Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 5: »Hilf mir…« ---------------------- »Wer hat dich denn geärgert?«, erkundigte sich Kenai leise, erschreckte dabei aber den jungen Zauberer maßlos. Fast hätte er die Axt fallen gelassen, mit der er Holzscheite schlug und das hätte böse enden können, doch er hielt sie fest, wuchtete sie wieder nach vorne und stieß sie neben dem Baumstupf in die Erde. »Musst du mich so erschrecken?«, fuhr er seinen Cousin an. »Entschuldige, ich dachte, du hättest Sivans Hufschlag gehört«, antwortete Kenai und deutete auf den Scheckenhengst, den er am Zügel führte. »Willst du ausreiten?«, erkundigte sich Lugh Akhtar mit dem Blick auf das Pferd. »Nein, ich hab nur für Nea etwas Brot aus dem Dorf geholt, da hab ich dich hier stehen sehen. Woran hast du gedacht? Und warum machst du das selbst?«, erkundigte sich der junge Mann und zäumte das Pferd ab. Sivan war schlau, er lief nicht einfach fort, sondern nahm sein Zaumzeug ins Maul und trabte dann in den Stall. »Warum nicht? Ich bin nicht mehr als jeder andere auch, ich muss für meinen Lebensunterhalt ebenso arbeiten wie die Leute im Dorf«, fand er. »Du bist der Herr über Wynter, du musst gar nichts mehr tun«, bemerkte Kenai und sammelte die gespaltenen Scheite zusammen. »Ich habe den Menschen ihr Land zurückgegeben und es als Kleinreich gekennzeichnet, indem ich ihm einen Namen gab. Es gehört mir nicht, es gehört allen«, stellte der junge Zauberer richtig und zog die Axt aus dem Boden. Seinem Vater hatten die Reiche Irian und Forea gehört, er war tot und Lugh Akhtar hatte die Reiche gerne als sein Besitz angenommen. Allerdings nur, um sie zu vereinen und aus ihnen Wynter zu machen, ein Reich, indem alle gleichgestellt waren. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Menschen ihn regelrecht verehrten. Er wollte es nicht, aber er konnte auch nichts dagegen tun. Stattdessen versuchte er seiner Arbeit als Zauberer nachzugehen, ohne allzu viel von den Menschen hier dafür anzunehmen. Was jedoch nichts daran änderte, dass Zauberer im Allgemeinen für ihre Arbeiten viel verdienten. So viel, dass Lugh Akhtar und Nea es sich leisten konnten, ein Hausmädchen anzustellen, das Nea im Haushalt half. Für alle anderen Aufgaben war Chess zuständig, im Gegenzug erhielt er Kost, Unterkunft und, was dem jungen Mann wohl am allerwichtigsten war, er lernte, was immer es zu lernen gab. Und ebnete damit den Weg zu einem Leben, das er sich vor ein paar Jahren nie hätte vorstellen können. Somit musste Lugh Akhtar nun wirklich nicht selbst das Holz hacken, und schon gar nicht auf diese Art und Weise. Er konnte seine Magie nutzen, doch wann immer ihn etwas beschäftigte, dann brauchte er körperliche Anstrengung, um darüber nachzudenken. So hatte er die Axt genommen und drosch auf das Holz ein. »Wenn du meinst… magst du mir erzählen, was dich beschäftigt?«, wollte Kenai wissen. »Es ist… nur ein Traum.« Der Zauberer lächelte nachdenklich. »Ein Traum?« Verblüfft blinzelte der junge Mann. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. »Ja. Ich hab ihn seit der Hochzeit von Hope und Cinder. In der Nacht träumte ich ihn zum ersten Mal und seitdem immer wieder. Ich stehe als Wolf in einer völlig zerstörten Landschaft. Es gibt dort kein Leben, alles wurde vor Jahren schon ausgelöscht. Ein Gewitter zieht auf, es donnert und blitzt und dann regnet heiße Asche vom Himmel. Ich laufe los und suche einen Unterschlupf, gelange zu einer Höhle und laufe hinein. Und dann wache ich auf.