Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 23: Ein neuer Morgen ---------------------------- Nachdenklich saß Lugh Akhtar auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, und starrte vor sich hin. Die Treppe, die auf das Dach des Turmes führte, war noch immer hell, es war noch nicht Zeit zu gehen. Allerdings wusste er auch nicht, ob er wirklich gehen wollte. Nachdenklich betrachtete er den Sternenanhänger in seiner Hand, drehte ihn langsam in den Händen. In ihm verborgen war das letzte Stück von Nanooks Seele. Für gewöhnlich leuchtete und glitzerte er, doch hier in der Dunkelheit, wo kein Lichtstrahl hingelangte, da schien er von einer Tiefe erfüllt, die dem Nichts gleichkam. Eigentlich hätte Lugh Akhtar sich freuen müssen, das er ihn endlich besaß, doch je länger er den Sternenstein betrachtete, desto mehr wurde ihm bewusst, das er nicht wirklich wusste, was letztlich geschehen würde und nach allem, was Schatten gesagt hatte, war er sich auch gar nicht so sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Und er wollte auch nicht nachfragen, denn er hatte angst davor, genau die Antwort zu erhalten, mit der er fast schon rechnete. Die, die er nicht bekommen wollte. Er schloss die Hand zu einer festen Faust und drückte sich mit den Beinen nach oben, als er sah, dass einige Personen den Raum betraten. Aaron war dabei, und Nanook. Und auch Schatten, deren rote Augen mitfühlend zu ihm hinüber leuchteten. »Wo ist Kenai«, fragte er leise, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Beim Frühling. Endlich. Er hätte schon viel früher gehen müssen«, antwortete Nanook scheu und drückte sich an der Wand entlang, die am weitesten von Lugh Akhtar entfernt war. Seitdem er wusste, welche Bedeutung der Sternenstein für ihn hatte, versuchte er sich möglichst weit weg zu halten, als hätte er angst. »Das stimmt. Wieso hast du nichts gesagt, Chaya?« Seit ihrem Gespräch nannte der junge Zauberer sie immer öfter so, was sie zwar mit einem Lächeln registrierte, ihr ansonsten aber egal zu sein schien. »Weil ich ihn gerne hier habe. Ich mag ihn und er macht sich gut an deiner Seite«, fand sie nachdenklich. »Du hast es einfach verdrängt«, mutmaßte der Zauberer mit einem Lächeln und sie nickte. »Arme Frühling«, mischte sich Cinder ein, die gemeinsam mit Vivamus hinaufgekommen war. »Nicht wirklich. Für die Jahreszeiten ist das alles nicht so wichtig, wie für uns.« Schatten lächelte verstehend, wandte sich dann aber wieder zu Lugh Akhtar. »Können wir reden?« Er nickte, wartete ab, in welche Richtung sie sich wenden würde. Anders als er erwartet hätte, lief sie die Stufen wieder hinab und er folgte ihr, hoffte, das sie das Unvermeidliche nicht allzu lange hinauszögern würde. Er wollte diese Seele nicht zusammenfügen, doch da er wusste, dass er keine Wahl hatte, mochte er es lieber schnell hinter sich bringen. Schatten lief nicht weit, gleich der erstbeste Raum, in dem sie ungestört bleiben würden, war ihr recht. Sie lotste ihn hinein und schloss die Tür. »Ich will dir verraten, was geschehen wird, damit du dich darauf vorbereiten kannst«, erklärte sie leise und deutete ihm, sich zu setzen. »Ich dachte, ich muss es selbst herausfinden«, antwortete er, tat aber, wie ihm geheißen und setzte sich. »Manche Dinge sollte man nicht tun, ohne dass irgendwer einen darauf vorbereitet hat. Erinnerst du dich an den Tag, als wir uns das allererste mal getroffen haben?« Sie setzte sich zu ihm. »Natürlich. Den vergesse ich wahrscheinlich nie.« Normalerweise hätte er wohl gelächelt, so jedoch blieb er ernst, verdrängte seine Gedanken, hoffend, dass sie nie ausgesprochen werden würden. »Weißt du noch das du sagtest, das du Nanook genauso gut ein Messer ins Herz rammen könntest, wenn wirklich ich es bin, die du suchst?