Please Recall... von -Moonshine- (Shinji ♥ Natsuki) ================================================================================ Kapitel 1: Alltäglicher Familienwahnsinn ---------------------------------------- "Natsuki, Schatz, du kommst noch zu spät zur Schule, komm endlich raus da!", rief Marron ihrer 15-jähriger Tochter zu, die sich schon seit einer halben Stunde im Badezimmer verbarrikadiert und seitdem kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Ihr Mann Chiaki, ein angesehener Arzt, stellte einen Teller Pancakes auf den Tisch und drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. "Beruhige dich, Shinji ist doch da und kann sie mit dem Auto mitnehmen, nicht wahr?" Er warf Shinji, der am Küchentisch der Nagoyas saß und munter Pancakes in sich hineinstopfte, einen fragenden Blick zu. Shinji, mit vollem Mund außerstande, eine angemessene Antwort zu geben, nickte mehrmals euphorisch mit dem Kopf und bekam leuchtende Augen. Bei seinem Anblick musste Marron schmunzeln. Shinji war der Sohn ihrer besten Freundin Miyako Minazuki, ehemals Toudaji, die mit Yamato verheiratet war. Darüber hinaus war Shinji noch jemand ganz anderer, aber das war eine andere, längere Geschichte... Plötzlich tauchte Natsuki wie aus dem Nichts neben ihrer Mutter auf und stierte den fröhlich essenden Shinji wütend an. "Was macht der denn schon so früh hier?!", polterte sie auch schon drauflos und deutete anklagend auf ihren ungeliebten Nachbar. Sie konnte Shinji wirklich nicht ausstehen, vor allem, weil er sie nie in Ruhe ließ und ständig unpassende Kommentare von sich gab. Außerdem war er faul, unverschämt und schwänzte immer das Basketballtraining. Sie hatte schon immer eine Abneigung gegen ihn gehabt. "Guten Morgen Natsuki, meine Liebste!", begrüßte Shinji sie, nachdem er sich beeilt hat, einen großen Bissen runterzuschlucken, und grinste sie an. Natsuki schnaubte aber nur verächtlich und dreht sich von ihm weg. Sie nahm sich eine Scheibe Brot und belegte diese mit Käse, ohne auch nur in die Nähe des Küchentisches zu kommen. "Was soll das überhaupt? Es reicht mir schon, ihn als Nachbar zu haben und ständig sehen zu müssen, aber dass er jetzt auch noch von morgens bis abends hier rumhängt, das ist doch nicht auszuhalten!", schimpfte sie und steigerte sich noch mehr in ihre Wut rein. "Das stimmt gar nicht", protestierte Shinji empört. "Ich bin überhaupt nicht von morgens bis abends hier. Aber..." Er hielt inne. "...wenn du dir das wünschst, könnte sich das einrichten lassen!" Marron verkniff sich das Lachen, als Shinji Natsuki – wie er glaubte – unwiderstehlich zuzwinkerte, sie aber die Hände zu Fäusten ballte und ihn zornig anfunkelte. "So weit kommt’s noch!", warf sie ihm an den Kopf und verschwand türeknallend in ihrem Zimmer. Chiaki, der das ganze Geschehen einfach ignoriert hatte – er und Marron waren schon daran gewöhnt – seufzte nur laut auf und setzte sich neben Shinji an den Tisch, um seine Zeitung aufzuschlagen und sich darin zu vergraben. "Gibtsch nich’ noch mehr Pancakesch?", mümmelte Shinji mit vollem Mund und Marron warf einen Blick auf den Teller, der nun vollkommen leer war. "Nein", gestand sie etwas ratlos. "Das waren die Letzten... Du hast ja einen gesunden Appetit." Sie lächelte Shinji an und räumte den Tisch ab. Der junge Mann grinste sie an. "Mama weigert sich mittlerweile welche zu machen. Gut, dass es sie wenigstens hier noch gibt." "Clever. Und stattdessen gehen wir hier bald pleite, wenn du weiterhin täglich den Vorrat an Lebensmitteln verdrückst, den wir drei in einer Woche nicht schaffen", bemerkte Chiaki trocken, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. Marron warf ihm einen strengen Blick zu. "Hör nicht auf ihn, du bist hier immer willkommen, und das weißt du auch", sagte sie freundlich zu Shinji und ohne ihren Ehemann anzusehen, boxte sie Chiaki, der just in diesem Moment hinter der Zeitung mit den Augen rollte, mit der Faust auf die Schulter, ohne auch nur das geringste von ihrem Lächeln an Shinji einzubüßen. Shinji grinste. "Danke Marron. Ich mochte dich schon immer viel lieber als diesen Geizhals." Er deutete mit dem Kopf Richtung Chiaki, der fassungslos seine Morgenlektüre sinken ließ und den Jungen anstarrte. "Das ist also der Dank...", fing er an, wurde aber jäh von Shinji unterbrochen, der dem Familienvater freundschaftlich auf die Schulter klopfte. "Schon gut, Alter! Ich verzeih dir und komme morgen früh wieder, dann hast du hoffentlich wieder Pancakes, um dein Verhalten gutzumachen! Schließlich musst du dein Versprechen ja einhalten, nicht wahr?" Sprach’s und verschwand blitzschnell mit einem "Ich warte auf Natsuki im Auto!" aus der Wohnung. Chiaki sah ihm mit zusammengekniffenen Augen hinterher. "Vergisst der eigentlich nie was?", knurrte er. Marron stellte zwei Tassen Kaffee auf den Tisch und setzte sich neben ihren Mann. "Ganz offensichtlich nicht", antwortete sie unkonzentriert und rief noch einmal nach Natsuki, die diesmal auch sofort aus ihrem Zimmer herauskam und sich beschwerte, dass sie zu spät kommen würde und das nur wegen "diesem Vollidioten". "Shinji wartet unten im Auto auf dich, er bringt dich heute zur Schule", beruhigte ihre Mutter sie und zeigte auf das Lunchpaket, das sie ihr zusammengestellt hatte. Natsuki kullerten fast die Augen aus dem Kopf. "Soll das ein Witz sein?", fragte sie langsam, doch als niemand lachte und ihre Empörung gekonnt ignoriert wurde, schüttelte sie nur sprachlos den Kopf, schnappte sich ihr Lunchpaket und verließ das Haus. Irgendwie nahm sie hier keiner wirklich ernst, oder bildete sie sich das etwa bloß ein? Natsuki überlegte sich kurz, wortlos an Shinji’s Auto vorbeizugehen, verwarf diese Idee aber nach einem Blick auf ihre Armbanduhr wieder. Sie zu spät dran und konnte es sich nicht erlauben, noch einmal zu spät zu kommen. Sie stieg also in Shinji’s Auto und versuchte dabei, sich so unfreundlich und desinteressiert wie möglich zu geben. Shinji startete den Motor und drehte sich dann noch mal zu ihr um, ein freches Grinsen umspielte seine Lippen. "Da wir zwei schon nun mal alleine in einem Auto sind, möchtest du vielleicht gar nicht mehr zur Schule? Du weißt, ich bin für alles offen!", schlug er schelmisch vor, wurde jedoch sofort unterbrochen. "Halt die Klappe, du Idiot, und fahr endlich los!", befahl Natsuki ihm brüsk und seufzte genervt. Sie hatte seine zweideutigen Kommentare endgültig satt und fragte sich, wann er endlich aus "diesem Alter", wie sie es gerne nannte, herauskam. So kindisch und nervig konnte ein normaler 19-jähriger doch unmöglich sein?! "Wie du willst, Schätzchen", provozierte Shinji sie weiter und setzte endlich das Auto in Bewegung. "Nenn mich nicht so, das habe ich dir schon hundertmal gesagt!", knurrte sie ihn wütend an und warf ihm einen eisigen Blick zu, der allerdings an ihm abzuprallen schien, zumindest änderte es nichts an Shinji’s süffisantem Lächeln. "Du bist sooo arrogant, weißt du das?", informierte sie ihn verärgert und entschied sich dafür, heute kein einziges Wort mehr mit Shinji zu wechseln. Sie war noch keine Stunde wach, schon war ihre Laune mehr als nur im Keller. Ihre Laune war... in den Katakomben von Rom. Und das alles hatte nur dieser Vollidiot zu verantworten! Shinji bog in die nächste Straße ein. In zwei Minuten würde sie an der Schule sein und darüber hinaus noch toppünktlich! "Ich weiß...", räumte er ernst ein, nach einigen Sekunden Bedenkzeit angesichts ihrer Vorwürfe, und schaute konzentriert auf die Straße. Natsuki sah ihn verwundert an. Diese neue Ernsthaftigkeit, diese Einsicht überraschten sie und waren ihr völlig neu. "Genau deshalb bist du ja auch so verrückt nach mir", vollendete Shinji seinen Satz, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er parkte auf einem Parkplatz vor der Schule und sah das Mädchen erwartungsvoll an. Das war wohl nichts mit Einsicht. Natsuki musterte ihn entgeistert. "Du bist wirklich... argh!" Ihr fehlten die Worte. Sie schüttelte den Kopf und fasste nach dem Türgriff, um auszusteigen, Shinji aber hielt sie am Handgelenkt fest und als sie sich zu ihm umdrehte, um ihn anzufahren, was das denn solle, lehnte er sich blitzschnell zu ihr herüber und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen auf. Geschockt drückte Natsuki den jungen Mann energisch von sich weg und in ihrem Blick spiegelte sich blankes Entsetzen wider. Shinji beobachtete seine Freundin amüsiert, als sie aus dem Auto sprang, ihm ein wutentbranntes "Du bist wirklich total widerlich, Shinji Minazuki! Ich hasse dich!!!" an den Kopf warf und so schnell wie möglich in der Schule ihres Vertrauens verschwand. Der 19-jährige lehnte sich in seinen Sitz zurück und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. "Warte nur...", murmelte er noch leise vor sich hin, bevor er wieder den Wagen anließ und den Weg zur Uni einschlug. Er war viel zu spät dran. Aber das war es ihm wert gewesen... Kapitel 2: Das Trauma in Gestalt -------------------------------- Als Natsuki unwirsch den Stuhl wegschob, um sich darauf zu setzen und ihre Schultasche mit einem lauten Knall auf dem Tisch landete, erntete sie einen vorwurfsvollen Blick ihrer Freundin Naomi. Die zwei Mädchen waren schon seit dem Kindergarten befreundet und steckten seitdem auch immer zusammen, nichts konnte die beiden trennen. Naomi wurde zwar in Japan geboren, jedoch kamen ihre Eltern ursprünglich aus Frankreich und sind des Berufs wegen nach Tokio gekommen. Es sollte nur ein Aufenthalt von zwei Jahren werden, aber als Naomi’s Mutter, die damals noch Hausfrau und ihrem Vater aus Liebe gefolgt war, schon nach kurzer Zeit schwanger wurde und schließlich das Kind zur Welt brachte, entschieden sich die beiden, die sich mittlerweile gut eingelebt hatten, dass ihre Familie nicht noch einmal entwurzelt werden sollte. Naomi hatte dunkelblondes Haar, das ihr bis fast bis zur Taille reichte, grüne, leuchtende Augen und immer ein freundliches Lächeln für jedermann übrig. Sie war die Gelassenere von beiden, während Natsuki manchmal doch etwas zu viel Temperament an den Tag legte. Naomi hatte eine schnelle Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis und war sehr aufmerksam, was auch ihre überaus guten Noten in der Schule erklärte. Trotz alledem war sie aber keine Streberin und hütete sich auch davor, sich zur Klassensprecherin aufstellen zu lassen. Sie hatte doch lieber ihre Freiheit und Freude am Leben. Sie und Natsuki ergänzten sich großartig und waren sich trotz all der Unterschiede doch in vielem ähnlich. "Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte Naomi, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und musterte ihre genervte Freundin. Natsuki hatte schulterlange, hellbaune Haare, dazu die passende Augenfarbe und den meisten Jungen blieb die Luft zum Atmen weg, sollten sie das Glück haben, von ihr angelächelt zu werden. Vom Zustand des Lachens war Natsuki aber momentan weit entfernt. "SHINJI!!", platzte es aus dieser heraus und man sah richtig, wie sich die Wut in ihren Augen widerspiegelte. "Das hätte ich mir ja gleich denken können", kommentierte Naomi trocken und machte sich schon auf die Salve gefasst, die Natsuki mit Sicherheit mal wieder auf Shinji abfeuern würde. Naomi hatte sich da aber geirrt, denn ihre Freundin sackte nur auf ihrem Stuhl zusammen, lehnte sich über den Tisch und streckte die Arme weit von sich. Jetzt wurde Naomi neugierig. "Was hat er denn wieder gemacht?", hakte sie interessiert nach und rückte mit dem Stuhl näher an Natsuki’s. "Der Vollidiot", seufzte Natsuki, "hat... äh, ach... nichts..." Plötzlich war es ihr sehr unangenehm, auszusprechen, dass Shinji sie geküsst, beziehungsweise es versucht hatte. Sie schüttelte den Kopf, um diesen peinlichen Gedanken und das grauenhafte Bild in ihrem Kopf schnell wieder zu vertreiben. "Er hat... heute morgen wieder alle Pancakes aufgegessen...", schloss sie lahm und sah ihre Freundin vorsichtig an, um sich zu vergewissern, ob sie ihr ihre Ausrede auch abkaufte. "Was? Und das war’s?", fragte diese ungläubig. Sie hatte sich wohl mehr erhofft. "Und ich dachte, es wär was Ernstes...", fuhr Naomi weiter fort, sichtlich enttäuscht. Natsuki, eifrig bemüht, so schnell wie möglich aus dieser prekären Situation herauszukommen, richtete sich energisch wieder auf. "Das IST ernst, Naomi!", beteuerte sie und versuchte dabei, so überzeugend wie möglich zu klingen. "Der Typ isst uns unser ganzes Frühstück weg!" "Na ja..." Naomi war nicht wirklich überzeugt, aber sie hatte auch keine große Lust, sich mit ihrer Freundin anzulegen. Was Natsuki’s Abneigung gegen Shinji betraf – sie war grenzenlos. Da hatte man sogar als beste Freundin mit mehr oder weniger logischen Argumenten keine Chance. Natsuki war zwar ein sehr liebevoller Mensch, jedoch konnte sie auch sehr aufbrausend werden, sollte jemand sie provozieren. Oder besser gesagt, jemand Bestimmtes. Naomi wusste mittlerweile, dass Natsuki’s größter, natürlicher Feind in freier Wildbahn ihr Nachbar und Sohn der besten Freunde ihrer Eltern, Shinji, war. Seit Naomi sich erinnern konnte, lagen sie zwei sich in den Haaren. Innerlich amüsierte sie sich sehr darüber, aber manchmal nervte es sie auch... einerseits Shinji, der es einfach nicht lassen konnte, ihrer besten Freundin regelmäßig die Laune zu verderben, andererseits Natsuki selbst, die sich einfach zu schnell wegen jedem Atemzug, den Shinji in ihrer Gegenwart tat, aufregte. Naomi beschloss, sich geschlagen zu geben und das Thema nicht weiter zu vertiefen. Der Unterricht würde sowieso in wenigen Augenblicken anfangen, stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest. Die Lehrerin war immer auf die Sekunde pünktlich. Das Mädchen rutschte wieder mit ihrem Stuhl an ihren ursprünglichen Platz, murmelte aber eher zu sich als zu Natsuki ein abwesendes "Und ich dachte, du magst überhaupt keine Pancakes..." Natsuki’s Kopf schnellte nach dieser Bemerkung blitzschnell in Naomi’s Richtung, da sie dachte, ertappt worden zu sein, diese jedoch war schon gar nicht mehr bei der Sache. Sie holte gerade ihre Schreibmaterialien heraus und platzierte sie ordentlich auf dem Tisch. Beunruhigt wandte sich Natsuki ab. Jetzt hatte sie wegen diesem Vollidioten schon ihre beste Freundin angelogen und sowieso... sie kniff die Augen zusammen, um den unglücklichen Vorfall von vorhin schneller vergessen zu können. Wie lange würde es dauern, bis sie dieses Trauma überwinden konnte? Kapitel 3: Der schwarze Ohrring ------------------------------- In ihrem Zimmer hatte sich Natsuki an ihren Schreibtisch gesetzt und die kleine Schatulle aufgemacht, die ihr ihre Großeltern zum 12. Geburtstag geschenkt hatten. Sie nahm das einzige Schmuckstück heraus, das das kleine Kästchen beinhaltete: einen kleinen, schwarzen Ohrring. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie diesen Ohrring besessen, der ihr größter Schatz war. Oftmals hatte sie ihre Mutter gefragt, was es mit diesem Ohrring auf sich habe, diese jedoch lächelte immer geheimnisvoll und erzählte ihr die unglaubliche Geschichte, dass er sie zu demjenigen führen würde, der ihr vorherbestimmt sei. Als kleines Mädchen mochte das ja alles romantisch und aufregend klingen, aber mit 15 glaubte Natsuki schon lange nicht mehr an solchen Schwachsinn. Trotz all der Geschichten, die sie mittlerweile nicht mehr zu glauben vorgab, war ihr dieser Ohrring sehr wichtig und sie wagte es nicht, ihn aus der Hand zu geben. Natsuki drehte den Ohrring in den Fingern hin und her, betrachtete ihn von jeder Seite, so, wie sie es immer tat, wenn sie aufgebracht war. Seltsamerweise wurde sie ruhiger und entspannte sich wieder ein wenig. Sie legte das mystische Schmuckstück wieder zurück an seinen Platz und holte ihre Schulsachen heraus. Je eher sie mit Hausaufgaben fertig war, desto früher hatte sie frei. Und sie musste unbedingt schnell fertig werden, denn sie hatte sich am Abend mit Naomi im Park verabredet. Shinji saß im Schatten einer großen Eiche auf dem Universitätsgelände und hielt etwas Glitzerndes in den Händen, das er eingehend studierte. Der kleine Gegenstand reflektierte das Sonnenlicht, das darauf fiel, egal, wie er ihn drehte und wendete. Er erinnerte sich noch, als wäre es gestern gewesen, an den Tag, an dem Marron mit der neugeborenen Natsuki aus dem Krankenhaus kam. Jahrelang hatte er darauf gewartet, sie endlich wiederzusehen, sie, seine Fynn, die damals... Shinji schüttelte den Kopf. Es war nicht gut, sich daran erinnern zu können. Er warf noch einmal einen gelangweilten Blick auf seinen schwarzen Ohrring und verstaute ihn in seiner Hosentasche. Marron und Chiaki hatten ihm ausdrücklich untersagt, Natsuki auch nur ein kleines Sterbenswörtchen davon zu verraten. Bloß keine Erinnerungen wachrütteln. Vielleicht wäre das auch für ihn das Beste gewesen... Aber so konnte er wenigstens in ihrer Nähe sein. Seine Augen blitzten angriffslustig auf und er lächelte. "Auch, wenn du mich nicht leiden kannst... noch nicht..." "Wieso sollte ich dich nicht leiden können?" Shinji schreckte auf. Sein Kumpel Taiki stand vor ihm und blickte ihn stirnrunzelnd an. "Kommst du heute nicht zum Basketballtraining?", wechselte dieser das Thema und fuhr sich mit der Hand durch sein feuerrotes Haar, seinen Blick abwesend auf eine Gruppe Mädchen gerichtet, die gerade den Campus verließen. Shinji zuckte gelangweilt mit den Schultern. "Eigentlich habe ich keine große Lust", gestand er. Taiki wandte sich von den Mädchen, die mittlerweile schon zu weit weg waren, um sie genüsslich beobachten zu können, ab und grinste Shinji an. "Wie immer, hm? Der Trainer beschwert sich schon über dich, man!" Shinji machte ein verächtliches Geräusch und lachte. "Dann soll er mich doch rausschmeißen. Es gibt genug Basketballvereine, die sich um mich reißen." Sein Freund verzog die Mundwinkel zu einem abschätzigem Lächeln. "Ganz bescheiden heute, was?" Er streckte Shinji ungefragt die Hand aus, dieser ergriff sie und ließ sich von seinem Kumpel auf die Beine ziehen. "Wie immer." Shinji zwinkerte einem braunhaarigen Mädchen zu, das in einer Mädchentraube stand gerade zu ihm rübergesehen hatte. Sie errötete und drehte sich sofort wieder weg, steckte mit ihren Freundinnen die Köpfe zusammen und sie fingen an, zu tuscheln. "Verstehe." Taiki nickte. "Hat dich deine Angebetete heute wieder abblitzen lassen?" Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er auch schon fort. "Vergiss sie endlich und schau dich mal nach 'ner anderen um. Es gibt ja genug hübsche Mädels im Lande." Shinji warf seinem Freund einen missbilligenden Blick zu, den dieser aber nicht bemerkte. Er nahm seinen Rucksack und kramte seine Autoschlüssel heraus. Taiki währenddessen redete irgendwas von "um die Häuser ziehen" und "Miezen aufreißen" und bekam nichts von der Aufbruchsstimmung und der veränderten Laune seines Freundes mit. Taiki war ein richtiger Weiberheld, wie er im Buche stand. Er war bei den Mädchen sehr beliebt und hatte etwas an sich, was sie wohl magisch anzog. Leider nutzte er das auch gnadenlos aus und nicht selten hatte er schon ein gebrochenes Herz hinterlassen. Shinji dagegen interessierte sich nicht sehr für andere Frauen, was ihn jedoch zu einem umso größerem Objekt der Begierde machte. "Sie wollen dich haben, weil sie dich nicht kriegen können, man!", kommentierte Taiki des öfteren Shinji's Beliebtheit. Shinji flirtete zwar gerne, jedoch hütete er sich, den Mädchen falsche Hoffnungen zu machen. Seine einzige ernsthafte Beziehung hatte er im Alter von 16, sie dauerte 11 Monate und er verließ sie, weil er das Gefühl hatte, nicht ehrlich zu ihr zu sein... immerhin war da ja immer noch Natsuki. Shinji hatte gehofft, wenn er sich mit einer anderen beschäftigte, würde er das Nachbarmädchen aus dem Kopf kriegen - außerdem war sie gerade mal 12 gewesen - doch wie sehr er sich auch bemühte und anstrengte, am Ende hat das Schicksal doch über ihn gesiegt. Und dabei wusste er nicht einmal, ob sie ihn in diesem Leben überhaupt irgendwann einmal mögen würde? Geschweige denn lieben... "Mach's gut, man sieht sich." Shinji unterbrach Taiki's Redefluss, hob zum Abschiedsgruß die Hand und begab sich schnellen Schrittes zu seinem Auto. Kapitel 4: Ein erster Hinweis ----------------------------- Ein gleißender Blitz und dann war alles wieder dunkel, fast schwarz. Und still. "Fynn... Fynn..." Irgendjemand rief verzweifelt nach ihr. Nach ihrem Namen. Plötzlich breitete sich ein lähmender Schmerz in ihr aus. Erst in ihrer Brust, dann in ihrem ganzen Körper. Etwas tropfte auf den Boden. Tropf. Tropf. Tropf. "Fynn...!" "Fynn...!!!" Natsuki schreckte auf. "Natsuki!" Sie saß kerzengerade im Bett, Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Ihre Mutter hatte soeben das Zimmer betreten, das Licht angeknipst und sah sie besorgt an. "Alles in Ordnung? Hattest du einen Alptraum? Du hast so laut geschrieen..." Marron setzte sich auf die Bettkante und sah ihre verwirrte, noch verschlafene Tochter liebevoll an, die halbblind ins Licht blinzelte, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. "Ja, ähm... ich hab geträumt..." Sie stockte. Der Traum war eben noch präsent gewesen, er war ihr absolut real erschienen, doch jetzt, wo sie versuchte, ihn zu rekapitulieren, entglitt er ihr. "Ich... wie..." Sie zögerte einen Moment. "Wie hast du mich eben genannt?" Ein überraschter, verständisloser Ausdruck legte sich auf Marron's Gesicht. "Was meinst du, Schatz?" Natsuki sah ihre Mutter fragend an, doch die schien wirklich nicht zu wissen, worum es ging. Vielleicht war das auch nur Teil ihres Traumes gewesen... Sie fasste sich mit der Hand an den Kopf, der schmerzlich pochte. Wie war nur der Name gewesen? Und dieser Schmerz... der Schmerz war alles, woran Natsuki sich noch erinnern konnte. Doch jetzt, im wachen Zustand, war nichts mehr davon zu spüren, mal abgesehen von den sich ausbreitenden Kopfschmerzen, die allerdings nicht viel mit dem Traum gemein hatten. Marron fuhr ihrer Tochter mit der Hand über die Haare. "Werd mir ja nicht krank, junge Dame", drohte sie im Scherze und zwinkerte Natsuki zu, die sich zu einem dünnen Lächeln zwang. Chiaki steckte den Kopf durch die Tür, die Augen halb geschlossen. "Alles okay bei euch beiden?", fragte er und konnte ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken. Als er bemerkt hatte, dass Marron nicht mehr neben ihm lag, wurde er sofort wach. Manchmal glaubte Marron, er hatte einen sechsten Sinn für so etwas. Er behauptete allerdings immer, er habe einen "Marron-Radar", doch was er damit meinte, wollte er keiner von beiden verraten und tat immer ganz geheimnisvoll, sobald sie ihn neugierig darauf ansprachen. Auch dann nicht, wenn seine beiden Mädels anfingen, sich über ihn lustig zu machen. Er lächelte nur geheinmnisvoll und übte sich in Schweigen. Bei seinen Anblick grinsten sich Marron und Natsuki komplizenhaft an und Marron erhob sich. "Schlaf jetzt weiter, und hoffentlich besser", wünschte sie Natsuki, die sich wieder in ihr Kissen zurückgelehnt hatte und nickte. "Ich bringe jetzt wieder deinen Vater ins Bett", fügte Marron lachend hinzu, trat zu Chiaki, schob ihn sanft aus dem Zimmer, löschte das Licht und schloss die Tür leise hinter sich zu. Natsuki drehte sich auf die Seite, starrte in der Dunkelheit die Wand an und dachte noch ein paar Minuten an das beunruhigende Gefühl, das sie während dem Traum gepackt hatte und bis jetzt immer noch anhielt, aber um ein vielfaches schwächer. Sie wusste selbst nicht, warum sie diesen Traum so ernst nahm, aber er erschien ihr irgendwie wichtig... und er hatte ein ihr noch unbekanntes Gefühl erweckt. Sie grübelte noch eine Weile darüber nach, doch bald schlossen sich ihre Augen von selbst und sie sank in einen ruhigen, entspannten Schlaf. Kapitel 5: Nachwirkungen ------------------------ Naomi hockte bei den Nagoya's auf dem Wohnzimmerteppich, Natsuki lag neben ihr, stützte sich mit den Ellbogen ab und wedelte abwechselnd mit den Beinen in der Luft, während sie in das vor ihr liegende Buch starrte. Naomi hatte hingegen ein Heft vor sich liegen, in das sie Zahlen reinschrieb, die Natsuki ihr diktierte. Sie seufzte und legte den Kugelschreiber beiseite. "Das reicht für's erste", entschied sie und schaute Natsuki's Hinterkopf an, als wartete sie auf eine Antwort. "Okay." Ihre Freundin schlug das Buch zu, setzt sich auf und rutschte näher zu Naomi, um einen Blick in das Heft zu werfen. Wortlos schauten sich die beiden Freundinnen an, in beiden Gesichtern stand Ratlosigkeit geschrieben. "Vielleicht weiß deine Mutter ja eine Lösung?", schlug Naomi nach einigen Schweigesekunden vor, Natsuki jedoch schüttelte nur bedauernd den Kopf. "Die hat leider selbst keine Ahnung davon", erklärte sie, rief aber trotzdem nach ihrer Mutter, die bei dem schönen Wetter - die Sonne schien heiter vom Himmel herab und es war herrlich warm - auf dem Balkon saß und ein Buch las. Marron legte ihr Buch weg, jedoch nicht, bevor sie sich nicht die Seite, auf der sie gerade war, gemerkt hatte, und betrat den Raum, in dem die zwei Mädchen gerade versuchten, ihre Hausaufgaben zu machen. Sie warf einen Blick auf das Lehrbuch, das Natsuki hatte am Boden liegen lassen und lächelte die Mädchen entschuldigend an. "Tut mir leid, aber falls ihr Hilfe braucht, seid ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich bin in Mathe fast durchgefallen seinerzeit", informierte sie die Freundinnen und setzte sich auf die Couch, vor der sich die zwei niedergelassen hatten. "Wirklich?", fragte Naomi interessiert - würde sie doch bald das gleiche Schicksal ereilen, sollte nicht bald irgendein Wunder geschehen. Marron nickte. "Ich bin nur durchgekommen, weil Chiaki, Natsuki's Vater, mir damals tagtäglich seine Hilfe aufgezwungen hat..." Sie lachte, als sie sich daran erinnerte, wie Chiaki früher ungefragt ihre Wohnung betrat, ohne hereingebeten worden zu sein, und sie gerade bei den Aufgaben erwischt hatte, die sie nicht zu lösen vermochte. Seitdem war er fast jeden Tag gekommen, hatte ungebeten ihr Mathebuch aufgeschlagen, hatte erklärt und immer wieder erklärt und egal, wie oft sie ihn zum Teufel wünschte, er blieb und half ihr - gegen ihren Willen. Das war natürlich noch zu der Zeit, wo sie sich niemals eingestanden hätte, dass sie tatsächlich Gefühle für ihn hatte - haben könnte. Und außerdem traute sie seinen Absichten auch nicht... Aber das war ja sowieso eine ganz andere Geschichte gewesen. irgendwann gewöhnte sie sich an seine Anwesenheit und sie bestand auch die Matheprüfungen - zwar nicht mit links, aber doch mit ganz akzeptablen Noten. Marron kräuselte die Stirn. Wie es wohl mit ihr und der Mathematik ausgegangen wäre, wenn Chiaki nicht da gewesen wäre? Sie wendete ihre Aufmerksamkeit wieder den Mädchen zu. Auch wenn sie damals Hilfe gehabt hatte - sie hatte den Stoff so schnell wie möglich aus ihrem Kopf verbannt, nachdem es sicher war, dass sie ihn nie wieder hatte brauchen können. Und - wie konnte es auch anders sein? - konnte sie sich heute an nichts mehr erinnern und demnach den beiden auch keine große Hilfe sein. Marron schüttelte den Kopf. "Ihr müsst Chiaki fragen, der ist ein Ass auf diesem Gebiet." "Ja, wenn er da wäre, wäre das auch kein großes Problem, aber er muss ja wieder Doppelschichten im Krankenhaus einlegen", beschwerte sich Natsuki genervt. Manchmal ging ihr ihr Vater schon ab, wenn er so lange arbeiten musste oder es einen schlimmen Unfall gab und alle kompetenten Hilfskräfte gebraucht wurden, die aufzufinden waren. Ihr Vater war einer der Besten, also wen wunderte es schon, dass man ihn ständig irgendwo brauchte? Natsuki ging das zwar gehörig gegen den Strich, musste sie doch ihren Vater mit zig anderen Leuten - Kranken, Alten, Kindern, Erwachsenen, Säuglingen - teilen, dennoch war sie sehr stolz auf ihn. Er rettete Leben, war hoch angesehen und tat alles, um den Menschen zu helfen. Und darüber hinaus schaffte er es doch irgendwie, ein intaktes Familien- und Privatleben zu führen. Na ja, korrigierte sie sich, zumindest oftmals. Er gab sein Bestes. Marron lächelte und stand wieder auf. Auch, wenn Natsuki nicht selten über den Beruf ihres Vaters und seine Abwesenheit schimpfte, so wusste sie doch, dass sie sehr gerne mit ihrem Vater prahlte und ihm gar nicht richtig böse sein konnte. Im Weggehen schmunzelte sie. Der Gedanke, dass es einen Menschen auf der Welt geben könnte, der Chiaki wegen irgendetwas ernsthaft böse sein könnte, amüsierte sie sehr. Mit ein wenig Anstrengung und Glück schafften es die zwei Mädchen, sich bis zur dritten Aufgabe durchzukämpfen, als es gerade an der Tür läutete. "Ich mach schon auf!", informierte Natsuki ihre Mutter, sprang auf und beeilte sich zur Tür. Ohne durch den Spion zuschauen oder nachzufragen - ein Fehler, den sie wahrscheinlich ein Leben lang bereuen würde, dachte sie sich kurz darauf - öffnete sie die Tür und lächelte den Besucher an. Zumindest hatte sie das vorgehabt, aber als sie sah, wer der Besucher war, gefror ihr das lächeln auf der Stelle im Gesicht. Vor der Tür stand Shinji. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Seit dem "Vorfall" - so nannte sie in Gedanken den flüchtigen Kuss, den er ihr aufgedrückt hatte - hatte sie ihn nicht mehr gesehen und obwohl der Gedanke sie immer noch quälte und demütigte, hatte sie versucht, ihn so gut es ging in die hintersten Ecke ihres Gedächtnisses zu vertreiben. Das war nun schon ein paar Tage her. Aber da stand er wieder. Stand in voller Größe vor ihr, seinen Rucksack hatte er über den Rücken geworfen und hielt ihn mit einer Hand fest, grinste sie an. Natsuki starrte ihn an, bewegte sich nicht vom Fleck. Der Gedanke kroch wieder heraus und platzierte sich im Mittelpunkt ihres Kopfes, tanzte und hüpfte dort herum. Wie entwürdigt sie sich doch vorkam...! "Ah, Natsuki", begrüßte Shinji sie frech grinsend. "Es ist immer wieder eine Freude, deinen wunderschönen, unglücklichen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn du mich erblickst." Er lachte und marschierte an ihr vorbei in die Diele. Dabei vergaß er natürlich nicht, ihr schelmisch zuzuzwinkern. Er streifte mit dem rechten Fuß seinen linken Schuh ab, wiederholte das Verfahren andersherum und steuerte auf den Wohnraum zu. Natsuki schloss leise die Tür hinter ihm und folgte ihm mit einem skeptischen Blick. "Hallo Shinji", hörte sie Naomi begeistert den jungen Mann begrüßen. Er grüßte freundlich zurück und fragte nach Marron oder Chiaki. Marron steckte sogleich ihren Kopf ins Zimmer. "Ah, Shinji, guten Tag." "Ich wollte Chiaki nur das Buch zurückgeben, das er mir letzten Monat geliehen hat", erklärte Shinji und hielt ein Buch in die Höhe, das er in der Hand hatte, was Natsuki vorher aber nicht registriert hatte. Sie machte einen großen Bogen um Shinji, indem sie an der anderen Seite der Couch vorbeiging und sich wieder neben Naomi setzte, ohne Shinji und Marron dabei aus den Augen zu lassen. "Er arbeitet heute länger im Krankenhaus, tut mir leid. Leg es einfach auf den Tisch, ich werde ihm bescheid sagen." Ihre Mutter war inzwischen eingetreten und betrachtete Shinji eingehend. "Du warst schon lange nicht mehr hier, ist etwas passiert?", fragte sie freundlich, aber interessiert und fügte beiläufig hinzu, ob sie ihm nicht etwas zu essen machen sollte. Ohne eine Antwort auf die Essensfrage abzuwarten, ging sie an ihm vorbei, Richtung Küche und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Shinji ließ sich das nicht zweimal sagen. Natsuki wandte sich ab und schaute auf das Blatt Papier, das vor ihr lag, vollgeschrieben mit Zahlen, die für sie keine Bedeutung hatten. Im Gehen antwortete Shinji etwas von "das Gefühl gehabt, die Gemüter waren schon erhitzt genug". Natsuki war so, als werfe er ihr bei diesen Worten einen kurzen Seitenblick zu, jedoch war sie sich nicht sicher. Vielleicht würde sie auch langsam paranoid werden und sich bloß was einbilden? Shinji war wirklich ungesund für ihre Psyche, stellte das Mädchen fest, hakte diesen Gedankengang ab, blinzelte und starrte geradewegs in Naomi's forschendes Antlitz. Natsuki zuckte erschrocken zurück. "Was ist?", blaffte sie ihre Freundin an, brüsker, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Doch Naomi blieb davon unbeeindruckt, musterte Natsuki abschätzig an und stellte dann treffsicher fest, dass etwas mit ihr nicht stimmen konnte. "Ach was", winkte diese ab, "alles in Ordnung." "Na klar", erwiderte Naomi. "Was ist los mit dir? Shinji kommt rein - du tobst nicht, du schreist nicht, du bist still und beleidigst ihn nicht einmal! Das war ja sonst immer das MINDESTE, was du getan hast!", ereiferte sich die Blonde und fuhr auch schon, ohne eine Antwort abzuwarten, fort. "Und letztens in der Schule warst du auch so seltsam, von wegen Pancakes! Denkst du echt, ich hätte dir das abgekauft?" Auffordernd schaute sie ihre Freundin an, die sich in ihrer Haut ganz klar nicht mehr wohlfühlte und Naomi während ihrem Ausbruch immer wieder "Shhh" zugeraunt hatte. Natsuki warf einen Blick auf die geschlossene Küchentür und als sie sich überzeugt hatte, dass diese nicht im Begriff war, aufzugeben, sah sie Naomi streng in ihre grün-blitzenden Augen, die nach einer Antwort verlangten. "Schon gut, schon gut...", besänftigte Natsuki sie. "Ich erzähl es dir, aber lass dir bloß nichts anmerken, klar?? Das ist so... widerlich!", schloss sie. Gespannt nickte Naomi zweimal mit dem Kopf und lehnte sich zu ihrer Freundin rüber, um ihr Geheimnis nun auch endlich in Empfang nehmen zu können. "Als Shinji mich letzte Woche zur Schule gefahren hat, da..." Natsuki stockte. Es war noch viel demütigender, es auszusprechen, als sie anfangs gedacht hatte. "Also er...", begann sie noch einmal von vorne, "er hat versucht, mich zu küs..." "Oh mein Gott!", rief Naomi laut aus, noch ehe Natsuki ihren Satz zu Ende hatte aussprechen können, und starrte ihre Freundin fassungslos an. Natsuki nickte und öffnete wieder den Mund, um etwas zu sagen. "Aber - " Sie wurde jäh unterbrochen, denn die Küchentür schwang weit auf. "Hey Mädels, es gibt Pfannkuchen, wollt ihr mitessen?" Beide Mädchen fuhren erschrocken zusammen, stierten den strahlenden Shinji, der in der Tür stand, entsetzt an und bewegten sich keinen Millimeter vom Fleck, als wären sie in ihren Bewegungen eingefroren. Beide knieten auf dem Boden und hatten die Köpfe zusammengesteckt, die jetzt verschreckt auf Shinji gerichtet waren. Der junge Mann betrachtete verblüfft die geschockten Gesichter, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarren und machte dann eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, rollte mit den Augen. "Dass ihr Pfannkuchen SO verabscheut, konnte ich ja nicht ahnen. Na ja, bleibt mehr für mich übrig." Mit diesen Worten ließ er die Tür wieder hinter sich zufallen und man hörte aus der Küche gedämpfte Stimme herausdringen, als er seine Unterhaltung mit Marron wieder aufgenommen hatte. Die beiden Mädchen atmeten angesichts dieses Schocks tief durch und Natsuki lehnte sich erleichtert gegen die Couch. Als ihr Blick dem von Naomi begegnete, grinsten sie sich an und beruhigten sich beide wieder ein bisschen, wohl in dem Wissen, dass sie nun ein unglaubliches, schreckliches Geheimnis teilten. "Und?", fragte Naomi mit einem süffisanten Grinsen und ihre Freundin warf ihr einen fragenden Blick zu. "Wie war's denn so??" Natsuki rollte fassungslos mit den Augen und stieß einen genervten Seufzer aus. Ganz eideutig: Irrenhaus! Kapitel 6: Undurchsichtige Ereignisse ------------------------------------- Die Musik dröhnte in Shinji’s Ohren, sein Cocktail schmeckte ihm auch nicht und Taiki beschäftigte sich schon seit geraumer Zeit mit seiner allerneuesten Eroberung. Shinji fragte sich, ob sie ahnte, dass ihre Beziehung mit seinem Kumpel nur von kurzer Dauer sein würde? Er musterte das Mädchen. Schwarze, kurze Haare, ein kurzer Minirock, der nur das Nötigste bedeckte und ein Ausschnitt, der tief blicken ließ. Ihre Augenfarbe konnte Shinji nicht genau ermitteln, da sie eher der Typ Mensch war, der beim Küssen die Augen geschlossen hielt – und Taiki und sie, sie hatten bis jetzt nichts anderes gemacht. Shinji senkte den Blick und rührte gelangweilt mit dem Trinkhalm in seinem Cocktail herum, während seine Gedanken zu Natsuki wanderten. Chiaki das Buch wiederzubringen, das war nur ein Vorwand gewesen, aber dass Natsuki sich ihm gegenüber so seltsam verhalten hatte, das war ihm nicht recht. Das wollte er mit dem Kuss doch gar nicht bezwecken, vielmehr dachte er, sie würde noch mehr gegen ihn wettern, ihn verfluchen und von sich weisen, doch er hätte immer noch Kontakt zu ihr gehabt, egal auf welche Art und Weise. Aber dass sie ihn ignorierte und nicht mehr mit ihm sprach, das störte ihn. Vielleicht war er zu weit gegangen. Marron hatte ihn gebeten, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen, aber wie lange sollte er denn noch untätig bleiben, während kostbare Zeit verstrich?! Zeit, die man anders hätte besser nutzen können. Zeit, in der alles schon hätte gut sein können. Shinji zerknickte unbewusst den Trinkhalm in seinen Fingern. Er war fest entschlossen, sich seine große Liebe zurückzuerobern! Koste es, was es wolle. Er blinzelte angestrengt. Der Zigarettenrauch biss in seinen Augen und Shinji fragte sich, warum er sich hatte breitschlagen lassen, mit Taiki "um die Häuser zu ziehen". Er stand auf - Taiki würde ihn bestimmt nicht vermissen - und entschied sich mit dem kurzen Aufleuchten eines Grinsens auf seinem Gesicht dazu, Taiki auch seine Rechnung begleichen zu lassen. Der würde schon sehen, was er davon hatte. Sie war von Licht umgeben. Hellem Licht. Nichts war um sie herum erkennbar, nur weißes Licht. Sie fühlte sich wohl, irgendwie geborgen, fühlte sich, als würde sie schweben, im weißen Nichts. Plötzlich starrte sie ihre Füße an. Da erst bemerkte sie, dass sie sich auf festem Grund befand. Sie stand auf einem weißen, schönen Marmorboden. Ein kleiner Gegenstand fiel zu Boden. Es gab ein metallenes Geräusch, das die Stille durchdrang und in ihren Ohren widerhallte. Ein schwarzer Ohrring lag vor ihren Füßen. Überrascht betrachtete sie ihn, doch als sie sich hinunterbeugte und ihn berührte, um ihn aufzuheben, wurde alles um sie herum schwarz und der Boden unter ihr gab nach. Sie fiel ins tiefe, schwarze Nichts. "Fyyyynnnnnnn!!!!!", rief jemand, so weit entfernt wie aus der Vergangenheit... Natsuki rieb sich grimmig die Beule an ihrem Kopf. Heute Nacht hatte sie unruhig geschlafen und als sie von ihrem Alptraum aufschreckte, hatte sie leider die Wand nicht mit in ihre Berechnungen einkalkuliert. Das würde bestimmt Tage dauern, bis die sich wieder verflüchtigt hatte, aber das war gerade Natsuki's geringstes Problem. Während sie mit beladenen Einkaufstüten nach Hause trottete – Marron hatte sie gebeten, einzukaufen, da sie selber schwer beschäftigt mit Partyvorbereitungen war - kreisten ihre Gedanken um den heutigen Traum. Langsam wurde ihr das suspekt und sie konnte sich nun auch an den Namen erinnern, der in beiden Träumen ganz offensichtlich eine wichtige Rolle spielte: Fynn. Wer war diese Fynn? Wieso träumte Natsuki von einer Person, die sie nicht kannte und nie zuvor gesehen hatte? Viel wichtiger aber: Natsuki hatte das Gefühl gehabt, sie wäre in Fynn's Körper gefangen gewesen. Vielleicht hatte das nichts zu bedeuten, überlegte sie. Vielleicht hatte sie den Namen "Fynn" irgendwo gehört - es gab ja massenweise Popsängerinnen und andere Berühmtheiten, die man nur so nebenbei aufschnappte. Natsuki verlangsamte ihren Schritt. Andererseits war da die Sache mit dem Ohrring. Sie runzelte die Stirn und wich einem zeitungslesenden Mann aus, der sie sonst umgerannt hätte. Das im Traum war eindeutig "ihr" schwarzer Ohrring