. Er… hatte es bisher nicht ganz so leicht im Leben.« »Ja, das hat er mir auch schon einmal erzählt. Wo sind Cinder und Nea?« »Ich weiß es nicht. Ich denke mal, auch beim Üben.« Sly zuckte die Schultern und deutete hinter sich. »Wollen wir es herausfinden?« Lugh Akhtar nickte langsam. Er hatte Cinder nicht mehr gesehen, seitdem er sie in einen Menschen verwandelt hatte, er hoffte, es ging seiner Schwester gut in ihrer neuen Gestalt. Jedoch konnte er das wohl nicht herausfinden, wenn er nur darüber nach grübelte. Sie kehrten zurück in das Schloss von Forea, wo ihnen Soul gleich lachend in der Eingangshalle entgegen sprang. »Lugh Akhtar!«, rief sie und sprang um ihn herum, wie ein junges Reh. Das Laufen fiel ihr mittlerweile so leicht, wie den anderen auch, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan. »Worüber freust du dich denn so?«, erkundigte sich der junge Zauberer lachend. Es freute ihn, dass seine Schwester nun so glücklich schien. »Ice hat zugesagt, mich als Zauberlehrling anzunehmen«, lachte sie und tanzte durch den Raum. »Ach ja?«, horchte nun Sly auf. »Dann glaube ich aber nicht, dass du allzu viel lernen wirst, er wird mehr damit beschäftigt sein, dich anzustarren.« Lugh Akhtar warf ihm einen schnellen, teils tadelnden, teils aber eindeutig amüsierten Blick zu, bevor er sich wieder Soul zu wandte. »Weißt du überhaupt, was damit auf dich zukommt?«, fragte er leise. »Ja, er und Nea haben es mir erklärt. Er hat gesagt, dass er mir dann auch lesen beibringt! Und schreiben! Das ist etwas, was alle Menschen können, hat er gesagt«, freute sie sich. »Dann schauen wir mal, wie lange es dauert, bis er ihr noch beibringt, was ein wenig intimer geht«, flüsterte Sly. Darauf biss sich Lugh Akhtar so sehr auf die Lippen, dass sie bluteten, um nicht laut heraus zuprusten. »Es ist wirklich gemein, dass du dich so sehr darüber lustig machst«, bemerkte er grinsend, während er sich mit dem Handrücken das Blut abwischte. »Er provoziert es doch regelrecht. Ich meine, das sieht doch ein Blinder, warum er sich ihr als Lehrer anbietet.« Der Rotschopf zuckte mit den Schultern und schritt in Richtung Küche weiter. »Dann freu dich doch einfach für ihn«, fand der junge Zauberer, während er Sly folgte. Soul war schon weiter getanzt. »Habe ich jemals behauptet, dass ich es nicht tue?« »Nein, hast du nicht«, bestätigte Lugh Akhtar zwar, aber sein Blick machte deutlich, dass er auch etwas ganz anderes meinte. Und dass er wusste, dass Sly wusste, wie das Ganze gemeint war. Da trat Ice aus einem Raum heraus und schaute sie fragend an. »Worum geht es?«, wollte er wissen. »Wir planen nur schon einmal deine Hochzeit«, kommentierte Sly und grinste dabei so breit, dass sich Lugh Akhtar sicher war: Noch zwei Millimeter und er konnte seine Ohren verspeisen. »Meine was? Wie kommst du denn darauf?«, blinzelte Ice verwirrt. »Soul hat uns erzählt, dass du sie als Lehrling annehmen willst«, erklärte der junge Zauberer und deutete hinter sich. »Sie freut sich darüber wie ein kleines Kind über ein Geschenk.« »Irgendwer muss es ihr ja beibringen.« Der Blauhaarige wurde rot und schaute überall hin, nur nicht zu seinen Freunden. »Stimmt, aber warum du dich so aufopferungsvoll angeboten hast, ist nun wirklich nicht schwer zu erraten«, lächelte Sly und legte einen Arm um Ice. »Wenigstens unternehme ich etwas, um sie zu erobern«, fauchte der und machte zwei Schritte von Sly weg. Daraufhin lag eine solche Spannung in der Luft, dass man meinen konnte, die Luft würde knistern. »Halte du dich da mal heraus, Ice. Das geht dich nämlich so rein gar nichts an«, fauchte der Rotschopf, blitzte seinen Freund böse an, und ging dann schlecht gelaunt davon. »Und… was war das jetzt?«, fragte Lugh Akhtar vorsichtig an. »Lass es mich so sagen: Was Soul geschafft hat, sollte Sly jetzt auch endlich mal versuchen«, antwortete Ice ruhig und ging ohne weitere Erklärung einfach davon. »Das hat mir jetzt nicht wirklich weiter geholfen…«, sagte der junge Zauberer zu sich selbst und überlegte, ob er einem der beiden nachgehen sollte, um herauszufinden, was genau in der Luft lag, beschloss aber, dass er nun doch lieber zu Cinder gehen und nach ihr sehen sollte. Er hörte die beiden Mädchen schon von weitem. Sie schienen sich wirklich blendend zu verstehen, denn sie lachten und plapperten, wie er es von den Mädchen aus Altena kannte, wenn sie unter sich waren. Er klopfte an und öffnete, ohne auf ein >Herein< zu warten, und blieb erstaunt in der Tür stehen. Er hatte gleich gesehen, dass Cinder ein hübsches Mädchen war, doch was Nea aus ihr gemacht hatte, erstaunte ihn dann doch. Das grasgrüne Kleid aus Seide stand ihr außergewöhnlich gut. Es war schulterfrei und besaß üppige Rüschen an den Ärmeln. Auf Höhe ihrer Taille war ein breites, türkises Band, das hinten in einer großen Schleife endete. Der Rock ging ihr bis zum Boden. Ihr aschgraues Haar fiel ihr lose und weit über den Rücken. Ein türkises Haarband mit einer Schleife war um ihren Kopf gebunden. Ihr Pony verdeckte die Halbmondnarbe ein wenig. Ihre ungleichen Augen glänzten. Doch nicht nur Cinder war ausgesprochen angenehm anzusehen. Vielmehr wunderte ihn Neas Anblick. Sie trug ein braunes Kleid, das wunderbar mit ihrem Haar harmonisierte, zudem ließ es ihre Augen noch mehr leuchten. Ihre Haare trug sie eigentlich wie immer in ihren aufwendigen Zöpfen, doch schien es mehr zu glänzen. An ihrer Hüfte glänzten zwei schmale Silbergürtel. »Lugh Akhtar! Man öffnet doch nicht einfach die Tür, was hättest du getan, wenn sich einer von uns gerade umgezogen hätte?«, entrüstete sich Nea sogleich, doch war sie viel zu gut gelaunt, um wirklich böse zu sein. »An Cinder habe ich schon alles gesehen und so viel anders wirst du auch nicht aussehen«, antwortete er trocken und schloss die Tür hinter sich. Als er sich wieder umwandte, traf ihn die Haarbürste mitten ins Gesicht. »Solche Sprüche kannst du dir sparen«, fauchte sie gespielt böse und flüsterte dann Cinder etwas ins Ohr, die darauf leise lachte. »Ich war eben zu lange mit Sly zusammen«, antwortete der Angesprochene und rieb sich den schmerzenden Nasenrücken. »Ja, das glaub ich auch. Er hat sich aber auch kein Stück verändert.« Nea seufzte. »Ist das denn immer schlecht?« Lugh Akhtar neigte ein wenig den Kopf. »Nein, natürlich nicht, aber ich hatte erwartet, dass er ein wenig erwachsener wäre«, antwortete sie und lächelte. »Ich mag es, dass er so gut gelaunt ist und so viel lacht«, mischte sich Cinder ein, und wandte sich dann an Lugh Akhtar. »Dass Ice Soul zur Zauberin ausbildet hast du bestimmt schon gehört, oder?«, fragte sie langsam. »Ja, sie hat es mir eben gesagt, als ich von meinem Botengang wieder kam«, bestätigte der junge Zauberer. »Ich möchte dich bitten, dass du mich ausbildest«, fuhr Cinder fort. »Wieso ich? Nea oder Sly könnten das genauso gut.« »Stimmt wohl.« Ihre Hand wanderte an den Halbmondanhänger, der um ihren Hals baumelte, nun an einem türkisenen Band. »Ich denke dennoch, dass du der bessere Lehrer bist. Du kannst mir nicht nur beibringen, die gewöhnliche Magie zu beeinflussen, sondern auch die des Winters.« »Nein, nein, nein, Cinder. Da verstehst du glaube ich etwas falsch. Ein Meister bringt dir die Theorie bei, nicht die Praxis. Das musst du selbst lernen, das kann dir niemand beibringen«, widersprach Lugh Akhtar entschieden. »Ich möchte dennoch dich darum bitten.« Sie schaute ihn fest aus ihren ungleichen Augen an. Der junge Zauberer zögerte noch einen Moment, bevor er nickte. »Gut. Wenn du es so möchtest, dann machen wir es so. Wenn wir in Altena sind, nehme ich dich als Schülerin an«, erklärte er. »Warum erst in Altena?«, erkundigte sich Cinder erstaunt. »Das ist so Tradition. In Altena, auf der Spitze des Zaubererturms schwört der Schüler seinen Schwur vor dem Himmel und der Erde und erhält dafür von seinem Meister seinen Schülernamen«, erklärte Nea und lächelte. »Schwur? Schülername?« »Ja. Jeder Meister verlangt bestimmte Dinge von seinem Schüler, das ist meistens bedingungsloser Gehorsam. Und er muss zwischen Himmel und Erde geschworen werden, damit alle großen Mächte es hören und dich bestrafen können, solltest du dich nicht daran halten. Und dein Schülername besiegelt diesen Schwur, ihn kennen nur der Schüler und der Meister«, lächelte Lugh Akhtar. »Wieso nur die beiden?« Cinders Augen leuchteten bei dem Gedanken daran. »Weil er anderen Macht über dich verleiht. Deswegen wird der Schülername von Verbannten auch der Öffentlichkeit preisgegeben. Das heißt, wenn der Meister noch lebt. Oder der Schüler einen Vertrauten hat, dem er diesen Namen preis gegeben hat, und der ihn dann verrät«, antwortete nun Nea. »Man kann den Namen auch anderen verraten?« »Natürlich. Es ist der größte Vertrauensbeweis, den ein Zauberer einer anderen Person machen kann. Verrätst du jemandem diesen Namen, Cinder, und das kannst auch nur du, dann schenkst du ihm damit deinen Körper, deine Seele und dein Herz. Deswegen solltest du dir das auch sehr gut überlegen«, sprach Lugh Akhtar eindringlich. »Okay. Und wie ist das mit den Verbannten gewesen? Ich meine, dann kennt ihr ja die Schülernamen von Sly und Ice und auch von Kanoa, oder?« Cinder schaute neugierig von einem zum anderen. »Ja. Sly ist der Feuerfuchs und Ice ist der Eiswolf. Aber Kanoa war vor unserer Zeit« Nea begann damit, grüne Bänder in das aschgraue Haar zu flechten. »Kennst du ihn?« Cinder wandte sich ihrem Bruder zu. »Nein, aber wenn Kanoas Meister zu dem Zeitpunkt noch anwesend war, dann sollte das nicht weiter schwer herauszufinden sein«, lächelte der. »Wann werden wir jetzt eigentlich aufbrechen?« Seine Schwester blitzte ihn freudig erregt an. »Morgen.« Kapitel 24: Slys Geschichte --------------------------- »Lugh Akhtar?«, flüsterte Soul in die Dunkelheit. »Hm?«, kam die verschlafene Antwort aus einer Ecke des Raumes. »Du bist doch ein Kerl, oder?«, fragte sie weiter und schlich leise in seine Richtung. Daraufhin blitzten ihr zwei vielfarbige Augen aus der Dunkelheit entgegen. Eine Flamme erschien auf seiner Handfläche. Er hob die Decke an, schaute einmal nachdenklich drunter, um dann Soul einen viel sagenden Blick zu zuwerfen. »Ja, das habe ich bisher zumindest gedacht. Wieso?«, fragte er leicht belustet und blies das Feuer auf die Kerze neben seinem Bett. »Na ja… vielleicht kannst du mir dann was erklären…« Sie setzte sich zu ihm aufs Bett und schaute traurig zu Boden. »Was hast du denn für ein Problem?« Er zog die Decke noch ein wenig fester um seinen Unterleib, denn außer der Decke verdeckte nichts seine Blöße, und rückte noch ein wenig näher an sie heran. »Es geht um Ice. Aber ich verrate es dir nur, wenn du mir versprichst, es niemandem zu verraten«, bat sie eindringlich und schaute ihn fest aus ihren ungleichen Augen an. »Ich verspreche es dir beim Himmel und der Erde«, antwortete er ernst und fragte sich, was das wohl für ein Geheimnis sein mochte, dass sie so spät noch in sein Zimmer trieb. »Na ja, du musst wissen, dass ich Ice… ziemlich gern habe. Aber ich habe das Gefühl, dass er mich nicht leiden mag. Er ist immer so seltsam, mal so total lieb und dann wieder so grantig und brummig. Und ich weiß nicht, woran es liegt.« Sie seufzte und schloss die Augen. »Und du bist ja auch ein Mann, kannst du mir sagen, warum er so ist?« »Leider nein, was er sich wirklich denkt, das weiß nämlich nur er. Aber ich kann etwas vermuten. Ich denke, es ist auch die Schuld von Sly. Dass Ice dich mag ist nämlich sehr auffällig, gerade für Sly. Er ist wahrscheinlich eifersüchtig oder so, genau weiß ich es nicht, aber er ärgert Ice damit. Und Ice hält nun einmal sehr viel von Slys Meinung, deswegen ist er vermutlich in einem gewissen Konflikt. Einerseits bist du ihm sehr, sehr wichtig, andererseits hat er aber das Gefühl, dass Sly das ganze als lächerlich betrachtet, und deswegen traut er sich nicht so richtig, dir immer und ganz offen freundlich gegenüber zu treten«, überlegte Lugh Akhtar. »Du meinst also, eigentlich mag er mich auch?« Sie schaute ihn hoffnungsvoll an. »Ja. Und je mehr er dich mag, desto unwichtiger wird sein, was Sly sagt, denkt oder tut. Warte es nur ab, spätestens wenn du seine Schülerin bist«, munterte er sie auf. »Gut. Ich dachte schon, dass er mich nicht leiden mag.« Sie seufzte erleichtert, dann strahlte sie ihn an. »Ich bin so froh, dass es nicht so ist!« »Nein, ganz sicher nicht. Sonst würde er sich nicht freiwillig als dein Meister anbieten«, lächelte Lugh Akhtar. Soul lächelte ihn an, da jauchzte sie auf und fiel ihm glücklich um den Hals. Dabei stieß sie ihn ins Bett und der Luftzug, der darauf entstand, blies die Kerze aus. »Soul, nicht so grob! Geh doch ein bisschen sanfter mit mir um«, lachte Lugh Akhtar, umarmte sie dann aber auch seinerseits. »Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?«, fragte sie ganz unvermittelt. »Soul!« In der Dunkelheit sah sie nicht, dass er rot wurde. »Bitte! Ich mach mich auch ganz klein in diesen seltsamen Kästen«, bettelte sie und lupfte schon die Decke an, um mit darunter zu schlüpfen. »Soul, nein!« Er zog ihr die Decke aus den Händen und stopfte das Ende unter sich. »Das tut man nicht! Männer und Frauen schlafen nicht im selben Bett!« »Aber wieso nicht? Als Wölfe haben wir doch auch gekuschelt«, fand sie und rupfte das Ende wieder hervor. »Das war aber auch was anderes«, versuchte er sie zu überzeugen und wand ihr das Ende aus der Hand. Nun war er froh, dass es dunkel war. »Aber wieso?