« »Ja, aber du weißt, dass ich das nicht so meinte«, beeilte er sich zu versichern, doch sie schüttelte traurig den Kopf. »Die Ironie daran ist, was es völlig egal war, ob ich diejenige bin oder nicht. Damals schon und jetzt immer noch. Das Messer wird Nanook nicht erspart bleiben, nur eben, das es nicht unbedingt ein Messer ist.« »Also stirbt er. Aber wieso? Seine Seele ist doch dann ganz, eigentlich sollte es ihm doch besser gehen.« »Ja, das ist so eine Sache… Ohne das letzte Stück seiner Seele kann er mit seiner Gabe nicht umgehen. So ist sie vielmehr ein Fluch. Allerdings kannst du eine kaputte Seele nicht einfach so wieder zusammensetzen, Lugh Akhtar. Das kannst du mit einem Porzelantopf machen, oder mit einem Bogen Papier. Eine Seele zusammensetzen käme dem Versuch gleich, eine… einen Körper lebend zusammenzusetzen, der in tausend Stücke zerhackt wurde: Es ist nicht möglich. Nicht einmal hier und nicht einmal für mich.« Der junge Zauberer blinzelte sie erstaunt an. Er hatte angenommen, dass es nichts gab, das Schatten nicht tun konnte. »Jetzt schau mich nicht so an. Es gibt Regeln, an die müssen wir alle uns halten und eine davon ist, das jeder, der Tod ist, auch Tod bleibt. Er kann höchstens zu etwas anderem werden, einem Schutzgeist zum Beispiel, aber mehr ist nicht möglich. Auch nicht für mich.« »Also muss Nanook sterben. Oder sich weiterhin quälen«, nickte er nachdenklich. »Genau.« »Weiß er, was ihn erwarten wird?« »Ja. Als wir Nea besuchten, da habe ich es ihm gesagt.« »Hat er angst?« Schatten zögerte. »Ich weiß es nicht. Das musst du ihn fragen. Aber damals bat er mich darum, das ich dafür sorgen soll, das sein Leiden auch wirklich enden kann.« »Das ich den Stern finde. Gut. Es ist bestimmt schon Zeit«, nickte der junge Zauberer und stand auf. »Einen Moment hast du noch, und wenn du gerne allein sein möchtest…«, bot sie sanft an, doch er schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich möchte es lieber hinter mich bringen. Aber eine Frage habe ich noch. Was wird mit Nanooks Seele geschehen?« »Wenn sie wieder ganz ist?« »Ja.« »Dann wirst du sie wieder sehen.« Lugh Akhtar und Schatten schauten einander an. Er las in ihren Augen, dass das, was Nanook erwarten würde, nicht so grausam war, wie er es ich vorstellte und das beruhigte ihn. Und dennoch war ihm jede Sekunde klar, dass er im Begriff war, seinen eigenen Bruder zu töten. Gemeinsam verließen sie den Raum und folgten den anderen auf die Plattform. Der höchste, von Menschenhand gebaute Punkt, von dem Lugh Akhtar wusste. Zwischen Himmel und Erde, der Punkt, an dem nur die Magie Macht hatte. Die niedrige Mauer war von einem Feuerring gesäumt, auf die Bodenplatten war mit Kreide ein Pentagramm gezeichnet, in der Mitte wartend stand Nanook und in den fünf Ecken standen Vivamus, Cinder, Aaron und Hope, stellvertretend für die Elemente Wasser, Wind, Erde und Feuer. Während Lugh Akhtar zögernd am Aufgang stehen blieb, ging Schatten zu Nanook und umarmte ihn fest. Sie flüsterte ihm etwas zu, lief dann weiter um ihren Platz an der Stirnseite einzunehmen, stellvertretend für den Elementar des Geistes. Der junge Zauberer schluckte noch einmal schwer, schloss die Augen und atmete einmal bewusst langsam ein und aus, bevor er zu Nanook ging. »Bereit?«, fragte er leise. »Schon lange«, antwortete der und wirkte seltsam alt und voller Wahnsinn, als er den Zauberer anschaute. Er sah mehr aus, wie ein verdurstender, dem man das Glas Wasser vorhielt, ihm aber das Trinken nicht erlaubte. »Hast du angst?