gewesen, oder nicht? Verwirrt blieb Natsuki stehen und befahl sich, sich zu konzentrieren. Sie war also in Fynn's Körper - wer auch immer das war - und der Ohrring war auch da - aber, da kam ihr die Idee, vielleicht war das ja gar nicht "ihr" Ohrring, sondern das zweite Exemplar? Und wieso fiel er vor Fynn's Füße? Und was sollte das mit dem Schmerz, mit der Dunkelheit? Natsuki brummte der Kopf vom vielen Nachdenken und ihr war etwas schwindelig. Sie fühlte sich ein bisschen fiebrig, so als würde sie bald krank werden. Irgendwann bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit gebannt auf die gegenüberliegende Straßenseite gestarrt hatte, während sie überlegte. Ihr Blick war auf eine Person gerichtet gewesen, die mit dem Rücken zu ihr vor einem Schaufenster stand. Es war eindeutig ein jüngerer Mann. Gerade wollte sich Natsuki abwenden, als es ihr bewusst wurde: das war Shinji! Sie erstarrte in der Bewegung, doch das hielt nicht lange an und leise versuchte sie, sich aus dem Staub zu machen. Schlimm genug, dass sie heute so irritiert war, aber der hatte ihr gerade noch gefehlt, um ihre Verwirrung komplett zu machen. Außerdem würde sie ich bald sowieso einen ganzen Tag lang ertragen müssen, bei seiner Geburtstagsfeier nämlich, für die Miyako und Marron schon enthusiastisch Vorbereitungen trafen – er würde 20 werden. Noch ein Jahr älter, aber immer noch so dumm, hatte Natsuki leise kommentiert, als Marron ihr diese Neuigkeit eröffnete. Gut, dass ihre Mutter das nicht gehört hatte. Natsuki machte ein paar Schritte zurück, überlegte, welche Seitenstraßen sie nehmen sollte, um auf dem zweitschnellsten Weg nach Hause zu kommen und drehte sich mit dem Rücken zu Shinji, um auch schon in der nächstbesten Gasse zu verschwinden. Doch kaum hatte sie ihm den Rücken gekehrt, landete eine große Pranke - zweifellos die Shinji's - auf ihrer linken Schulter und gutgelaunt schob sich der junge Mann vor sie, um sie zu begrüßen. "Guten Morgen, Natsuki-chan!", grinste Shinji und nahm seine Hand vorsichtshalber von ihrer Schulter, als fürchtete er, sie würde gleich abgehakt oder sonst irgendwie verstümmelt werden. Zu Recht, wie Natsuki befand. Skeptisch beäugte sie ihn, wie er sie fröhlich angrinste und grüßte ihn ebenfalls. Innerlich machte sie sich wieder auf den üblichen Kampf mit ihm gefasst, knurrte "Nenn mich gefälligst nicht so!", doch er winkte nur desinteressiert ab und ging gar nicht erst darauf ein. Dann betrachtete er Natsuki ernst und sein Lächeln verschwand. Unter seinem forschenden Blick fühlte sie sich plötzlich sehr unwohl und irgendwas in ihrem Inneren wand sich, sie musste hier dringend weg... "Was ist denn passiert?", fragte Shinji mitten in ihre Gedanken hinein; er klang recht besorgt, aber auch ein bisschen wütend. "Was?", erwiderte Natsuki verwirrt - was meinte er? "Na das." Shinji beugte sich zu ihr herunter und als er Augenhöhe mit ihr war, deutete er mit dem Finger auf ihre Beule, ohne sie zu berühren. Schließlich wollte er sich seiner körperlichen Unversehrtheit noch ein bisschen länger erfreuen. "Das ähm, ist nur eine Beule", erklärte Natsuki ihren Füßen und bemerkte, wie sie ihre Einkaufstüten noch mehr umklammerte. Dann besann sie sich wieder. "Und außerdem geht dich das gar nichts an!", fauchte sie ihn an, um wieder zu ihrem früheren Selbst zurückzufinden. Doch Shinji ließ sich weder beeindrucken, noch ablenken. "Das kann ich auch sehen", sagte er mit Nachdruck. "Aber woher HAST du sie?" "Ich sagte, das geht dich gar nichts an, klar?", wiederholte sie noch einmal, diesmal wirklich wütend. Natsuki konnte einfach nicht verstehen, warum er sich ständig in ihre Angelegenheit einmischte. Sie funkelte ihn zornig an und wollte so würdevoll und schnell wie möglich an ihm vorbeispazieren, doch er hielt sie plötzlich am Handgelenk fest. Anscheinend schien es ihm dieses Mal egal zu sein, dass Natsuki schon den zweiten Dan in Kendo und auch sonst so einiges auf dem Kasten hatte. Etwas erschrocken wirbelte sie herum und sah ihn an; sein Gesicht zeugte ebenfalls von Wut, aber auch von Sorge. "Wer war das?", knurrte er, während er ihr Gesicht genauestens fixiert hatte. "N... niemand! Wie kommst du überhaupt darauf?" rief sie aufgebracht und wurde um die Nase herum ein wenig rosa. Als ob sich jemand trauen würde, sie zu verprügeln?! "Ich hab mich an der Wand gestoßen", erklärte sie gequält, als er sie immer noch auffordernd anguckte und nicht den Eindruck machte, sie loszulassen, bevor sie ihm endlich die Wahrheit gesagt hatte. Shinji ließ sie los und sie trat misstrauisch einen Schritt zurück. Das Mädchen meinte zu beobachten, wie ein kleines, fast spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel zuckte, das er aber gut zu unterdrücken wusste. Natsuki rollte innerlich mit den Augen und kam sich etwas gedemütigt vor. Ihrem schlimmsten Feind zu erzählen, dass sie nicht mal einer Wand ausweichen konnte – argh! Sie könnte sich die Haare raufen... Shinji kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, schien zu überlegen, warf ihr einen undefinierbaren Blick zu, schüttelte dann den Kopf, seufzte. "Ich helfe dir tragen", erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ und nahm ihr ungefragt ihre Taschen ab. Den Rest des Weges ging er schweigend vor Natsuki her, sagte kein Wort. Auch sie schwieg, während sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Was war passiert? Fieberhaft versuchte Natsuki, die Situation irgendwo einzuordnen, gab das Vorhaben aber bald auf. War Shinji wütend auf sie? Aber aus welchem Grund? Sie hatte nichts getan! Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich über sich selbst, denn sei wann war es wichtig, was Shinji war oder nicht war? Sie hatte schließlich genug andere Sorgen, sagte sie sich, warf aber noch einen verstohlenen Blick auf Shinji's Rückansicht. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so schweigsam und ernst zu sein... Kapitel 7: Neuland ------------------ Vor Natsuki’s Haustür stellte Shinji ihre Einkaufstüten ab – der Aufzug war kaputt gewesen und er hatte ohne sich zu beschweren die schweren Tüten wortlos bis in das siebte Stockwerk getragen. Natsuki dagegen hatte das Treppensteigen ungewöhnlich angestrengt und sie fühlte sich ein bisschen wackelig auf den Beinen, beschloss aber, sich zusammenzureißen und sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht hatte sie sich ja eine Erkältung eingefangen und konnte so dem Geburtstagsessen bei den Minazuki’s entgehen. Natsuki kramte nach dem Haustürschlüssel in ihrer Tasche und fand ihn schließlich, doch bevor sie diesen ins Schloss steckte, wandte sie sich zu ihrem ungeliebten Nachbar um. Sie konnte ihn zwar nicht sonderlich gut leiden – woran er aber selber schuld war, wie sie fand – aber dennoch wusste sie, was sich gehört. "Danke für die Hilfe", gestand sie ein und schaffte es noch gerade rechtzeitig ein pikiertes "auch wenn dich keiner darum gebeten hat!" zu unterdrücken. "Für dich tu’ ich fast alles", zwinkerte Shinji ihr schelmisch zu und als sie genervt mit den Augen rollte, fügte er freundlich fragend hinzu, ob sie am nächsten Tag auch bei seiner Geburtstagsfeier anwesend sein würde. Mit einem unglücklich gequälten Kopfnicken schloss Natsuki endlich die Tür auf, schubste sie ein Stück weit auf und griff nach den beiden vollbepackten Einkaufstüten, um sie hochzuhieven. Shinji streckte über ihrem Kopf den Arm aus, um die Tür, die im Begriff war, wieder zuzufallen, Natsuki aufzuhalten, damit sie die Wohnung betreten konnte. Natsuki allerdings passte es gar nicht, dass Shinji sich heute wie ein Gentleman benahm. Was sollte sie mit diesem Verhalten nur anfangen? Das war Neuland für sie. Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu, er erwiderte jedoch mit einem ehrlichen Lächeln. 'Der führt doch bestimmt wieder irgendwas im Schilde', überlegte sie sich, während sie die Tüten in der Diele abstellte und sich ihrer Schuhe entledigte. "Dann bis morgen", verabschiedete Shinji sich, immer noch lächelnd und ohne – wie Natsuki es eigentlich erwartet hätte – einen typischen Spruch abzulassen, schloss er die Tür hinter sich und ließ sie alleine mit ihren Einkaufstüten. Kopfschüttelnd und verwundert beförderte Natsuki ihre Einkäufe in die Küche und packte erst einmal alles aus, stellte die Sachen auf den Tisch, ordnete sie dann in den Kühlschrank oder in die Kühltruhe, eine Packung Schokoladenkekse allerdings riss sie sofort auf und steckte sich sogleich eines der leckeren Plätzchen in den Mund. Ihre Eltern waren nicht zu Hause – Chiaki war wie üblich im Krankenhaus und würde vor 20 Uhr bestimmt nicht zurückkommen und wo Marron war, das konnte Natsuki nur ahnen, vermutete sie ihre Mutter nebenan bei Miyako. Schließlich war morgen Shinji’s Geburtstag und da waren beide Frauen in heller Aufregung. "Shinji wird 20, das ist etwas ganz besonderes!", hatte Marron ihr begeistert erklärt, sie jedoch hatte nur teilnahmslos die Schultern gezuckt. Sollte er doch, das interessierte sie nicht im geringsten. Vielleicht verhielt Shinji sich ja plötzlich deshalb so seltsam, weil er gemerkt hatte, dass er alt wurde und eingesehen hatte, dass es endlich an der Zeit war, erwachsen zu werden. Natsuki hielt kurz inne und überflog ihre Theorie in Gedanken, verwarf sie dann aber schnell. Shinji und erwachsen werden? Sie lachte in sich hinein und schluckte den Rest ihres Schokokekses runter. Niemals. 20 Jahre war ganz schön alt, das musste Natsuki schon zugeben. Und sie war sich auch sicher, dass nicht einmal Shinji umhin kam, sich das einzugestehen. Und trotzdem - für die Midlifecrisis war es doch noch ein bisschen zu früh, oder? Das Mädchen ließ sich auf dem Sofa nieder, griff nach der Fernbedienung und sinnierte noch einen kurzen Augenblick über Shinji und seine wundersame Veränderung nach, als ihr auch schon wieder brütend heiß einfiel, dass sie ihn für eine unliebsame Bazille hielt und keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwenden sollte. Natsuki drückte auf die "On"-Taste der Fernbedienung, die den Fernseher dazu veranlasste, anzugehen. Die Stimme der Nachrichtensprecherin lenkte Natsuki von ihren ärgerlichen Gedanken ab und schon bald hatte sie ganz vergessen, dass sie sich heute mehr als nötig mit dem Thema "unliebsame Bazille" beschäftigt hatte. Der restliche Tag verlief ereignislos. Nach dem Abendessen machten es sich Marron und Chiaki im Wohnzimmer gemütlich und unterhielten sich über dieses und jenes und - wie Natsuki immer ganz verstört feststellen musste - waren sie immer noch so verliebt wie am ersten Tag. Einerseits fand sie das ja ganz reizend, aber manchmal war es eine Qual mit zwei Turteltäubchen in einem Haus zu leben. Wenigstens arbeiteten ihre Eltern nicht immer im amourösen Modus, dafür war Natsuki sehr dankbar. Sie verzog sich also in ihr Zimmer, telefonierte eine Weile mit Naomi, wobei die eigentliche Essenz des Telefonats daraus bestand, dass Natsuki über das "Martyrium", wie sie es ausdrückte, quengelte, am nächsten Tag bei der Feier anwesend sein zu müssen. Außer den Minazukis und den Nagoyas wurde die Familie Anataki eingeladen – wie jedes Jahr. Kagura und Yashiro Anataki waren ebenfalls mit ihren Eltern befreundet und hatten Zwillinge - einen Jungen und ein Mädchen, die zwei Jahre älter waren als Natsuki. Und demnach zwei Jahre jünger als Shinji. Mit Cersia und Toki - so hießen die beiden - verstand Natsuki sich sehr gut. Cersia war ein zurückhaltendes, freundliches und liebevolles Mädchen und Toki war - nun ja - jedenfalls nicht so nervig wie Shinji. Sie unterbreitete diesen Gedanken Naomi, die noch nicht in den Genuss gekommen war, die Zwillinge kennen zu lernen. "Nicht so nervig wie Shinji?", wiederholte Naomi belustigt und ließ Natsuki gar nicht mehr zu Wort kommen. "Wie kommt es, dass dein Maßstab für alle Typen immer nur Shinji ist?", hakte sie nach und Natsuki schoss kurz der Gedanke durch den Kopf, ihre Freundin hatte bei dieser Frage irgendwelche Hintergedanken. "Das stimmt doch gar nicht", protestierte sie vehement gegen die Behauptung, doch ihre beste Freundin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Letzte Woche hast du Takeru als 'nicht so aufdringlich wie Shinji' bezeichnet", erinnerte sie Natsuki, die schon den Mund aufgemacht hatte, um etwas darauf zu erwidern. "Und als 'wesentlich zuvorkommender'", fuhr Naomi fort, ohne auf die Versuche ihrer Freundin zu achten, sich auch einmal zu Wort zu melden. Diese war mittlerweile rot angelaufen - Takeru war eindeutig ihr Schwachpunkt und gerade den musste Naomi jetzt anführen? Und dann auch noch in so einem hässlichen Kontext - Shinji! "Das ist ja auch so", bekräftigte Natsuki das Gesagte trotzig und auch als Naomi am anderen Ende der Leitung verächtlich schnaubte, weil Natsuki einfach nicht verstehen wollte, ließ diese sich davon nicht verunsichern. Nach einer Weile beendeten sie das Telefonat - Naomi hatte sich den Rest der Litanei über den schrecklichsten Tag des Jahres angehört - und Natsuki machte sich bettfertig. Anschließend schlüpfte sie aus ihren Pantoffeln unter die Decke und ließ ihren Kopf langsam ins Kissen sinken. Sie schloss die Augen und ihr schoss der Gedanken durch den Kopf, dass sie heute viel zu oft über ihren Erzfeind nachgedacht hatte. Und da, schon wieder! Sie verscheuchte die Überlegung sofort wieder und zwang sich, an Takeru zu denken. Ja, sie musste sich eingestehen, dass sie eine kleine Schwäche für den neuen Jungen in ihrer Klasse hatte, die man auch als "Schwärmerei" bezeichnen könnte. Takeru war ein lieber Kerl und er war Natsuki sehr sympathisch. Viel sympathischer als dieser Idiot... Natsuki's Gedanken schweiften ab ins Nichts, ein kurzes Gefühl von Schwerelosigkeit machte sich in ihrem Kopf breit, dann war sie eingeschlafen. Sie hatte die Augen geschlossen, fühlte aber, dass außer ihr noch andere anwesend waren. Sie wollte sie Augen öffnen und die Personen ansehen, aber sie war dazu nicht fähig. Und nicht nur das, sie konnte ihren ganzen Körper nicht bewegen. Sie fühlte sich schlaff und kraftlos, um sie herum hörte sie leise Stimmen. Sie lauschte genauer, doch sie konnte nichts hören. Was ging hier nur vor? Dann spürte sie etwas an ihrer Hand. Jemand öffnete sie, legte ihr etwas hinein und schloss sie wieder. Ein grauenvolles Gefühl überkam sie... wo war sie? Wieso konnte sie sich nicht bewegen? "Mein Ohrring", sagte eine Stimme, eindeutig männlich. "Gib ihn mir wieder." Und dann - wie ein Riss im Film - brach von einer Sekunde auf die andere die ganze Sequenz ab. Natsuki saß aufrecht in ihrem Bett, es war bereits hell und die Vögel zwitscherten hinter ihrem Fenster. Es würde ein schöner Sommertag werden. Verwirrt warf Natsuki einen Blick auf die Uhr. Da sie nicht zur Schule musste, hatte sie auch niemand geweckt. Es war mittlerweile schon nach 9 Uhr. Sie sah sich in ihrem Zimmer um, versuchte den Schlaf immer noch zu verscheuchen, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Hatte sie nicht irgendetwas Seltsames geträumt? Ein merkwürdiges Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen und ließ sich nicht mehr abschütteln. Als ihr irritierter Blick auf ihre geschlossene Hand fiel, fiel es ihr siedend heiß wieder ein - sie starrte geschockt auf ihre Hand und öffnete diese langsam. Sie war leer. Kapitel 8: Shinji's Geburtstag ------------------------------ Natsuki atmete noch einmal tief durch, während sie sich am Regal festhielt. Marron warf ihr einen besorgten Blick zu und wollte sich vergewissern, ob alles in Ordnung war. "Ja", erwiderte ihre Tochter tonlos und nickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das hier überleben würde. Natsuki beugte sich herunter, fischte ihren rechten Schuh unter dem Regal hervor und schlüpfte mit dem Fuß rein, dann wiederholte sie die Prozedur ein zweites Mal mit ihrem linken Schuh. Gleich würden sie rübergehen zu Shinji, doch das störte Natsuki heute weniger. Was ihr viel mehr Sorgen bereitet, war die Tatsache, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Gedanken schwebten frei umher und sie konnte keinen Einzigen von ihnen für längere Zeit festhalten, geschweige denn, sich auf irgendetwas konzentrieren und alles um sie herum schien so... weit weg zu sein. Natsuki beschloss, sich zusammenzureißen, wenigstens für das Essen, dann hielt Chiaki auch schon seinen beiden Frauen die Tür auf und kurz darauf befand Natsuki sich in einem Gewirr von Menschen, Stimmen und Lärm. Orientierungslos stand die 15-jährige im Flur der Minazuki's und wusste nicht, wohin mit sich selbst. Der Duft von Essen stieg ihr in die Nase, während sie gleichzeitig viele verschiedene Stimmen wie aus weiter Ferne auf sich einreden hörte. Sie drehte sich zu der nächstbesten Person um, die neben ihr stand und identifizierte diese als Miyako. Sie lächelte. "Schön, dass ihr da seid. Natsuki, bitte setz dich doch schon, die anderen sind alle im Wohnzimmer." Miyako bat Marron, ihr noch schnell in der Küche zu helfen und schon waren die beiden Frauen verschwunden. Natsuki entledigte sich ihrer Schuhe und schloss für einen Moment die Augen. Was war heute nur los mit ihr? Dabei fiel ihr ein, dass es ihr auch schon am Vortag nicht so gut gegangen war, jedoch hatte sie nicht wirklich in Erwägung gezogen, sich etwas eingefangen zu haben. Und die typischen Anzeichen einer Erkältung waren das auch nicht - keine Halsschmerzen, kein Husten, seit Tagen nicht mal ein kleines Niesen. Natsuki betrat den Wohnraum, auf der Couch hatten sich schon "die Männer" - Kagura, Yamato und ihr Vater, Chiaki, eingefunden und diskutierten über irgendetwas, wovon Natsuki ohnehin nichts verstand, in einer anderen Ecke des Zimmer, die als Essecke diente, saßen bereits Toki und Cersia am Tisch. Als sie Natsuki bemerkt hatten, winkte ihr Cersia freundlich herüber und Toki schenkte ihr ein Begrüßungslächeln. Etwas erleichtert, dass Shinji nicht da war - er würde ihr ja doch nur den letzten Nerv rauben - begab sich Natsuki zum Tisch und setzte sich neben Cersia, sodass der Zwillingsbruder ihr schräg gegenüber saß. "Hallo Natsuki", begrüßte die 16-jährige sie höflich und erkundigte sich auch gleich, wie es ihr ginge. "Ganz gut, danke", log Natsuki und gab die Frage auch sogleich an ihre beiden Freunde zurück. Beide konnten nicht klagen. Gerade, als Natsuki fragen wollte, wo denn Shinji an seinem eigenen Geburtstag bliebe, kam Toki ihr zuvor. "Shinji wurde von Miyako noch kurzfristig abkommandiert, etwas aus dem Laden zu besorgen. Sie hat wohl irgendetwas vergessen." Er zuckte belustigt mit den Schultern und musterte Natsuki. "Du siehst heute wirklich gut aus", stellte er fest und brachte das Mädchen zum Erröten. Doch darauf erwidern konnte sie nichts, denn sogleich fiel ihr auch schon Cersia ins Wort. "Das ist wirklich nett, dass du dich für Shinji's Geburtstag so hübsch gemacht hast", kicherte sie und die erwartete Reaktion folgte auf dem Fuße. "Niemals!", schwor Natsuki und warf ihrer Freundin einen empörten Blick zu. "Für den doch nicht!", bekräftigte sie noch einmal mit Nachdruck und Cersia schmunzelte, sagte jedoch nichts. Toki schaute abwechselnd zu Natsuki, dann zu seiner Schwester, machte den Mund auf - "Da bin ich wieder!", rief jemand fröhlich aus der Diele und man hörte, wie die Wohnungstür mit einem Krachen ins Schloss ging. Yamato seufzte, Chiaki grinste und Cersia trällerte "Shinji ist endlich da!". 'Na toll', dachte Natsuki. 'Der Spaß kann also losgehen.' Zu ihrem Missmut musste sie leider feststellen, dass sie sich keineswegs fähig fühlte, es heute mit Shinji aufnehmen zu können. Dieser schlenderte auch schon ins Zimmer, ließ sich von Chiaki gratulieren, und drehte sich dann zu Natsuki um. Sie fühlte sich etwas unbehaglich. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag...", murmelte sie ergeben und er grinste sie an, kam auf die Gruppe Jugendlicher zu und setzte sich Natsuki gegenüber an den Tisch, neben Toki, ohne den Blick von ihr abzuwenden. "Du siehst heute bezaubernd aus", sagte er zwinkernd und Natsuki kam es so vor, als hätte sie diesen Satz schon einmal gehört. Sie warf Shinji einen stirnrunzelnden Blick zu. Vielleicht hatten die zwei sich abgesprochen? "Das ist wirklich lieb, dass du dich für mich so hübsch machst", fuhr Shinji weiter fort, in einem eindeutig schelmischen Tonfall, wandte sich dann ab und grinste sein Glas an, in das er gerade Limonade eingoss. Auch mit Cersia? "Du auch?", entfuhr es Natsuki empört in Richtung des Mädchens, das neben ihr saß. Diese schaute sie ehrlich verdutzt an. "Was?" Doch Natsuki schüttelte nur den Kopf, besann sich. "Nichts..." Heute stand ihr der Kopf wirklich irgendwo anders... "Geht es dir gut? Du bist so rot...", machte sich Cersia von irgendwo weit her Sorgen. "Ja, ja, alles in Ordnung", winkte Natsuki automatisch ab, als ihre Gedanken auch schon zur letzten Nacht wanderten und sie nicht einmal mehr Shinji's neckisches "Es gibt keinen Grund, in meiner Nähe rot zu werden, Natsuki-chan!" wahrnahm. Das beunruhigte sie schon die ganze Zeit und mittlerweile war sie fast schon sicher, dass das keine gewöhnlichen Träume waren... der Ohrring... Was machte der Ohrring in ihren Träumen? Als sie aufgewacht war, war sie sich so sicher gewesen, dass sie ihn in ihrer Hand finden würde... es war alles so real gewesen und selbst jetzt konnte sie noch die Schwere spüren, die auf dem bewegungslosen Körper lag, in dem sie sich befunden hatte. Die Berührung ihrer Hand von dem Unbekannten, der ihr den Ohrring gegeben hatte... Jemand berührte ihre Finger und Natsuki fuhr erschrocken zusammen und starrte ihren Gegenüber mit großen, vor Schreck geweiteten Augen an. Shinji, von ihrer Reaktion ebenfalls etwas verschrocken, zog seine Hand zurück und wiederholte seine Frage. "Ist mir dir wirklich alles in Ordnung?" Er hatte Natsuki eine Weile beobachtet, wie sie mit leerem, glasigem Blick einen Punkt auf der Tischdecke fixiert hatte und ihr langsam, aber sicher sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Es erschien ihm, als sei sie mit den Gedanken irgendwo anders, weit, weit weg vom Hier und Jetzt. Auf seine erste Frage hatte sie nicht reagiert, also streckte er seine Hand nach ihrer aus. Das hatte anscheinend funktioniert, denn durch die Berührung wurde Natsuki wieder in die Wirklichkeit katapultiert. "Mir geht es gut", knurrte sie ihn gereizt an, er jedoch seufzte nur. Ob er es irgendwann schaffen würde, wenigsten EIN nettes Wort von ihr zu hören? Dass sie ständig auf Konfrontationskurs mit ihm ging, egal wie die Sachlage aussah, war auf Dauer ziemlich anstrengend und ermüdend und brachte ihn kein Stück weiter. Wie lange würde seine Ausdauer noch anhalten, bis er resignierte? In Momenten wie diesen glaubte er schon fast, dass es keinen Sinn hatte, doch dann beschloss er immer wieder, noch ein bisschen durchzuhalten - er würde sich ja sowieso nicht von ihr lösen können und das hatte er schon einmal unter Beweis gestellt... Shinji konzentrierte sich wieder auf die Gespräche am Tisch. Mittlerweile waren auch die Eltern dazugestoßen. Miyako, Marron und Yashiro stellten verschiedenste leckere Gerichte auf den Tisch, wovon eins besser duftete als das andere. "Und nachher gehen wir noch weg", berichtete Cersia der verwunderten Natsuki, die nickte und sich ein paar Salzkartoffeln auf den Teller häufte. "Ja, feiern, in irgendeiner Bar", bekräftigte Toki und irgendetwas schwang in seinem Tonfall mit, dass Natsuki nicht ganz deuten konnte. Shinji lachte. "Taiki schmeißt eine Überraschungsparty für mich und jetzt tun alle so, als würden sie nichts davon wissen und mit mir in eine Bar gehen", erklärte an Natsuki gewandt. Diese nahm das mit einem abwesenden Kopfnicken wahr. "Mensch Shinji", beschwerte sich Cersia nörgelnd. "Du machst die ganze Überraschung kaputt. Woher weißt du das denn schon wieder?" Shinji zwinkerte ihr verschmitzt zu, doch anstatt zu antworten, versprach er Cersia hoch und heilig, er würde auf jeden Fall den Überraschten spielen, dann widmete er sich wieder Natsuki. "Du kannst auch mitkommen, wenn du möchtest, Natsuki-chan", bot er freundlich an und bedachte sie mit einem hoffnungsvollen Blick. Erstaunt erwiderte sie endlich seinen Blick. "Das wird die tollste Feier, auf der du je gewesen bist", versicherte Toki gerade seinem Kumpel, der auf eine Antwort von dem Mädchen wartete und diesen nicht beachtete. Natsuki machte gerade den Mund auf, als sie fühlte, wie ihr extreme Hitze in den Kopf schoss - und dann fühlte sie nichts mehr. Geschockte musst Shinji mit ansehen, wie Natsuki in ihrem Stuhl zusammensank und zur Seite kippte. Ihr Vater, der neben ihr saß, reagierte geistesgegenwärtig und konnte sie gerade noch auffangen... Kapitel 9: Such Access ---------------------- Natsuki erkannte den Raum mit den weißen Wänden und dem weißen Marmorfußboden sofort wieder. Hier hatte sie sich schon einmal befunden, damals hatte sie geträumt... Das helle Licht schmerzte anfangs ein wenig in ihren Augen, doch sie gewöhnte sich innerhalb weniger Sekunden daran und schaute sich um. Alles war wie vorher... Sie betrachtete ihre Hände, bewegte ihre Finger, stellte zufrieden fest, dass sie sich in ihrem eigenen Körper befand, sah dann an sich herunter und bemerkte, dass sie immer noch die Kleidung trug, die sie zu Shinji’s Geburtstagsessen angezogen hatte. Als sie wieder aufblickte, gab sie einen erschrockenen Laut von sich und wich automatisch vor Schreck zurück. Eine junge Frau stand vor ihr und lächelte sie an. Die Frau war sehr hübsch und trug ein langes, wunderschönes Kleid, das an längst vergangene Zeiten erinnerte. Sie hatte langes, wallendes Haar, das grünlich schimmerte und ebenso grüne, aufmerksame Augen, mit denen sie Natsuki gutmutig ansah. 'Ein Engel...", schoss es Natsuki im ersten Augenblick durch den Kopf. Sie blinzelte, doch das Gefühl blieb. Und bevor Natsuki weiter darüber nachdenken konnte, streckte die schöne Unbekannte den Arm nach Natsuki aus, mit der Handfläche nach oben und wartete, ihren Blick noch immer nicht von dem verwirrten Mädchen abwendend. Sich sehr wohl der Aufforderung bewusst, zögerte Natsuki kurz, ergriff dann aber doch die angebotene Hand der Fremden. Als sich beide Hände berührten, wurden die zwei Gestalten in warmes Licht getaucht und Natsuki schnappte hörbar nach Luft, als sie feststellte, dass sie sich inmitten jenes Szenarios befand, von dem sie letzte Nacht geträumt hatte. Die junge Frau, eben jene mit den langen, grünen Haaren, die ihr gerade ihre Hand angeboten hatte, lag leblos, mit verworrenem Haar auf dem Boden. Jemand anderes kniete über ihr und drückte ihr etwas in die Hand. Ein fremder junger Mann, mit schwarzviolettem, kurzem Haar und - Natsuki konnte es kaum glauben - schwarzen Engelsflügeln kniete neben ihr und hatte Mühe, seine Verzweiflung zurückzuhalten. Sie musterte ihn neugierig und aufmerksam, bis seine Stimme sie zwang, sich wieder dem Geschehen zu widmen. "Mein Ohrring", erklärte er der leblosen Gestalt auf dem Boden. "Gib ihn mir wieder." Mit einem letzten, liebevollen Lächeln wandte er sich ab und - beide verschwanden. Geschockt starrte Natsuki auf einen Punkt in der Luft, wo eben noch die Tragödie stattgefunden hatte, während ihre Gedanken sich überschlugen - letzte Nacht, im Traum, war sie in diesem leblosen Körper gefangen gewesen? Was geschah hier nur? Sie drehte sich verwirrt zu der fremden Frau an, die doch eigentlich gerade gestorben war und in deren Körper sie sich anscheinend jede Nacht befand, wollte ihr so viele Fragen stellen, doch keine Einzige kam über ihre Lippen. "Bist du... Fynn?", presste sie schließlich hervor, doch die Fremde lächelte nur mit einem traurigen Ausdruck in den Augen. "Such Access", erwiderte sie eindringlich und ließ Natsuki's Hand los, nachdem sie sie noch einmal kurz drückte. "Such Access...", hallte es von überall her und kaum dass Natsuki sich versah, war die fremde Schönheit verschwunden und sie stand wieder allein in einem weißen, leeren Raum mit hellem Marmorboden. Und als sie fest die Augen schloss, wurde es ihr endlich bewusst: Sie träumte. Schon wieder... "Shinji... geh nach Hause", riet Chiaki erschöpft dem Jungen, der schon seit der Ankunft am Krankenbett seiner Tochter saß. Er betrachtete Shinji mitleidig, als dieser trotzig den Kopf schüttelte. Er wirkte müde und rastlos. "Ich bleibe hier!", weigerte er sich und ohne zu widersprechen seufzte Chiaki, versprach, später noch einmal nach Natsuki's Zustand zu schauen und verließ leise das Zimmer. Bei den Minazuki's hatte seine Tochter einfach so das Bewusstsein verloren. Nach einigen Minuten ist es ihm - zum Glück war er Arzt! - gelungen, sie aufzuwecken, doch ihr Wachzustand dauerte nicht lange an. Sie hatte plötzlich hohes Fieber bekommen und phantasierte irgendetwas zusammen. Was, konnte jedoch niemand verstehen, da sie nur undeutliches Murmeln von sich gab. Er machte sich große Sorgen, in letzter Zeit schien es Natsuki nicht besonders gut gegangen zu sein und auch gestern war sie ihm schon ein bisschen zu blass und wackelig auf den Beinen gewesen. Chiaki lehnte sich gegen die Krankenzimmertür, hinter der seine Tochter lag, und atmete tief durch. Mit ihr musste alles in Ordnung sein, es MUSSTE einfach. Er ballte seine Hand zur Faust. Auf die Schnelle konnte kein Arzt diagnostizieren, was Natsuki fehlte und - wie immer, wenn etwas unklar war - hatte man ihren Zustand als einen "vorübergehenden Schwächeanfall ausgelöst durch Stresssituationen" bezeichnet. Chiaki konnte nur hoffen, dass, so schwammig das auch ausgedrückt war, nichts Schlimmeres auf sie zukommen würde. Denn normalerweise war es kein besonders gutes Zeichen, wenn scheinbar gesunde Personen einfach das Bewusstsein verloren und dann stundenlang schliefen, als hätten sie dies nächtelang nicht mehr getan... Und soweit er mitbekommen hatte, saß Natsuki's einzige "Stresssituation" gerade neben ihrem Bett und wartete darauf, dass sie endlich aufwachte... Chiaki fasste sich wieder, stieß sich von der Tür ab und schlenderte langsam den Flur entlang. Er würde sich ein bisschen um den Papierkram kümmern - das würde ihn ablenken. Auf andere Patienten konnte er sich momentan ohnehin nicht konzentrieren. Shinji stand am Fenster. Draußen war es bereits dunkel, immerhin war die Nacht über sie hereingebrochen und Shinji fühlte sich, als sei er schon seit Tagen in diesem Zimmer und würde diese ihn zerfressenden Ängste durchstehen. Er lehnte seine Stirn an die kühle Scheibe und genoss die Kälte, die seinen Kopf ein bisschen abkühlte. Ein kleines Licht erleuchtete das Zimmer, in dem er schon seit Stunden saß und darauf wartete, dass Natsuki endlich wieder aufwachte. Shinji öffnete die Augen und schaute seinen gespiegelten Gegenüber sorgenvoll an. "Sie muss wieder aufwachen", erklärte er diesem. Der jedoch schaute ihn stumm an und antwortete nicht. Shinji ballte die Hand zur Faust und sein Gegenüber tat es ihm gleich. Wütend ließ er die Faust gegen die Fensterscheibe prallen, sein Spiegelbild starrte ihn verbissen an. "Du musst wieder aufwachen, Fynn", sagte Shinji bestimmt, laut in den Raum hinein. "Du musst wieder aufwachen, hörst du. Du kannst mich nicht schon wieder alleine lassen, nicht schon wieder!", wiederholte er, sein Tonfall mit Zorn und Verzweiflung unterlegt, sein Schmerz fast unendlich, seine Angst grenzenlos. Doch nichts geschah. Kein Engel kam vom Himmel herab, kein Wunder geschah, gar nichts passierte. Nur Stille und das Flackern des schwachen Lichtscheins. Erschöpft ließ sich Shinji in seinen Stuhl sinken und seufzte. Er musste sich beruhigen - immerhin hat Chiaki ihnen allen versichert, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Shinji's Gedanken schweiften zu Marron. Die arme Marron. Nach langer Diskussion hat sie sich endlich von Miyako und Chiaki überreden lassen, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Chiaki und er selbst haben ihr versprochen, sie sofort zu benachrichtigen, sollte sich Natsuki's Zustand in irgendeiner Art und Weise verändern. Auch sie hatte damals so viel verloren... Er warf einen Blick auf die schlafende Schönheit. Ganz arglos sah sie aus, so harmlos. Shinji schmunzelte. Ganz anders als sonst, wo sie jeden Augenblick bereit war, ihre Rechte in seinem Gesicht zu versenken - zur Not auch noch die Linke hinterher, wenn sie sich wieder mit ihm ein Wortgefecht der Meisterklasse lieferte, ihn als Nervensäge, Parasit oder Idiot bezeichnete - ja, sie hatte ein großes Repertoire an Beleidigungen, die alle ganz allein ihm gewidmet waren. Shinji wusste nicht so recht, ob er sich dadurch geehrt fühlen oder sich eher Sorgen machen sollte. Es konnte doch nicht wirklich sein, dass sie ihn so dermaßen hasste... oder? Damals, da hatte sie im auch gesagt, dass sie ihn hasste. Aber das war gelogen gewesen und erst im letzten, entscheidenden Moment kam die Wahrheit ans Licht. Viel zu spät, wie Shinji fand... Diese paar Stunden, die sie und er - Access - gemeinsam hatten, das war viel zu wenig gewesen. Für nur ein paar Stunden vollkommen Glück hatte Access sich abgerackert und dann kam das Ende viel zu plötzlich, zu schnell, so unerwartet. Und nun war Shinji schon 20 und versuchte es immer noch, versuchte es immer wieder, doch er stieß auf Granit, biss sich die Zähne aus und lief ständig gegen ihre Widerstandsmauer - und trotzdem... Wenn er auch nur den Bruchteil des Glücks von damals wieder erleben könnte - würde - dann würde er so lange gegen diese Mauer laufen, bis sie zu bröckeln anfing... Er betrachtete Natsuki noch eine Weile gedankenverloren, strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem schlafenden Gesicht und tastete nach ihrer Hand, die fast leblos auf der Decke lag. So wehrlos und hilflos, wie sie gerade da lag, konnte Shinji nicht umhin, einen Entschluss zu fassen - ab jetzt würde er noch besser auf sie Acht geben, er würde sie beschützen, koste es, was es wolle... So etwas durfte nicht noch einmal geschehen. Schon damals hatte er versagt - ja, er hatte das Gefühl, kläglich versagt zu haben, denn er konnte sie nicht retten, konnte nichts für sie tun, als sie sich geopfert hatte... Nicht noch mal sollte ihr etwas passieren, nicht, solange er an ihrer Seite war! Eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, holte ihn wieder in die Realität zurück. Er bemerkte, dass er entschlossen einen Punkt auf der weißen Krankenhausbettdecke fixiert hatte, während er nachgedacht hatte... Blitzschnell wandte er sich zu Natsuki um, die die Augen zusammengekniffen und das Gesicht schmerzvoll verzogen hatte. "Natsuki!", rief er, aufgeregt und erfreut zugleich. "Du bist aufgewacht!", informierte er sie, ganz von Sinnen und zwang sich, sich wieder zu beruhigen. "Was...?" Verwirrt blickte Natsuki sich um, Shinji ließ ihr die Zeit. "Du bist zusammengebrochen...", erklärte er langsam und hatte Mühe, seine Stimme in einem leisen Tonfall zu halten. Am liebsten wäre er ihr um den Hals gefallen und hätte seine Freude laut im ganzen Krankenhaus verkündet, aber - wie gesagt - das hier war eben ein Krankenhaus und es war mitten in der Nacht. "Wir mussten den Krankenwagen rufen..." Natsuki erinnerte sich dunkel an das, was passiert war. Shinji und Toki hatten gerade von einer Party gesprochen, als... "Die Party", entfuhr es ihr plötzlich und sie schaute Shinji erschrocken an, der nicht zu verstehen schien. "Deine Geburtstagsüberraschungsparty, oh nein!", wiederholte sie noch einmal, doch Shinji schüttelte nur still den Kopf. "Das ist doch egal -", setzte er an, doch Natsuki unterbrach ihn. Sie schien sich Vorwürfe zu machen. "Du solltest auf deiner Feier sein, stattdessen... Ich hab dir deinen Geburtstag verdorben..." Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit, das man ihr genau ansehen konnte. Doch Shinji schüttelte erneut den Kopf und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. "Nein, das hast du nicht", beschien er ihr, doch das Mädchen schien gar nicht zu hören. "Du solltest gar nicht hier sein", erklärte sie bestimmt und warf ihm dann einen misstrauischen Blick zu. "Warum bist du überhaupt hier?" Kaum zu glauben, gerade erst noch bewusstlos gewesen und schon wieder voll in Fahrt, dachte sich Shinji am Rande, als er über ihre Frage nachdachte. Nach einigen Momenten entschied er, ihr die Wahrheit zu sagen. "Ich kann nicht..." Er hielt inne und bemerkte, dass er immer noch ihre Hand in seiner hielt, schaute dann direkt in Natsuki's Gesicht. "Ich kann nicht woanders sein." Er sagte es so sachlich, so einfach, als würde er erklären, dass in sechs Monaten Weihnachten sein würde oder dass er zum Frühstück ein Marmeladenbrot hatte, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt - und trotzdem verschlug es Natsuki zu ihrem Unmut beinahe die Sprache. Sie machte den Mund auf, um etwas darauf zu erwidern, klappte ihn jedoch wieder zu und wandte den Blick ab. Was meinte er damit? Einen klaren Gedanken zu fassen fiel ihr plötzlich schwer und sie lehnte ihren Kopf zurück ins Kopfkissen. "Ich werde Chiaki rufen und Marron Bescheid sagen, dass du aufgewacht bist", erzählte jemand munter von weit, weit weg und eine Welle der Müdigkeit schwappte wieder über Natsuki. Im Wegdämmern nahm sie noch kurz wahr, wie Shinji mit seinem Daumen über ihren Handrücken strich, doch sie war schon viel zu weit entfernt, um sich dagegen zu wehren... mit einem letzten Augenaufschlag erhaschte sie einen Blick auf sein bedrücktes, leises Lächeln, bevor sie wieder einschlief, um in dem weißen Raum immer wieder dieselbe Szenerie zu erleben. Sie musste herausfinden, was es mit diesen Träumen auf sich hatte und die fremde Frau schien die Antwort zu kennen... "Such Access...", nuschelte Natsuki im Wegdämmern, doch Shinji war schon erleichtert aus dem Zimmer geeilt, um ein Telefon und Chiaki zu finden und überglücklich erzählen zu können, dass Natsuki, wenn sie nicht so schnell eingeschlafen wäre, schon kurz davor gewesen war, ihn wieder zu beschimpfen! Kapitel 10: Die falsche Richtung -------------------------------- Als der Wecker um halb sieben penetrant zu piepsen anfing, war Natsuki sofort bei ihm, um ihn auszustellen. Heute war sie früher wach als sonst, war schon fertig angezogen, gewaschen und hatte ihre Schultasche gepackt. Den Rest der Zeit hatte sie in ihrem Zimmer verbracht und im Internet bei allen Suchmaschinen "Access" eingegeben, bis sie verärgert feststellen musste, dass nur tausende von Programmier- und Computerseiten aufgezeigt wurden, die meisten auf Englisch. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben. Das Internet war ihre erste Anlaufstelle gewesen, als nächstes würde sie das Zeitungsarchiv der Bibliothek durchsuchen und schauen, ob sie irgendwo auf diesen so genannten Access stoßen würde. Sie musste ihn finden, schließlich hatte sie seinen Ohrring... Sie dachte kurz nach. Wieso hatte sie seinen Ohrring? Das war die Frage, die sie sich seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus stellte. Seitdem fühlte sie sich unglaublich fit und klar im Kopf. Alles erschien ihr logisch und nachvollziehbar, obwohl eigentlich gar nichts logisch und nachvollziehbar war. Aber sie war sich sicher, dass, sobald sie diesen Access gefunden hatte, ihre Fragen beantwortet und ihre seltsamen Träume aufhören würden. Und allein das war es ihr schon wert. Außerdem war sie sich endlich der Ausmaße ihrer Träume bewusst – vielleicht hatte sie irgendeine Gabe? Natsuki begann, die ganze Sache, die ihr anfangs große Kopfzerbrechen bereitet hatte, als eine Art spannendes Abenteuer zu sehen. Sie war unglaublich neugierig auf alles, was ab jetzt noch geschehen würde und sie hatte so unwahrscheinlich viele Fragen an diesen Access – sobald sie ihn finden würde, würde sie endlich die Wahrheit herausfinden über die schöne Unbekannte und was sie selbst mit der ganzen Sache zu tun hatte. Und deshalb musste sie jetzt die Ärmel hochkrempeln und alles in Erfahrung bringen, was möglich war! Da es die letzte Schulwoche war, hatte Natsuki also bald sehr viel Zeit, um sich dem "Problem Access", wie sie es getauft hatte, zu widmen. Vielleicht, dachte sie, war sie ja die Auserwählte, die diesen Access und die fremde Frau wieder zusammenführen musste – was ihre Mutter ihr einst über den schwarzen Ohrring erzählt hatte, daran dachte Natsuki jetzt nicht mehr – sie hatte eine Menge anderer Sachen im Kopf. Und wie nah sie an der Wahrheit war – das hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt! Mitten in ihre Gedanken hinein knurrte ihr Magen. Natsuki grinste und entschied sich mit einem Blick auf die Uhr, zum Frühstück anzutreten. Ihr Magen war pünktlich und es war tatsächlich die gewohnte Essenszeit. Sie nahm ihre Schultasche und stellte sie schon mal vorsorglich neben die Haustür. Als sie die Küche betrat, blieb sie aber überrascht stehen. "Wie konnte ich auch nur für einen kurzen Moment denken, dass du uns mal die Freude machst und NICHT anwesend bist?", feuerte sie in Richtung Shinji ab, der am Tisch saß und gerade – wie konnte es anders sein – mit vollem Mund auf einem Stück Pfannkuchen herumkaute. Er sah sie nur mit großen Augen an und schluckte den ganzen Inhalt seines Mundes runter, um schneller etwas darauf erwidern zu können, doch dieser blieb ihm sichtlich im Halse stecken. Natsuki konnte ein Lachen nicht unterdrücken und noch bevor Shinji zu seiner alten Form zurückfand und Widerspruch einlegen konnte, fischte ihm Natsuki mit einer schnellen, gekonnten Bewegung seinen Pfannkuchenteller vor der Nase weg, grinste ihn für den Bruchteil einer Sekunde keck an und widmete sich dann ihrem – ehemals seinem - Frühstück. "Wie geht es dir heute?", fragte Marron besorgt und legte die Schürze ab. Sie warf Natsuki einen bekümmerten Blick zu. Seitdem diese zusammengebrochen war, ließ sie sie kaum mehr aus den Augen, aus Angst, dass sich der Vorfall wiederholen könnte. Natsuki war zwar nach zwei Tagen wieder entlassen worden - die Ärzte konnten nichts außergewöhnliches und anormales feststellen, im Gegenteil - Natsuki war kerngesund - aber trotzdem machte Marron sich immer noch Sorgen, denn an die Diagnose "Kreislaufkollaps" wollte sie nicht so recht glauben. "Mir geht es gut", bestätigte Natsuki gut gelaunt, während Shinji sie immer noch ungläubig anschaute. "Bist du sicher...?", hakte er vorsichtig nach – irgendwas war doch anders – warum wurde er heute nicht so oft beschimpft wie sonst immer? "Jahaa." Natsuki rollte genervt mit den Augen. In Watte gepackt zu werden gefiel ihr überhaupt nicht, sie war doch schließlich kein Kleinkind mehr, auf das man 24 Stunden am Tag aufpassen musste. Marron nahm eine Tasse aus dem Schrank und füllte sie mit heißem Kaffee. "Wo bleibt dein Vater bloß?", sagte sie gedankenverloren zu sich selbst, als auch schon Chiaki die Küche betrat. Ebenso wie Natsuki blieb er überrascht stehen, was aber weniger mit der Tatsache zu tun hatte, dass Shinji sich wieder mal zum Frühstück eingeladen hatte – daran war er schon gewöhnt – sondern, dass seine Tochter vor ihm am Frühstückstisch saß. "Na, du bist ja früh auf." Er lächelte ihr aufmunternd zu und setzte sich neben sie. Marron stellte eine Tasse auf seinen Platz und legte die Zeitung daneben, dann setzte sie sich mit ihrer eigenen Tasse Kaffee dazu. "Bevor du fragst – mir geht es gut!", informierte Natsuki ihren Vater kurz angebunden, der sie gerade in Augenschein genommen und schon versucht gewesen war, den Mund zu öffnen. Er nickte schweigend und widmete sich dann seiner Lektüre zu, nippte dabei an seinem heißen Getränk. "Shinji bringt dich heute zur Schule", erklärte Marron an Natsuki gewandt. „Das ist doch in Ordnung, nicht wahr?“ Doch ohne die Antwort abzuwarten, sprang ihre Mutter auch schon erschrocken auf, da sie bemerkt hatte, den Herd nicht ausgestellt zu haben. "Oh nein", stöhnte Natsuki genervt und warf einen gequälten Blick Richtung Shinji, der sie jetzt angrinste. "Ich muss doch aufpassen, dass du ohne gleich in Ohnmacht zu fallen an dein Ziel kommst", begründete er, beugte sich dann etwas näher zu ihr herüber. "Im Auto kannst du natürlich gerne in Ohnmacht fallen – ich bin ja da...", fuhr er weiter fort und sein Grinsen wuchs proportional zu Natsuki’s Ärger, doch diesmal funkelte Chiaki den Nachbarsjungen warnend über den Rand seiner Zeitung hinweg an und dieser verstummte sofort, schluckte den Rest seines Satzes runter. Chiaki konnte es nicht ausstehen, wenn Shinji Annäherungsversuche bei seiner Tochter machte. Meistens versuchte er es zu ignorieren und überging es einfach, doch ab und zu wollte er dem jungen Mann am liebsten den Hals umdrehen. Seine Natsuki und dieser... verantwortungslose Kerl! Niemals! Nur über seine Leiche! Marron tätschelte ihrem Ehemann beruhigend die Schulter. "Nicht aufregen, Liebling, Natsuki wird eben erwachsen und fängt an, sich für Jungs zu interessieren", erklärte sie ihm in einem Tonfall, den man benutzt, wenn man kleinen Kindern etwas klarmachen oder sie besänftigen will. Chiaki schnaubte, zeitgleich mit Natsuki, die verärgert aufgestanden war. "Das tue ich überhaupt nicht! Und schon gar nicht für DEN DA!", sie deutet anklagend auf Shinji, der plötzlich ganz unschuldig und ahnungslos tat. "Ihr spinnt doch alle!", unterstellte sie den Dreien noch und stapfte geladen aus der Küche. Jeden Morgen dasselbe Theater, das konnte doch nicht wahr sein! Aber Natsuki hatte nicht viel Zeit, sich über das eben Geschehene aufzuregen, denn ihr fiel wieder ihre ihr auferlegte Aufgabe ein – Access suchen! Sie überprüfte kurz im Spiegel, ob ihre Haare nicht Amok gelaufen waren, klemmte sich rechts eine Haarsträhne hinter das Ohr und zog sich die Schuhe an. Shinji war aus der Küche herausspaziert und machte sich ebenfalls fertig. Er nahm ihre Schultasche und wartete an der Tür auf Natsuki, die sich noch – halbherzig – von ihren Eltern verabschiedete. Als sie wiederkam, blitzte sie ihn böse an und entriss ihm ruckartig die Tasche aus den Händen. "Das kann ich allein", sagte sie bestimmt und ging an ihm vorbei, während er mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht leise seufzte. Im Auto war Shinji erstaunlich still. Verblüfft bedachte Natsuki ihn mit einem Seitenblick und erinnerte sich daran, wie er neulich genauso schweigsam ihre Einkaufstaschen nach Hause getragen hatte. Was ging nur in ihm vor? Aufmerksam beobachtete er die Straße und den Verkehr. Natsuki musste zugeben, er lenkte den Wagen sehr vorsichtig und gewissenhaft und sein Fahrstil war angenehmer als so manch anderer. Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut, jedenfalls nicht dem Shinji, der sonst immer den Draufgänger mimte. Sie riss ihre Gedanken von ihm los und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt, aber an einigen Stellen schienen ein paar Sonnenstrahlen durch. In der Ferne erblickte Natsuki dunkle, graue Regenwolken, die sich langsam, aber unausweichlich auf Momokuri zubewegten. Der kühle Wind, der draußen wehte, und der Geruch von Nässe schien das Gewitter geradezu magisch anzukündigen. Natsuki fiel ein, dass sie keinen Regenschirm mitgenommen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Gewitter nicht gerade dann toben würde, wenn sie nach Hause ging. Den letzten Sommer hatte sie sich genau an solch einem Tag eine handfeste Erkältung eingefangen; sie hatte nur leichte Sommerkleidung angezogen und war in einen heftigen Regenguss geraten. Als sie zu Hause angekommen warm, war sie bis auf die Knochen durchnässt gewesen, was zur Folge hatte, dass sie die nächsten drei Tage ermattet im Bett verbrachte und von ihrer Mutter Medizin eingeflößt bekam. Shinji bog an der Kreuzung nach rechts ab, nachdem er ein Auto, das aus dieser Richtung kam, vorbeigelassen hatte. In wenigen Minuten würden sie an ihrer Schule ankommen – plötzlich hatte Natsuki das Gefühl, sie hätte eben jene Situation schon einmal erlebt. Und ja, da fiel es ihr wieder ein – das letzte Mal, als Shinji sie zur Schule gefahren hatte! Da hatte er... Natsuki wurde flau im Magen. Vorsichtig tastete sie nach dem Türgriff, um im Notfall schnell entkommen zu können. Gedankenverloren kratzte Shinji sich am Kopf. Das letzte Mal, als er Natsuki zur Schule gefahren hatte – es war einfach so über ihn gekommen und jetzt, in Nachhinein tat es ihm ein bisschen leid. Sie so überrumpelt zu haben... Allerdings hatte sie seitdem kein Wort darüber verloren, ihm keinerlei Vorwürfe gemacht, ihn nicht einmal beleidigt! Das versetzte Shinji in großes Erstaunen und bestätigte seine Theorie, dass mit Natsuki in letzter Zeit irgendetwas nicht stimmte. Er lenkte den Wagen in eine Parklücke und drehte sich zu Natsuki um. "So, wir sind da", sagte er munter, doch als er Natsuki’s Gesichtsausdruck erblickte, in dem sich Misstrauen und Angst mischten, musste er unwillkürlich lachen. Sie hatte also an das Gleiche gedacht! "Keine Sorge", beruhigte er sie großspurig. "Ich werde schon nichts machen." Er grinste sie an, doch das Grinsen gefror in seinem Gesicht, als sie ihren Blick senkte und tonlos, ruhig, aber fast verletzt "Ich hasse dich" sagte. Shinji schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. "Es tut mir leid", beeilte er sich zu sagen, doch das Mädchen schüttelte nur den Kopf und öffnete die Tür. "Das macht es auch nicht wieder gut!", schleuderte sie ihm wutentbrannt entgegen und erst jetzt konnte Shinji den ganzen Zorn in ihren Augen erkennen, an dem ganz offensichtlich er selbst schuld war. Natsuki schlug ungewohnt heftig die Autotür zu und lief, ohne sich auch nur einmal nach ihm umzudrehen, die Treppen zum Haupteingang der Schule hoch. Shinji sah ihr noch eine Weile, nachdem sie schon außer Sichtweite war, nach, überlegte. Was hatte sie gemeint mit "Das macht es nicht wieder gut"? Konnte es etwa sein...? Oh nein... Shinji stöhnte laut auf. "Du bist solch ein elender Idiot", schimpfte er sich selbst und schüttelte fassungslos den Kopf über seine eigene Dummheit. Sie war doch erst 15... und er...? Was war er doch für ein taktloser Trottel! Natsuki ließ sich schwer atmend auf ihren Platz fallen. Naomi war noch nicht da und überhaupt war sie heute eine der Ersten im Klassenzimmer. Sie seufzte. Was für ein Theater! Eigentlich hatte sie die Kussgeschichte ja ganz gut verdrängen können, zumindest bis eben gerade... Es war ihr ein bisschen unangenehm gewesen, als Shinji ihrem Gesichtsausdruck entnehmen konnte, dass sie genau daran gedacht hatte, aber andererseits – jetzt hatte sie es ihm gezeigt! Seiner betroffenen Miene nach zu urteilen hatte er sehr wohl verstanden, dass er in dieser Hinsicht zu weit gegangen war. Trotzdem, sie würde ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Schon gar nicht... Ihren ersten Kuss hatte sie sich anders vorgestellt... Romantisch, irgendwo unter freiem Sternenhimmel bei Nacht in etwa... und schon gar nicht mit - sie schauderte – S-h-i-n-j-i! Ihr war übel... wieso musste es so kommen? In Gedanken schoss sie – wieder einmal – tausend Flüche auf den jungen Mann ab und schwor sich, nie wieder in sein dämliches Auto einzusteigen. Lieber würde sie jeden Tag zu spät kommen und Strafarbeiten machen müssen. "Meine Güte, was ist denn mit dir los?" Naomi stellte ihre Tasche auf den Tisch neben Natsuki – ihrem Sitzplatz – ab und Natsuki drehte fragend den Kopf zu ihrer besten Freundin um. "Bist du etwa wieder gefahren worden? Und, wollte er dich wieder küssen?", fragte Naomi neugierig und lachte unbekümmert. Natsuki zog es vor, darauf nicht zu antworten und ihre Freundin, die merkte, dass wieder etwas nicht stimmte, wechselte schnell das Thema. "Wie geht es dir?", fragte sie behutsam und spielte darauf an, dass Natsuki kürzlich zusammengebrochen und ins Krankenhaus gekommen war. Diese hatte aber auch dieses Thema leid und erklärte ihrer Freundin kurz, dass es ihr gut gehe und es sie nerve, von allen wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Naomi nickte verständnisvoll, dann verwickelte sie Natsuki in ein belangloses Gespräch über ihren kleineren Bruder und was er sich am Wochenende wieder mal geleistet hatte. So empört, wie Naomi die ganze Geschichte darstellte, musste Natsuki herzlich lachen und auch noch, nachdem die Lehrerin schon die Klasse betreten hatte, konnte sie sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. Shinji schlenderte gedankenverloren durch die langen Gänge der Universität. "Ich hasse dich", hallte es in seinen Ohren immer und immer wieder und Natsuki‘s Ausdruck im Gesicht, der diese Worte zu unterstreichen schien, wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwie lief das alles in die absolut falsche Richtung... Kapitel 11: Enttäuschte Hoffnung -------------------------------- Je näher das Ende der Stunde rückte, desto hibbeliger und ungeduldiger wurde Natsuki und rutschte auf ihrem Platz hin und her. Sie konnte es kaum erwarten, ihrem Plan nachzugehen und endlich die Bibliothek aufzusuchen. Dort würde sie in den digitalisierten Zeitungsarchiven nach jemandem suchen, der den Namen Access trug. Die neueste Technik ermöglichte es heutzutage, nach Stichworten und Namen per Computer zu suchen, wofür Natsuki sehr dankbar war - denn ob sie es mit Hunderten von alten Zeitungen aufnehmen konnte, daran hatte sie ihre lieben Zweifel. Sie wusste ja nicht einmal, in welcher Zeitspanne sie suchen müsste - doch dieses Problem erledigte sich ja dank Computer sowieso wie von selbst. Endlich ertönte der Gong, der den Schulschluss einleitete. Natsuki sprang von ihrem Platz auf und verließ als eine der Ersten das Klassenzimmer. Sie wollte so schnell wie möglich dieses Gebäude verlassen und in die Bibliothek stürmen, doch da kam ihr ein anderer Gedanke und sie blieb stehen. Stirnrunzelnd näherte sie sich dem Fenster, das auf den Schulhof und den dahinterliegenden Parkplatz führte. Und wie Natsuki erwartet hatte - Shinji stand an einer Mauer gelehnt und wartete auf sie. Oh nein... Natsuki konnte auf eine zweite Begegnung am heutigen Tag mit ihm wahrlich verzichten. Hatte er heute sein Pensum an "Natsuki-auf-die-Palme-bringen" etwa noch nicht erreicht? Also ihr reichte es allemal. Sie überlegte kurz, wie sie vorgehen sollte, doch plötzlich legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr Natsuki herum und war erleichtert, dass es nur ihre beste Freundin war. Naomi stemmte die Hände in die Knie und keuchte atemlos. "Man, Natsuki, du hast vielleicht ein Tempo drauf!" Sie lachte. "Wohin denn so eilig?" "Ich muss noch dringend was in der Bibliothek erledigen", antwortete Natsuki wahrheitsgetreu und warf wieder einen Blick nach draußen. Hoffentlich würde Shinji sie bloß hinter der Glasscheibe erkennen... "Oh, Shinji wartet draußen", stellte Naomi milde überrascht fest, als sie Natsuki's Blick gefolgt war. "Ja leider." Natsuki seufzte. Sie wollte ihm auf keinen Fall begegnet... am liebsten nie wieder! Als die Blonde die leidende Miene ihrer besten Freundin bemerkte, konnte sie dem Drang, Natsuki zu helfen, einfach nicht widerstehen. "Wie wär’s, wenn du über den hinteren Schulhof flüchtest und falls Shinji fragt, sag ich ihm, du bist schon vorher nach Hause gegangen, weil es dir nicht gut ging?", schlug sie vor und ehe sie sich versah, war diese ihr auch schon um den Hals gefallen. "Danke, Naomi, du bist die Beste!" Naomi grinste. "Kein Problem!", versicherte sie und machte sich auf den Weg, gewappnet mit einer Notlüge, um ihrer besten Freundin den Rücken zu decken. Die Bibliothek war ein älteres Gebäude im europäischen Stil und befand sich - zu Natsuki's Leidwesen - auf dem Universitätsgelände. Sie hoffte nur, dass sie Shinji nicht über den Weg laufen würde. Da er vor der Schule auf sie gewartet hat, schloss sie daraus, dass er bereits frei hatte, jedoch konnte er ebenso einen Kurs geschwänzt haben - ihm würde sie es sehr wohl zutrauen! Dieser Schwänzer... Das Mädchen öffnete die schwere Tür und sah sich um. Die Luft schien rein. Sie trat in das Foyer und sofort stieg ihr der Geruch uralter Bücher in die Nase, den Natsuki so liebte. Sie verweilte einen Moment und besah sich die große Treppe, die zu den Archiven führte und den riesigen Kronleuchter, der über ihrem Kopf in seiner vollen Pracht glänzte. Natürlich war er nur ein Accessoire aus längst vergangenen Zeiten, denn an den Wänden waren überall kleine Halogenlampen angebracht, aber genau dieser Kronleuchter verlieh dem Raum diese ganz besondere Atmosphäre und seinen typischen Charme. Natsuki kam sich vor, als sei sie in einer anderen Zeit an einem anderen Ort gelandet. Schließlich konnte sie sich endlich von dem atemberaubenden Anblick losreißen und suchte ihren Weg zur Garderobe, wo sie ihre Jacke und die Tasche abgab. Lediglich ihre Wertsachen behielt sie bei sich, denn man konnte ja nie wissen... Der Orientierungstafel konnte Natsuki entnehmen, dass das Zeitungsarchiv sich im vierten Stockwerk befand - also ganz oben im Gebäude. Enthusiastisch machte sie sich auf den Weg und nahm zwei Stufen auf einmal - den Lift wollte sie nicht benutzen, sie war schließlich noch jung und fit! Es war früher Freitagnachmittag, deshalb erstaunte es sie nicht allzu sehr, dass sich nicht sonderlich viele Menschen in der Bibliothek befanden. Ein paar gehetzte Studenten, die sich zurzeit mitten in ihren Prüfungen befanden - das wusste sie von Shinji, obwohl er seltsamerweise nie im Prüfungsstress zu sein schien - begegneten ihr auf dem Weg nach oben und beachteten sie gar nicht. Oben angekommen suchte sich Natsuki einen freien Computer in einer abgelegeneren Ecke und begann mit ihren Nachforschungen. Gespannt tippte sie in das Stichwortsuchfeld den Namen "Access" ein... Frustriert ballte Natsuki ihre Hand zur Faust und hätte am liebsten auf den Computer eingeschlagen. Dieser blöde Kasten spuckte nichts aus, was in irgendeiner Art und Weise relevant sein könnte! Sie hatte schon wahrlich alles ausprobiert - die Namenssuche, die Stichwortsuche, hatte sogar die letzten Jahrhunderte Zeitungsgeschichte abgeklappert! Und nicht zu vergessen, hatte sie ebenso die Zeitungen der Nachbarstädte, die ebenfalls archiviert waren, duchrgesuch. Nichts! Gar nichts! Niemand, der Access hieß! Einmal jedoch war auf dem Bildschirm der kleine, aber vielsagende Satz "Ihre Suche hatte 1 Treffer" erschienen und Natsuki's Herz machte einen unkontrollierten Sprung, doch als sie diesen Treffer anklickte, wuchs ihre Enttäuschung ins Unendliche... Es wurde lediglich von der Gründung einer Internetplattform mit dem Namen "Access to studies" berichtet, auf die Studenten der hiesigen Universitäten zugreifen konnten. In Gedanken verfluchte sie die Technik und insbesondere diesen Computer hier, der ihr absolut keine Hilfe gewesen war! Entmutigt drückte sie auf den "Off"-Knopf und seufzte tief, wofür sie sich einen strengen Blick der Aufsichtsfrau einhandelte, die gerade in ihrer Nähe ein paar Bücher in die Regale einsortierte. Natsuki machte sich wieder auf den Weg nach unten, um ihre Sachen zu holen. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihre Vermutung: Es war bereits Abend und ihre Eltern würden sich bestimmt schon Sorgen machen. Aufgrund der kleinen Auseinandersetzung hatte sie ihnen ganz vergessen zu sagen, dass sie länger wegbleiben würde... Das schwarzhaarige Mädchen umschiffte ein paar schwere Holzregale, die - so schien es ihr zumindest - bis in den Himmel hinaufragten. Am der Garderobe bekam sie ihre Sachen zurück, ohne lange anstehen zu müssen, denn mittlerweile befand sich beinahe keine Menschenseele mehr hier. Als sich Natsuki zum zweiten Mal an diesem Tag gegen die Eingangstür lehnte, um diese zu bewegen und heraustrat, blieb sie stehen. Sie hatte es doch geahnt! Es schüttete wie aus Eimern! Das Mädchen schlüpfte in seine beige-braune Sommerjacke und zog den Reißverschluss zu. Warum hatte sie nur vor kurzem die Kapuze abgeknöpft? Jetzt musste sie wieder durch den Regen nach Hause laufen - sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, was für Vorhaltungen die besorgte Marron ihr machen würde und Chiaki würde sie wieder einmal an die schlimme Grippe vom letzten Jahr erinnern und darüber hinaus wissen wollen, ob es ihr nicht bereits gereicht hatte, vor kurzem zwei Tage im Krankenhaus verbracht zu haben. Natsuki rollte mit den Augen. Auch wenn sie keine große Lust hatte, sich diesem Sommergewitter auszusetzen, fand sie, dass ihre Eltern übertrieben. Sie war ja schließlich kein kleines Kind mehr, das nicht selbst auf sich aufpassen konnte. Vorbereitet auf das, was jetzt auf sie zukommen würde - nämlich die Nässe und Kälte - trat sie unter dem schützenden Vordach der Bibliothek hervor und wollte bereits losrennen, als sie eine Grüppchen, aus drei Leuten bestehend, bemerkte, die sich unter einem großen, schwarz-weiß-gestreiften Regenschirm tummelten und lachten. Diese Stimmen kannte sie doch? "Hallo ihr da!", rief sie erfreut und trat näher. Obwohl sie die Köpfe und Gesichter nicht sehen konnte, erkannte sie doch Toki und Cersia und - oh nein, das hatte sie viel zu spät bemerkt - Shinji. Der Regenschirm wurde angehoben und die drei Köpfe drehten sich zu ihr herum. Überraschung stand in ihren Gesichtern geschrieben. "Natsuki-chan, was machst du denn hier?", fragte Cersia verblüfft und konnte ein Husten nicht unterdrücken. Sie schien sich eine leichte Erkältung eingefangen zu haben. "Hallo, Natsuki-chan!", begrüßte auch Toki sie mit einem Lächeln im Gesicht, doch Shinji sagte gar nichts und hielt sich mit verkniffener Miene im Hintergrund. Das war Natsuki ganz recht so. Cersia währenddessen war zu Natsuki getreten und hatte ihren eigenen Regenschirm aufgespannt, damit sie und Natsuki nicht nass wurden. "Ich war in der Bibliothek...", antwortete sie langsam und dachte an die Lüge, die Naomi Shinji vorhin aufgetischt hatte - ob er das durchschauen würde? "Das ist ja ein Zufall", sagte Cersia's heisere Stimme, und obwohl sie erkältet war, war sie trotzdem guter Laune. "Ich bin leider etwas krank, aber zum Glück ist es nicht wirklich schlimm... haaatschiii." Sie nieste. "Gesundheit", kam es im Chor zurück. Cersia lächelte mit einer roten Nase. "Vielen Dank. Natsuki-chan, wie geht es dir denn? Darfst du überhaupt schon hier rumlaufen, wo du doch erst kürzlich im Krankenhaus warst?", fragte sie 17jährige besorgt und schaute Natsuki mitleidig an. Sie hatte sich wirklich erschrocken, als Natsuki neben ihr plötzlich zusammengesackt und schwerlich wieder zu Bewusstsein gekommen war. Chiaki hatte sich solange um sie gekümmert, während Miyako den Krankenwagen rief und Marron aufgelöst neben ihrer Tochter hockte und deren Hand hielt. Danach war verständlicherweise niemandem mehr nach Feiern zu mute. "Mir geht’s gut, keine Sorge", tat Natsuki Cersia's Besorgtheit ein bisschen beschämt ab. Schließlich hatte sie vor den Augen aller das Bewusstsein verloren und somit das ganze Geburtstagsessen verdorben! Das Ganze war ihr sehr unangenehm... sie wusste auch, dass nicht nur Shinji nicht zu seiner Party gegangen war, sondern auch Toki und Cersia. Natsuki hatte so gut wie möglich versucht, die Begebenheit im Krankenhaus zu verdrängen... sie hatte die leise Ahnung - eher Befürchtung, dass Shinji die ganze Nacht an ihrem Bett gehockt und ihre Hand gehalten hatte... Daran konnte sie sich auch noch erinnern... wenn auch ungern. Und trotzdem hatte sie ihm und allen Gästen den Tag ruiniert. Obwohl sie absolut nichts für ihren Schwächeanfall konnte, verspürte sie, wie ihr die Sache zu schaffen machte. Und das leckere Essen, das Miyako so hingebungsvoll zubereitet hatte... Je länger Natsuki darüber nachdachte, desto mehr nagte das schlechte Gewissen an ihr, Vielleicht konnte sie das irgendwie wieder gutmachen? Nur wie? "Jetzt müssen wir aber los, sonst gibt es zu Hause Ärger!", rief Cersia plötzlich aus, nachdem sie eingehend die Uhr über dem Bibliothekseingang studiert hatte. "Natsuki, du solltest nicht allein nach Hause gehen, schon gar nicht bei diesem Gewitter! Versprich mir, dass du dich von Shinji heim begleiten lässt, in Ordnung?", fragte Cersia und wartete gar nicht erst eine Antwort ab, denn ihr Bruder drängte schon. "Bis bald, Natsuki-chan!", rief er ihr noch zu und zog seine hustende Schwester am Arm hinter sich her, die ihrer Freundin und Shinji voller Euphorie zuwinkte. Stille. Na toll. Da stand sie allein mit Shinji auf dem Bibliotheksvorplatz und keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort. Natsuki fühlte sich etwas unbehaglich in ihrer Haut. Was würde als nächstes kommen? Sie hatte Angst, dass Shinji an ihr Gespräch von heute morgen anknüpfen würde und so mehr oder weniger aus ihr herausbekommen würde, dass... sie vorher noch nie geküsst worden war. Natsuki wurde rot. Nicht dran denken, nicht dran denken! Plötzlich hörte der Regen auf. Natsuki blickte auf. Shinji stand neben ihr und hielt ihr seinen Regenschirm über den Kopf, der mindestens für eine sechsköpfige Familie angefertigt worden war. "Warum hast du deine Kapuze abgeschnallt?", fragte er streng. "Du weißt doch noch, was letztes Jahr passiert ist?" Mein Gott, schoss es Natsuki durch den Kopf, der hat vielleicht ein Gedächtnis wie ein Elefant! Es war ihr schon öfter aufgefallen, dass Shinji sich an vieles erinnern konnte, auch an unbedeutende Kleinigkeiten. "Ich vermute, du hast keinen Regenschirm dabei, so kopflos wütend, wie du immer aus dem Haus stürmst", analysierte er sie weiterhin und warf einen grimmigen Blick zum Himmel. Dieser hatte sich mittlerweile schwarz gefärbt und ein Ende des Regens war nicht in Sicht. Aus der Ferne hörte man ein dumpfes Donnergrollen. "Lass uns gehen", schlug er vor. Bei diesem Wetter wollte er keine Minute länger draußen verbringen, als nötig war. Er setzte sich und Bewegung und Natsuki, die bis dato nicht viel gesagt, sich aber Tausende von Horrorszenarien ausgemalt hatte, wie Shinji sie auf heute morgen ansprach, versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis - "Es tut mir wirklich leid", sagte Shinji geknickt nach einigen Augenblicken und seine Entschuldigung hörte sich ehrlich und aufrichtig an. Natsuki biss sich auf die Unterlippe. Was jetzt? Doch sie brauchte nichts zu sagen, denn Shinji fuhr schon weiter fort. "Ich wusste nicht, dass du..." Er zögerte, Natsuki errötete und senkte den Blick. "...na ja. Ich bin ein Idiot", schloss er lahm und schaute flüchtig zu der 15jährigen, die aufmerksam den Boden studierte. Er kratzte sich ratlos am Hinterkopf. Würde sie denn gar nichts sagen? Er konnte sowieso nicht nachvollziehen, warum er für Mädchen so wichtig war, dieser berühmte erste Kuss. Aber anscheinend war es wirklich so und das, war er gemacht hatte, war bestimmt nicht in Natsuki’s Sinne gewesen - wahrscheinlich dachte sie da an etwas bei sternenklarer Nacht, überlegte er sich und erinnerte sich selig an die Nacht, als er - beziehungsweise Access - und Fynn auf einem Ast saßen und eine Sternschnuppe vom Himmel herabfiel, während beide in ihrem berauschenden Glück versanken... Das war kurz nachdem sie zusammengefunden haben und kurz bevor... alles wieder vorbei war. Shinji seufzte. Ja, ihre gemeinsame Zeit konnte man mit keinem Wort besser bezeichnen als mit "kurz". 'Peinlich', dachte Natsuki und wagte es nicht, irgendwo anders hinzuschauen als auf den matschigen, regendurchtränkten Boden. Sie wollte es eigentlich vermeiden, über dieses Thema zu reden, aber Shinji ließ ja ganz offensichtlich nichts anbrennen. Wenigstens hatte er sich entschuldigt, auch wenn ihr das nicht viel nützte. Dann rang sie sich doch noch durch. "Einsicht ist der erste Weg zur Besserung", erklärte sie ihm altklug und Shinji lachte erleichtert. Ja, das war genau die Natsuki, die er kannte und liebte! Doch Natsuki hatte nicht vor, ihm noch mehr Zugeständnisse zu machen und schwieg, ihm aber reichte allein schon dieser Satz. Es bedeutete, dass sie seine Entschuldigung angenommen hatte. Seine Laune besserte sich und er beschloss, die Sache nicht mehr anzusprechen, denn dem Mädchen schien es etwas unangenehm zu sein - das schlussfolgerte er aus dem rosa Schimmer, der sich auf ihre Wangen gelegt hatte, sobald er das Thema angeschnitten hatte. Ihren eigenen Gedanken nachhängend, liefen die zwei wieder stumm nebeneinander her. "Wo ist denn dein Auto?", fragte sie ihn dann plötzlich in die Stille hinein, weil ihr aufgefallen war, dass sie zu Fuß gingen - normalerweise fuhr Shinji mit dem Auto zur Uni und demnach auch wieder zurück. Er selbst hatte sie doch heute morgen mit seinem Wagen gefahren und auch, als er nachmittags vor ihrer Schule auf sie gewartet hatte, hatte sie sein Auto gesehen. Shinji grinste schief. "Da ist mir doch tatsächlich heute irgend so ein Idiot reingefahren!", erklärte er aufgebracht und schüttelte empört den Kopf. "Du hattest einen Unfall?", wiederholte Natsuki ungläubig, aber Shinji schien nicht gehört zu haben. "Ich frage mich, wo die ganzen Affen auf den Straßen ihre Führerscheine machen? Vor ein paar Wochen hat mir doch tatsächlich einer die Vorfahrt genommen - ich bin gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen, sonst hätte es wirklich schlecht ausgesehen!" Natsuki bemerkte, wie er sich immer weiter in seine Wut hineinsteigerte, was sie allerdings verstehen konnte. Shinji hatte hart dafür gearbeitet, sich seinen Wagen kaufen zu können, zwei Sommer lang und jede freie Minute rackerte er sich bei verschiedenen Kleinjobs ab, um sich endlich den Traum eines Autos - was für ihn gleichbedeutend mit Unabhängigkeit und Selbstständigkeit war - erfüllen zu können. Dass er so vorsichtig auf den Straßen war, garantierte aber trotzdem nicht für seine Unversehrtheit oder die seines Autos. "Was ist passiert?", hakte Natsuki nach. Sie war sich beinahe sicher, dass es nicht Shinji's Schuld war - sie kannte seinen Fahrstil zu gut... "Na was wohl?", schnaubte er wütend. "Der Volltrottel hat wohl noch nie was von Einparken gehört! Dabei war da so viel Platz, aber der Schwachkopf hat nicht besseres zu tun, als mir seine Stoßstange mit voller Wucht in die Seite zu rammen!" Natsuki hatte Shinji selten so außer sich gesehen. Sie konnte regelrecht sehen, wie in seinem Augen der Zorn flimmerte und beobachtete ihn fasziniert. Normalerweise war eher sie die Temperamentvollere von beiden, aber das hier schien Shinji wirklich fast aus der Fassung zu bringen... "Du warst aber nicht im Wagen drin, oder...?", fragte sie vorsichtig nach. Auch wenn sie sehen konnte, dass Shinji nichts passiert war - zumindest nichts, was auf Anhieb zu sehen war - wollte sie lieber auf Nummer sicher gehen. "Natürlich nicht", bestätigte Shinji. "Nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Der hätte mich doch zermalmt!" Bei dem Gedanken wurde ihm unbehaglich zumute. "Das war echt Glück...", murmelte er dann ernst vor sich hin und fuhr sich abwesend mit der freien Hand durch die Haare, während er mit der anderen immer noch pflichtbewusst den Regenschirm über sie beide hielt. Natsuki nickte erleichtert. Nicht, dass ihr viel an Shinji lag, aber so etwas wünschte sie doch keinem und auch, wenn sie Shinji nicht besonders leiden konnte, war sie doch froh, dass er verschont geblieben war. "Was hast du überhaupt so spät noch in der Bibliothek gemacht?", wechselte Shinji das Thema und erinnerte Natsuki wieder an ihre nicht gerade vom Erfolg gekrönt Suche. "Nichts besonderes... etwas gesucht...", wich sie aus, doch wenn sie in der Annahme ging, Shinji würde sich damit abspeisen lassen, hatte sie falsch gelegen. "So so, und was? Hast du es gefunden?", wollte er wissen, als sie beide in die nächste Straße abbogen. Das Mädchen seufzte. "Nein, leider nicht", beantwortete sie wahrheitsgemäß seine zweite Frage, während sie die Erste geflissentlich überging. "Und was hast du gesucht? Vielleicht kann ich dir helfen!" Shinji war wirklich hartnäckig, stellte die 15jährige wieder einmal grimmig fest. Da kam ihr eine Idee - warum sollte sie ihm nicht die Wahrheit sagen? Und vielleicht konnte er ihr ja wirklich helfen! Er als Student kannte viel mehr Menschen als sie und demnach viel mehr Geschichten. "Nach einem Mann", sagte sie und warf ihm einen Seitenblick zu. Stirnrunzelnd drehte er sich zu ihr um und betrachtete sie. "Nach einem Mann?", wiederholte er zweifelnd und als sie ernst nickte, ein Grinsen unterdrückend, musste Shinji sich sehr zusammenreißen. "Aha. Einen Mann also. Für eine Schulaufgabe? Ein Referat über eine besondere Persönlichkeit?", hakte Shinji hoffnungsvoll nach, doch Natsuki verneinte und schüttelte den Kopf. "Einfach einen Mann. Also... meinst du, du kannst mir jetzt helfen oder nicht?" Shinji rang mit sich selbst. Was für einen Mann wollte Natsuki finden? Und wozu? Das überstieg sein Vorstellungsvermögen, doch er wusste schon, dass er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen konnte - es war bestimmt das erste Mal, dass ihn um Hilfe bat, beziehungsweise - seine Hilfe angenommen hatte! "Na gut", knurrte er widerwillig. "Ich kann es ja versuchen. Also... wie heißt der Vermisste?" Natsuki überlegte kurz. War das richtig? Konnte sie diese wichtige Aufgabe wirklich Shinji überlassen? So, wie sie ihn kannte, war das Einzige, das an ihm verlässlich war, die Tatsache, dass er jeden Morgen pünktlich bei ihr zu Hause zum Frühstück auftauchte und sie auf die Palme brachte. "Access", sagte sie dann. "Sein Name ist Access." Ein heller Blitz zuckte über den Himmeln und erleuchtete diesen für den Bruchteil einer Sekunde, begleitet von einem lauten Dröhnen direkt über ihnen. Shinji war wie vom Donner gerührt stehen geblieben und starrte fassungslos Natsuki's Hinterkopf an, die im ersten Moment nicht bemerkt hatte, dass ihr Gesprächspartner zurückgeblieben war. Sie drehte sich irritiert zu ihm um und konnte die Verwunderung und gleichzeitig den Schock deutlich in seinem Gesicht ablesen. "Was ist los...?", fragte sie argwöhnisch und betrachtete, wie seine Züge sich verspannten und er krampfhaft versuchte, die Beherrschung wiederzuerlangen. Shinji schluckte. Was hatte das zu bedeuten? Hatte sie ihn gerade ernsthaft nach "Access" gefragt? Aber... er war doch Access? Zumindest mal gewesen... Sollte das heißen, sie konnte sich wieder an alles erinnern und das alles hier... das war alles nur Show, weil sie nicht offen zugeben wollte, dass sie wusste, wer ER einmal gewesen ist? Wer SIE war...? "Was... willst du von ihm?" Shinji hatte seine Sprache wiedergefunden und das war die erste Frage, die ihm eingefallen war. Marron und Chiaki hatten es ihm ausdrücklich verboten, Natsuki von ihrer - und seiner - Vergangenheit zu erzählen. Und er konnte es ihnen auch unmöglich verdenken, denn solange sie sich nicht selbst an alles erinnerte, würde sie ihm doch unmöglich Glauben schenken! Vielmehr würde sie ihn für geistesgestört erklären und dann wäre er bei ihr endgültig unten durch... Natsuki zuckte die Schultern. Shinji's merkwürdige Reaktion gab ihr zu denken. Wusste er etwas von diesem Access? Kannte er ihn womöglich? "Ich muss ihn finden", sagte sie knapp und ließ Shinji nicht aus den Augen. Sollte er etwas wissen und es ihr vorenthalten wollen, würde er nicht einfach so damit davonkommen! "Warum?" Mit zusammengekniffenen Augen sah Shinji Natsuki ernst an und diese wunderte sich immer mehr über sein Verhalten. Aber sie konnte ihm auch nicht erzählen, dass ihr eine Frau im Traum begegnet war und ihr diese Aufgabe gestellt hatte - das klang ja selbst in ihren Ohren total absurd, aber so war es nun einmal geschehen. Shinji jedoch - er würde sie für geistesgestört erklären. Wer glaubte denn schon an solche Märchen, außer die, die es selbst erlebten? "Das geht dich gar nichts an, klar?", beeilte sie sich zu sagen und drehte dem verwirrten Shinji den Rücken zu. "Ich muss ihn einfach finden! Weißt du etwas oder nicht? Kennst du ihn?" Shinji befand sich im Zwiespalt. Was sollte er sagen? Er durfte auf keinen Fall... aber was ist, wenn das doch nur alles Theater war und Natsuki sich bloß nicht traute, den ersten Schritt zu machen? Aber außer, dass sie anscheinend über Access bescheid wusste, hatte sie ihm sonst keinerlei Hinweise gegeben, sollte dies der Fall sein... Shinji beschloss, es auszutesten. "Fynn...?", versuchte er vorsichtig und blickte Natsuki's Rückansicht erwartungsvoll an, die sofort herumwirbelte. Aufgeregt und mit großen Augen schaute sie ihn an und sein Herz machte einen Hüpfer, er wollte den Regenschirm fallen lassen und sie ihn die Arme nehmen, doch Natsuki machte seine Hoffnung innerhalb eines Augenblicks zunichte. "Du kennst Fynn? Wer ist das? Woher kennst du sie? Du musst es mir erzählen!", sprudelte es aus seiner Nachbarin heraus und sie blickte hoffnungsvoll zu ihm auf. Shinji's Herz sank in die Hose. Das konnte doch nicht wahr sein? Wer erlaubte sich da so einen grausamen Scherz mit ihm? Sie kannte Fynn, sie kannte Access, aber sie hatte keine Ahnung, wer die beiden waren... Enttäuscht ließ Shinji den Regenschirm sinken und nahm dafür in Kauf, vollkommen durchnässt zu werden. Jetzt war ihm sowieso alles egal. Er schüttelte demotiviert den Kopf. "Ich kann dir nichts darüber erzählen, tut mir leid", sagte er abweisend und drückte der irritierten Natsuki seinen Regenschirm in die Hand. "Ich hab etwas vergessen, muss dringend noch mal zurück...", murmelte er, vermied es, sie anzusehen und rannte davon, in die Richtung, aus der beide eben gekommen waren. Perplex starrte Natsuki ihm hinterher. Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum. Shinji kannte sowohl Fynn als auch Access, das wusste sie! Warum wollte er ihr nichts sagen? Jetzt war sie nur noch einen Katzensprung von der Wahrheit entfernt! Egal, was Shinji auch für Gründe hatte - Natsuki fasste den Entschluss, dass sie ihm das Geheimnis auf alle Fälle entlocken würde - sie MUSSTE einfach! Ganz nebenbei würde sich so auch die Frage klären, die sich etwas später in ihren Kopf schlich: woher hatte Shinji sein Wissen? Kapitel 12: Unerwarteter Besuch ------------------------------- Natsuki wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als das Prasseln des Regens gegen ihr Fenster einsetzte. Es war der erste Ferientag und das Wetter spielte überhaupt nicht mit. Betrübt ließ das Mädchen ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Dicke, graue Wolken bedeckten den Himmel komplett, nicht ein einziger Sonnenstrahl gelang durch die Wolkendecke zur Erde - mit einem baldigen Ende des Regens war nicht zu rechnen, ebenso nicht mit Sonne. Den Kopf in die Hand gestützt stieß Natsuki einen tiefen Seufzer aus. Nicht nur, dass das Wetter zu nichts zu gebrauchen war, sie war kein bisschen weiter mit ihren Nachforschungen gekommen. Deprimiert musste Natsuki sich eingestehen, dass sie sich da in etwas verrannt hatte, und das ganz gewaltig. Wie sollte sie jemanden finden, der überall auf der Welt sein konnte? Wie sollte sie einen einzigen Menschen inmitten von Milliarden von Erdenbewohnern ausfindig machen? Wie sollte sie herausfinden, ob er noch lebte? Wie sollte sie das alles bewerkstelligen können mit der einzigen Angabe eines Namens? Sollte sie jemanden um Hilfe bitten und diesem dann erzählen müssen, der einzige Hinweis wäre ein Traum gewesen, den sie mal geträumt hatte - man würde sie bestimmt sofort in die Psychiatrie einweisen! Und Shinji - er wollte ihr auch nicht helfen. Obwohl sie sicher war, dass er etwas wusste! Doch als sie ihn darauf ansprechen wollte, hatte er sich nicht kooperationsbereit gezeigt... Nachdem Shinji sie auf dem Weg hatte stehen lassen und weggegangen war, ohne ihr irgendwelche Informationen geliefert zu haben, die sie so dringend nötig brauchte, entschloss sich Natsuki dazu, ihm einen Besuch abzustatten und so lange nicht locker zu lassen, bis er ihr alles, was er über Fynn und Access wusste, verriet. Also machte sie sich am nächsten Nachmittag auf zu den Minazukis, um ihren Nachbar zur Rede zu stellen. Natsuki klingelte und wartete einen Moment, bis Miyako ihr die Tür öffnete. Überrascht schaute sie das Mädchen an und trocknete sich die Hände an einem Küchentuch, dass sie dabeihatte. Natsuki besuchte die Minazukis sonst nie ohne ihre Eltern - früher, als sie noch klein war, war Miyako hin und wieder als Babysitter eingesprungen, aber seit Jahren schon war sie nur noch mit Chiaki und Marron zu besonderen Anlässen erschienen. Was sollte sie auch da? Schließlich wohnte Shinji hier und den galt es ja so gut wie möglich zu meiden. Aber heute war es etwas anders. Sie musste mit Shinji sprechen... und da sie das Gefühl hatte, er wollte ihr in dieser Sache nur ausweichen, musste sie ihn direkt konfrontieren, damit er ihr nicht wieder entwischen konnte. "Hallo", begrüßte Natsuki Miyako etwas verunsichert, nicht ohne Zweifel, ob sie das wirklich tun sollte. "Natsuki, nanu, was für eine seltene Überraschung!" Miyako hielt Natsuki die Tür auf und wich etwas zurück, um ihr Einlass zu gewähren. "Hast du etwas auf dem Herzen?", fragte die Hausfrau freundlich, bedachte das Mädchen aber mit einem leicht besorgten Blick. Dass Natsuki plötzlich hier auftauchte, wo sie doch sonst mit aller Macht versuchte, Shinji nicht zu begegnen, verwunderte sie sehr und sie war sich sicher, Natsuki war nicht einfach nur aus einer Laune heraus in die "Höhle des Löwen" gekommen. "Nein...", murmelte diese zögernd, musste dann schlucken. "Ich wollte... ähm... ist Shinji... vielleicht da?", fragt sie und traute sich kaum, Miyako in die Augen zu sehen. Himmel, was musste sie jetzt denken? Natsuki war das Ganze peinlich, denn für Miyako musste es doch so aussehen, als würde Natsuki Shinji besuchen kommen - was sie ja auch zweifellos tat, jedoch hatte sie ganz andere Gründe als reine Sympathie für ihn und genau das wusste Miyako nicht. Shinji‘s Mutter bleib fast der Mund offen stehen. Damit hatte sie nicht wirklich gerechnet: Natsuki wollte tatsächlich zu Shinji! Zu ihrem aufdringlichen Sohn, der der Kleinen schon seit Jahren nachstellte und die Wohnung der Nagoya's zu seinem zweiten Zuhause auserkoren hatte! Oft hatte sie ihm eingebläut, er solle das Mädchen endlich in Ruhe lassen, denn entweder würde die Zeit von selbst kommen oder es wäre ihm nicht vorherbestimmt, mit ihr zusammen zu sein, er jedoch ließ sich von ihren Predigten nicht beeindrucken und war sich so sicher, dass er es nur weiter versuchen müsste, damit alles gut werde. Miyako hatte oft den Kopf geschüttelt über ihren ungehorsamen Sohn, der ihr lauter Probleme machte und auch mit Natsuki hatte sie Mitleid empfunden... das arme Mädchen war nirgends vor Shinji sicher und Miyako konnte ihren Zorn und Ärger sehr gut nachempfinden. Aber dieser plötzliche Stimmungswandel irritierte sie... Sie nickte verwirrt. "Ja... er ist in seinem Zimmer. Einen Moment, ich sag ihm bescheid." Stirnrunzelnd machte sie auf dem Absatz kehrt, durchquerte die Wohnung und blieb vor Shinji's Zimmer stehen. Sie klopfte und ein dumpfes "Herein" ertönte von der anderen Seite der Tür. Miyako betrat das Zimmer. Ihr Sohn saß am Schreibtisch und schrieb etwas am Laptop. "Shinji... Besuch für dich...", kündigte seine Mutter unsicher an und kratzte sich kurz am Hinterkopf. "Mhm..." Shinji nickte kurz angebunden, um ihr zu bedeuten, er habe verstanden, war aber viel zu versunken in seinen Gedankengang, um sich von seiner Hausarbeit abzuwenden. Miyako winkte Natsuki zu sich und ließ die Tür zu Shinji's Zimmer offen, verschwand dann selbst in der Küche. Sie wollte die zwei nicht stören, obwohl sie schrecklich neugierig war... was hatte das alles zu bedeuten? Langsam betrat Natsuki Shinji's Zimmer. Sie war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen. Früher stapelten sich Videospiele auf dem Regal und bedeckten den Fußboden, zusammen mit anderem Kram, ein paar Poster von berühmten Basketballspielern und anderen Sportlern hingen an seinen Wänden, das Bett war meist unordentlich und überall lagen Chipstüten und Süßigkeiten herum. Fast hatte Natsuki mit genau jenem Anblick gerechnet, doch als sie einen Blick in das Zimmer warf, traute sie kaum ihren Augen. Eine große Pinnwand hatte die Poster ersetzt; sie hing direkt über seinem Bett und Shinji hatte viele kleine und große Zettel mit Adressen, Nummern und Terminen daran festgemacht, das Bett war ordentlich gemacht, lediglich ein schwarzes Hemd war über die Lehne geworfen, das Regal war voll gestopft mit Büchern, akademische Sachbücher, aber auch Romane und Fotoalben fanden darin Platz. Auf dem Schreibtisch befand sich sein Laptop, ein gerahmtes Foto, auf dem er - im Alter von vielleicht 12 Jahren - und sein verstorbener Großvater väterlicherseits abgebildet waren, ebenso wie ein Glas Wasser, das schon fast leer war. In einer Ecke des Tisches lagen sorgfältig gestapelt ein paar Sportmagazine. Shinji saß beschäftigt an seinem Laptop, um ihn herum lagen ein paar aufgeschlagene Bücher und vollbeschriebene Papierblätter, in die er ab und zu einen Blick warf, und murmelte ohne Aufzublicken ein abwesendes "Komm rein, ich bin gleich fertig...", als Natsuki unsicher eintrat. Anscheinend hatte er jemand anderen erwartet, ging es Natsuki durch den Kopf und noch bevor sie sich bewusst fragen konnte, wer das wohl sein könnte, räusperte sie sich geräuschvoll, um auf sich aufmerksam zu machen und Shinji darauf hinzuweisen, dass sie nicht der Besuch war, mit dem er rechnete. Es funktionierte. Wie von der Wespe gestochen wirbelte Shinji herum und starrte Natsuki sekundenlang fassungslos an, bevor er sich wieder fing und ihr sein übliches Grinsen zuwarf. "Natsuki-chan, endlich hast du deinen Weg zu mir gefunden!", witzelte er und erhob sich von seinem Stuhl, nicht ohne auf den Speicherbutton auf seinem Laptop zu klicken. Natsuki ignorierte ihn. Jetzt war sie bei ihm zu Hause, in seiner "Welt" und wenn sie wollte, dass alles glatt ging, musste sie ihn eben so lange wie nötig aushalten und versuchen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen - das würde ein schweres Stück Arbeit werden! Shinji musterte neugierig ihren entschlossenen Gesichtsausdruck - sie kam ihm heute etwas steif vor - und räumte sein Hemd vom Bett, bedeutete ihr dann, sich hinzusetzen. Was sie wohl zu ihm geführt hatte? Er war sich fast sicher, dass es nicht die große Liebe war, aber hoffen war doch erlaubt, oder? Natsuki kam seiner Aufforderung zögernd nach und setzte sich an den Rand des Bettes. Ja, bestätigte Shinji seinen Verdacht, sie war wirklich angespannt. "Wie komm ich denn zu der Ehre, dass du mir einen Besuch abstattest?", fragte er und überlegte kurz, ob er sich neben sie auf das Bett oder doch lieber auf den Stuhl in sicherer Entfernung niederlassen sollte. Er entschied sich für den Stuhl und drehte ihn so, dass er Natsuki ansehen konnte. Nach allem, was bisher passiert war, befand er es als besser, sie vorerst mehr oder weniger in Ruhe zu lassen... noch so einen Patzer konnte er sich schwerlich erlauben... "Na ja...", druckste Natsuki herum und zwang sich schließlich dazu, Shinji anzusehen, der sie aufmunternd anlächelte. Sie fühlte sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl. Vielleicht war es besser, direkt zur Sache zu kommen? "Ich wollte dich fragen, was du über Fynn und Access weißt..." Als sie sah, wie Shinji's Miene sich wie im Zeitlupe veränderte - verhärtete - beeilte sie sich schnell, weiterzusprechen. "Du weißt doch etwas nicht wahr? Du musst es mir erzählen!", bat sie ihn und merkte gleichzeitig, wie sich das Kräftegleichgewicht verlagerte. Jetzt stand sie hier vor ihm und hatte Sorge, abgewiesen zu werden und nach Shinji's Gesichtsausdruck zu urteilen, würde genau das auch geschehen. Shinji's Laune war sofort in den Keller gesunken. Er hatte es geschafft, den Vorfall von vor ein paar Tagen zu verdrängen, hatte seinen Ärger wieder in den Griff bekommen, doch jetzt saß sie wieder hier vor ihm - dieses Mädchen, das absolut keine Ahnung hatte und ihn unschuldig ansah, dieses Mädchen, das nichts verstand... und wollte das größte Geheimnis erfahren, dass er gezwungenermaßen hütete, ohne es selbst zu wollen! Und wie erwartungsvoll sie ihn ansah, mit diesem flehenden Ausdruck im Gesicht und zugleich dem entschlossenen Flimmern in ihren braunen Augen, die Hände in ihrem Schoß unbewusst zu Fäusten geballt - Shinji musste den Blick von ihr abwenden. Er stand auf und wandte sich von ihr ab, begann die Blätter auf seinem Tisch zu sortieren. "Tut mir leid", wiederholte er, wie auch einige Tage zuvor, ohne sie anzusehen. "Ich kann dir nicht helfen." Natsuki fiel die Kälte in seinem Tonfall auf, die sie vorher so noch nie bei ihm gehört hatte und plötzlich schien ihr, als stünde ein anderer Shinji vor ihr - einer, der ihr nicht das Leben zur Hölle machte mit seinen dämlichen Witzchen und seinem frechen Grinsen, sondern einer, bei dem sie nicht sonderlich willkommen war. "Aber warum denn nicht? Du weißt doch etwas!", bestand Natsuki, erhob sich vom Bett und starrte ihn herausfordernd an, wurde langsam wütend. Der wahrscheinlich einzige Mensch, den sie kannte, der ihr etwas über diese beiden Fremden verraten konnte und ihre seltsamen Träume aufklären konnte, verweigerte die Aussage! Dabei waren es nur ein paar Informationen, die sie haben wollte - und nicht etwa die Anleitung, eine Atombombe zu basteln oder ähnliches! "Ich weiß gar nichts!", schnappte Shinji zurück, heftiger als er eigentlich wollte, und funkelte das Mädchen böse an. Er war sauer. Er war richtig zornig. Auf Natsuki, weil sie hier so ahnungslos vor ihm stand und nicht wusste, wie viel das, was sie wissen wollte, ihm bedeutete - ihr selbst bedeuten sollte und Fynn bedeutet hatte, dass sie nicht wusste, wie sehr es ihn quälte, sich als einziger an die Vergangenheit erinnern zu können, dass sie nicht wusste, was es bedeutete, so hoffnungslos auf jemanden zu warten... er war wütend auf Marron und Chiaki, die ihm nicht erlaubten, Natsuki die ganze Wahrheit zu erzählen, die Wahrheit, die das einzige war, was ihn von ihr trennte! Und zeitgleich wusste er, dass es nicht so war, was ihn aber umso zorniger auf sich selbst machte. Auf sich selbst, weil er sich ganz offensichtlich einer Illusion hingab, denn auch, wenn Natsuki anscheinend über Fynn und Access bescheid wusste - es war ihm immer noch schleierhaft, woher - hatte sie deren Identität absolut verdrängt und würde ihm niemals glauben, dass er derjenige war, den sie suchte... So angefahren zu werden, erschreckte Natsuki und sie wich einen Schritt zurück, wobei sie an sein Regal stieß. Als er ihren verschreckten Gesichtsausdruck bemerkte, wurde er etwas ruhiger. Er hielt kurz inne, als ob er nicht wüsste, was er jetzt tun sollte, fuhr sich mit der Hand erschöpft durch die Haare und sog hörbar die Luft ein. "Hör zu...", begann er, doch Natsuki unterbrach ihn und blickte ihn wieder mit diesem Ausdruck in den Augen an, den er nicht aushalten konnte. "Shinji, du bist vielleicht der Einzige, der mir helfen kann, also..." Sie war an ihn herangetreten und streckte den Arm nach seinem Hemdärmel aus, doch als sie es berührte, schoss für den Bruchteil einer Sekunde ein heißer Schmerz durch ihren Kopf. Natsuki unterbrach sich und blinzelte Shinji irritiert an. Dieser schien nichts bemerkt zu haben und wich ihrem Blick aus. "Du... ich kann dir nicht helfen...", erklärte er ihr abweisend. "Aber...", versuchte sie es noch einmal, doch diesmal wurde sie von einem Klopfen abgelenkt. Beide richteten ihre Blicke blitzartig auf die Tür. Miyako öffnete. "Shinji..." Unbehaglich schaute sie ins Zimmer. "Besuch für dich." Sie trat zurück und Taiki kam zum Vorschein. "Alter, ich wusste gar nicht, dass du Frauenbesuch hast!" Amüsiert lehnte sich Shinji's Freund gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust, Natsuki von Kopf bis Fuß musternd. Etwas überfordert mit der Situation, warf Shinji seinem Kumpel einen mahnenden Blick zu und Natsuki fühlte eine wachsende Abneigung gegen Taiki. Sie hatte ihn zwar nicht oft, aber doch schon einige Male erlebt und er war ihr extrem unsympathisch vorgekommen. ‘Genau der richtige Kumpel für Shinji‘, hatte sie damals in ihrer Antipathie gegen beide gedacht. Wie er sie angaffte - sie musste hier dringend raus. Jetzt, wo er da war, konnte sie ohnehin nicht mit Shinji sprechen und ganz offensichtlich war dieser ja sowieso nicht bereit, ihr zu helfen. "Ich gehe", entschied sie und ohne Shinji, der leicht verzweifelt in der Mitte des Zimmer stand, noch Taiki, der sie immer noch belustigt betrachtete, anzusehen, drückte sie sich an beiden vorbei, verabschiedete sich eilig von Miyako und hastete aus der Wohnung der Minazukis'. Natsuki ärgerte sich. Was hatte Shinji zu verbergen? Warum wollte er ihr nicht sagen, was es mit der ganzen Sache auf sich hatte? Und warum musste ausgerechnet ER etwas darüber wissen, von all den Menschen, die auf der Erde herumliefen? Es passte dem Mädchen ganz und gar nicht, dass sie nun mehr oder weniger auf ihren verhassten Nachbar angewiesen war. Was sollte sie jetzt bloß tun? Wer würde ihr jetzt noch helfen...? Kapitel 13: So nah wie noch nie ------------------------------- Der grünhaarige Engel blickte Natsuki sorgenvoll an. Es schien, als seien ihre Augen zu keiner anderen Emotion fähig, diese hübsche Frau schien immer traurig zu sein. Natsuki wollte gerne wissen, warum, sie wollte fragen, doch sie war außer Stande, ihren Mund zu öffnen und ihre Frage zu formulieren – es schien, als ob sie nicht mehr die Kontrolle über sich selbst hatte. Doch der Engel schien auch so zu wissen, was in Natsuki vorging. "Bitte, du musst ihn finden", flehte die schöne Frau und faltete ihre Hände vor der Brust, sah Natsuki erwartungsvoll an. "Du musst Acces finden, bitte finde ihn..." Aber wo kann ich ihn finden, wollte Natsuki fragen, blieb aber wieder nur stumm. Doch die fremde Schönheit schüttelte nur lächelnd den Kopf - und wieder war ihr Lächeln nicht von Freude erfüllt, sondern brachte einen Hauch Melancholie mit sich, die den ganzen Raum zu erfüllen schien, sich gewaltsam in Natsuki's Herz fraß und die Einsamkeit dieses Wesens brachte sie fast um den Verstand... war denn dieser Mann so wichtig? "Er hat dich schon längst gefunden...", hauchte sie - "Fynn" - und löste sich im nächsten Moment in Luft auf. Nervös fuhr sich Shinji mit der linken Hand durch die ungekämmten Haare. Er war ja nicht eitel, aber nach einem Blick in den Spiegel musste er ganz eindeutig feststellen, dass er heute miserabel aussah. Zum Glück war Wochenende... Der Junge hatte schon seit Nächten schlecht geschlafen - um genauer zu sein, seit dem Tag, an dem Natsuki ihn nach Access gefragt hatte - und wurde von schlimmen Alpträumen geplagt. Alpträume, in denen er sich immer und immer wieder Fynn's Tod mit ansehen musste und all den Schmerz empfand, den er damals empfunden hatte... es war zum Verrücktwerden. Wer tat ihm das alles nur an? Das Schicksal hatte manchmal wirklich einen Hand zum Sadistischen... Erschöpft ließ er sich auf einen Stuhl sinken und schmierte eine dünne Schicht Butter auf seinen noch warmen Toast. Mit Erdbeermarmelade wurde sein Stück Brot noch verfeinert und Shinji biss ein großes Stück ab. Heute würde es keine Pfannkuchen geben... die gab es schon seit mehren Tagen nicht mehr für ihn. Die Tür zur Küche ging auf und eine verschlafene Miyako im dunkelblauen, kuscheligen Morgenmantel betrat den Raum, in dem es bereits nach Kaffee und warmem Brot duftete. Verwirrt schaute sie ihren Sohn an und kniff die Augen zusammen, irritiert von der Helligkeit. "Shinji... was machst du so früh auf?", krächzte sie und räusperte sich daraufhin. "Was machst du überhaupt hier?" In den letzten Jahren hatte Shinji selten zu Hause zum Frühstück gespeist, sondern war in aller Herrgottsfrühe zu den Nagoyas geeilt, um dort seine geliebten Pfannkuchen serviert zu bekommen und seine Angebetete Natsuki ärgern zu können. Doch in letzter Zeit begab er sich immer seltener dorthin und Miyako war sich fast sicher, dass genau dieses Mädchen etwas damit zu tun hatte. Trotzdem konnte sie nicht verstehen, was plötzlich mit Shinji los war. Er redete nicht über sein Problem, doch dass er eins hatte, das stand ihm auf der Stirn geschrieben. Zudem sah er von Tag zu Tag angeschlagener aus und des Nachts hatte sie ihn schon oft durch das Haus tigern gehört, kurz nachdem er leise wimmernd aus dem Schlaf gefahren war. Shinji zwang sich, seiner Mutter ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Dass sie sich Sorgen machte, war auch ihm nicht entgangen... "Ich hab dir Kaffee gekocht", wich er ihren Fragen aus und deutete auf die dampfende Kaffeekanne. Schweigen nahm Miyako sich eine Tasse und schenkte sich ein, setzte sich dann an den Tisch, gegenüber von Shinji und musterte ihren Sohn über die dampfenden Kaffeetasse, die sie in den Händen hielt und diese daran wärmte, hinweg. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ihrer Sorge um ihn Ausdruck verleihen, hatte Shinji schon angefangen, zu sprechen. "Mama, da gibt es etwas, was ich dir sagen sollte." Er klang sehr ernst und Miyako ließ ihre Tasse sinken, blickte ihn erwartungsvoll, fast schon neugierig, an. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte Shinji über ihren Anblick geschmunzelt. Ihr violettes Haar war bereits von dünnen, grauen Strähnchen durchzogen und sie war nicht mehr die Jüngste, aber so, wie sie ihn anschaute, erinnerte sie ihn an das junge, neugierige Mädchen, dass er noch aus der Zeit als Schwarzengel kannte... "In der Uni...", begann er zögernd, fasste sich jedoch schnell ein Herz. "In der Uni hab' ich mich für ein verkürztes Auslandssemester eingeschrieben." Im ersten Augenblick war seine Mutter wie erstarrte, doch als sie tief Luft holte, beeilte Shinji sich, weiterzusprechen. "Hör zu, es ist nur ein viermonatiger Aufenthalt in England, weil die vorlesungfeie Zeit nicht dazugezählt wird, die qualifiziertesten Studenten werden ausgewählt und mein Professor meinte, ich hätte ganz gute Chancen..." Er warf einen hoffnungsvollen Blick zu seiner Mutter, der jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Miyako schluckte. Ihr Sohn, tausende von Meilen von ihr entfernt, im kalten England? Ihr kleiner Junge, der früher den Unterricht geschwänzt hatte, so wie heute immer noch das Basketballtraining, so weit von ihr entfernt, in einem unbekannten Land allein, allein unter Fremden? Natürlich wusste Miyako, dass ihr Sohn mittlerweile schon erwachsen war - na ja, fast - aber so richtig bewusst wurde es ihr erst jetzt in diesem Moment, nachdem er ihr eröffnet hatte, dass er bereit war, das heimische Nest zu verlassen und in die Welt hinauszuflattern. Die Vorstellung behagte ihr gar nicht... Auch, wenn Shinji schon 20 war, für sie war er immer noch ihr kleiner Junge, der, als wäre es erst gestern gewesen, der kleinen Natsuki in seiner kindlichen Dummheit einen Heiratsantrag gemacht hatte - und, wenn man ihn davon nicht abhielt, es wahrscheinlich immer noch tun würde. Shinji rang sich zu einem Lächeln durch und tätschelte die Hand seiner Mutter, die auf dem Tisch lag. Sie schien so geschockt, dass sie ihre Sprache verloren hatte und ihn nur fassungslos anstarrte. "Chiaki...", fuhr Shinji fort, "hat mir dazu geraten. Er sagte, die University of Nottingham ist eine sehr angesehene Medizinuni..." Wieder warf er einen Blick zu seiner Mutter, die nun mit sich zu kämpfen schien. "Aber... Schatz, wie willst du das schaffen...?", fragte sie ihren Sohn verzweifelt, ihre Frage schwammig ausformuliert. "Ach Mama, ich hab doch mein Erspartes und außerdem werden die Gebühren für das Semester und das Studentenwohnheim übernommen, weil dieses Programm von beiden Universitäten gefördert wird", beruhigte er Miyako, die langsam nickte. Sie würde ihn sowieso nicht aufhalten können, sollte sein Entschluss wirklich feststehe, das wusste sie. "Und du hast dich also da angemeldet...", wiederholte sie, nachdem beide kurz in Schweigen verweilt hatten. "Wann stehen die Ergebnisse der Auswahl fest...?" Die ältere Frau schaute ihren Sohn fragend an, er jedoch vermied es, sie anzugucken. Eine plötzliche Stille erfüllte den Raum, eine schreiende Stille, die einem die Nackenhärchen aufstellte. Das unangenehme Schweigen verursachte Miyako Gänsehaut und die Tatsache, dass Shinji ihren Blick mied, verhieß nichts Gutes. "Du... hast das Ergebnis schon?