« Ihre Augen glänzten fragend in der Dunkelheit, als sie sich an ihn kuschelte. »Weil…«, wollte Lugh Akhtar erklären, während er die Decke so ordnete, dass sie wieder seine Blöße bedeckte, zugleich aber auch Soul wärmte und dennoch noch zwischen ihnen lag, als sich die Tür öffnete. Die Gestalt, die in der Tür stand, ließ eine Flamme auf der Hand entstehen. Es war Ice. Erst schien er nicht einmal zu bemerken, was da in Lugh Akhtars Bett vor sich ging, doch dann gewahr er den jungen Zauberer, dessen Gesicht rot glühte, und die junge Frau in seinem Bett, die nur mit einem Nachthemd bekleidet neben ihm lag, halb mit seiner Decke bedeckt. Er blieb stehen und schaute mit hochgezogenen Augen auf das Bild, das sich ihm bot. Er holte tief Luft, als Lugh Akhtar ihm zuvor kam. »Sag nichts«, brummte der junge Zauberer und schien noch ein wenig röter zu werden, obwohl es zuvor noch unmöglich schien. »Du weißt schon, dass das verdammt eklig ist?«, wollte Ice von ihm wissen. »Es ist nicht so, wie es aussieht!«, versuchte es der Zauberer, doch Ice blickte viel sagend auf Lugh Akhtars Klamotten, die achtlos vor dem Bett lagen. »Natürlich«, bemerkte er trocken, während er zu seinem Bett ging und sich darauf setzte. »Worum geht es denn?«, erkundigte sich Soul unwissend. »Ice, es ist wirklich anders, als es wirkt. Soul wollte nur eine Frage von mir beantwortet haben.« »Und dazu muss sie unter deine Decke?« Er zog viel sagend die Augenbrauen hoch. »Nein, deswegen ist es ja auch ein…«, weiter kam er nicht, da ging die Tür abermals auf und Sly trat ein. Er hielt sich ein Stück Fleisch auf die linke Gesichtshälfte und wirkte ausgesprochen schlecht gelaunt, als er die Tür zuschmiss. »Ich weiß wieder, warum ich in Altena geblieben bin«, knurrte er zu Ice und lief zu seinem Bett, um sich schwer darauf niederzulassen. Dort seufzte er, schaute auf und erblickte Lugh Akhtar und Soul. »Was…?« Er schaute erstaunt zu Ice, der sich das Hemd über den Kopf zog und nur noch in Hosen da stand. »Ja, unser Zaubermeister hat sich ein wenig mit seiner Schwester vergnügt«, antwortete der eher schlecht gelaunt und legte ordentlich seine Kleider zusammen. »Echt jetzt?« Sogleich war Slys gute Laune wieder da und er betrachtete sein neues Opfer eingehend. »Es ist nicht so, wie es aussieht!«, widersprach Lugh Akhtar und wurde wieder rot. »Wenn du meinst… aber ich an deiner Stelle hätte mir ja die andere Schwester ausgesucht. Ich meine, du weißt ja: Stille Wasser sind tief und schmutzig.« Sly grinste anzüglich, während er das Stück Fleisch umdrehte und sich wieder aufs Gesicht klatschte. »Was hast du da überhaupt gemacht«, versuchte Lugh Akhtar das Thema zu wechseln, während er inständig hoffte, dass Soul endlich aufstehen und gehen möge, doch sie saß nur da und hörte interessiert zu. »Eine Prügelei beim Fest mit einem Betrunkenen. Er hat mich ein wenig genervt«, grinste Sly, deutete dann mit der freien Hand zur Tür. »Wenn du das nächste Mal den Sprüchen entkommen willst, dann häng ein Schild an die Tür mit >Betreten verboten!<, dann hast du deine Ruhe und kannst dich voll und ganz deinen Liebschaften widmen.« »Sie hat mir doch bloß eine Frage gestellt!«, ereiferte sich der junge Zauberer. »Und welche? Welche Farbe der Pelz an deinen intimsten Stellen hat?« »Sly verdammt! Meinst du wirklich, ich würde mich an meiner Schwester vergehen?«, fauchte Lugh Akhtar und angelte seine Hose vom Boden. »Na ja, mein Fall ist es ja nicht gerade, aber es soll ja Leute geben, die Spaß an so etwas haben.« Er zuckte mit den Achseln und nahm abermals das Fleischstück von seinem Gesicht. Er betrachtete es einen Moment, bevor er rein biss und ein Stück heraus riss. Ice und Lugh Akhtar verzogen gleichermaßen das Gesicht, was dem Rotschopf keineswegs entging. »Entschuldigt, ein Relikt aus meiner Wolfszeit«, grinste er, spuckte den Bissen aber keineswegs aus, sondern kaute und schluckte dann. »Ich bin noch mal weg«, bemerkte Lugh Akhtar anstelle einer Antwort, als er die Hose an hatte, und wollte, nun wieder halbwegs bekleidet, den Raum verlassen. »Ist jetzt Cinder dran?«, erkundigte sich Sly unschuldig, bekam jedoch nur noch ein Türknallen zur Antwort. »Sagt mal, was ist eigentlich so schlimm daran, wenn ich bei ihm schlafen will?« Soul verstand die ganze Aufregung sichtlich nicht. »Du meinst wohl eher >mit ihm schlafen<, oder?«, grinste Sly, doch Soul verstand den Unterschied offensichtlich nicht. Dafür warf Ice ihm einen bösen Blick zu. »Lass dir das mal lieber von Nea erklären. Aber… zwischen euch war wirklich nichts? Nicht einmal ein Kuss?«, erkundigte sich Ice noch einmal. »Um weiter zu gehen muss man sich nicht küssen«, kommentierte Sly und begann damit, das Fleisch über der Flamme, die er in seiner Hand hielt, zu braten. »Was ist ein Kuss? Und was soll sonst zwischen uns gewesen sein? Ich habe ihn etwas gefragt und wollte dann in seinem Bett schlafen. Er ist wärmer als Cinder und ohne Fell ist es immer so kalt nachts.« Soul schaute die beiden jungen Männer so unschuldig an, dass nicht einmal Sly irgendetwas sagen konnte. »Was ein Kuss ist, erzähl ich dir ein anderes Mal. Geh mal lieber zu den Mädchen rüber, es gehört sich nicht, wenn eine Frau bei Männern im Zimmer schläft. Und schon gar nicht beim Bruder«, antwortete Ice. So stand Soul auf, und verließ das Zimmer. »Meinst du, Lugh ist böse über meine Sprüche?«, fragte Sly ganz unvermittelt, als sie alleine waren. »Ich weiß es nicht«, antwortete Ice und zog sich auch die Hose aus, um dann unter die Decke zu schlüpfen. »Du bist es ja gewohnt, aber ich glaube, er ist nicht so dickfellig… ich glaube, ich gehe und spreche mit ihm«, überlegte der Rotschopf und stand auf. Er warf Ice das gebratene Fleisch zu und verließ dann den Raum, ohne auf das Gezeter seines Freundes weiter zu achten. Er stieg die Treppe zum Schankraum hinab und verließ das Wirtshaus. Die kleine Dorfstadt war schnell durchquert und der Spur Lugh Akhtars zu folgen war auch nicht sonderlich schwer: Weg vom Lärm in Richtung ruhige Nacht durch den unberührten Schnee. Es dauerte nicht lange, da sah er den jungen Zauberer auch schon auf einem Felsen auf einer kleinen Anhöhe sitzen, und die Sterne betrachten. »Du weißt, dass wir das nicht ernst und auch nicht böse gemeint haben, oder?«, fragte Sly leise und ließ sich neben Lugh Akhtar auf den Felsen sinken. »Ja. Ich hoffe es zumindest«, seufzte der und legte sich flach nach hinten. »Ice ist das mittler weile gewohnt und ich habe die letzten Jahre fast nur mit ihm verbracht. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass nicht jeder so ist, wie er«, entschuldigte sich der Rotschopf. »Ist schon okay. Eigentlich mag ich es ja recht gerne, dass du so bist, wie du bist«, antwortete Lugh Akhtar darauf. »Andererseits mag man mich aber deswegen auch immer erschlagen, ich weiß. Das war schon immer so«, lächelte Sly. Danach herrschte eine Weile Schweigen. »Sag mal, Sly… an dem Abend, bevor Nea und Tariq zu Ikaika gegangen sind, also noch auf der anderen Seite der Mauer… da hab ich dich mit Ice… na ja, diskutieren sehen. Worum ging es da eigentlich?«, fragte Lugh Akhtar vorsichtig an. Erst schien es, als wollte der Rotschopf gar nicht antworten, dann seufzte er schwer. »Weißt du, das ist eine lange Geschichte. Und auch keine sonderlich interessante fürchte ich«, antwortete er. »Und vor ein paar Tagen? Ice sagte mir, als ich ihn fragte, dass du endlich mal deine Vergangenheit hinter dir lassen sollst…«, sprach Lugh Akhtar zögernd weiter. »Ja, das sagt er oft…« Mit einem Mal trat ein Schmerz in die blauen Augen. »Wieso, was… meint er?« Der junge Zauberer spürte, dass dies hier tiefer ging, als er bisher geahnt hatte. »Er meint, ich müsse die Vergangenheit langsam einmal ruhen lassen. Es würde nichts bringen, wenn ich ewig an ihr festhielte, aber wie soll ich sie denn nur vergessen?« »Was meinst du? Wovon redest du?« »Von Namida. Und von Lioba«, flüsterte Sly. »Und wer… sind sie?« Darauf schwieg der Rotschopf wieder, nur eine einzelne Träne lief ihm über die Wange. Es dauerte eine Weile, bis er sich weit genug gesammelt hatte, dass er antworten konnte. »Ich war sechzehn, als ich Lioba das erste Mal traf. Auf dem Mitwinterball. Sie lief in mich hinein, als sie versuchte, ihrem Meister zu entkommen, der an dem Abend noch einmal mit ihr irgendetwas durchgehen wollte. Ich war sofort verliebt. Und sie wohl auch, denn auf meinen Vorschlag, uns ein anderes Mal wieder zu treffen, reagierte sie ausgesprochen verzückt. Danach gab es kaum einen Tag, an dem wir uns nicht trafen.« Er lächelte traurig, als er an die vergangene Zeit dachte. Lugh Akhtar hielt unwillkürlich den Atem an. »Und ein Jahr später erzählte sie mir dann, dass sie ein Kind erwarten würde. Ich glaube, danach habe ich sie noch mehr geliebt. Sie war das Wichtigste in meinem Leben. Und ein paar Monate später kam dann noch unsere Tochter Namida dazu.« Nun rannen mehrere Tränen über seine Wangen. Lugh Akhtar wollte etwas sagen, doch wusste er nicht was. So blieb er still und wartete darauf, dass Sly von sich aus weiter sprach. »Das war die glücklichste Zeit meines Lebens. Bis Lioba krank wurde. Binnen zwei Wochen ging es ihr immer schlechter, bis sie starb. Und selbst das war noch zu verkraften, denn ich hatte ja noch Namida. Meine kleine süße Namida. Sie und Nea waren gut befreundet, eigentlich eher wie Schwestern, als wie Tante und Nichte.« Nachdenklich seufzte der Rotschopf und schaute Lugh Akhtar traurig an. »Was… ist mit Namida geschehen?«, traute der sich zögernd zu fragen. »Sie ist tot. Sie war gerade einmal fünf Jahre alt, als sie sterben musste. Und ich weiß nicht einmal, wieso.« In den blauen Augen war eine Härte zu sehen, wie Lugh Akhtar sie nur ein einziges Mal zuvor gesehen hatte. In denselben blauen Augen. So hatte Slys Vater ihn angesehen. »Wie starb sie?«, fragte er leise. »Ich weiß es nicht genau. Sie verfolgten mich, sie wollten mich zum Sündenbock machen. Es regnete, ich dachte, ich hätte sie abgehängt und trat aus einer Gasse heraus. Da sah ich ihren leblosen Körper auf dem Platz vor dem Turm der Zauberer liegen. I-ich dachte, ich könnte ihr noch helfen und lief zu ihr, aber... ihr kleiner Körper war zerschmettert, in ihren gebrochenen Augen sah ich nur noch Angst«, flüsterte er leise und seine Stimmte zitterte. Für eine ganze Weile schaute er nur starr geradeaus. »Dann tauchte ein Schatten auf. Ich habe ihn nicht genau gesehen, eigentlich war es auch egal. In dem Moment, als mir bewusst wurde, dass Namida tot war, hatte mein Leben ein Ende. Er sagte, dass Nea das gleiche Schicksal widerfahren würde, sollte ich mich weigern, die Schuld auf mich zu nehmen, aber eigentlich war mir das egal. Mir war alles egal. Ein bisschen ist es das immer noch. Ice hat lange gebraucht, um mich wieder aufzubauen. Er weiß nicht, was passiert ist, du bist der Erste, dem ich es erzähle.« Sly zog die Beine an und vergrub sein Gesicht in der Hose. »Namida und Nea waren gut befreundet?« Lugh Akhtar fiel etwas ein, was Soul ihm erzählt hatte. »Ja. Nea hat oft mit Namida gespielt. Sie haben immer sehr viel Zeit gemeinsam verbracht, denn unsere Schwestern wollten nicht mit Nea spielen und Freunde haben unsere Eltern nicht zugelassen. Da kam meine Tochter gerade recht«, bestätigte Sly leise. »Komm mit!«, rief Lugh Akhtar und zog ihn grob hoch und dann mit sich zurück ins Dorf. Er lief den ganzen Weg, riss die Tür zum Wirtshaus so grob auf, dass sie an die Wand krachte und stürzte die Treppe hinauf, um schwer atmend vor dem Zimmer der Mädchen zum Stehen zu kommen. »Was soll das denn?«, keuchte Sly und rieb sich den schmerzenden Arm. Er hatte das Gefühl, der junge Zauberer hätte versucht, ihm den Arm auszureißen. Doch erhielt er keine Antwort, stattdessen klopfte Lugh Akhtar laut und hektisch an die Tür, solange, bis Nea verschlafen öffnete. »Lugh Akhtar, weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, brummte sie müde. »Ist Soul auch da?«, fragte der junge Zauberer stattdessen, schob Nea beiseite und kam ins Zimmer. Mit einem Fingerschnippen entzündete er die Kerzen und sah, dass Soul da war. »Was ist denn los?«, fragte sie verschlafen und auch Cinder wirkte nicht begeistert über die späte Störung. »Soul, der Fuchs, ist er hier?«, wollte Lugh Akhtar eindringlich von seiner Schwester wissen. »Nalani ist immer hier, sie sitzt bei Cinder auf dem Bett«, antwortete die und wollte sich umdrehen. »Die Rotfüchsin, Neas Schutzgeist!«, Lugh Akhtar hatte es nicht wirklich gewundert, als Soul ihm eröffnete, dass auch Nea zu den Dreizehn gehörte. Jedoch hatte er sich seitdem gefragt, wer die Rotfüchsin wohl gewesen sein mochte. »Natürlich, die ist auch da. Und Laiya auch und Kanoa auch. Noch etwas?«, brummte Soul. »Ja.« Er wandte sich an Nea, kam sich unheimlich dämlich vor, als er mit der Luft sprach. »Füchsin, ist dein Name Namida?« »Sie nickt«, gähnte Soul. »Namida?«, fragte Nea erstaunt. »Ja.« Lugh Akhtar lächelte zufrieden und wandte sich an Sly. »Sie ist nicht tot. Sie ist hier, sie begleitet Nea.« »Sie… ist hier? Sie ist ein Schutzgeist?« Der Rotschopf schaute mit großen Augen auf den jungen Zauberer. »Ja!«, lachte der. »Und… ihr geht es gut? Sie begleitet Nea und es geht ihr gut?« Tränen der Erleichterung rannen über seine Wangen. »Ja. Du… kannst leider nicht mit ihr sprechen, aber… ja, sie ist hier, und es geht ihr gut«, lächelte Lugh Akhtar. »Das reicht mir«, antwortete der Rotschopf und lächelte glücklich. »Wenn es ihr gut geht, wenn sie nur glücklich ist, dann reicht mir das.« Er verließ den Raum, er wirkte, wie ein Traumwandler. »Was… ich verstehe nicht…?«, merkte Nea verwundert an. »Er hat mir von Namida erzählt. Und Soul hat es mir bestätigt, dein Schutzgeist ist Namida«, erklärte Lugh Akhtar lächelnd. »Namida… ich habe so lange nicht an sie gedacht… aber es macht Sinn.« Nea wirkte fast ebenso glücklich, wie ihr Bruder auch. »Wer… ist Namida?«, fragte Cinder vorsichtig. »Also, wer war sie, bevor sie zum Schutzgeist wurde?« Der junge Zauberer schaute sie an und sah etwas in ihren Augen blitzen, das gefährlich wirkte, jedoch konnte er es nicht einordnen. »Namida war meine Nichte«, antwortete Nea und wirkte seltsam nachdenklich. »Deine Nichte? Slys Tochter?