« Der Zauberer ließ die Axt auf den nächsten Holzscheit niedersausen. »Glaubst du, er könnte etwas bedeuten?«, frage Kenai und platzierte den nächsten Scheit, sammelte den Span aus dem Schnee. »Ja. Manche Träume habe ich nicht einfach so. Wie damals, als ich vom Winter träumte. Es ist diesmal… ähnlich. Weißt du, eigentlich verspürt man ja keinen Schmerz, wenn man träumt, aber ich spüre es, wenn die Asche mein Fell verbrennt und ich rieche mein verschmortes Fleisch. Und er kommt immer wieder. Ich wüsste sonst auch keinen Grund, warum er sich so hartnäckig halten sollte«, antwortete Lugh Akhtar und spaltete das nächste Stück Holz. »Hast du Nea schon davon erzählt?« »Ja, aber wenn sie gewusst hätte, was er bedeuten könnte, dann hätte mich das eher gewundert. Auch dem Winter habe ich davon schon erzählt, und dem Wind. Sie beide hatten genauso wenig eine Idee.« Der junge Zauberer seufzte. »Was ist, wenn in dieser Höhle etwas ist, das möchte, dass du zu ihm kommst?«, überlegte der junge Mann. »Warum kann ich es dann nie sehen? Und wo soll es denn einen Ort geben, wo heiße Asche vom Himmel fällt?« »Das hört sich sehr nach einem Vulkan an, wenn du mich fragst.« »Vulkan?« Lugh Akhtar war es gewohnt, dass Hope mehr wusste als er und zwar auf sämtlichen Gebieten. Bei Kenai jedoch vergas er nur zu leicht, dass der junge Mann im Bereich der Magie zwar nahezu unwissend, im Allgemeinen aber durchaus an Hope heranreichte. Kenai hatte ein fast unschlagbares Wissen im Bezug auf Waffen-, Kampf- und Tötungstechniken, er kannte sich hervorragend mit Politik aus und hatte eine herausragende Menschenkenntnis. Und scheinbar verstand er auch noch etwas von Geographie. »Es gibt einige Länder, meistens eher Inseln, auf denen gibt es sie. Es sind im Prinzip Berge, aber ab und zu spucken sie Feuer und Asche in den Himmel und wenn sie ausbrechen fließt geschmolzenes Gestein, das man Lava nennt, an ihnen hinab. Ich war einmal bei einem Aschenregen auf einer der Inseln… das ist wirklich kein Spaß…«, seufzte der junge Mann. »Haben sie auch solch zerstörten Landschaften?«, wollte Lugh Akhtar weiter wissen. »Ja, vor allem, wenn der letzte Ausbruch noch nicht allzu lange her ist, sich der Vulkan aber wieder beruhigt hat. Es sieht aus, als könnte dort kein Leben existieren, aber die Asche ist wie ein sehr wirksamer Dünger. Wenn der Ausbruch vorbei ist, kann das Leben weitergehen«, lächelte Kenai. »Kannst du… mir diese Inseln auf einer Karte zeigen? Vielleicht… haben sie ja etwas mit dem Traum zu tun… Vielleicht finde ich das Ende auf einer von ihnen…«, überlegte er. »Willst du wirklich jetzt schon wieder zu einer neuen Reise aufbrechen?« Kenai zog eine Augenbraue hoch und seufzte. »Ich meine, deine Kinder sind gerade ein halbes Jahr alt und die Menschen hier brauchen eine Person, die sie anleitet, damit sie den Weg in die Freiheit finden, ohne dabei Opfer bringen zu müssen. Ich… hab dir nicht davon erzählt, damit du jetzt gleich wieder losstürzt.« »Ich weiß… und nein, natürlich hab ich das auch nicht vor, aber… Vielleicht kann mir Tariq helfen, oder Hope. Vielleicht wissen sie etwas von einer Höhle auf einer der Vulkaninseln… Vielleicht wissen sie auch von einem Vulkan, der gerade aktiv ist.