Wintermond von Scarla ================================================================================ Kapitel 1: Eine stürmische Nacht -------------------------------- Ein stürmischer Wind blies über das Land. Er kam vom Norden her und trieb Schnee mit sich. Viel Schnee, der die Erde schon lange mit einer dicken, weißen Decke zugedeckt hatte. Er türmte sich fast Manneshoch, doch die Menschen, die in diesem kalten, abweisenden Land lebten, waren es gewohnt, denn es war jedes Jahr dasselbe. Es war Winter in Irian und er war auch nicht anders, als all die Winter zuvor auch. Dennoch hätte dieser Tag etwas besonderes sein können, denn die Sonnenwende war vorüber und das Lichterfest hätte gefeiert werden sollen, doch bei dem Schneesturm, der das Reich fest in seiner Hand hatte, wäre es zu gefährlich gewesen, im Freien zu Tanzen und zu Lachen. Stattdessen hatten sich die Menschen von Irian in ihre Häuser zurückgezogen, saßen gemeinsam vor dem Kamin und erzählten einander Geschichten, kümmerten sich um ihre Kleider oder Werkzeuge, oder taten all das andere, was im kurzen Sommer liegen blieb. Doch ein Haus gab es, da ging es nicht so ruhig und friedlich zu. Im Hause des Herrn von Irian ging Tywyll von Winters-Midnight aufgeregt in seinem Wohnzimmer auf und ab. Im Haus waren laute Schreie zu hören, denn seine Frau Callisto lag seit Stunden schon in den Wehen, doch des vielen Schnees wegen konnte man keine Heilerin hinzuziehen und niemand wusste, wie es mit ihr und dem Kind weitergehen sollte. »Maria, kann ich denn wirklich gar nichts für sie tun?«, erkundigte sich Tywyll zum unzähligsten male. »Nein, leider nicht. Das muss sie allein durchstehen, wie eine Milliarde Frauen vor ihr«, lächelte die Bedienstete und goss Tee in die Tassen, die auf dem Tablett standen. »Und jetzt trink etwas um dich aufzuwärmen. Im Pferdestall war es bestimmt eiskalt und du hast dich ja geweigert, einen der Burschen hinauszuschicken.« Tywyll schnaubte abfällig. »Was wäre ich für ein Herr, der von seinen Leuten Dinge erwartet, die zu tun er selbst nicht bereit ist? Außerdem hatte ich gehofft, dass das Tosen des Sturms ihre Schreie übertönen würde, aber leider war diese Hoffnung vergebens.« Maria lachte leise und setzte sich in einen der großen Sessel, die das Wohnzimmer beherrschten. Sie nahm sich eine der Tassen und nippte nachdenklich am Tee, während sie Tywyll beobachtete. »Mach dir doch nicht so viele Sorgen. Es wird schon alles gut gehen«, versuchte sie ihn noch einmal zu beruhigen. »Kannst du nicht gehen und schauen, wie es ihr geht? Hören, was Mena sagt?«, bat er sie und ließ sich schwer in den anderen Sessel fallen. »Sie wird auch nicht mehr sagen, als vor zehn Minuten«, lächelte Maria und schob ihm die zweite Tasse Tee zu. »Bist du dir da ganz sicher?« Er schaute sie flehend an. »Ziemlich, ja«, nickte sie. Tywyll wollte ihr eben antworten, da kam eine kleine Gestalt zu ihnen und setzte sich am Sessel des Vaters auf den Boden. »Papa, ich will das Mama aufhört so zu schreien«, weinte der kleine Junge und blickte bettelnd, wie ein kleiner Hund, zu seinem Vater auf, doch der ignorierte das Kind. »Kannst du dennoch kurz nachfragen?«, bat er Maria. »Oh Tywyll, wenn etwas von Bedeutung geschehen würde, dann wüssten wir schon davon, das garantiere ich dir.« Sie verdrehte die Augen. »Maria, ich will das wirklich nicht tun, aber wenn du meine Bitten abweist, dann bleibt mir keine andere Wahl, dann muss ich es dir wohl befehlen.« Darauf lachte Maria, laut und schallend. »Ich habe noch nie einen Befehl von dir entgegen genommen, Tywyll von Winters-Midnight, und ich werde es auch jetzt nicht tun«, erklärte sie belustigt und er wusste, dass sie recht hatte. Dies war einer der Gründe, warum er die junge Frau so mochte. Er wollte eben etwas dazu sagen, als sie hörten, wie irgendwo im Haus eine Tür geöffnet wurde. Er lief hinaus und nach einem kurzen Zögern folgte ihm Maria. Der kleine Junge blieb allein zurück. Er weinte noch immer. Er war noch klein, doch keiner nahm sich die Zeit, ihm zu erklären, was vor sich ging. Sie taten fast so, als gäbe es ihn gar nicht. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, da schrie seine Mutter ständig und er wusste genau, das sie schmerzen hatte. Doch keiner ließ ihn zu ihr. Langsam jedoch hörte er mit dem Weinen auf. Er wollte nicht alleine bleiben, er wollte von seiner Mutter in den Arm genommen werden, oder wenigstens vom Vater oder von Maria oder Mena, doch sie alle hatten keine Zeit für ihn. Er zog sich am Sessel hoch, denn allein kam er nur schlecht auf die kleinen Beine, und folgte Maria und seinem Vater. Er hörte, wie der Mann laut herumschrie, doch das war ihm egal, er wollte bei jemanden sein, den er kannte und den er lieb hatte. »Mena, verstehst du das nicht?«, brüllte Tywyll die alte Frau an, die sich um die Organisation des Haushaltes kümmerte. »Es ist mir egal was mit dem Kind wird! Ich habe einen Sohn, ich brauche kein zweites Kind! Aber ich habe nur eine Ehefrau! Ich will nicht so jung schon verwitwet sein! Also tu verdammt noch mal was nötig ist, um Callisto zu helfen!« Die alte Mena schaute ihn ruhig und gelassen an, bevor sie die Schultern zuckte. »Schrei so viel du willst, Tywyll, dadurch wird es auch nicht besser. Ich tue was ich kann, du wusstest vorher schon, dass es nicht besonders viel ist«, erklärte sie, wurde von einem lauten Schrei unterbrochen. Danach sprach sie weiter, als wäre nichts gewesen. »Wenn du mehr erwarten solltest, dann schraube deine Erwartungen lieber schon jetzt gewaltig hinab, dann wirst du am Ende nicht enttäuscht.« Die alte Frau wandte sich um und ging wieder in den Raum zurück, während Tywyll die Tür anstarrte. Er schien nicht zu wissen, ob er lieber weiterbrüllen oder doch in Tränen ausbrechen sollte. In seinem Kopf raste es. »Ich reite ins Dorf«, sagte er dann. »Hast du heute schon mal hinausgesehen?«, wollte Maria mit gerunzelter Stirn wissen. »Du kommst bei dem Sturm nicht einmal bis zur Hauptstraße.« »Ich muss es versuchen«, antwortete Tywyll und wandte sich entschieden um. »Tywyll! Willst du deine Frau zur Witwe machen? Oder deinen Sohn zu einem Waisen? Verdammt, bleib hier und sitz es aus!« »Ich kann nicht! Ich will nicht. Ich kann nicht einfach herumsitzen und warten, ich muss etwas tun und ich kann da niemand anderen rausschicken«, antwortete Tywyll. Maria schaute ihn einen Moment lang an, dann gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. »Geh ins Wohnzimmer, setz dich an den Kamin und trink deinen Tee, auch wenn er mittlerweile kalt sein dürfte. Und wenn die Tasse leer ist, wirst du dich um deinen Sohn kümmern, dir scheint es noch nicht aufgefallen zu sein, aber er hat Angst«, fauchte sie und deutete auf den kleinen Jungen, der sich mittlerweile an ihrem Rock festhielt und ängstlich von einem zum anderen schaute. »Kümmere du dich um ihn, ich fürchte, mit mir hätte er gerade keine Freude«, antwortete Tywyll und lehnte sich gegen die nächste Wand. »Tywyll, willst du, das ich dir noch mal beweise, wie wenig mich unsere sozialen Stellungen interessieren oder tust du endlich, was ich dir sage? Und bevor du anfängst dir die frage zu stellen: Das waren alles keine Bitten.« Einen Moment schaute der junge Mann sie an, dann musste er tatsächlich lächeln. »Genau deswegen wollte ich dich in meinem Haushalt wissen, Maria. Dir ist egal, wer du bist und wer ich bin, für dich sind alle gleich. Schade, das mein Bruder nie begriffen hat, sie recht du damit hast, meine Freundin.