« Cinders Stimme schwang seltsam und das Funkeln in ihren Augen verstärkte sich. »Ja«, nickte Nea, die es nicht zu bemerken schien. »Aber, sie ist tot. Und ihre Mutter auch«, versuchte Lugh Akhtar seine Schwester wieder zu beruhigen und er sah, dass es ihm gelang. Noch immer blitzte etwas in ihren Augen, doch nickte sie, fast schon zufrieden und kuschelte sich wieder in die Decke. »Wir… ich geh jetzt schlafen… wir wollen Morgen wieder Früh los… entschuldigt die späte Störung.« Verunsichert trat der junge Zauberer den Rückzug an. Was war es nur, was er in Cinders Augen gesehen hatte? Kapitel 25: Versöhnung und große Pläne -------------------------------------- »Das ist Altena?« Mit riesig großen Augen schauten Soul und Cinder auf die Stadt. »Ja«, bestätigte Lugh Akhtar, schaute dann viel sagend zu Ice und nickte. »Darf ich jetzt?«, freute der sich. »Was darfst du jetzt?«, wollte Sly neugierig wissen, doch keiner antwortete ihm. Stattdessen trat Ice hinter ihn und goss so viel Tinte auf den Rotschopf, dass sein Haar über und über bedeckt war. »ICE! Was tust du da!«, rief Sly aus und sprang weg. Er schüttelte sich dabei wie ein Hund. »Er sorgt dafür, dass du zumindest ein wenig anders aussiehst, und dich hoffentlich keiner erkennt«, antwortete Lugh Akhtar und lächelte, als er die verdutzten Blicke der Mädchen sah. Nur er und Ice hatten es sich ausgedacht. »Toll, und warum sagt ihr mir das nicht vorher«, meckerte Sly und fuchtelte sinnlos in der Luft herum. »Weil es dann nicht so lustig wäre«, antwortete Ice und grinste breit. Er wusste genau, dass Sly nicht gut genug war, um sich selbst von der überschüssigen Tinte zu befreien. Dies war eine Art ganz persönlicher Rachefeldzug, zumindest im Miniformat. »Hilft mir denn jetzt mal jemand?«, fauchte Sly und schaute wie der sprichwörtliche begossene Pudel von einem zum anderen. Darauf erbarmte sich Lugh Akhtar und wischte mit einer Handbewegung die Tinte davon. »Kleider«, bemerkte der Begossene und deutete auf die schwarzen Flecken, die überall auf seiner Kleidung zu sehen waren. Mit einem verhaltenen Lächeln entfernte der Zauberer auch die, sodass nur noch Tinte in den Haaren war. Jedoch waren Slys Haare gewöhnlich von so einem intensiven Karottenrot, dass die Tinte es nicht vollständig verdecken konnte, sodass mit einem mal Cinder leise lachte. »Deine Haare haben jetzt die Farbe von Kot«, bemerkte sie. Daraufhin blitzte es schadenfreudig in Ice' Augen und Sly konnte sich sicher sein, dass dieser eine Satz ihn vermutlich bis zum Ende seines Lebens verfolgen würde. »Können wir vielleicht weitergehen?«, brummte er unwillig. »Gleich, wir müssen noch ein wenig etwas klären«, wurde Lugh Akhtar wieder ernst. »Und was?«, erkundigte sich Nea immer noch lächelnd. »Na ja, wir können leider nicht immer alle zusammen auf einem Haufen hocken. Wir sollten uns ein wenig verteilen. Und uns ein paar Geschichten ausdenken, damit keiner misstrauisch wird«, erklärte der junge Zauberer. »Und das heißt was genau?«, erkundigte sich Ice misstrauisch. »Nea, ich würde vorschlagen, dass du wieder bei Rose bleibst. Ich bleibe mit Cinder im Turm, immerhin ist sie in ein paar Tagen meine Schülerin. Eigentlich könnte auch Ice mit Soul im Turm bleiben, aber ich denke, die Gefahr, dass dich jemand trotz der blauen Haare erkennt, ist zu groß. Zumal du so auch nicht gerade unauffällig bist.« Lugh Akhtar schaute ihn nachdenklich an. »Ich… denke, ich werde zu meinem alten Meister gehen. Er hat mir damals gesagt, dass er von meiner Unschuld überzeugt ist, ich glaube nicht, dass er mich verraten wird«, überlegte der. »Gut, aber geh kein Risiko ein. Außerdem… wäre es vielleicht sinnvoll, wenn wir uns gar nicht weiter kennen würden, dann schöpft keiner Verdacht«, überlegte der junge Zauberer vorsichtig. »Ich bin aus dem Süden, mein Meister im Süden ist mit meinem Meister hier gut befreundet, deswegen bleibe ich die Tage bei ihm. Mein Name ist Ice und Soul wird meine Schülerin, ebenfalls aus dem Süden. Wir sind hier, um ein wenig etwas über die Nordzauberer zu lernen«, sponn Ice sogleich eine Geschichte zusammen. »Okay. Dann geht«, nickte Lugh Akhtar. Ice deutete Soul, ihm zu folgen und gemeinsam gingen sie weiter. »Wozu denkt ihr euch Geschichten aus?«, fragte Cinder ganz unvermittelt, als sie ihre Schwester davon gehen sah. »Weil es nur unnötige Schwierigkeiten gäbe, wenn den anderen Zauberern bekannt wäre, dass Nea und ich Verbannte mitgebracht haben«, erklärte ihr Bruder und schaute nachdenklich auf Sly. »Mir fällt leider kein guter Ort ein, an dem zu bleiben kannst. Ich weiß nicht, wie Rose dir gegenüber steht.« »Als ich sie das letzte Mal sah hat sie mich als Abschaum und Monster beschimpft. Sie glaubt, dass die Vorwürfe stimmen«, erklärte Sly. »Nein, das denke ich nicht. Sie hat einmal mir gegenüber erwähnt, dass sie gerne noch einmal mit dir sprechen würde, nur leider wäre es unmöglich…«, warf Nea ein. »Dann bleibt ihr gemeinsam bei Rose, wenn es irgendwie machbar ist«, beschloss Lugh Akhtar und wandte sich dann zu Cinder um. »Wir beide müssen uns auch noch eine Geschichte ausdenken, aber solange musst du einfach ruhig sein, auch wenn dir jemand eine Frage stellt. Erst einmal bringen wir aber Sly und Nea zu Rose.« »Du willst mitkommen?«, fragte Sly erstaunt. »Ja. Es wäre unglaubwürdig, wenn ich Nea den Weg alleine gehen ließe. Und schon einmal gleich, wenn ein fremder Zauberer bei ihr ist«, erklärte Lugh Akhtar und lächelte wieder. »Wo wir schon einmal bei >fremder Zauberer< sind…«, begann der ehemalige Rotschopf langsam. »Ja?« »Ich habe gelernt, dass man am besten und am glaubwürdigsten lügt, wenn man sich so nahe an der Wahrheit hält, wie es irgendwie möglich ist. Deswegen wundert euch nicht über meine Geschichte, wenn ihr sie hört«, Sly grinste hilflos. »Was willst du denn erzählen?«, wollte Nea misstrauisch wissen. »Das erfährst du später. Lasst uns lieber gehen«, antwortete ihr Bruder und ging los. Ice und Soul waren schon nicht mehr zu sehen. Nea schloss sich ihm unwillig an, dann folgten Cinder und Lugh Akhtar langsam. »Wieso glitzert die Stadt eigentlich so sehr?«, wollte Cinder mit leuchtenden Augen wissen, als sie schon ein Stück gelaufen waren. »Glitzern? Sie glitzert doch gar nicht«, bemerkte ihr Bruder und schaute sie erstaunt an. »Doch. Überall. Es glitzert ja auch, wenn einer von euch zaubert, aber das hier ist… einmalig.« Seine Schwester schaute ihn mit großen Augen an. »Es glitzert, wenn wir zaubern? Auch bei mir?« Lugh Akhtar wusste, dass viele Zauberer Spuren hinterließen, wenn sie Magie wirkten, doch hatte er schon von vielen Leuten gehört, dass es bei ihm anders war. Nicht einmal ein Leuchten lag in der Luft, wenn er zauberte. »Ja. Sogar richtig viel. Bei Nea auch, bei Ice ist es schon deutlich weniger und bei Sly fast gar nicht. Unsere Anhänger glitzern auch ganz dolle«, antwortete Cinder und deutete auf den Halbmond. »Aber… warte, hast du nicht gesagt, dass die Nacht dir ein Geschenk gemacht hätte?«, überlegte der junge Zauberer. »Ja. Ich kann auf beiden Augen sehen«, bestätigte sie. »Und… wenn das noch nicht alles war? Vielleicht ist es so ähnlich wie bei Soul. Sie kann Schutzgeister sehen, vielleicht kannst du… Magie sehen…« Unwillkürlich blieb er stehen, als ihm bewusst wurde, was für eine Fähigkeit das war. »Magie… sehen?«, fragte sie zögernd. »Ja. Wenn du siehst, wenn irgendwer Magie wirkt, dann weißt du, wie mächtig er ist, Cinder. Dann weißt du, wer wirklich nur ein Mensch, und wer eigentlich ein Zauberer ist, und vielleicht auch, wer zu Großem in der Lage ist, und wer das Große niemals erreichen wird! Cinder, das ist eine unglaubliche Fähigkeit.« Lugh Akhtars Augen glänzten, als er das sagte. »Also sieht dieses Glitzern nicht jeder?«, erkundigte sich Cinder kleinlaut. Sie verstand noch gar nicht wirklich, was ihr Bruder wollte. »Nein. Im Gegenteil, außer dir sieht es wahrscheinlich keiner. Aber das ist… nicht wichtig jetzt. Sag es niemandem, es gibt Dinge, die sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt«, antwortete er eindringlich. »Wo bleibt ihr denn?«, rief Sly von weiter vorne. Er und Nea waren ebenfalls stehen geblieben und schauten fragend zu Cinder und Lugh Akhtar zurück. »Wir kommen schon«, antwortete ihm der junge Zauberer und machte eine einladende Handbewegung gegenüber Cinder. So liefen sie gemeinsam. Bei Roses Haus angekommen wurden sie voller Begeisterung von Kathlyn und ihrer Schwester begrüßt. »Lugh! Nea!«, riefen die Mädchen und stürzten sich auf sie. »Hallo ihr zwei!«, lachte Nea und hob die Jüngere auf den Arm, während Lugh Akhtar lachend die tausend Fragen Kathlyns über sich ergehen ließ. »Sind eure Eltern zu Hause?«, fragte irgendwann der junge Zauberer, als das Mädchen gerade einmal tief Luft holen musste. »Ja, sie sitzen beide in der Küche, gemeinsam mit Großpapa«, begann sie einen weiteren riesigen Redeschwall. Da hob Lugh Akhtar auch sie auf den Arm und deutete Nea, dass sie bitte vorangehen sollte. So zogen sie in einer regelrechten Prozession in das Haus hinein, zielstrebig in die Küche. Als Nea den Raum betrat, kreischte Rose laut auf, man hörte das Poltern von Stühlen und Stimmen, die schnell und laut durcheinander riefen, zwischendrin immer wieder Neas lachende Beteuerungen, dass es ihr gut ginge. Lugh Akhtar wurde zwar nicht ganz so herzlich begrüßt, aber auch ihn hieß man voller Freude willkommen, besonders Rose und ihr Vater redeten dankbar auf ihn ein. Als dann zögernd Cinder hinter drein kam, wurde es langsam ruhiger. »Wer sind eure Freunde?«, erkundigte sich Rose lachend. »Das ist Cinder, meine kleine Schwester und bald auch mein Lehrling«, stellte Lugh Akhtar die junge Frau vor, die unsicher von einem zum anderen blickte. »Kleine Schwester?«, fragte Roses Mann erstaunt. Lugh Akhtar wusste seinen Namen immer noch nicht. »Ja. Aber das ist eine lange Geschichte«, antwortete der junge Zauberer und schaute hinter sich in den Gang, wo noch immer Sly stand und unsicher von einem Fuß auf den anderen stieg. Nur zögernd trat er in den Raum. Sogleich herrschte absolute Stille, alles starrte nur fassungslos. »Hallo«, sagte Sly zögernd. »Hope?«, flüsterte Rose. Ihre Stimme schwang voller Hoffnung und Angst, dass sie nicht erfüllt würde. »Ja«, antwortete er leise. »HOPE!« Rose stürzte ihren Bruder um den Hals, der jedoch starrte nur vor sich hin. In seinem Kopf schienen tausend Gedanken umher zu rasen. »Hope, wie kommst du hierher?«, fragte da auch der Vater leise. »Wer ist das Mama?«, wollte Kathlyns Schwester wissen, die noch immer auf Neas Arm war, doch keiner beachtete sie. »Was macht ein Verbannter in meinem Haus?«, fragte stattdessen ihr Vater hart und schaute Sly aus kalten Augen an. Der zuckte zusammen und machte sich aus Roses Umarmung frei. »Ich wusste nicht… ich denke, ich sollte wieder gehen«, sagte er und drehte sich schon um, doch Rose hielt ihn am Handgelenk fest. »Entschuldige dich und hör dir an, was sie zu sagen haben, oder verschwinde hier«, fauchte sie ihren Mann an. »Aber er ist es doch!«, kam die postwendende Antwort. »Er ist unschuldig«, warf Lugh Akhtar ein und bekam somit die volle Aufmerksamkeit. »Zweifelst du gerade die Entscheidung der Hochmagier und deines eigenen Meisters an?«, wollte Roses Mann wissen. »Natürlich. Niemand ist unfehlbar«, antwortete der junge Zauberer. »Die Hochmagier schon.« »Auch sie nicht. Niemand ist es, jeder irrt sich irgendwann einmal.« »Nenn mir einen Punkt, indem sie sich geirrt haben.« »Sie haben behauptet, ich sei ein Bauernsohn.« Lugh Akhtar lächelte siegessicher. »Bist du auch. Jeder kennt die Geschichte wie Nikolai dich in einem Dorf eingesammelt hat«, lachte sein Gegenüber. »Ja, ich bin ja auch in diesem Bauerndorf aufgewachsen. Aber meine Eltern, meine wirklichen Eltern, waren keine Bauern.« »Sondern? Zauberer oder was?« Der Spott in der Stimme war überdeutlich. »Ja und nein. Mein Vater schon, aber meine Mutter war ein Wesen, über dessen Existenz du bisher nur gelacht hast.« Damit wandte er sich an Kathlyn, die er mittlerweile abgesetzt hatte. »Wenn du möchtest, stell ich dir einmal das Rudel des Winters vor«, lächelte er. »Der Winter hat ein Rudel?«, fragte sie erstaunt und ihre Kinderaugen glänzten voller Vorfreude. »Ja.« Darauf lachte ihr Vater spöttisch. »Behauptest du immer noch, der Winter sei ein lebendes Wesen?« »Ja. Komm einfach, wenn ich Cinder als Schülerin annehme, ich habe das Gefühl, dass sie dort sein wird«, lächelte der Zauberer. »Natürlich.« Der Sarkasmus war überdeutlich. »Aaron, wenn du von irgendetwas so gar keine Ahnung hast, dann halte die Klappe«, bemerkte Nea und deutete Sly, dass er bitte wieder in den Flur gehen solle. »Wir setzen uns jetzt alle ins Wohnzimmer und Hope erzählt uns seine Geschichte. Und dann entscheidet ihr darüber, ob ihr ihn verurteilt, oder nicht. Keine Sekunde früher, und auch keine Sekunde später.« So pilgerte die Prozession in den nächsten Raum, wo Sly langsam, zögernd und leise zu erzählen begann, nachdem die Kinder hinausgeschickt worden waren. Er erzählte nicht alles, von Namida sagte er kein Wort, aber es reichte, dass auch sein Schwager endlich ruhig war. »Bitte entschuldige, dass ich an deine Schuld glaubte… es kam mir vor Jahren schon so absurd vor, dass ich es nur für einen Moment für möglich halten konnte, aber da war es auch schon zu spät«, flüsterte irgendwann Slys Vater und Rose, die sich eng an ihn geschmiegt hatte, nickte zustimmend. »Ich hab dich vermisst, kleiner Bruder«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Ich gehe jetzt also recht in der Annahme, dass Sly hier bleiben kann?«, fragte Lugh Akhtar leise. »Natürlich«, nickte Rose. »Dann gehen Cinder und ich jetzt.