« »Willst du nicht erstmal das Geheimnis von Nanook lösen? Warum dir sein Name so vertraut ist?« Da seufzte Lugh Akhtar. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Geheimnisse jeder Art regelrecht anziehe…« »Das stimmt. Ich kenne auch niemanden, um den so viele seltsame Ereignisse geschehen, wie bei dir. Aber sieh es positiv, zumindest wird dir nicht allzu bald langweilig werden«, lächelte Kenai. »Stimmt… aber darauf könnte ich dennoch gut und gerne verzichten. Weißt du wie sehr ich mich nach einem ruhigen Leben sehne, in dem das größte Geheimnis das ist, was es wohl zum Abendessen geben wird? Ach Kenai… weißt du eigentlich, wie gut du es hast?« Lugh Akhtar lächelte schief. »Ja. Jetzt schon. Aber wo wir gerade beim Essen sind, ist es nicht bald Zeit?« Wie, als wäre dies das Stichwort gewesen, kam Chess heraus und rief sie zu Tisch. Sie aßen gemeinsam, gingen dann ihrem Abendwerk nach. Nea und Lugh Akhtar setzen sich gemeinsam ins Wohnzimmer und der Zauberer erzählte ihr von dem, was Kenai gesagt hatte. »Ja, von Vulkanen habe ich auch schon einmal gehört. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass es eine große Katastrophe gab in dem Jahr, in dem Hope geboren wurde. Damals haben alle Vulkane hintereinander Feuer gespuckt, aber es gab nur leicht Verletzte, keine Toten. Dafür hat sich der Himmel über den ganzen Kontinent für Wochen verdunkelt, kein Lichtstrahl ist dort durchgegangen«, erzählte sie. »Die Asche kann den Himmel verdunkeln?«, fragte Lugh Akhtar überrascht und dachte an die tiefen Gewitterwolken. Was, wenn es gar keine Wolken waren? »Nein, die Asche nicht. Aber der Rauch kann es durchaus. Hope hat mir mal erzählt, dass es im Nachtbuch eine Geschichte gibt, in der sich der Himmel für ein Jahrtausend mit Rauch überzog. Es endete erst, als der Schatten sich selbst opferte und für immer verschwand«, erzählte Nea. »Der Schatten?« »So wird es genannt. Es soll ein Ungeheuer ohne Gleichen sein, ein Drache vielleicht, oder ein Mantikor. Vielleicht auch ein schwarzes Einhorn… nicht einmal im Nachtbuch wird es genauer beschrieben. Aber es soll groß wie ein Berg und schwarz wie die Nacht sein, mit Augen so brennend wie Feuer. Es stürzte die Welt in die Dunkelheit und hielt sie dort gefangen, bis er ein reines Herz entdeckte. Er verliebte sich in dieses reine Herz und als er sah, dass es in dieser Dunkelheit nicht leben konnte sondern zum Tode verdammt war, da tötete es sich selbst und die Welt bekam die Sonne wieder.« »Könnte es sein, dass diese Geschichte mehr ist, als bloß eine Mär? Dass ich von diesem dunklen Jahrtausend träume? Von der Zeit, bevor der Schatten ging?« »Möglich. Aber es ist spät, lass uns schlafen gehen«, lächelte Nea. Er nickte und sie verzogen sich ins Bett. Lugh Akhtar schlief schnell ein und er wusste sofort, dass er träumte. Es war derselbe Traum, der ihm die letzten Wochen schon nachhing. Der Boden war aufgerissen, als hätte es seit Wochen, seit Monaten nicht mehr geregnet, doch über ihn rollte der Donner und ein gelegentliches Wetterleuchten durchbrach das diffuse Licht. Es regnete nicht, obwohl die Erde Regen so nötig hatte. Eine bleierne Schwere lag in der Luft, sie drückte auf ihn ein