« »Ich verprügel auch den König von Lanta wenn du dann endlich einmal Vernunft annimmst«, fauchte sie und deutete so entschieden den Weg zurück, dass sich Tywyll endlich fügte. Er ging wieder ins Wohnzimmer. Sie nahm den kleinen Jungen auf den Arm und folgte ihm, setzte das Kind wieder vor dem Kamin ab und setzte sich dann zu Tywyll, der gedankenverloren mit einer kleinen Flamme in seiner Hand herumspielte. Er war ein Zauberer, Maria wusste das, deswegen wunderte es sie nicht. Der kleine Junge krabbelte zu seinem Vater und zog sich am Sessel hoch. Er streckte die Arme aus um zu zeigen, dass er auf den Arm genommen werden wollte und Gedankenversunken hob sein Vater ihn hoch. »Papa, ich will nicht, dass Mama so schreit«, weinte er. »Ach Kenai… ich auch nicht, aber wir können nichts tun«, antwortete der Vater und schloss das Kind fest in die Arme. »Wir können den verscheuchen, der ihr wehtut«, fand der kleine Junge. »Das geht leider nicht, sonst hätte ich es schon lange getan«, seufzte Tywyll. »Warum?« Der junge Mann zögerte. Wie konnte er seinem Sohn erklären, was vor sich ging? »Weißt du, Kenai, es gibt Dinge, die kann man nicht ändern. Die Natur sieht manchmal Dinge vor, die für uns nicht zu verstehen sind, aber sie sind dennoch so und wir können nichts dagegen tun. Der Schneesturm zum Beispiel. Wir wissen alle nicht, wieso er ausgerechnet heute sein muss, oder warum es ihn überhaupt gibt, doch er ist dennoch da und wir können nichts dagegen tun.« »Und mit Mama ist es genauso?« »Ja, irgendwie schon. Wir können nichts gegen ihre Schmerzen unternehmen, wir können nur warten und hoffen, das es schnell geht.« Darauf schwieg der kleine Junge und nickte schließlich. »Warum tut die Natur Mama weh?«, wollte er weiter wissen. »Ich weiß nicht. Ich denke, weil es irgendwie dazu gehört«, antwortete Tywyll nachdenklich. Er warf Maria einen Hilfesuchenden Blick zu, doch sie lächelte nur aufmunternd. »Kannst du sie nicht einfach fragen?« Kenai schaute fragend zu seinem Vater auf. Der musste nun auch lächeln, beschloss aber, das es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Sein Sohn stellte eindeutig zu viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste. »Weißt du Kenai, du bekommst jetzt, in diesem Augenblick ein Geschwisterchen. Was hättest du lieber, einen Bruder oder eine kleine Schwester?«, fragte er. »Einen Hund«, antwortete der kleine Junge trocken und kuschelte sich in die Arme des Vaters. Der schaute Maria verblüfft an, dann brachen sie in lautes Lachen aus. Mit dieser Antwort hatte keiner von ihnen gerechnet. »Na, da schauen wir doch mal, ob du den irgendwann bekommen wirst«, kicherte Maria und grinste breit. Tywyll wollte ihr eben darauf etwas antworten, doch er hielt inne und lauschte. Die Schreie waren verklungen, es war ganz still im Haus. Bloß das Tosen des Windes, der um das Haus herumwütete, war noch zu hören. Es dauerte noch einen Augenblick, doch dann öffnete sich eine Tür im Haus und Schritte kamen in ihre Richtung. Schließlich trat Mena ein. Sie wirkte abgekämpft und müde, doch sie lächelte. »Wie… geht es Callisto?«, fragte er zögernd. Er hatte Angst vor der Antwort. »Sie ist sehr schwach und sehr müde, aber davon einmal ab, geht es ihr gut«, lächelte Mena. »Kann ich… zu ihr?«, fragte er leise. »Natürlich.« Tywyll stand langsam auf, behielt Kenai auf dem Arm. Er fühlte sich plötzlich seltsam ruhig, alle Anspannungen waren von ihm gewichen. Er ging, öffnete umständlich die Tür und sah sofort seine Frau Callisto, die mit geschlossenen Augen im Bett lag, ein kleines Bündel in den Armen. Er setzte sich zu ihr, wusste, dass sie wach war. »Wie geht es dir?«, wollte er flüsternd wissen. »Ich bin müde, ich will am liebsten ein Jahrhundert lang schlafen«, antwortete sie, lächelte aber. Schließlich schob sie sich im Bett ein wenig nach oben und öffnete die Augen, schaute ihren Sohn und ihren Mann zufrieden an. »Kenai mein Schatz, schau, du hast jetzt einen kleinen Bruder.