« Ein Flackern war in denn dunklen Augen Nanooks zu sehen. Er zögerte, dann nickte er. »Ich mag das Leben. Ich mag nur nicht, wenn es immer so weh tut. Weißt du, was nach dem Leben kommt?« »Nein, aber Schatten sagte mir, das es etwas schönes sein wird«, log Lugh Akhtar, während ihm eine Träne über die Wange rollte. Nanook erkannte die Lüge, doch er lächelte dankbar und küsste auf eine kindliche Art und Weise die Träne weg. »Fang an«, bat er. Und das tat Lugh Akhtar. Er wusste nicht genau, was er tun musste, das hatte ihm nie jemand beigebracht, doch er wusste, das seine Instinkte ihn den richtigen Pfad wählen lassen würden. So holte er den Stern hervor, während er sich konzentrierte und die Magie um sich herum sammelte. Er wusste, dass er als allererstes die beiden Seelenstücke von ihren Hüllen befreien musste. Er ließ die Magie wirken, er selbst wusste nicht, wie genau er es tun konnte. Er tat es instinktiv, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass er selbst es war. Er nahm nichts um sich herum wahr. Er spürte nur den Schlag seines eigenen Herzens und hörte seinen eigenen Atem und das Blut, das in seinen Ohren rauschte. Er hatte die Augen geschlossen, ohne es überhaupt zu merken. Er spürte Macht in sich, die herausbrechen wollte, doch er hielt sie im Zaum. Dann öffnete er seine Augen wieder und sah Nanooks wahres Wesen. Er hatte ein leuchtendes, schillerndes Etwas erwartet, einen Schemen, so hell und gleißend, das er ihn nicht ansehen konnte, doch die Seele war die Gestalt des weißen Wolfes, die Nanook annehmen konnte. Das einzige, was anders war, waren die leeren Augenhöhlen, wo das letzte Stück der Seele fehlte. Als Lugh Akhtar dies sah, fuhr er mit einem Aufschrei zurück. Er verließ das Pentagramm, verlor damit die Macht über die Magie und über Nanooks Seele, über alles, was er entfesselt hatte. Es war dem schnellen Eingreifen von Cinder und Vivamus zu verdanken, das nichts Schlimmeres geschah. Vivamus bannte die Magie, während Cinder die Seele im Zaum zu halten versuchte. Allerdings war sie nicht so gut wie Lugh Akhtar, weswegen sie kaum eine Chance hatte. Sie würde nicht lange durchhalten. Doch der junge Zauberer nahm das gar nicht wahr, wie unter Schock starrte er vor sich hin, begriff noch einmal mit der Macht eines Kanonenschlags, das er gerade im Begriff gewesen war, einen Menschen, seinen Bruder, zu töten. Dann begegnete er Nanooks Blick. Auch wenn es nur noch eine leere Hülle war, das eigentliche Leben in Wolfsgestalt über seinem Kopf schwebte, so war da dennoch etwas in den leeren Augen. Ein stilles Flehen, das er nicht zulassen durfte, das es dem jungen Mann in seinem nächsten Leben ebenso schlecht ergehen würde, das er noch einmal durch ein Tal der Pein laufen musste. Da wusste Lugh Akhtar, das er keine Wahl hatte. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Er verstand, dass es dieser Moment war, auf den Schatten ihn hatte vorbereiten wollen. Langsam trat er wieder in den Kreis. Erst übernahm er die Magie von Vivamus, der erschöpft zwei Schritte zurücktrat, dann nahm er die Last von Cinder, die Bewusstlos zu Boden sackte. Er nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Hope seinem Impuls folgen und zu Cinder laufen wollte, dich er blieb wo er war, schaute nur besorgt zu ihr hinüber. Er wusste nicht, woran das lag, aber er war froh darüber, denn sonst hätte wohl niemand sagen können, was geschehen wäre. So jedoch konnte Lugh Akhtar sich wieder konzentrieren. Er zog auch den Seelensplitter aus dem Sternenstein, der darauf in tausende blaue Splitter zersprang. Er fügte beide Teile zusammen, doch das war nicht so einfach, wie er es erwartet hatte. Es schien