« Der junge Zauberer stand auf und deutete seiner Schwester, ihm zu folgen. »Willst du nicht hier bleiben, wie letztes Mal auch?«, fragte Rose erstaunt. »Nein. Damals hatte ich noch Angst vor Altena, jetzt aber hat sich so einiges verändert, jetzt ist es einfach nur eine Stadt. Wie jede andere auch«, lächelte Lugh Akhtar, während er zur Tür ging. Er und Cinder brauchten nicht mehr lange, bis sie ankamen. Außerdem kamen sie genau zum rechten Zeitpunkt. Die Sonne stand nämlich gerade so, dass sie genau durch das Glasfenster über dem Tor schien. »Jetzt wirst du gleich das Beeindruckendste sehen, was du jemals erblickt hast«, bereitete er sie lächelnd vor, während er selbstbewusst auf das Tor zuschritt. Wie erwartet hielten die Wachen ihn erst auf, aber als er Cinder als angehende Schülerin vorstellte, da nickten sie zögernd und ließen sie passieren. »Warum wollte er mich erst nicht einlassen?«, fragte seine Schwester natürlich sogleich neugierig, doch Lugh Akhtar lächelte nur und stieß die Tür auf und schob sie hinein. Und wie erwartet war Cinder sogleich vollkommen fasziniert von der Farbenpracht, die sich ihr bot. »Das ist ja…« »Atemberaubend?«, lächelte Lugh Akhtar und legte seine Arme um sie. »Ja! So etwas kann ein Zauberer nur mit Magie?«, fragte sie fassungslos. »Ja. Wenn er gut ist schon. Allerdings weiß niemand, wer das Glas gemacht und wer es verzaubert hat.« Der Zauberer legte seinen Kopf auf ihrem Haar ab. »Es ist so wunderbar!«, rief Cinder, riss sich los und tänzelte unbeholfen durch das Licht. »Ich weiß. Das Einzige in Altena, das ich immer geliebt habe«, bestätigte Lugh Akhtar. »Wer ist deine Begleiterin, Makani?« Nikolai war unbemerkt auf der höchsten Stufe erschienen. »Meine angehende Schülerin«, antwortete der junge Zauberer und schaute zu seinem ehemaligen Meister hoch. Der kam langsam zu ihm, ließ Cinder dabei jedoch nicht aus den Augen. Die wiederum schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben, so fasziniert war sie noch immer. »Hast du schon einen Namen für sie?«, fragte Nikolai leise. »Ja. Ein guter Freund hat mir den passenden gesagt.« »Meinst du, dass dein Freund ihn nicht ausnutzen wird?« »Nein. Mein Freund würde für Cinder sterben. Er wird ihr nichts Böses tun. Außerdem würde er ihn sowieso erfahren.« »Inwiefern?« Erstaunt sah Nikolai ihn an. »Nun, du wirst ihn kennen lernen. Und dann wirst du es verstehen«, lächelte Lugh Akhtar geheimnisvoll. Da warf Cinder sich zu ihnen herum. Entweder nahm sie Nikolai nach wie vor nicht wahr, oder aber sie ignorierte ihn völlig, als sie laut jauchzte. »Lugh Akhtar!«, rief sie und ihr silbernes Auge leuchtete wieder blutrot. »Ich werde die Beste sein! Besser als alle anderen Zauberer, und dann erfülle ich den Himmel mit diesem Licht! Nur für Nalani!« »Tu' das, Cinder«, lachte ihr Bruder freudig, woraufhin sein Meister ihn erstaunt anschaute. »Das schafft sie niemals, Makani. Nicht einmal du würdest es fertig bringen, da bin ich mir sicher«, sagte er ernst. »Sie kann es und irgendwann wird sie es tun. Immerhin sind die Nacht und das Nordlicht auf ihrer Seite«, antwortete sein Schüler geheimnisvoll, bevor er noch einmal lächelte und dann seine Schwester einsammelte, um irgendwo freie Zimmer zu suchen. Es war langsam Zeit zum Schlafen, die nächsten Tage würden anstrengend werden. Kapitel 26: Die Eidsprechung ---------------------------- »Aufgeregt?«, flüsterte Lugh Akhtar seinen Schwestern zu, die beieinander saßen und leise miteinander flüsterten. »Ja«, antwortet Cinder und biss sich auf die Lippen. »Nein«, erklärte Soul und schaute ihn verwundert an. »Dann ist ja gut«, lachte ihr Bruder und schaute sich suchend um. »Sag mal, was genau passiert eigentlich genau bei der Zeremonie?« Cinder schaute aus großen Augen nervös zu ihm hoch. »Und wann beginnt das Ganze endlich?«, fügte Soul ungeduldig hinzu. »Sobald die Sonne untergeht. Ihr beide seid nicht die ersten neuen Schüler heute, also könnt ihr schon einmal bei den anderen anschauen, wie in etwa das ganze abläuft«, versuchte der junge Zauberer seine Schwestern ein wenig zu beruhigen. »Wieso eigentlich alle ausgerechnet heute?«, fragte Soul neugierig weiter. »Weil morgen eines der vier Sonnenfeste ist. Die Frühjahrs-Tag-und-Nacht-Gleiche. Morgen endet der Winter offiziell, deswegen findet morgen auch ein Fest statt. Aber es ist Tradition, dass ein Zauberer immer am Abend vor dem Sonnenfest seinen Eid leistet und seinen Schülernamen erhält. Damit er seinen Schwur nicht vor einer starken Macht leisten muss, sondern vor einer, die fast schon schläft«, erklärte er. »Damit die Strafen bei nicht beachten nicht so hart ausfallen«, fügte Ice hinzu und gesellte sich zu ihnen. »Achso… und was ist eine Tag-und-Nacht-Gleiche?«, erkundigte sich Soul weiter. »Da ist der Tag genauso lang wie die Nacht, das geschieht nur zweimal im Jahr. Im Frühjahr, also morgen, und im Herbst. Es bezeugt auch gleichzeitig den Beginn einer neuen Jahreszeit.« Ice setzte sich mit fahrigen Bewegungen zu ihr. »Und die anderen beiden Feste?«, wollte nun auch Cinder wissen. »Das sind die Sonnenwenden. Die Sommer-Sonnenwende ist der längste Tag des Jahres und der Beginn des Sommers. Die Winter-Sonnenwende dagegen hat die längste Nacht und ist der Beginn des Winters«, erklärte Lugh Akhtar. »An dem Tag der Sonnenwenden sind die Hohen Mächte besonders mächtig, am Abend davor immer besonders schwach«, fügte Ice noch hinzu. »Sag mal Lugh, wie viele von den Meistern und Schülern kennst du eigentlich?« Cinder schaute aufmerksam in die unbekannten Gesichter. »Viele. Ich kenne nicht viele Namen dazu, aber die meisten Meister kenne ich, einige waren zur selben Zeit Schüler, wie ich. Manche von den angehenden Schülern auch, aber eigentlich sind es erstaunlich wenige, die heute zueinander finden«, antwortete der Bruder und schaute ebenfalls durch das Gewusel. Die Eidleistung der neuen Schüler war immer etwas besonderes, deswegen waren weit mehr gekommen, als nur die nötigen Personen. »Zum Sommer sind es immer mehr, als zum Frühjahr oder zum Winter. Wie viele sind es heute?« Auch Ice blickte sich fragend um. »Genau dreizehn. Diese Zahl habe ich erst zweimal erlebt in all den Jahren, die ich schon der Eidleistung beiwohne.« Nikolai hatte sich zu ihnen gesellt. »Bei mir waren es dreizehn«, überlegte Lugh Akhtar. »Ja. Bei dir und bei einem anderen sehr mächtigen Zauberer. Bei Kanoa Kuroi«, überlegte der Meister der Zauberergilde. Sofort warf sein ehemaliger Schüler seinen Schwestern einen warnenden Blick zu. Sie mussten nicht gerade herausposaunen, woher sie kamen. Allerdings schwiegen sie auch beide, und schauten nur Nikolai erwartungsvoll an. »Wer war eigentlich Kanoas Meister gewesen?«, erkundigte sich Lugh Akhtar möglichst beiläufig. »Das war ich selbst«, antwortete ihm Nikolai leise. Daraufhin schauten ihn die Geschwister aus großen Augen an. »Ich hatte immer schon ein glückliches Händchen für Talente. Es ist wirklich ein Jammer, dass er keine Kinder hatte. Und dass er sich einen solchen Fehltritt erlaubt hat…« Der alte Meister seufzte schwer. »Fehltritt?«, fragte Soul vorsichtig nach. »Ja. Er hatte die falschen Freunde. Ich weiß nicht, ob er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, oder ob er es wirklich getan hat, aber letzten Endes ist es auch egal. Mittlerweile lebt er wahrscheinlich nicht mehr, oder bist du ihm begegnet?« Nikolai schaute nachdenklich auf seinen ehemaligen Schüler. »Nicht… so richtig. Wenn er dein Schüler war… wie war dann sein Schülername?« Lugh Akhtar zitterte leicht vor Aufregung. »Wintermond«, flüsterte Nikolai. »Oh, wie überaus passend«, lachte Cinder darauf und erhielt sogleich von allen Seiten böse Blicke, außer vom alten Meister. Der schaute sie verwundert an. »Wieso das?«, erkundigte er sich. »Oh, ich, ähm...«, machte die junge Frau und überlegte, wie sie sich da wieder raus winden könnte. »Cinder hat einmal gehört, dass er den Wintermond sehr gerne mochte«, sprang Lugh Akhtar schnell ein. »Ach, wirklich? Ja, das stimmt, er saß oft im Winter am Fenster und schaute hinaus«, bestätigte Nikolai und schien keinen Verdacht zu schöpfen. Doch dazu kannte der junge Zauberer seinen alten Meister zu gut. Er sah das Blitzen in den Augen. »Müssen wir nicht bald anfangen? Oder ist das hier anders?«, spielte Ice den Fremden, jedoch sah man Nikolai an, dass er ihm das nicht wirklich abkaufte. Dennoch nickte er und ging zur Treppe. »Wir müssen gleich gehen, ihr macht einfach, was die anderen Schüler auch machen«, erklärte Lugh Akhtar und folgte gemeinsam mit Ice seinem ehemaligen Lehrer. Der ging nur ein paar Stufen hinauf, und wandte sich dann an die stiller werdende Menge. »Wir beginnen gleich, deswegen bitte ich die Lehrer und die Zuschauer mit mir zu kommen«, rief er in den Raum und trat vollendens die Treppe hinauf. Die meisten folgten ihm, nur die dreizehn Schüler, die meisten noch keine zehn Jahre alt, blieben zurück. »Ich hoffe, es geht ihr gut«, flüsterte Ice leise. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie aufgeregt war«, antwortete ihm Lugh Akhtar, während er seinen Platz einnahm. Ice nickte fahrig und ging ans andere Ende der Plattform. Der junge Zauberer schaute indes neugierig in die Menge. Er gewahr Nea und Sly, die ihm aufmunternd zulächelten, und er sah auch Rose und ihre Familie. Kathlyn war eine derjenigen, die heute ebenfalls einen Meister bekommen würde, sie war die Jüngste neue Schülerin. Danach warteten sie, dass die Sonne rot glühend verschwand. Das dauerte nicht mehr lange. In der Zeit zogen sich die Schüler noch einmal um, sie würden schwarze Umhänge tragen und ihn erst abnehmen, wenn ihr Meister es ihnen befahl. Was sie darunter trugen, war ihnen selbst überlassen, aber mit der Kleidung würden sie bis Mitternacht feiern, deswegen war es meist etwas edles. Dann war es so weit. Graues Licht überflutete den höchsten Punkt der Stadt, als die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwand. Sogleich wurde ein Meer von Flammen entzündet, die mit scharfem, roten Licht die Plattform erhellten und frei durch die Luft schwebten. Dann kamen die Schüler hinauf, in einer Zweierreihe, ganz vorne die jüngsten und kleinsten, ganz hinten die größten und ältesten. Es gab drei Schüler, die noch älter waren als Cinder und Soul, doch sie würden dennoch früher ihren neuen Meistern gegenübertreten müssen. Dann begann Nikolai zu sprechen. Kaum einer hörte ihm wirklich zu. Die Schüler waren zu nervös. Viele Lehrer auch und die meisten Zuschauer waren nicht zum ersten Mal dabei. Schließlich trat Kathlyn vor eine junge Zauberin, die ihre Meisterin sein würde. Die Meisterin sprach den Schwur und das kleine Mädchen wiederholte ihn, lüftete schließlich ihren Umhang und erhielt flüsternd ihren Schülernamen. Das ganze wiederholte sich noch zehn weitere Male, bis – fast am Schluss – Soul an der Reihe war. Auch sie trat vor, ebenso wie Ice, bis sie direkt voreinander standen. »Soul, leiste mir den Eid vor dem Himmel und der Erde. Schwöre mir Treue in guten und in schlechten Zeiten, in Krankheit und in Gesundheit. Schwöre mir Respekt, so wie ich dir Respekt entgegen bringe. Schwöre mir Nachsicht, die ich auch dir zuteil haben lasse. Schwöre mir ewige Liebe, die ich auch…«, Ice biss sich auf die Lippen. Das Kichern, das um ihn herum anhob hörte er gar nicht, aber er wusste wohl, dass jetzt vermutlich auch der letzte Idiot verstanden hatte, was für Gefühle er für Soul empfand, und so beschloss er, dass er nun genauso gut auch weitermachen konnte. »Schwöre mir ewige Liebe, die ich auch für dich empfinde. Schwöre mir, bei mir zu bleiben, bis zu jenem Moment, an dem diese Welt aufhört zu existieren, wie ich es auch dir zu schwören bereit bin. Und schwöre mir, dass du mich heiraten wirst, noch bevor dieses Jahr vorüber ist.« Er war der Einzige, der Souls Gesicht sehen konnte. Er war der Einzige, der das Leuchten ihrer Augen sah, als sie lächelte. Er war der Einzige, der die Träne des Glücks bemerkte, die über ihre Wange glitzerte. Doch alle Anwesenden hörten ihre Antwort, die sie laut und mit klarer Stimme verkündete. »Ich leiste den Eid vor dem Himmel und der Erde! Ich schwöre dir Treue in allen Zeiten, die uns erwarten mögen! Ich schwöre dir Respekt und Nachsicht, wie du beides mir zuteil haben lassen wirst! Ich schwöre dir ewige Liebe, bis zum Ende des Seins! Und ich schwöre dir, dass ich binnen diesen Jahres noch deine Frau bin!« Darauf entbrannte ein Applaus und Begeisterung unter den Zuschauern, denn so etwas hatte es niemals zuvor gegeben. Doch Ice war so in seinem Glück gefangen, dass er es gar nicht merkte. Ebenso wenig, wie er oder Soul die Schattengestalten wahrnahmen, die für einen Moment einen dunklen Kreis um sie schlossen. Er sprach unbeirrt weiter, jedoch schien er in Gedanken schon etwas weiter zu sein. »Dann lege nun deine Kleider… Umhang! Dann lege nun deinen Umhang ab und erhalte von mir deinen Schülernamen!«, rief er zittrig. Soul lüftete ihre Kapuze und entledigte sich des Umhangs, dabei lächelte sie glücklich. Er umarmte sie und flüsterte ihr dabei ihren Schülernamen ins Ohr. Als die beiden Hand in Hand zur Seite gingen, um Lugh Akhtar und Cinder Platz zu machen, leuchteten ihre Augen mehr als jemals zuvor und sie schien so glücklich, wie noch nie. Doch so begeistert die Menge auch war von diesem unerwarteten Heiratsantrag, so wurden sie dennoch wieder still, um den letzten beiden den gebührenden Respekt zu zollen. So traten nun auch die beiden Geschwister voreinander und Lugh Akhtar begann in atemloser Stille zu sprechen. »Cinder, leiste den Eid vor dem Himmel und der Erde!«, seine Stimme klang stark und voll durch die Nacht, die mittlerweile hereingebrochen war. Es gab einige, die über diesen Zustand erstaunt waren, denn für gewöhnlich sprach der junge Zauberer nur sehr leise und unsicher, jedoch verzauberte es diesen Moment noch viel mehr. »Schwöre mir, dass du nur deinem eigenen Herzen treu sein wirst!