und machte ihm das Atmen schwer. Er wollte wieder weg, er hatte Angst vor dieser zerstörten Welt, doch er hatte hier keine Wahl. Plötzlich regnete Asche vom Himmel, sie verbrannte ihn, ließ sein Wolfsfell schwelen und tat ihm weh. Er lief los, suchte einen Unterschlupf, doch er konnte keinen entdecken. Dafür jaulte er immer lauter, mit jeder Aschenflocke, die es durch seinen Pelz schaffte. Wie immer in diesem Traum. Er gewahr eine Höhle und rannte hinein, raus aus dem Aschenregen. Auch dieser Teil war wie immer. Doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, da merkte er, dass der Traum diesmal weiterging. Normalerweise war hier Schluss. Heute nicht. Er nieste einmal, um den Geruch von verbranntem Fell und Fleisch aus der Nase zu bekommen, dann schlich er langsam tiefer in die Höhle. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, er wusste aber, dass er es gar nicht wissen wollte. Er ging trotzdem weiter. Er träumte, ihm konnte nichts Schlimmes geschehen, also konnte er es genausogut erforschen. Also lief er weiter. Bei jedem Schritt fuhr Schmerz durch seinen Rücken, seine Beine, seine Flanken. Er lief lange, er musste schon tief im Innern des Berges sein, als er den Schein eines Feuers gewahr. Er zögerte, doch er ging weiter, bis sich die Höhle zu einem regelrechten Saal erweitete. Der steinerne Himmel wurde von Säulen getragen, an ihnen waren Fackeln befestigt, die die Höhle erhellten. Er lief weiter. Immer tiefer in den Saal, bis er etwas gewahr, was ihn alles andere vergessen ließ. Er blieb stehen und starrte voll Unglauben auf das Bild, das sich ihm bot. Soweit fern von jeglichem Sonnenlicht wuchs ein Rosenstrauch. Er trug schwarze Blüten und seine Dornen waren blutig rot. Und inmitten dieses Rosenstrauchs, gefesselt mit Dornenbesetzten Ranken, hing eine junge Frau. Sie war nackt, nur Blut bedeckte ihre Blöße, und ihr langes, von Blut rot verfärbtes Haar. Unzählige Schnitte und Kratzer bedeckten ihren Körper, aus ihnen tropfte der rote Lebenssaft zu Boden, wo er schon eine Lache gebildet hatte. Lugh Akhtar kam langsam näher. Er war wieder ein Mensch, nicht mehr der weiße Wolf mit den schwarzen Ohren. Voll Unglauben starrte er auf die junge Frau. Wer nur war dazu fähig, ein Wesen, gleich was es war, auf solch brutale Art und Weise zu Tode zu quälen? Doch er irrte sich. Er irrte sich gewaltig. Kaum hatte er den Gedanken gedacht, da schlug sie ihre Augen auf. Auch ihre Augen waren rot, sie wirkten wie mit einem inneren Feuer erfüllt. Und sie schauten ihn voll Angst, aber auch so flehentlich an, dass er meinte, sein Herz müsste ihm zerspringen. Trotz all der Schmerzen die sie haben musste, lebte sie. Sie sah ihn direkt an. Doch er war wie erstarrt vor Entsetzen. Da sprach sie. Es waren nur zwei Worte, mehr geflüstert als gesprochen, aber sie gingen dem Zauberer durch Mark und Bein. »Hilf mir…«, hauchte sie. In dem Moment erwachte Lugh Akhtar mit rasendem Herzen und in Schweiß gebadet. Er spürte, wie Nea ihn umarmte und langsam beruhigte er sich wieder. »Hattest du einen Alptraum?«, fragte sie leise. »Ich… Der Traum, den ich sonst immer hatte… Heute habe ich ihn bis zum Ende geträumt«, flüsterte er. »Wie… hat er geendet?«, erkundigte sich Nea zögernd. »Mit einem Hilferuf.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)