schmerzhaft für Nanook zu sein, denn seine Seele krümmte sie gepeinigt und sein Körper schrie und wälzte sich auf dem Boden. Dem jungen Zauberer fiel es mit jeder Sekunde schwerer, dies zu ignorieren, doch er wusste genau, dass er jetzt nicht mehr abbrechen durfte, sonst hatte er nichts gewonnen, aber alles verloren. Und nicht nur er. So quälte er also die Seele weiter, bis es plötzlich totenstill war. Das Feuer war ausgegangen, die Seele war verschwunden, die geballte Magie hatte sich in alle vier Winde verweht. Es war vorbei. Ganz plötzlich und niemand wusste zu sagen, ob es ein gutes oder ein schlechte Ende gefunden hatte. Lugh Akhtar spürte, wie Hope an ihm vorbeistürzte, hin zu Cinder, und sie sanft ansprach. Er spürte, wie Vivamus sich einfach an Ort und Stelle auf den Boden fallen ließ und Aaron, ängstlich zitternd, an einer Wand halt suchte. Und er sah, wie Schatten zu ihm kam und sich neben dem reglosen Körper Nanooks zu Boden setzte. Sie hob seinen Kopf in ihren Schoß und summte leise ein Lied, als würde sie ein Kind beruhigen, das von Alpträumen heimgesucht wurde. Lugh Akhtar ging zu ihr und ließ sich ebenfalls zu Boden sinken. »Hat es funktioniert?«, fragte er leise. Tränen rannen über seine Wangen, doch er fühlte keine Trauer. Er fühlte rein gar nichts, als wäre er eine völlig leere Hülle, die einfach nur reagierte, wie sie zu reagieren hatte, ohne dabei bewusst zu denken oder zu fühlen. Er schaute Schatten an, doch es war nicht sie, die antwortete. »Danke, Lugh Akhtar…«, flüsterte Nanook und öffnete die Augen. Jetzt leuchteten sie ebenso hell, wie die des jungen Zauberers und in ebenso vielen Farben. »Du bist nicht..?«, begann der, doch Schatten schüttelte sanft den Kopf. »Er wird sterben, Lugh Akhtar. Das kannst du nicht verhindern«, erklärte sie sanft. »Du hast dafür gesorgt, dass es jetzt nicht mehr wehtut«, flüsterte Nanook leise. »Dafür danke ich dir. Wir sehen uns bestimmt irgendwann wieder.« Dann schloss er seine Augen und der junge Zauberer wusste, dass es für immer war. Da brach all der Schmerz über ihn zusammen und er weinte lange, den toten Bruder in den Armen. Die Nacht kam, doch die Tränen wollten nicht aufhören. Nach und nach verließen seine Freunde den Turm. Auch Vivamus ging, nachdem er eine Weile bei ihm gewacht hatte. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, war nur noch Schatten bei ihm. Sie allein war die ganze Nacht geblieben und hatte mit ihm um Nanook getrauert. Jetzt stand sie auf deutete ihm, dass er mit ihr kommen sollte. Nur schweren Herzens ließ er seinen Bruder zurück, doch er folgte ihr. Sie ging mit ihm an den östlichen Rand der Plattform und deutete auf die Welt, die im ersten Licht des neuen Tages hell erstrahlte. »Weine nicht mehr. Freue dich, die Welt ist noch genauso schön wie zuvor auch. Und Nanook muss jetzt nicht mehr Leiden. Und ich versichere dir, du wirst ihn wieder sehen. Es kann etwas dauern und vielleicht erkennst du ihn nicht sofort, aber du wirst ihn wieder sehen. Und dann kannst du dich mit ihm gemeinsam über sein neues, glückliches Leben freuen«, sagte sie zu ihm. Und sie hatte recht. Als er sich umschaute, erkannte auch er, dass die Welt genauso schön war wie zuvor. Er lächelte und wusste, dass er bereit war, sein Leben weiterzuleben. Er würde Nanook wieder sehen und so lange hatte er ja noch andere, gute Freunde an seiner Seite, die für ihn da sein würden. Und für die er da sein musste. So freute er sich über diesen neuen Morgen und obwohl er einen sehr wichtigen Menschen verloren hatte, so wusste er doch, das alles gut so war. Und auch, das alles gut bleiben würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)