«, forderte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. Und auch das war nicht gerade der übliche Ablauf, denn auch hier nun erhob sich leises Gemurmel. Doch Cinder lächelte dankbar. Sie hätte nur höchst ungern und widerwillig einen jener Eide gesprochen, die die anderen hatten leisten müssen. Und während sie noch dastand und lächelte, erschienen abermals die Schatten in einem Kreis um sie herum. Nun jedoch manifestierten sie sich mit jeder Sekunde, die verstrich mehr, sodass auch das Gemurmel der Zuschauer immer lauter wurde. »Ich leiste den Eid vor dem Himmel und der Erde und der Winter und ihr Rudel mögen meine Zeugen sein! Ich schwöre, dass ich einzig meinem Herzen treu sein werde!«, rief sie ebenso laut und klar und bestimmt in die Nacht hinaus, und kaum hatte die letzte Silbe ihre Lippen verlassen, da fiel das Rudel des Winters wie eins in einen schaurigen Nachtgesang ein. »Ich habe euren Eid zeuge geleistet«, rief der graue Hauch, die Kälte und machte einen Satz ins Nichts. »Ich habe eurem Eid beigewohnt!«, bestätigte das funkelnde Treiben, der Schnee, und verwehte sich im Nichts. »Ich habe euren Eid angehört und wünsche dem jungen Paar alles Glück der Welt!«, rief die splittrige Wölfin, das Eis, und zerstob in feinen Eisstaub. »Ich werde über euren Eid wachen und schließe mich meiner Vorrednerin an!«, erklärte der kalte Stachelwolf, der Frost, und zersprang ebenfalls. »Ich habe euren Eid vernommen und freue mich darüber, dass ihr zueinander gefunden habt«, sprach die Schimmerwölfin, das Nordlicht, und zerwehte in einem wunderschönen Farbenspiel. »Ich habe eurem Eid zugehört. Ich wünsche meinen Nichten, dass ihr Glück anhalten möge, bis in alle Ewigkeit«, erklärte die Nacht, neigte den Kopf und sprang in den Himmel hinein. Da blieb nur noch die weiße Wolfin. Sie verwandelte sich lächelnd in eine Frau. »Ich werde über euren Eid wachen und hoffe, dass ihr ihn nicht bedenkenlos von euch gegeben habt. Zudem Glückwünsche an das junge Paar. Pass gut auf Soul auf, junger Mann«, lächelte sie Ice an, bevor sie sich Cinder zu wandte. »Und auch dir alles Glück dieser Welt. Wenn du diesen Eid Folge leistest, dann wird dir nichts im Wege stehen«, erklärte sie und wandte sich ihrem letzten Kind zu. »Nun geh auch du deinen Weg und befolge deine eigenen Worte. Damit du niemals wieder an dir selbst und an deinem Herz zu zweifeln wagst.« Und damit verschwand auch sie im Wind, als hätte es sie niemals gegeben. Doch das atemlose Schweigen blieb. »Jetzt entledige dich deines Umhanges, damit ich dir deinen Schülernamen geben kann«, lächelte Lugh Akhtar leise. Seine Schwester nickte und warf den schwarzen Umhang ab. Ihr Bruder trat an sie heran und umarmte sie. »Sternenwanderin ist dein Schülername«, flüsterte er ihr ins Ohr und ließ sie dann wieder los. Sie schaute ihn mit großen, glänzenden Augen an. »Den hat Drafnar mir gegeben«, sagte sie leise. »Ich weiß. Und für jemanden, der über den Himmel läuft, gibt es keinen passenderen«, antwortete er lächelnd. Dann nahm er sie bei der Hand und wandte sich Nikolai und den Zuschauern zu. »Das, was ihr gesehen habt, war der Winter und ihr Rudel. Ich habe euch gesagt, dass es sie gibt. Nun, ich hatte recht«, erklärte er, allerdings war nicht einmal die Spur von Selbstzufriedenheit auf seinem Gesicht zu finden. »Ich glaube, du musst mir einmal genauer erzählen, was dir widerfahren ist«, murmelte Nikolai mit großen Augen. »Ein anderes Mal. Jetzt sollten wir lieber feiern. Unsere neuen Schüler haben es sich verdient«, lächelte Lugh Akhtar und führte Cinder, begleitet von Ice und Soul, die Treppe hinab. Nachdem sich auch der Rest vom gebotenen Anblick wieder halbwegs erholt hatte, feierten sie anschließend bis Mitternacht, so wie es Brauch war. Kapitel 27: Gefangennahme ------------------------- »Cinder? Bist du fertig?« Ungeduldig schritt Lugh Akhtar vor der Zimmertür seiner Schwester auf und ab. Er wartete schon gewiss eine Stunde, dabei hatte er doch vorgehabt, vor der Eröffnung noch dort zu sein, um in Ruhe mit Nikolai sprechen zu können. Seine Schülerin jedoch hatte es ihm so gründlich vereitelt, wie es nur irgend möglich war. Der momentane Stand der Zeit sagte nämlich, dass sie nun die komplette Eröffnung versäumen würden, sollte Cinder sich nicht bald als fertig befinden. »Ja, einen Moment noch!« Seit nunmehr einer Stunde bekam er diese Antwort, doch diesmal hielt sie endlich, was sie sagte, denn nur einen Moment später öffnete sich ihre Tür und sie schritt elegant auf den Gang hinaus. »Na endlich, wir wollten doch schon längst…« Lugh Akhtar hatte sich umgedreht und sogleich blieb ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Hatte er seine Schwester je für schön gehalten, so brauchte er nun ein neues Wort. Sie war einfach nur atemberaubend. Obwohl sie ihr Haar weder zusammengebunden, noch zu einer aufwendigen Steckfrisur gemacht hatte, sondern es wie so oft einfach lose über ihren Rücken fiel, schien es dennoch so, als wäre ihr Haar ein Kunstwerk ohne gleichen. Das Kleid, das sie trug, war aus Samt und in einem dunklen Blau und lag in mehreren Schichten aufwendig miteinander verarbeitet und üppig mit Rüschen besetzt um sie herum. An ihrer linken Seite war es eingeschlitzt und bis auf Hüfthöhe hochgezogen, wo eine Schleife saß. Auch die Ärmel besaßen Rüschen, ebenso wie der Ausschnitt. Um den Hals trug sie ein breites Samthalsband, an dem ihr Halbmond befestigt war und um das Handgelenk ein silbernes Armband, in das die schönsten Steine eingelassen waren, die Lugh Akhtar jemals gesehen hatte. Sie waren dunkelblau, fast schwarz, doch schienen sie in der Tiefe zu leuchten, wie das Meer bei Nacht. »Du hast… Magie verwendet, nicht wahr?«, fragte er zögernd. »Ja«, lachte Cinder und bemerkte das Staunen ihres Bruders mit ausgesprochenem Wohlgefallen. »Wen willst du heute Nacht becircen? Oder willst du mir wirklich erklären, dass du dich nur für dich selbst so hübsch gemacht hast?«, wollte er leise wissen und strich ihr die Haare aus der Stirn um ihren Halbmond zu betrachten. Er wusste nicht wieso, aber er fühlte sich seltsam schuldig, als hätte er mit einer Fackel selbst diese Narbe verursacht. »Du musst nicht immer alles wissen, Lugh Akhtar«, lachte sie und zog ihren Bruder mit sich zur Treppe. »Im Gegenteil, du hättest dir selbst einmal ein paar Gedanken über dein Erscheinungsbild machen können, immerhin wird Nea auch dort sein.« »Sei mal nicht so vorlaut, Schwesterchen. Ich habe mir genug Gedanken um meine Kleidung gemacht«, erklärte er lächelnd. »Und was zwischen Nea und mir ist, das geht dich eher wenig an, mein Herz.« »Natürlich, sie ist ja nur eine Freundin.« Cinders Augen blitzten belustet, als sie dies sagte. Er antwortete darauf nicht mehr, sondern tänzelte leichtfüßig um sie herum, um vor ihr die Treppe zu betreten, ihr die Hand zu reichen und sie galant hinab zu geleiten. »Meinst du, Ice und Soul werden auch beim Ball sein?«, fragte die junge Frau, als sie den Turm verließen. »Ich denke nicht, sie werden anderweitig beschäftigt sein«, lächelte Lugh Akhtar. »Oh, ich freu mich ja so für Soul! Sie hat Ice vom ersten Moment an gemocht, wusstest du das?« Cinder schaute mit glänzenden Augen zu ihm auf. »Nein. Und um ehrlich zu sein hatte ich auch… einmal das Gefühl, dass Ice eigentlich mehr Interesse an dir hätte. Wie sehr man sich irren kann«, antwortete ihr Bruder und führte sie durch die Gassen der dunklen Stadt bis hin zu einem Festsaal, an dem das Sonnenfest gefeiert würde. Sie waren nicht die letzten, die eintrafen, aber es würde nicht mehr viel Zeit bleiben, bis das Fest offiziell eröffnet würde. Gemeinsam traten sie ein, und wieder erwarten entdeckte Lugh Akhtar Ice fast sofort. Soul sah er zwar nicht, doch war er sich ziemlich sicher, dass auch sie irgendwo zugegen war. Stattdessen stand Sly bei seinem Freund und sie sprachen leise miteinander. »Hallo ihr zwei. Wo sind Nea und Soul?«, fragte der junge Zauberer, als er bei ihnen ankam. »Weiß ich nicht, sie sind sofort miteinander verschwunden«, antwortete Sly, dabei hörte sich seine Stimme ausgesprochen aggressiv an. »Was ist passiert?«, wollte Lugh Akhtar sogleich alarmiert wissen. »Oh, was soll denn schon geschehen sein? Nur, dass einige Ice gestern erkannt haben. Mit dieser irrsinnig blöden Aktion hat er die Aufmerksamkeit so sehr auf sich gezogen, dass gestern bestimmt zwanzig verschiedene hochrangige Zauberer bei Aaron waren und ihn darauf aufmerksam gemacht haben, dass ein Verbannter sich in ihrer Mitte befindet. Dass sie ihn verhaften ist nur noch eine Frage der Zeit«, erklärte Sly angespannt. »Hat dich einer erkannt?«, fragte der junge Zauberer scharf. »Nein, ich bin ja nicht ganz so scharf darauf, wieder zurückzugehen, wie jemand anderes«, erklärte der ehemalige Rotschopf mit einem wütenden Seitenblick auf Ice. »Nein Sly, hierfür entschuldige ich mich nicht«, antwortete der bissig. »Ruhig Jungs«, ging Cinder dazwischen. Sie wirkte nachdenklich. »Was geschehen ist, ist geschehen, es ist egal. Überlegt lieber, was wir nun tun. Ich suche Soul und Nea, und ihr bleibt hier und versucht nicht irgendwohin verschleppt zu werden.« Damit verschwand sie in der Menge. »Sie hat Recht. Geschehen ist geschehen, und nicht einmal wir können die Zeit zurückdrehen. Ich werde zu Nikolai gehen und mit ihm reden«, erklärte er ruhig. »Was tun wir, wenn sie jetzt kommen?«, fragte Sly unruhig und schaute sich um. »Die Hochmagier werden nicht so dumm sein und eine Verhaftung beim Sonnenfest befehlen. Sie werden warten, bis das Fest vorbei ist und solange jeden Ausgang bewachen denke ich. Solange bist du sicher, Ice.« Lugh Akhtar schaute fest in die grünen Augen seines Gegenübers. »Und was machen wir solange, wie das Fest im Gange ist?«, fragte er mit leicht zittriger Stimme. »Feiern. Nicht auffallen. Nikolai wird es gleich beginnen und solange er von so vielen Leuten umringt ist, kann ich gar nichts tun. Wir müssen warten, ein paar Stunden lang«, erklärte er und lächelte beruhigend. Da traten die drei jungen Frauen zu ihnen. »Feiern? Jetzt?«, fragte Nea besorgt. »Ja. Damit sind wir am unauffälligsten«, erklärte er und führte sie davon. Er überließ es Sly und Ice Cinder und Soul ihren Möchtegernplan zu verraten. Er fühlte sich lange nicht so sicher, wie er tat, aber er wusste dennoch, dass er recht hatte. So schaute er möglichst zufrieden zu Nikolai auf, als der die Bühne betrat und alle Gäste herzlich begrüßte. Er sprach mit verschiedenen Leuten und gab sich dabei betont ruhig und verträumt, so wie man den jungen Schüler Makani kannte. Er tanzte mit dem einen oder anderen Mädchen, bis er die Maske zu tragen irgendwann leid war. Er suchte Nea. »Komm mit«, bat er sie und führte sie ohne ein weiteres Wort auf den Balkon und von dort aus weiter in den Garten. »Da drinnen war es mir zu stickig«, erklärte er, als sie gemeinsam durch den großen Garten schlenderten. »Mach dir nicht zu viele Sorgen wegen Ice. So wie ich Hope kenne, hat er ihn schon wieder in ein blaues Huhn verwandelt oder so, und stellt ihn jetzt den Mächtigsten vor«, lächelte Nea und hakte sich bei ihm ein. »Ja, das würde zu ihm passen, aber ich denke, dass auch er weiß, dass eine Verwandlung zu viel Aufsehen erregt. Selbst hier im Garten würde es irgendwer bemerken und dann würden sie nicht mehr das Ende der Veranstaltung abwarten«, warf Lugh Akhtar ein. »Stimmt auch wieder. Wenn so viele Zauberer beisammen sind spürt man jede kleinste Regung der Magie. Und wenn du die Magie des Winters nutzt?« Sie schaute ihn fragend an. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber leider spüren sie es ebenfalls. Ich denke, es würde sogar noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als ich einen kleinen Zauber verwandte, da berichtete mir eine Schülerin davon, dass sie eine ganz seltsame Magie gespürt habe.« Er seufzte. »Wenn es nicht so grausam wäre, würde ich lachen.« »Das Leben als solches ist grausam, das solltest doch gerade du wissen«, antwortete Nea und schaute in den Himmel. »Weiß ich wohl, aber es fängt gerade an, mir wirklich zu gefallen«, bemerkte der junge Zauberer und schaute ebenfalls gen Sternenmeer. »Wieso das?«, erkundigte sich Nea und er spürte, dass sie ihn fragend von der Seite her anschaute. »Wegen…« Er zögerte einen Moment, bevor er sich direkt vor sie stellte. »Nea, ich muss dir etwas sagen.« »Ja…?«, fragte sie und schaute ihn neugierig aus ihren wunderschönen Augen an. »Nea, ich habe lange nachgedacht. Über dich und mich und…« Er wusste nicht, wie er das, was er sagen wollte, am besten in Worte fasste. »Was ist mit dir und mir?« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Nea, es ist so, ich wusste damals einfach nicht, was ich sagte. Ich habe einfach irgendetwas gesagt, ich war so ein…« Weiter kam er nicht, denn sie schaute erstaunt an ihm vorbei. »Sind das nicht Hope und Cinder?« Völlig aus dem Konzept gebracht blinzelte er erst ein paar Mal, bevor er sich umwandte. Und wirklich, seine Schwester tänzelte gemeinsam mit Neas Bruder durch den Garten. »Ja, das sind sie, aber Nea, was ich dir eigentlich sagen will…« Und wieder ließ sie ihn nicht ausreden. »Was tun sie hier?« »Das ist doch nicht wichtig«, versuchte er ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. »Doch, das ist es. Ich möchte wissen, was sie hier tun«, erklärte Nea und folgte ihrem Bruder leise. »Nea, das sollten wir aber eigentlich nicht… Ich meine, es gehört sich nicht…«, versuchte er sie davon abzuhalten. »Ich will sie nur fragen, warum sie hier durch den Garten laufen, statt ein Auge auf Ice zu haben«, antwortete die junge Frau barsch und deutete ihm still zu sein. Und Lugh Akhtar fügte sich seufzend. So schlichen sie ihren Geschwistern nach, um schon nach kurzer Zeit zu hören, dass sie sich offensichtlich stritten. Nun wurde auch er neugierig und so setzte er noch behutsamer die Schritte, bis nur noch ein paar Büsche sie voneinander trennten. Sie lugten gemeinsam drum herum und lauschten gespannt. »Aber warum, Sly?