« Sie schob das kleine Bündel ein wenig vor, sodass ihr Mann und ihr Sohn hineinblicken konnten. Verschlafene dunkle Augen aus einem runden Babygesicht blinzelten sie an. »Diesmal ist es an dir einen Namen auszusuchen«, überlegte Tywyll und betrachtete seinen zweiten Sohn nachdenklich. »Er hat schon einen, er soll Kanoa heißen. Kanoa Kuroi von Winters-Midnight.« »Kanoa Kuroi? Wie bist du den darauf gekommen?«, wollte der junge Mann erstaunt wissen. Von diesem Namen hatte er noch nie gehört. »Ich weiß nicht, ich glaube, ich habe auf der Straße mal jemanden diesen Namen rufen hören und er ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Und Kuroi ist einfach, es bedeutet schwarz. Ich finde es passend, ich habe noch nie ein Neugeborenes mit schwarzen Augen gesehen«, lächelte Callisto und ihr Mann musste ihr recht geben, auch er hatte noch nie von einem Neugeborenen mit schwarzen Augen gehört. Doch hier lag der Beweis, dass es möglich war. »Ich hätte ja Nanuk besser gefunden. Eisbär. Es passt zum Wetter. Und zu Kenai, bedeutet schließlich auch Bär«, fand Tywyll, zuckte aber mit den Schultern. »Aber gut, dann soll er Kanoa heißen.« »Ein Bär im Haus reicht«, lächelte Callisto und schaute wohlwollend auf ihren ersten Sohn, der neugierig den kleinen Bruder beäugte. »Ich denke, du solltest jetzt schlafen.« Tywyll gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Und du solltest einmal tun, was ein fürsorglicher Vater tun würde: Deinen Sohn ins Bett schicken«, antwortete sie lachend und deutete nach draußen. »Selbst wenn nicht zufällig alles hinter Wolken und Schnee völlig unkenntlich wäre, ich wäre mir sicher, dass der Mond schon lange aufgegangen ist. Höchste Zeit für den kleinen Mann.« »Du hast recht«, nickte er und stand auf. Er nahm ihr Kanoa aus dem Arm und legte seinen zweiten Sohn in die Wiege, die im Raum stand. Eine Weile noch stand er bei dem kleinen Lebewesen, betrachtete es voll Stolz und schämte sich dafür, dass ihm Kanoas Leben so egal war, als es um die Entscheidung ging, wem er den Vorzug gab. Jetzt, wo er seinen Sohn dort liegen sah, liebte er den kleinen Jungen ebenso sehr, wie auch Callisto und Kenai. Schließlich wandte er sich ab, schürte er das Feuer im Kamin und legte noch einmal Holz nach, damit der Raum schön warm blieb, bevor er wieder Kenai hochnahm. »Ab ins Bett, mein Großer. Morgen hast du genug Zeit, um deinen kleinen Bruder kennen zu lernen.« Kenai wirkte ein wenig Unendschloßen und misstrauisch, nickte aber schließlich und lachte. »Ich bin ein großer Bruder«, stellte er erfreut fest. »Dann hoffe ich doch mal, dass du das in ein paar Jahren noch genauso gut finden wirst«, überlegte Tywyll und lächelte traurig. Callisto wusste, woran er dachte, doch sie fand, dass das noch Zeit hatte. Sie rutschte wieder im Bett hinab und war eingeschlafen, bevor ihr Mann den Raum verlassen hatte. Heute Nacht waren sie alle glücklich. Dies war die Geschichte meiner Geburt. Nicht besonders spektakulär, einzig und allein der Schneesturm, der auch noch die folgenden Tage anhielt, machte sie zu etwas besonderem. Ich denke, ihr werdet bald merken, dass der Winter auch im Rest meines Lebens noch eine sehr große Rolle spielen wird. Manchmal habe ich das Gefühl, es war Vorsehung, das mein Leben im Winter begann. Nun, natürlich ist das nicht das Einzige gewesen, was mein Leben geprägt hat. Auch mein Name hat dies getan. Meine Mutter wusste es nicht, für sie entstammte er der reinen Willkür, doch mein Name, Kanoa, er bedeutet Freiheit. Auch dieses Wort wird noch in meinem Leben von Bedeutung sein. Das wusste damals natürlich noch keiner und wer weiß, vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, hätte man nur eine Kleinigkeit verändert. Ich werde es nie erfahren. Doch das soll jetzt auch nicht weiter von Belang sein. Jetzt gibt es erst einmal eine andere Geschichte zu erzählen. Und sie hat gerade erst begonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)