«, fragte Cinder gerade in einem fast schon verzweifelten Ton. »Es hat nichts mit dir zu tun«, antwortete Sly aufgebracht. »Muss es ja! Warum sagst du es mir nicht einfach? Ist es, weil ich von eurer Welt nichts verstehe? Weil du mich nicht leiden kannst?« Tränen glitzerten in ihren Augen. »Nein Cinder! Es hat wirklich nichts mit dir zu tun, sondern es ist…« Er biss sich auf die Lippen, schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Ja? Los, lass es raus, dann belastet es deine Seele nicht mehr.« Ihre Stimme wurde lauter und sie schaute ihn so flehentlich an, dass Sly für einen Moment nichts tat, als sie anzusehen. »Nein Cinder, es liegt wirklich nicht an dir. Ich kann einfach nicht, ich… Verdammt, ich bin doch viel zu alt für dich. Ich hatte eine Tochter, die könnte deine kleine Schwester sein.« Auch er wurde lauter und wirkte ebenso verzweifelt, wie auch sie. »Aber das ist doch egal! Sie ist nicht meine Schwester! Und was macht denn schon ein Alter aus, es ist doch nur eine Zahl! Ice und Soul stört es doch auch nicht!«, schrie sie ihn an. »Ice hatte auch niemals Kinder! Cinder, ich könnte sie nicht vergessen! Niemals, egal, was auch immer du tun würdest. Das würde immer zwischen uns stehen!« »Du sollst sie auch nicht vergessen! Du sollst mich nur lieben! So wie ich dich liebe!« Ein Sturzbach von Tränen rann ihre Wangen hinab. »Aber das tue ich! Schon seitdem ich dich das erste Mal traf! Aber ich darf es nicht, es wäre nicht richtig! Du gehörst in eine so völlig andere Welt als ich.« Er schaute sie an, wie ein verdurstender ein Glas Wasser. »Ich habe meine Welt hinter mir gelassen, um deine kennen zu lernen.« »So meine ich das nicht, und das weißt du genau. Es steht einfach zu viel zwischen uns, als dass es gut gehen könnte.« »Lass es doch auf einen Versuch ankommen!« »Ich brauche keinen Versuch. Cinder, alle Beteuerungen zum Trotz weiß ich, dass es dich irgendwann stören wird. Meine Vergangenheit, mein Leben, bevor wir uns trafen. Alles, was ich war und alles was ich bin entsteht dieser Zeit, das könntest du niemals verstehen!« »Wie kann ich dir beweisen, dass es nicht so ist?« Ihre Tränen waren versiegt, stattdessen war die Kämpferin in ihr erwacht. »Das kannst du nicht. Es gibt nichts, was du mir geben könntest, um…«, begann er, doch sie unterbrach ihn bestimmt. »Sternenwanderin.« »Was?«, fragte er verdutzt. »Das ist mein Schülername. Lugh Akhtar hat gesagt, dass man ihn nur denen verraten darf, denen man mehr vertraut, als sich selbst. Er verleiht dir die Macht über mich, ich bin dir ausgeliefert. Mein Körper, meine Seele und mein Herz, das alles gehört nur dir«, erklärte sie so betont sachlich, dass es fast schon kroteskt wirkte. »Cinder, aber das kannst du nicht… Ich meine, ich…« Sly starrte sie aus großen Augen einfach nur fassungslos an. »Ich liebe dich. Mehr als alles auf der Welt. Mir ist egal, was einmal war, solange ich nur deine Zukunft bin«, flüsterte sie leise. »Cinder…« Eine einzelne silberne Träne lief Sly über die Wange, als er sie anschaute. In seinem Blick war unendliches Glück Hand in Hand mit purer Todesangst zu sehen. Sie sagte nichts mehr, sondern schaute ihn nur flehentlich an. »Ich liebe dich so sehr…« Mit einem Mal lächelte er und war mit einem großen Schritt bei ihr, nur um sie fest in den Arm zu nehmen. »Du bist nun meine Zukunft«, flüsterte er und küsste sie zärtlich. Danach blieben sie eine ganze Weile Arm in Arm gemeinsam stehen und schauten sich glücklich an, bevor sie beschlossen, wieder zurück zu gehen. Dazu mussten sie an Lugh Akhtar und Nea vorbei, doch während der junge Zauberer noch damit beschäftigt war, seine Gedanken zu ordnen, reagierte die junge Frau schon und schubste ihn derb ins Gras, nur um dann ungeschickt umzuknicken und auf ihn zu fallen. Für einen Moment blieben sie so atemlos liegen, bis sich die Schritte entfernt hatten, dann jauchzte Nea glücklich auf. »Oh, ich hab es doch gewusst! Sie sind so ein schönes Paar und es wurde wirklich einmal Zeit, dass Sly Lioba endlich vergisst«, plapperte sie los, doch legte Lugh Akhtar lächelnd einen Finger auf ihre Lippen um sie zum Schweigen zu bringen. Dann zog er sie noch ein wenig mehr zu sich heran. »Darf jetzt auch endlich ich einmal einen Satz zu Ende bringen?«, fragte er, während er sie liegend im Arm hielt. »Aber Lugh Akhtar, ich weiß doch, was du sagen willst«, flüsterte sie und lächelte. »Ja?«, fragte er erstaunt. »Natürlich, das ist doch klar.« »Dann bin ich aber froh… Du musst wissen, dass ich schon seit Tagen am überlegen bin, aber mir ist einfach nichts Gutes eingefallen, das klingt alles so abgedroschen habe ich das Gefühl und…«, plapperte er glücklich los, wurde aber schon wieder von ihr unterbrochen. »Ich weiß doch, dass du mich nicht liebst. Aber immerhin können wir gute Freunde sein, oder?« Ihr Lächeln war traurig, und was sie sagte ließ jenes von Lugh Akhtar auf den Lippen gefrieren. Aber genau das Gegenteil hatte er ihr doch sagen wollen! »Nein, Nea, da hast du etwas…« Und schon wieder konnte er nicht aussprechen, doch diesmal war es nicht sie, die ihn unterbrach, sondern eine Explosion vom Festsaal her. Erschrocken starrten sie beide in die entsprechende Richtung, um dann aufgeregt aufzuspringen und zurück zu laufen. Sie stürmten gerade noch rechtzeitig in den Saal, um zu sehen, wie gleich drei Zauberer Ice festhielten, der sich wehrte, wie ein Löwe. Doch gegen die dreifache Übermacht und noch dazu verletzt, hatte er nicht die geringste Chance, das war von vorn herein klar. Da trat ein Mann vor, der sich mit einem selbstgefälligen Lächeln vor Ice aufbaute. »Der Eiswolf ist wieder da, wie hast du es denn über die Mauer geschafft?«, spottete er. Eine Antwort erhielt er nicht, jedoch schien er auch keine zu erwarten, denn sein Lächeln hielt an. »Nun, das werden wir auch noch in Erfahrung bringen, genauso wie den Fundort deiner Liebsten. Schon interessant, dass die Liebe solch kluge junge Männer zu so dummen Dingen treibt… Aber umso besser für uns. Eiswolf, ich nehme dich im Namen der Hochmagier und des Gildenmeisters fest! Dir wird abermals ein Mord angeklagt!«, verkündete der Kerl mit lauter Stimme. Wie sie Ice abführten konnten sie nur noch hilflos mit ansehen. Nicht einmal gemeinsam hätten sie hier, inmitten der versammelten Zaubererschaft eine Chance gehabt. So versuchte es Lugh Akhtar gar nicht erst. Stattdessen schaute er sich hektisch um, doch Soul sah er nicht. Stattdessen jedoch fiel sein Blick auf Sly, der voller Hass dem Mann hinterher schaute. Langsam trat der junge Zauberer zu seinem Freund. »Wir werden Ice da schon wieder rausholen, keine Sorge«, flüsterte er ihm beruhigend zu. »Das war er.« Sly schien seine Worte nicht einmal gehört zu haben. »Wer war das?«, fragte Nea leise, die ebenfalls dazu gekommen war. »Ich habe seine Stimme erkannt. Er ist es«, sprach Sly leise weiter, ohne auch nur bemerkt zu haben, dass er angesprochen wurde. Seine Stimme war kalt wie Eis, als er fortfuhr. »Der Kerl, der mich damals dazu gezwungen hat, die Schuld auf mich zu nehmen. Der Kerl, der vermutlich auch Namida getötet hat.« Kapitel 28: Flucht aus Altena ----------------------------- »Sein Name ist Rex. Er ist der Chef einer kleinen Gruppierung, die sich >Weiße Lilie< nennt. Allerdings wusste niemand, mit dem ich gesprochen habe, was sie genau tun.« Lugh Akhtar lehnte sich nachdenklich an die Wand. »Rex ist der ehemalige Schüler einer Hochmagierin namens Letetzia. Er ist für die Sicherheit in Altena verantwortlich, nachdem du es einmal fast zerstört hast«, fügte Aaron sein Wissen hinzu. »Was vermutlich auch der Grund ist, warum er tun und lassen kann, was er will, ohne dass irgendwer nachfragt.« Der junge Zauberer seufzte. »Und Soul?«, fragte Cinder leise aus einer Ecke. »Keiner hat sie seit der Feier wieder gesehen, aber das ist nicht einmal der schlechteste mögliche Fall. Wenn sie niemand gesehen hat, hat man sie zumindest nicht gefangen.« Auch Lugh Akhtar machte sich sichtlich Sorgen um seine Schwester, so versuchte er sich selbst zu beruhigen. »Was tun wir jetzt?«, fragte Nea leise und schaute ängstlich zu ihrem Bruder hinüber. Sly hatte seit dem Abend nicht ein Wort von sich gegeben, sondern nur vor sich hingestarrt. »An Rex kommen wir so leicht nicht heran. Stattdessen sollten wir versuchen, etwas über die >Weiße Lilie< herauszubekommen. Vielleicht hilft uns das ja weiter«, überlegte der junge Zauberer. »Denke ich auch. Ich werde mal ein bisschen meine Beziehungen spielen lassen, irgendwer muss doch etwas über sie wissen.« Aaron verließ gedankenversunken den Raum. »Komm Cinder, wir gehen zu Nikolai.« Lugh Akhtar stieß sich von der Wand ab. »Meinst du, er wird dir etwas sagen können?« Nea schaute ihn zweifelnd an. »Nein, aber vielleicht kann ich ihn dazu überreden, dass ich mit den Hochmagiern sprechen darf, bevor sie Ice verhören.« Er deutete seiner Schwester mitzukommen. »Eigentlich kann ihm doch nichts passieren. Sie werden ihn doch höchstens wieder verbannen, oder? Ich meine, das ist hier doch die schlimmste Strafe…«, murmelte Cinder. »Leider nicht zwangsläufig. So etwas wie das hier gab es noch nie. Normalerweise kommen Verbannte nicht von jenseits der Mauer wieder zurück. Es ist ein wahres Wunder, dass sie mich und Nea bisher in Ruhe gelassen haben, aber vielleicht denken sie auch, dass wir gar nicht wirklich drüben waren. Es ist auch egal. Tatsache ist einfach, dass es durchaus Regelungen gibt, für den Fall, dass ein Verbannter zurückkehrt«, antwortete ihr Bruder und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er darüber gar nicht glücklich war. »Wieso, was werden sie mit Ice machen?« »Wenn er nicht wirklich verdammt gute Beweise hat, dass er damals unschuldig war, und auch noch eine gute Begründung, warum er wieder hier ist, dann werden sie ihm seine Magie nehmen.« »Aber dann ist er doch immer noch ein Mensch, genauso wie Tariq. Das ist doch nicht ganz so schlimm.« Cinder merkte wohl, dass da mehr hinter steckte. »Wenn es denn so einfach wäre… Ich habe es einmal erlebt als ich fünfzehn war. Da war ein Gefangener, er war zu mächtig, als dass sie mit ihm fertig wurden, da hat Nikolai ihm seine Magie genommen. Selbst der einfachste Mensch trägt Magie bei sich, wenn du sie völlig von einem Menschen nimmst, dann zerstörst du ihn damit. So kann er einfach nicht leben, es ist ein Zustand, den es einfach nicht geben kann. Er wurde von der Magie zerfetzt, sie wollte nichts in ihrer Gegenwart, was ihr so fremd ist«, flüsterte Lugh Akhtar. »Nikolai hat ihn also getötet?« »Er hat das Messer angesetzt, den tödlichen Streich führte ein anderer aus, deswegen belangt man ihn deswegen nicht. Er ist der Einzige, der es kann, nur der Gildenmeister hat die Macht dazu.« Sie waren auf dem großen Platz angekommen, der den Turm umgab. Ohne, dass einer von ihnen Notiz nahm, betraten sie den Turm und stiegen ganz nach oben hinauf. Lugh Akhtar machte sich nicht einmal die Mühe zu klopfen, dass hatte er als Schüler auch nie getan. »Nikolai, ich muss…«, weiter kam er nicht, da blieb ihm der Rest des Satzes im Halse stecken. Ausgerechnet Rex stand bei Nikolai und schien so gar nicht erfreut über die Störung. »Wenn man vom Teufel spricht«, knurrte er stattdessen und musterte ihn abschätzig. »Wieso, was ist mit mir?« Unwillkürlich spannte sich der junge Zauberer. Seine Gedanken rasten, was tat der Mann nur hier? »Makani, komm rein und schließ die Tür«, bat Nikolai. Er wirkte so seltsam alt, wie jemand, der eigentlich nur seine Ruhe haben wollte, aber dennoch immer wieder mit unsagbaren Grausamkeiten konfrontiert wurde. »Was ist los?«, fragte Lugh Akhtar noch einmal eindringlich, nachdem er Cinder herein gewunken und sie die Tür geschlossen hatte. »Nun, der Gefangene von Gestern, der Eiswolf. Er hat nach dir gefragt. Er sagte, dass es wichtig sei«, seufzte Nikolai. Der junge Zauberer wusste sofort, was das hieß, und auch, warum Rex jetzt hier war, dazu musste er das dreckige Grinsen nicht sehen. »Dann werde ich mit ihm sprechen.« Er tat dennoch so, als verstünde er nicht. »Makani… Er wollte wirklich nur mit dir sprechen. Und du bist hinter der Mauer gewesen. Du hast ihn mitgebracht«, erklärte Nikolai müde. »Und selbst wenn? Was ist daran falsch?« »Er ist ein Verbannter, du hast einem Verbannten beim Ausbruch geholfen!«, brüllte Rex triumphierend. »Er ist unschuldig!«, widersprach Lugh Akhtar scharf. »Und das weißt du vermutlich noch besser, als ich.« »Wieso?«, fragte Rex misstrauisch. »Namida Jarek, sagt dir der Name etwas?« Nicht eine Regung im Gesicht seines Gegenübers. »Wer soll das sein?«, fragte Rex stattdessen und wirkte wirklich verwundert. »Und Hope Jarek?« Als Lugh Akhtar diesen Namen aussprach erhielt er die passende Reaktion. Rex wusste, wer Sly war. »Das sind alte Geschichten, was haben sie mit dem Eiswolf zu tun? Und mit deinem Verrat an die Zaubererschaft?«, knurrte Rex. Er wusste, dass er sich verraten hatte. »Er hat Recht, Makani«, stimmte auch Nikolai zu. Er hatte das Zucken nicht bemerkt. »Eine Menge. Was genau macht die >Weiße Lilie< eigentlich?« Und wieder zuckte es in Rex’ Gesicht. Seine Augen sprachen von Hass und dem Versprechen, sich zu rächen. »Nikolai, er sollte jetzt an Stelle des Eiswolfs im Kerker sitzen, er kann uns nämlich bestimmt eine Menge erzählen«, lächelte Lugh Akhtar triumphierend. Da fiel ihm der Rabe auf, der auf der Fensterbank saß, ihn mit großen, roten Augen fast schon entsetzt anstarrte und hektisch den Kopf schüttelte. Ikaika, aber was tat er hier? Und was wollte er ihm sagen? Etwa, dass Rex unschuldig war? »Erkläre dich bitte, was meinst du?«, erkundigte sich Nikolai verwundert. »Ich meine, dass jene Anschuldigungen, für die der Feuerfuchs und der Eiswolf verbannt wurden, eigentlich jene sein müssten, die man Rex unterstellt. Sie sind unschuldig, er ist hier der Bösewicht.« Lugh Akhtar konnte nun einfach nicht mehr zurück. Nun kam es einfach nur noch darauf an, wem Nikolai für den Moment mehr glauben würde. Da schüttelte der Rabe noch heftiger den Kopf und voller Schmerz stieß er sich ab und flog davon. »Makani! Hast du auch nur einen einzigen Beweis für diese Anschuldigungen?«, rief Nikolai entsetzt heraus. »Ich… ja, natürlich. Das Wort vom Eiswolf und dem Feuerfuchs und…« Ikaikas seltsames Verhalten hatte ihn so verwirrt, dass er nun stockte und den Faden nicht mehr fand. »Das Wort von Verbannten«, antwortete Rex abschätzig. »Das Wort von Freunden«, widersprach Cinder böse. Seine Schwester hatte Lugh Akhtar mittlerweile völlig vergessen. »Wenn es nicht mehr ist…« Rex zuckte lachend die Schultern. »Sag uns, was die >Weiße Lilie< macht.« Der junge Zauberer wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, noch einmal aus der Sache raus zukommen. Im ersten Moment schien es, als wollte Rex nicht antworten. Er ging ans Fenster, schaute nachdenklich hinaus, bis er auflachte und sich umwandte. »Jetzt ist es auch egal, es hat angefangen«, erklärte er grinsend. Er wandte sich zum Gildenmeister um und zuckte mit den Schultern. »Er hat recht, die Morde gehen auf das Konto der >Weißen Lilie<. Aber daran bist du nicht ganz unschuldig, alter Mann. Du hast die Vereinigung einst gegründet, aber du hast niemals gewagt, sie zu Ende zu führen.« »Ich habe was getan…?« Nikolai schaute ihn fast schon entsetzt an. »Wir heißen jetzt anders, aber den Grundstein, den Tod selbst besiegen zu wollen, den hast du gelegt«, grinste Rex. Da zerbrach etwas im Meister der Zauberergilde. »Das heißt, du wolltest die Toten wieder zum Leben erwecken?«, fragte stattdessen Lugh Akhtar. »Ja. Alle Toten gehen auf unser Konto, es hat leider bei keinem geklappt. Beim König von Lanta immerhin fast, aber nun gut, jetzt ist es auch egal. Wir haben keine Lust mehr, uns zu verstecken, deswegen werden wir jetzt Altena übernehmen. Damit wir uns in aller Ruhe unseren Forschungen widmen können, ohne das Ganze immer noch geheim zu halten. Außerdem wollte ich immer schon Gildenmeister werden«, lächelte Rex selbstzufrieden. »Aber wie kannst du nur…« Langsam nur wurde ihm das ganze Ausmaß der Sache bewusst. »Nikolai wird nun brav Abdanken und mich zu seinem Nachfolger machen. Und ihr beide, genauso wie Nea und ihr seltsamer Freund, ihr alle landet im Kerker. Keiner wird glauben, was ihr erzählt, wenn bekannt wird, dass ihr Verbannten geholfen habt«, lächelte Rex und kam langsam auf sie zu. Da erschienen mit einem Mal Kanoa und Nalani. Sie stürzten sich auf Rex, während Cinder, viel geistesgegenwärtiger als ihr Bruder, ihn bei der Hand ergriff und zum Fenster zerrte. »Fliegen!«, rief sie und kletterte schon auf die Fensterbank, da begann Lugh Akhtar wieder zu funktionieren. »Flieg vor, ich kann Nikolai nicht hier lassen!«, rief er und stürzte zu seinem Meister. Aus dem Augenwinkel gewahr er die hübsche Schneeeule, die sich ebenfalls auf Rex stürzte. Soul hatte also recht gehabt, auch er war einer der Dreizehn. »Komm mit!«, rief er und zerrte seinen Meister mit sich. »Aber der Weg durch den Turm ist viel zu lang, das schaffen wir nicht«, antwortete er seltsam ruhig. »Wir fliegen!«, antwortete Lugh Akhtar und schubste ihn zum Fenster. »Ich bin nicht du! Ich kann nicht fliegen!« Nikolai starrte ihn fast schon entsetzt an. »Komm mit!« Der junge Zauberer wusste nicht, wie lange die drei Schutzgeister Rex aufhalten konnten. Er sprang zu Cinder auf die Fensterbank und zerrte seinen Meister mit sich hinauf. »Das überleben wir nicht!«, rief der, doch da hatte Lugh Akhtar schon die Hand seiner Schwester gegriffen und ließ sich ebenso fallen, wie er sich auch hat fallen lassen, als sie von der Mauer hinunter kommen wollten. Dabei riss er die beiden anderen mit sich. »Makani!«, brüllte Nikolai, doch da begannen ihre Gestalten sich schon zu verändern. Nur Sekunden später schwebte die Wanderfalkin gemeinsam mit dem Gerfalken und einer Waldohreule über den Himmel. »Makani, was hast du getan?«, rief der alte Meister voller Staunen. »Dir dein Leben gerettet. Und jetzt müssen wir zu Nea und Sly!«, antwortete der Gerfalke. »Schaffst du das alleine? Ich will Ikaika suchen, ich möchte wissen, was er hier tut!«, rief die Wanderfalkin und drehte schon ab. »Wir treffen uns später außerhalb der Stadt«, rief Lugh Akhtar ihr noch nach, bevor er zur äußeren Mauer flog. »Ikaika?«, rief Nikolai erstaunt über das Wehen des Windes hinweg. »Ja! Glaub mir, das ist eine lange Geschichte!«, antwortete der junge Zauberer. Binnen weniger Minuten standen sie wieder in Menschengestalt vor Roses Haus und hörten laute Stimmen im Innern. Ohne zu zögern stürmte Lugh Akhtar hinein. Mit einem einzigen Blick nahm er wahr, was vor sich ging. Aaron lag verletzt am Boden, zwei Zauberer hielten ihn nieder, Rose saß mit ihren Töchtern in einer Ecke und versuchte die Mädchen zu beruhigen. Sly hatte sich in seiner Wolfsgestalt auf einen Mann gestürzt und zerfleischte gerade seinen Arm, während Nea versuchte, sich dem Griff eines Mannes zu entwinden. »Hört auf, lasst sie los!«, brüllte der junge Zauberer und stürmte auf den Kerl zu, der Nea festhielt. Jedoch wurde er sogleich von zwei Männern aufgehalten, die sich auf ihn stürzten, und denen war er nicht gewachsen. »Lugh Akhtar!«, brüllte Nea und weinte, als sie ihn sah. Dabei kämpfte sie noch ärger gegen ihren Peiniger an. In dem Moment schaffte es ein weiterer Mann, Sly mit einem Knüppel niederzustrecken. Er blieb still liegen, während Blut sich um ihn herum ausbreitete. »Lasst sie los! Verschwindet hier!«, brüllte auch der junge Zauberer und kämpfte verzweifelt gegen die starken Arme an, die ihn festhielten. Dass er ein Zauberer war hatte er für den Moment völlig vergessen, er versuchte es mit roher Gewalt. »Wegbringen!«, brüllte ein weiterer Mann über den Kampflärm hinweg. Da zerrten sie Nea mit sich, die immer lauter schrie und immer mehr Tränen weinte. Sie war schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden, da geschah es. »NEA!«, brüllte Lugh Akhtar, während die Magie um ihn herum regelrecht explodierte. Sie schleuderte die Männer von ihm weg, fegte alle Feinde regelrecht an die Wand, während sie seine Freunde völlig unberührt ließ. Und es geschah noch mehr. Mit einem Mal bewegte sich nichts mehr. Nicht die Männer, die zuvor noch langsam an der Wand hinabgerutscht waren, nicht Rose oder ihre Töchter, die sich eng aneinander gedrückt hatten, nicht Aaron, der eben noch versuchte, aufzustehen. Nur noch Lugh Akhtar und Nea, die sich weinend in seine Arme stürzte. »Ich liebe dich.« Es war der wohl unpassendste aller möglichen Momente, aber dennoch sprach der Zauberer nun endlich aus, was er der jungen Frau solange schon sagen wollte. »Ich liebe dich Nea. Vom ersten Moment, als ich dich sah. Ich wollte es dir die letzten Tage schon sagen, aber irgendwie lief alles so falsch. Aber es ist so, ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt. Und wenn du es wünscht, so werde ich bei dir bleiben, bis zum Ende der Welt!« Sie schaute ihn aus ihren verweinten, roten Augen erstaunt an. »Und ich dachte…«, flüsterte sie, doch dann lächelte sie glücklich und nickte. »Gemeinsam bis ans Ende der Welt.« Auch Lugh Akhtar lächelte. Er schloss sie fest in seine Arme, während die Zeit um ihn herum wieder zu laufen begann. »Was… war das?«, fragte Aaron langsam und schaute auf die Zauberer. »Das erklär ich euch alles später. Nun sollten wir hier verschwinden.« Alle Angst und alle Anspannung waren von Lugh Akhtar gewichen. Er sah einfach nur unbeschreiblich glücklich aus, als er sich zu Neas Familie umwandte. »Aber wohin sollen wir gehen? Und es wird uns sowieso jeder aufhalten«, weinte Rose. »Kommt mit mir, wir müssen hier erst einmal weg. Dass uns niemand aufhält, dafür sorge ich schon«, antwortete der junge Zauberer und deutete ihnen aufzustehen. »Makani, wir können aber nichts mehr tun. Er wird uns verfolgen«, warf Nikolai ein. »Vielleicht, aber wir können es immerhin versuchen. Woher wollt ihr wissen, dass alles schief geht, wenn ihr es nicht einmal versucht?« Er lächelte und ging zu Sly, der immer noch leblos auf dem Boden lag. »Was ist mit ihm?«, fragte Nea ängstlich und kam ebenfalls zögernd näher. »Er ist nur bewusstlos, keine Angst.« Der junge Zauberer versuchte den Fuchswolf anzugehen, doch hatte er kaum eine Chance. Sly war viel zu schwer, doch gemeinsam mit Aaron schafften sie es. »Und nun kommt mit. Wir werden außerhalb der Mauer irgendwo auf Ikaika und Cinder treffen und dann machen wir uns erst einmal aus dem Staub«, erklärte Lugh Akhtar. Gemeinsam trugen sie den Fuchswolf hinaus, dass Sly in der Zeit wieder zu sich kam war ihr Glück. Hätten sie ihn nennenswert weiter schleppen müssen, wären sie zu sehr aufgefallen. »Er möchte wissen, was geschehen ist«, sagte Nea, als sie ihn gerade absetzten. »Später«, antwortete Lugh Akhtar, grinste ein wenig und verwandelte die anderen mit einer Handbewegung ebenfalls in Wölfe. »Jetzt kommt, so können wir hier verschwinden«, erklärte er und lief voran durch die engen Gassen der Stadt. Kapitel 29: Zusammenfinden -------------------------- »Dann wusstest du, dass es Rex ist…« Lugh Akhtar seufzte und schaute Ikaika entschuldigend an. »Ich habe dich nicht gesehen, sonst hätte ich meine Klappe gehalten.« »Da er auch Nea zur gleichen Zeit hat angreifen lassen, glaube ich nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Früher oder später hätte er auch dich offen angeprangert, so war es nur ein wenig früher«, winkte der Zauberer ab. »Aber vielleicht hätten die paar Tage gereicht, ihn doch noch zu Fall zu bringen.« Verbittert schaute der junge Zauberer zu Boden. »Das werden wir jetzt nicht mehr herausfinden, du hast ihm ja sehr deutlich auf die Nase gebunden, dass du alles weißt«, meinte Cinder und drückte sich noch ein wenig enger an Sly. »Keiner von uns hat mit solchen Ausmaßen gerechnet, denke ich«, mischte sich Aaron ein, der die schlafende Kathlyn in den Armen hielt. »Nein, das nun wirklich nicht. Aber was meinte Rex, als er sagte, dass du den Grundstein gelegt hast?« Fragend schaute Lugh Akhtar zu seinem Lehrer, der ein wenig abseits saß und sich offensichtlich sehr fehl am Platz vorkam. »Das ist eine lange Geschichte und sie ist nicht sehr spannend«, seufzte der Meister. »Jede Information könnte uns nützen«, bemerkte Rose und drückte ihre jüngere Tochter noch enger an sich. »Soll ich vielleicht…?«, fragte Ikaika, nachdem Nikolai einfach schwieg. »Wenn du es möchtest…« Man sah dem alten Zauberer das schlechte Gewissen deutlich an, als er zu Ikaika schaute. »Das ganze liegt schon ein paar Jahre zurück… Ich denke, außer Sly, Rose und Aaron war keiner der hier Anwesenden schon am Leben. Ich war dabei, und Nikolai und auch Kanoa Kuroi. Nikolai war damals noch nicht der Meister der Gilde, aber als Hochmagier war er schon tätig, und Kanoa war auch schon nicht mehr wirklich sein Lehrling… Nun, jeder von uns dreien hatte den einen oder anderen Verlust zu beklagen… Nikolai den Tod von Ria, bei mir war es meine kleine Nichte und Kanoa… Ich weiß es nicht, er hat niemals zuviel über sich erzählt. Tatsache ist aber, dass wir alle drei den Tod selbst besiegen wollten, also haben wir angefangen zu experimentieren. An Leuten, die schon tot waren, für uns musste niemand extra sterben…« Ikaika erzählte das Ganze völlig sachlich, keine Emotionen schwangen in seiner Stimme mit. Dagegen zeigte sich auf Nikolais Gesicht ein solcher Schmerz, wie Lugh Akhtar ihn niemals zuvor gesehen hatte. »Ihr habt nekromantische Experimente gemacht?« Völlig fassungslos starrte Sly auf die beiden Zauberer. »Ja. Ich leugne es nicht, das habe ich niemals, aber deswegen hat mich auch niemals jemand angeklagt. Wir haben auch einige Fortschritte gemacht, wenn die >Weiße Lilie< unser Wissen hätte, dann hätte der König gewiss nicht sterben müssen. Kanoa auf jeden Fall war der Erste, der seine Bedenken kund tat. Er wollte nicht mehr, er wollte aussteigen, er fand, dass es den Toten unwürdig sei, dass wir ihre Leichen regelrecht schändeten, mit dem, was wir taten. Ich weiß nicht, was genau seinen Sinneswandel hervorgerufen hat, aber er stieg aus. Nikolai und ich machten noch eine Weile weiter, zwei Jahre um genau zu sein, und wir suchten uns andere, die mit uns machten. Wir fanden einige, unter anderem auch Letetzia, wahrscheinlich ist Rex so dazu gekommen. Als wir jedoch nicht weiterkamen, beschlossen auch Nikolai und ich, dass es jetzt gut war«, sprach Ikaika weiter. »Aber es waren nicht alle mit dieser Entscheidung einverstanden?«, vermutete Aaron. »Genau. Nur zwei Wochen später nahm man Kanoa in einem kleinen Dorf zwischen Irian und Forea fest. Man verurteilte ihn und schickte ihn in die Verbannung. Nur ein paar Jahre später war ich an der Reihe. Warum sie Nikolai verschonten weiß ich nicht, aber ab und an brachten sie einen Sündenbock, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte. Unter anderem eben auch Sly und Ice«, bestätigte der alte Zauberer. Danach schwiegen alle erst einmal für einen Moment. »Wer ist Ria?«, wollte dann Cinder ganz unvermittelt wissen. »Meine Frau«, antwortete Nikolai. »Was tun wir jetzt?«, fragte stattdessen Sly. »Wir können Ice nicht einfach dort lassen, wer weiß, was sie mit ihm tun.« »Und wir müssen Soul finden«, merkte Lugh Akhtar an. »Vielleicht kann uns da ja einer der Wölfe des Winters weiterhelfen?«, überlegte Nea. »Nein, in Altena selbst haben sie keine Macht. Auf dem Turm selbst auch nur, weil dort die freie Magie zu mächtig ist, als dass die Zauberer von Altena sie bezwingen könnten«, antwortete ihr Lugh Akhtar. Er hatte ebenfalls schon darüber nachgedacht. »Können wir denn überhaupt etwas tun?« Nikolai wirkte zweifelnd. »Ja. Man kann immer etwas tun«, antwortete sein Schüler barsch, auch wenn er nicht wusste, was. »Erst einmal müssen wir Rose und die Kinder in Sicherheit bringen«, befand Sly. »Aber wo ist man jetzt noch in Sicherheit?«, wollte Aaron wissen. »Er hat nur Macht über das Zauberreich von Altena, im Süden wird man uns unbehelligt lassen, zumindest für den Moment«, bemerkte Ikaika. »Sie werden die Wege kontrollieren. Außerdem können wir nicht alle nach Süden, wir müssen etwas gegen ihn tun«, bemerkte Nea entschlossen. »Das stimmt. Wir können nicht alle gehen, ich werde hier bleiben«, beschloss Lugh Akhtar und stand auf. »Und ich auch.« Cinder schaute ihn entschlossen aus ihren ungleichen Augen an. Sly nickte ebenfalls zustimmend. »Ich ebenfalls«, meinte Nea. »Nein, du wirst mit nach Süden gehen«, warf der junge Zauberer sogleich ein. Er wollte nicht, dass Nea etwas geschah, doch sie lächelte bloß. »Gemeinsam bis ans Ende der Welt«, erklärte sie. Da nickte Lugh Akhtar zögernd und lächelte ebenfalls. »Ich werde wieder zu Tariq gehen, er wird meine Hilfe brauchen«, beschloss Ikaika und schaute Nikolai auffordernd an. »Und du wirst mit mir kommen.« Der alte Meister nickte langsam. »Und ihr werdet nach Süden gehen. Oder nach Norden, über die Mauer, wenn euch das lieber ist«, wandte sich Lugh Akhtar Rose zu. »Nach Norden…? Aber dahinter ist doch…« Ja, was eigentlich? Rose wusste es offensichtlich nicht, sie schien weder ihren Bruder, noch ihre Schwester gefragt zu haben. »Dahinter liegt das Reich des Winters. River wird euch gewiss freudig aufnehmen, wenn ihr ihm sagt, dass ich euch schicke«, überlegte Cinder. »Das Reich des… Winters? Aber wie kann das sein…?«, fragte Aaron erstaunt. »Eigentlich sollte es dich nicht wirklich erstaunen, immerhin bist du ein Zauberer. Der Winter ist ein Lebewesen, das habe ich auch gesagt, Kathlyn hatte Recht, immer schon«, antwortete Lugh Akhtar. »Ein… Lebewesen? Hast du sie getroffen?« Rose schaute ihn zweifelnd an. »Ja. Soul, Cinder und ich haben sie getroffen und mehr noch, aber das ist jetzt egal. Es ist eure Entscheidung. Überlegt es euch.« Lugh Akhtar deutete Cinder mit einer Geste, dass sie ihn bitte begleiten möge. Zögernd lief sie ihm hinterher und ein wenig abseits, gerade außer Hörweite blieb er stehen. »Kannst du die Nacht darum bitten, dass er ein Auge auf sie haben mag? Er ist der Einzige aus dem Rudel, der es tun kann, alle anderen dürfen ihr Reich ja nun nicht mehr verlassen«, bat er sie leise. »Natürlich«, nickte sie lächelnd. In dem Moment hörten sie ein Rascheln aus dem Wald um sich herum. Erschrocken starrten sie in die entsprechende Richtung, um dann voller Erleichterung aufzuatmen, als sie Ice’ blaues Haar gewahren. Nur Augenblicke später bemerkten sie, dass er sich schwer auf Soul stützte, denn es schien ihm nicht gut zu gehen. »Soul, Ice!« Sie liefen beide zu ihnen. Ice blutete aus zahlreichen Wunden und er sah aus, als wäre er mehrfach geprügelt worden. Auch Soul hatte etwas abbekommen, aber ihr ging es nicht einmal annähernd so schlecht, wie ihm. »Was ist passiert?«, fragte Cinder, als sie Lugh Akhtar dabei half, das Gewicht von Ice auf ihren Bruder zu verlagern, sodass Soul zumindest richtig stehen konnte. »Ich habe mich in einen Vogel verwandelt, in einen ganz kleinen und mich in seiner Tasche versteckt, als sie ihn wegbrachten«, keuchte sie und brach selbst fast zusammen. »Was? Und dann?«, wollte Lugh Akhtar wissen, während er Ice half, auf ihr Lager zuzuhumpeln. Cinder indes half ihrer Schwester. »Sie haben ihn geschlagen, aus reiner Willkür! Das konnte ich nicht zulassen, als sich die erste Gelegenheit bot, sind wir geflohen«, erzählte sie weiter. »Soul hat mir das Leben gerettet, die Wache hat schon das Messer gewetzt«, keuchte Ice und spuckte Blut. Nun bemerkten auch die anderen sie und kamen herangestürzt. Ikaika nahm Soul auf den Arm und trug sie ans Feuer, während Sly Lugh Akhtar bei Ice half. »Wie konntet ihr nur entkommen, das Verlies ist fast sicherer als der Zaubererturm!«, rief Aaron aus. Er verkraftete es sichtlich schlecht, dass binnen weniger Tage alles, woran er geglaubt hatte, sich in Staub und ins Nichts verwandelte. »Nicht einmal ich hätte es geschafft, und ich habe ein paar Jahre Erfahrung voraus«, merkte Lugh Akhtar an. Diese Leistung ließ seine kleine Schwester in einem völlig neuen Licht erscheinen. »Ich musste es einfach tun. Ich konnte ihn nicht sterben lassen«, murmelte Soul und schlief erschöpft in Ikaikas Armen ein. »Immerhin sind wir jetzt wieder alle beieinander«, murmelte Sly, während er und Lugh Akhtar Ice langsam hinlegten. Nea indes untersuchte seine Wunden und stellte erleichtert fest, dass sie nicht gefährlich waren, solange sie sich nicht entzündeten. Vermutlich hatte die schiere Anzahl ihn so sehr geschwächt. »Ja. Und wir können uns voll und ganz darauf konzentrieren, Rex zu Fall zu bringen«, bestätigte Lugh Akhtar und schaute zu Rose hinüber. »Wir gehen nach Norden«, erklärte sie sogleich, als hätte sie seine stumme Frage verstanden. »Gut. Die Nacht wird euch begleiten. Geht sofort zu River und bleibt bei ihm, er ist der Leitwolf des Schattenfangrudels und ein guter Freund von Cinder und Soul. Wenn ihr ihm sagt, dass die beiden euch schicken, dann wird er euch sicher helfen«, erklärte der junge Zauberer. Sogleich erschien der schwarze Wolf an seiner Seite. In den Münzen spiegelte sich das Licht der ersten Sterne, die eben den Himmel eroberten. »Ich bringe euch sicher in das Winterreich. Ich und meine Schwester, wir passen auf euch auf, bis ihr in Sicherheit seid«, erklärte er, während blutige Tränen auf den Boden tropften. »Habt keine Angst und vertraut ihm. Er sieht schlimmer aus, als er ist«, lächelte Cinder und umarmte ihren Onkel. »Die… Nacht?« Aaron wirkte, als fiele er gleich in Ohnmacht. »Ja. Ich gehöre zum Gefolge des Winters, ich bringe die Winternächte in die Welt«, erklärte der schwarze Wolf und grinste. »Und wir können ihm wirklich vertrauen?« Rose schien nicht wirklich überzeugt. »Ja. Er hat keinen Grund, euch etwas zu tun«, lächelte Lugh Akhtar. »Natürlich, er könnte es, aber es wäre nur ratsam, wenn er sich den Zorn des Winters zuziehen will. Denn ich glaube nicht, dass sie es so lustig fände, wenn ihre Kinder unglücklich über den Verlust von Freunden wären«, lachte Cinder. »Das… müssen wir nicht verstehen, oder?«, wollte Nikolai wissen. »Ikaika wird es dir erklären. Und euch River. Es ist schon gut so, geht mit ihm«, ermutigte Lugh Akhtar sie. Da stand Rose auf, immer noch ihre Tochter im Arm. »Ich folge dir«, erklärte sie mit zitternder Stimme. Und auch ihr Mann stand zögernd auf. »Ich würde lieber bei euch bleiben… wenn es… möglich ist komme ich zurück, wenn ich sie in Sicherheit weiß«, erklärte er. »Tu das. Auf wieder sehen«, nickte Sly ihm zu. Dann gingen Aaron, Rose und ihre Töchter. Auch Nikolai und Ikaika verschwanden, sie verwandelten sich in den Raben und die Waldohreule und flogen gen Lanta, zurück zu Tariq, der ihre Hifde bitter nötig haben würde. Zurück blieben die drei Winterkinder und ihre engsten Vertrauten, die gemeinsam, zerschlagen und müde auf die Zukunft warteten. »Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber eines will ich euch sagen«, flüsterte Lugh Akhtar, als er seinem alten Meister und dem Raben hinterher schaute. »Ich würde jedem einzelnen von euch sofort und ohne Zögern mein Leben anvertrauen.« »Ich auch, und deswegen… Sternenwanderin… das ist mein Schülername«, flüsterte Cinder, die wieder auf Slys Schoß saß. »Wenn ihr meinen nicht schon wüsstet, würde ich ihn euch auch mit Freuden verraten«, meinte Sly und Ice nickte zustimmend. »Meiner ist Hoffnungsstern«, flüsterte Nea und lehnte sich schutzsuchend an Lugh Akhtar. »Und ich bin Nachtträumerin«, sprach Soul, die bei Ice saß. »Lichtertänzer«, erklärte Lugh Akhtar und schloss Nea in seine Arme. Dann schwiegen sie und hingen ihren eigenen Gedanken nach. »Was tun wir nun?«, fragte Cinder irgendwann leise. »Wir warten. Wir warten, was der Morgen uns bringen wird«, antwortete Lugh Akhtar, während er zum Himmel schaute und die Sterne betrachtete, die immer zahlreicher am Himmel erschienen. Epilog: Zwei Wege ----------------- In dieser Nacht träumte ich vom Krieg. Ich stand auf einem Schlachtfeld, mitten in Altena. Der Schnee war blutgetränkt und der Wind sang ein Lied voller Trauer. Ich war allein, um mich herum war kein Leben mehr. Ich schaute mich um und mein Herz wurde immer schwerer, als ich die Menschen betrachtete, die so sinnlos ihr Leben lassen mussten, nur weil ein einzelner Mensch nicht verstehen wollte, wie klein man doch war in dieser Welt. Ich überlegte, welche Träume sie wohl gehabt haben und welche Leute wohl um sie trauern mochten. Wie viele Mütter nur hatten hier ihren Sohn verloren, wie viele Kinder ihre Väter? Wie viele waren nun allein? Ich spürte, dass mein Herz fast zerbrach, wie nur konnte ich mit diesem Wissen der Zukunft leben? Was aber konnte ich tun, um es zu verhindern? Dass ich es verhindern musste, das zumindest stand außer Frage und ich hoffte inständig, dass der Winter mir abermals den Weg weisen würde, doch blieb sie heute stumm. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Ich hoffte inständig, dass das, worüber ich stolperte, nur Steine sein mochten, denn was es sonst noch sein könnte, das wollte ich nicht wissen. Ich betrat den Turm der Zauberer. Hier war kein Blut, aber das Licht glitzerte nicht mehr. Stattdessen empfing mich bodenlose Schwärze, in die ich stürzte. »Was kann ich nur tun?«, brüllte ich in die Finsternis. »Ich will nicht, dass es so endet! Zeigt mir den Weg, es zu verhindern!« Doch ich erhielt keine Antwort. Konnte ich sie nicht ändern? Musste alles so kommen? War dies die Zukunft, die mich unweigerlich erwartete? Ich wusste, wenn dem so war, dann wollte ich in dieser Welt nicht mehr leben. Was hatte das Leben denn auch für einen Sinn, wenn es aus Gewalt, Tod und Einsamkeit bestand? Nichts anderes war um mich herum. Nichts war bei mir, außer dem Leid. Der Angst. Dem Vergessen. Der namenlose Schrecken, der im Herzen jedes Menschen wohnte. Die Zukunft, vor der wir uns am meisten fürchteten. Ich stürzte mich in die Dunkelheit und hoffte, dass sie mich niemals mehr losließ, sollte dies wirklich meine Zukunft sein. Doch in dieser Nacht träumte ich nicht nur vom Krieg, sondern auch vom Frieden. Ich stürzte durch einen blauen Himmel, fiel durch weiße Wolken, ich flog einer Welt entgegen, die hell und voller Licht war! Als ich landete, stand ich wieder im Schnee, aber er war so rein und weiß, dass ich wusste, dass kein gewöhnliches Wesen ihn je berührt hatte. Ich wartete, dass abermals der Winter zu mit käme, doch stattdessen vernahm ich ein Lachen. Ich wusste sofort, dass es Nea war. Ich lief los, ich wollte zu ihr, sie in meine Arme schließen und niemals wieder loslassen! Als ich den Hügel erklommen hatte, sah ich sie. Sie tanzte lachend durch den Schnee, den sie aufwirbelte, der im hellen Sonnenlicht glitzerte wie Diamanten. Sie war glücklich und deswegen war auch ich glücklich. Ich wusste, dass dies die Zukunft war, der ich entgegen strebte. »Was kann ich tun, um sie zu bekommen?«, fragte ich leise den Wind. »Hör auf dein Herz. Es wird dir immer den richtigen Weg weisen.« Kanoa stand an meiner Seite, jedoch diesmal nicht als Wolf, sondern als junger Mann, mit schwarzem Haar und braunen Augen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Und ich wusste, dass er Recht hatte. Mein Herz würde mir den Weg ins Licht zeigen, es würde mir gen Frieden weisen. Ich glaube, ich lächelte, als ich Nea beobachtete. Irgendwann bemerkte sie mich, denn sie lachte laut auf und kam zu mir gelaufen. Sie ergriff meine Hand und gemeinsam tanzten wir durch den Schnee, erfreuten uns an dem Frieden um uns herum. Irgendwann erwachte ich. Ich lag nicht im Schnee, ich lag auf harter Erde, doch Nea lag noch immer in meinen Armen. Ich hörte Soul, die sich leise um Ice kümmerte und ich wusste, dass ganz in der Nähe Cinder und Sly beieinander saßen und sich eine wunderschöne Zukunft erträumten, frei vom Krieg und voller Glück, dass sie ebenso sehr verdienten, wie jeder andere von uns auch. Ich überlegte einen Moment, ob ich zu ihnen gehen sollte, aber sie sollten ihre aufkeimende Liebe doch lieber in trauter Zweisamkeit pflegen. Stattdessen küsste ich Nea, die ich mehr liebte, als mein Leben. Ich schaute zu den Sternen auf und begann leise ein Lied zu singen, das mir mein Vater vor so langer Zeit einmal beigebracht hatte. Ein Lied von Liebe, Hoffnung und Frieden und ich wusste dabei, dass ich alles dafür tun würde, dass es Wirklichkeit wurde. Dass es meine Zukunft wurde. Irgendwann. So, ihr seid nun am Ende von Wolfsträume, dem zweiten Teil meiner kleinen Wolfssaga, angelangt. Vielen Dank, das ihr bis hierher durchgehalten habt^^ Wenn ihr wissen wollt, ob Lugh Akhtar schafft, was er sich vorgenommen hat, dann darf ich euch freudig mitteilen, das der dritte Teil schon in Arbeit ist^^ Sobald der Prolog fertig ist, findet ihr den Link hier in der Beschreibung oder eben die Geschichte unter meinen Fanfics :D Großen Dank speziell an die Kommi-Schreiber, aber auch an die Favo-Leute, ich glaube nicht, das ich ohne euch so schnell zu einem Ende gefunden hätte^^ Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr mir weiterhin treu bleibt, und selbst wenn nicht, trotzdem Danke :D Einfach nur Danke für alles^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)