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und mit einem bekümmerten Lächeln nickte sie verstehend, was gleichbedeutend mit ihrem Segen war. Shinji nickte ebenfalls mit dem Kopf und ließ sich fast von der Traurigkeit seiner Mutter anstecken. Er wusste, dass sie sich unvorstellbare Sorgen machen musste - doch das Auslandssemester war nicht nur eine großartige Chance für ihn. Nein, es war vielmehr als das... es war eine Flucht. Shinji war nicht stolz auf sich, diese Art Lösung für sein Problem gefunden zu haben, aber er musste dringend weg von hier... auch, wenn ihn seine Erinnerungen niemals alleine lassen würden, so konnte er wenigstens der ständigen Anwesenheit Natsuki's entgehen, ihrer Ahnungslosigkeit und ihrem bohrenden Blick. Das alles machte ihm sehr zu schaffen und er wusste nicht, wie lange er diese Farce noch aushalten würde, denn es brachte ihn innerlich fast um, quälte langsam seinen Verstand aus ihm raus... Mit den paar Monaten im Ausland, weg von Natsuki, würde er es vielleicht schaffen, ein bisschen Abstand zu ihr zu gewinnen. Würde vielleicht auf den Geschmack kommen, was es hieß, zu leben und nicht nur für die eine Person zu leben... Besonders in den letzten Tagen fühlte er sich in seinem Vorhaben bestärkt. So konnte das Ganze nicht weitergehen und vielleicht war es auch für Natsuki ganz gut, mal eine Pause von ihm zu bekommen. Seine Mutter hatte vielleicht recht - solange er ständig in ihrer Nähe war, konnte sie nicht erkennen, was sie an ihm hatte. Vielleicht hatte sie aber ja auch gar nichts an ihm und es war einfach nicht vorherbestimmt... Shinji seufzte schwer, als Miyako, die ebenfalls eine Weile ihren eigenen Gedanken nachgehangen hat, etwas einfiel. "Wo du mich hier schon vor vollendete Tatsachen gestellt hast... wann soll es denn losgehen?", hakte sie nach. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser begriff sie, dass das Auslandssemester Shinji unglaublich gut tun könnte. Er musste langsam lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und nichts war dafür besser geeignet, als ein Weilchen von zu Hause entfernt zu leben und selbstständig sein zu MÜSSEN. Gleichzeitig aber bewunderte sie ihren Sohn dafür, dass er eine solch ernste und schwerwiegende Entscheidung fällen konnte, allen möglichen Verlusten zum Trotz. "Der Abreisetermin steht noch nicht fest... aber ich schätze, pünktlich zum Semesteranfang." Shinji nippte an seinem bereits fast erkalteten Kaffee. Das bedeutete, ihm blieben nur noch wenige Wochen hier in Momokuri. Natsuki wird sich bestimmt freuen, ihn los zu sein, dachte er entmutigt und stellte die Tasse ab. Der Kaffee schmeckte plötzlich nicht mehr... Gebannt starrte Natsuki in die Leere, während Marron geschäftig um sie herumtänzelte und ihr aufzählte, was sie heute nicht alles zu erledigen hatte. Doch Natsuki konnte sich nicht auf ihre Mutter konzentrieren, vielmehr war sie mit den Gedanken immer noch bei ihrem Traum, den sie letzte Nacht gehabt hatte. Was bedeutete das, Access hatte sie schon längst gefunden? Langsam zweifelte selbst Natsuki an ihrem Verstand. Vielleicht waren das alles wirklich nur dumme Träume und ihre Fantasie spielte ihr einen Streich? Sie schnaubte leise. Das konnte doch nicht sein... oder? Konnte sie sich das alles bloß einbilden und immer wieder Forstsetzungen träumen? Doch dann fiel ihr der schwarze Ohrring ein, der Access gehörte und den sie besaß. Der Ohrring war kein Traum, er war Realität, sie hatte ihn und der Mann im Traum... er hatte ihn auch... das machte alles keinen Sinn. Warum erschien diese Fynn-Frau ausgerechnet ihr? Es war doch klar, dass Natsuki nicht helfen konnte? Plötzlich zuckte Natsuki zusammen, als ihr jemand die Hand auf die Stirn legte. Das Mädchen schaute direkt in das stirnrunzelnde Gesicht ihrer Mutter, die sich zu ihr hinuntergebeugt hatte. "Hm, Schatz, du hast doch hoffentlich keinen Fieber?", fragte sie und betrachtete Natsuki eingehend, als diese irritiert den Kopf schüttelte und verneinte. Ihre Tochter verhielt sich in letzter Zeit sehr merkwürdig... von Miyako hatte sie erfahren, dass sie Shinji einen Besuch abgestattet hatte, doch konnte Marron ihrer Freundin leider auch nicht sagen, worum es sich gehandelt hatte, wusste sie es doch selber nicht. Und dann die Tatsache, dass sie Shinji fast gar nicht mehr zu Gesicht bekamen? Marron war sich sicher, dass da irgendetwas im Busch war. "Hast du dich mit Shinji gestritten?", fragte die Braunhaarige geradeheraus und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie bemerkte, wie sich das Gesicht ihrer Tochter kaum merklich verfinsterte. Die Frage erschien ihr etwas merkwürdig. Natsuki stritt sich andauernd mit Shinji, doch diesmal musste es wirklich etwas handfestes gewesen sein, denn Shinji ließ sich normalerweise nicht so schnell ins Boxhorn jagen. Stur bleibt eben stur, egal in welchem Leben, sagte Marron sich und bedachte auch Natsuki mit einem vielsagenden Blick. Auch Fynn hatte sich bis zum bitteren Ende geweigert, sich einzugestehen, dass sie in Access verliebt gewesen ist... "Er legt es eben immer wieder darauf an", murrte Natsuki schlechtgelaunt und verschleierte die Tatsache, dass sie sich diesmal WIRKLICH mit Shinji gestritten hatte. Aber das brauchte ihre Mutter ja nicht zu wissen, und schon gar nicht den Grund dafür. "Was ist es dann?", wollte Marron wissen, glaubte ihrer Tochter aber nicht so recht, denn die Tatsachen sprachen eine viel eindeutigere Sprache. "Komm mir ja nicht auf die Idee, noch einmal ins Krankenhaus eingeliefert zu werden", warnte sie Natsuki spaßeshalber, obwohl sie wirklich Angst davor hatte. Natsuki schüttelte müde den Kopf und winkte ab. "Ich träume nur schlecht, sonst nichts...", gab sie zu und konnte nicht umhin, herzhaft zu Gähnen. Die Nacht hatte sie sehr wenig geschlafen und nachdem sie um 5 Uhr morgens aus ihrem Traum aufgeschreckt war, hatte sie keinen Schlaf mehr finden können. Dabei hatte sie gehofft, in den Ferien endlich mal ausschlafen zu können, doch irgendjemand gönnte es ihr anscheinend nicht. Ihre Mutter überlegte kurz. Was konnte man dagegen machen? Natsuki erschien ihr in letzter auch immer öfter nervös und gereizt - vielleicht lag das aber auch an ihrem Nachbar? "Wenn das nicht besser wird, dann müssen wir dir Großmutter's geheimen Schlaftee besorgen!", schlug sie gutgelaunt vor und Natsuki nickte schwach lächelnd, vermutete aber im Geheimen, dass es erst aufhören würde, wenn sie endlich diesen Access ausfindig gemacht hatte... was wohl niemals eintreten würde. Oh Gott, sie würde ewig mit diesen Träumen gestraft sein! Natsuki seufzte tief. Womit hatte sie das verdient? Falls es so was wie ein früheres Leben gab, musste sie in ihrem wirklich etwas Schlimmes angestellt haben... "Worüber hast du dich mit ihm gestritten?", fragte Marron sanft, nachdem beide einen Moment lang geschwiegen haben. Natsuki ließ den Kopf hängen. Sie konnte ihrer Mutter eben doch nichts vormachen... "Ich muss dringend etwas von ihm wissen, doch er will es mir einfach nicht verraten!", beschwerte sie sich bei ihrer Mutter, wählte dabei ihre Worte so, dass Marron auf keinen Fall an der Gesundheit ihres Geisteszustandes zweifeln sollte. Diese nickte langsam, verstehend. "Vielleicht...", überlegt sie laut, "wenn du ihn noch einmal ganz freundlich darum bittest und ihm erklärst, warum es dir so wichtig ist? Du warst in letzter Zeit nicht sehr nett zu Shinji, oder?" Sie warf Natsuki einen Blick zu und deren Schweigen hing bedeutungsschwer in der Luft. Marron hatte Recht. Natsuki war manchmal wirklich gemein zu ihm, aber sie konnte nicht anders... ihr kam es so vor, als würde Shinji das alles provozieren. Und anstatt ihn höflich zu bitten, hatte sie ihren Wunsch als eine Forderung formuliert. Vielleicht hatte ihre Mutter recht und sie sollte noch einen Versuch starten und dabei berücksichtigen, nicht allzu herrisch vorzugehen. Wenn sie Shinji erklärte, wie wichtig das war, dann würde er es vielleicht verstehen? Nur musste sie darauf aufpassen, die gefährlichen Detail auszusparen... Marron tätschelte ihrer Tochter noch aufmunternd die Schulter, während diese fieberhaft überlegend in Gedanken versunken war, und erhob sich vom Sofa, um wieder ihren Pflichten nachzugehen. Als sie nach kurzer Zeit den Kopf ins Wohnzimmer steckte, um Natsuki etwas zu fragen, war diese auf der Couch eingenickt. Sie lag auf dem Bauch, einen Arm unter ihrem Kopf, der andere hing herunter und sie atmete gleichmäßig, friedlich. Marron lächelte und schloss vorsichtig die Tür. Nachdem Natsuki am frühen Abend wieder aufgewacht war, entschloss sie sich sofort, an die Universität zu laufen und dort nach Shinji zu suchen. Sie wusste, dass er Montag abends bis 20 Uhr Vorlesungen hatte und sich danach noch reichlich Zeit ließ, bis er sich entschloss, nach Hause zu gehen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr hatte Natsuki das Gefühl, dass diese knapp würde, um die Angelegenheit noch rechtzeitig erfüllen zu können. Irgendetwas in ihr drängte und setzte sich schrecklich unter Druck, etwas, das sie nicht verstehen konnte, doch sie konnte gegen dieses Gefühl nichts ausrichten. Noch verschlafen schlüpfte sie in ihre Jacke und besah sich im Spiegel, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und bürstete sich eilig ihr Haar durch, das während ihres Nickerchens eine Party ohne sie gefeiert zu haben schien. Schnell schaute sie noch nach Marron, doch diese schien außer Haus zu sein. Und so verließ auch Natsuki das Orleans, auf der Suche nach Shinji. Am anderen Ende des Momokuri Parks befand sich das Universitätsgelände, das Natsuki nach 20 Minuten Fußmarsch endlich erreicht hatte. Sie trat aus dem Park und sah sich ehrfürchtig die Universität, die in einiger Entfernung stand, an. Es war eine große, alte Uni, allerdings war das hier erst das Hauptgebäude. Dahinter befanden sich noch andere Fakultäten, aber Shinji hielt sich meistens hier auf. Irgendwann hatte er das mal erwähnt, bestimmt irgendwann beim Frühstück, als er ihnen wieder ihre Lebensmittel wegegessen hatte... Sie konnte die weiß-gelblichen Säulen links und rechts vom Haupteingang erkennen und die Schnörkeleien im Halbkreis über der schweren Tür. Die anderen Gebäude, es waren drei, waren viel moderner und neuer als das Hauptgebäude, aber das war an vielen Universitäten so. Natsuki persönlich schätzte den Charme von alten Gebäuden, wohingegen sie nicht verstehen konnte, wozu man ein Bauwerk mit einem 3-Kilometer-langem, verwinkelten, weißen Flur errichtete, in dem man sich fast verloren vorkam und in dem alle Räume gleich aussahen, errichtete - es hatte den Flair von einem Krankenhaus, fand sie. Aber wahrscheinlich war es die billigste Variante, etwas zu bauen. Sie wollte gar nicht erst an die Studentenwohnheim denken. Shinji hatte da auch schon öfter Geschichten erzählt.... Sie besann sich wieder und schüttelte diesen Gedanken wieder ab. Shinji redete einfach zu viel, sodass ihr so einiges im Gedächtnis hängen blieb, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Warum hörte sie ihm überhaupt zu?! Bevor sie noch weiter über ihr seltsames Verhalten nachdenken konnte, trat jemand an ihre Seite, den sie nur zu gut kannte... "Na, Süße, was gibt's?" Argwöhnisch betrachtete Natsuki den jungen Mann, der sich vor sie gestellt hatte und ihr nun zuzwinkerte. Süße? Wie konnte er es wagen? In dem Moment merkte sie, dass es noch eine Person gab, die sie tausendmal schlimmer fand, als Shinji: Taiki, seinen besten Freund. Was für ein aufgeblasener, widerlicher Kerl! Noch bevor sie ihm antworten konnte, fragte Taiki weiter. "Was führt dich her? Suchst du jemanden?" Noch immer hatte er sich sein hinterlistiges Grinsen nicht aus dem Geicht gewischt und mit vor Misstrauen triefenden Tonfall antwortete das Mädchen ihm, dass sie auf der Suche nach Shinji war. Vielleicht konnte er ihr ja verraten, wo er sich gerade aufhielt, denn auch wenn sie ihn nicht mochte, so wusste er sicherlich bescheid. Für einen Augenblick zeichnete sich in Taiki's Gesicht der Ausdruck von Überraschung ab, doch dann trat er zur Seite und gab die Sicht frei auf das, was hinter ihm war. Natsuki erblickte Shinji. Er stand mit dem Rücken zu Taiki und ihr gedreht und unterhielt sich mit einem Mädchen. Es hatte braune, lange Haare, die sie offen trug und einen beigen Rock an, der ihr bis zu den Knien ging. Mehr konnte Natsuki nicht erkennen. Das Mädchen lachte, es schien sich zu amüsieren, und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Es war etwas kleiner als Shinji, der eine Hand in die Jackentasche gesteckt hatte und mit der anderen gestikulierte... bestimmt erzählte er ihr gerade eine von seinen Studentenwohnheim-Geschichten, dachte Natsuki grimmig. Die muss er wirklich jedem unterjubeln, der sie nicht hören will. Taiki grinste schief. "Shinji ist sehr beliebt bei den Mädchen, weißt du..." Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen und folgte nun auch Natsuki's Blick. "Ja und?", beeilte diese sich zu sagen und zuckte mit den Schultern, um so ihre Gleichgültigkeit zu demonstrieren, konnte ihren Blick aber immer noch nicht von den beiden Lachenden abwenden. "Nichts, ich dachte nur..." Natsuki ärgerte sich. Konnte dieser Typ seine Sätze nicht wenigstens einmal beenden? "Nur was?", fragte sie gereizt und sah Taiki herausfordernd an. "Weißt du...", begann Taiki und legte wieder eine Kunstpause ein. "Ich denke, du hältst ihn davon ab, eins von diesen Mädchen zu beachten... na ja." Was sollte das heißen, sie hielt ihn davon ab? Sie hielt hier überhaupt niemanden von gar nichts ab! Was redete dieser Kerl für einen Unsinn?! "So ein Schwachsinn!", schnaubte sie nun Taiki an. Was dachte er sich eigentlich, wer er war? "Was willst überhaupt damit sagen?", fuhr sie ihn weiter an, doch Taiki hatte nur wieder sein hinterhältiges Grinsen aufgesetzt, kaschiert durch den oberflächlichen Mitleidstonfall, mit dem er seine nächsten Worte sprach. "Sei doch ehrlich... du verstehst doch ebenso wenig wie ich, warum sich ein 20jähriger für so ein Kind wie dich interessieren sollte, nicht wahr?" Er seufzte schwer, als würde ihn die ganze Sache innerlich belasten und auffressen. Natsuki erstarrte. Was hatte das denn schon wieder zu bedeuten?! "Ja...", fuhr Taiki fort, gefiel sich ganz offensichtlich in der Rolle des Erzählers dieser tragischen Geschichte. "Willst du ihn nicht endlich freigeben?" Jetzt sah er sie direkt an und seine Augen funkelten; ein Anblick, der Natsuki ganz und gar nicht behagte. "Du bist so ein Lügner!", zischte sie ihn zornig an und genau in diesem Moment hörte sie eine ihr allzu vertraute Stimme nach ihr rufen. "Natsuki-chan!" Sie fuhr erschrocken herum und bemerkte Shinji, wie er auf die beiden zugeeilt kam. Ohne noch ein Wort an Taiki zu verlieren, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief schnell in den Momokuri Park hinein. Es hatte langsam angefangen zu dämmern und als Natsuki sicher war, dass sie weit genug von Shinji und Taiki entfernt war, ließ sie sich erschöpft auf eine Parkbank nieder. Nach Hause konnte sie jetzt erst mal nicht... ihre Eltern würden sie dort erwarten und das Einzige, was sie brauchte, war Ruhe - und Klarheit im Kopf. Lange saß sie so dar. Den Blick auf den Boden gerichtet. Taiki hatte sie "ein Kind" genannt. Und was meinte er damit, dass sie Shinji davon abhielt, sich mit anderen zu verabreden? So etwas hatte sie doch niemals erwähnt und sie hatte ihn schon gar nicht darum gebeten! Ihn freigeben! Natsuki schnaubte leise. Wer glaubte er eigentlich, zu sein? Natsuki hatte keinerlei Interesse an Shinji und so würde es auch immer bleiben, es gab nichts freizugeben. Woher kam Taiki überhaupt auf so einen Unsinn? An der Situation gab es doch nichts missverständliches - sie hasste Shinji, weil er immer so nervte und Shinji, na ja, er nervte halt nur und erlaubte sich dämliche Spielchen mit ihr. Das hatte doch gar nichts zu bedeuten. "...für ein Kind...", wiederholte Natsuki leise murmelnd und versuchte sich so, der Bedeutung dieser Worte bewusst zu werden. War es wirklich so? War sie in den Augen von Shinji nur ein dummes, kleines Kind, dass ihn immer wieder anfuhr und beschimpfte? Das sich nicht zusammenreißen und mal ernst sein konnte und seine Scherze nicht verstand? War sie nichts weiter als ein Kind? Und Shinji... Zum ersten Mal ging ihr auf, dass Shinji erwachsen war. Er war 20, er studierte, sein Zimmer zeugte nicht mehr von dem Kleinjungenzimmer von früher, er machte seine Aufgaben gewissenhaft, nur das Training schwänzte er immer... er studierte ernsthaft Medizin, er passte im Straßenverkehr auf, wie ein Luchs, anstatt dämliche Wetter abzuschließen, Rennen zu fahren und sonstige Faxen auf der Straße zu machen, er lächelte nachsichtig, wenn sie ihn anmeckerte und er entschuldigte sich ernst, wenn er merkte, dass er jemanden verletzt hatte... und er gab nicht auf. Er war die ganze Nacht im Krankenhaus bei ihr gewesen und hatte gewartet, bis sie aufwachte! Und obwohl er ein schrecklich dummer Idiot war... war er... erwachsen geworden. Und sie hatte es nicht bemerkt, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, ihn als kleinen Lausebengel hinzustellen, der nur Schwachsinn im Sinn hatte. Und sie?? Sie war noch ein Kind... Taiki hatte recht. Dass sie das alles nicht bemerkt hatte und von ihren Vorurteilen nicht weggekommen war, bewies das alles. Dass sie sich vor ihm versteckte und einem Gespräch mit ihm aus dem Weg ging, weil es ihr zu peinlich war, anstatt das Thema direkt anzusprechen, dass sie ihn bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit beschimpfte, anstatt ruhig zu bleiben und seine blöden Scherze zu ignorieren... das war alles so kindisch... Betrübt haftete ihr Blick an der Erde unter ihren Füßen. Vielleicht sollte sie sich eine Weile von Shinji fernhalten. Aus irgendeinem ihr unbekannten Grund sträubte sich alles in ihr gegen die Vorstellung, dass Shinji dieses Bild von ihr hatte. ...ein Kind wie dich... Natsuki schloss die Augen, als ein abgrundtiefes Gefühl der Enttäuschung sie durchströmte, als wieder dieser Satz in ihren Ohren widerhallte. In ihrem Herz zwickte etwas... ...und dann hörte sie leise Schritte auf knirschendem Kies. Kapitel 14: Abends im Park -------------------------- Shinji schlenderte gedankenverloren durch die Parkanlage. Er hatte seine Hände in die Jackentaschen gesteckt und kickte einen Tannenzapfen vor sich her, den er auf dem Kiesweg hat liegen gefunden. Betont langsam durchquerte er den Momokuri Park und fragte sich, was es mit Natsuki’s Erscheinen auf dem Campus und ihrer plötzlichen Flucht auf sich hatte. Falls sie wieder aufgetaucht war, um ihn nach Access und Fynn auszufragen - gab dieses Mädchen denn nie auf? - machte es allerdings keinen Sinn, wieso sie so schnell die Flucht ergriffen, kaum dass sie ihn erspäht hatte. Ein Buch mit sieben Siegeln, dachte Shinji und schüttelte leicht den Kopf, um seiner Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Was ging in ihr vor? Woher wusste sie bescheid über die beiden Engel? Marron hätte ihm gegenüber sicherlich erwähnt, wenn sie sich doch dazu entschieden hätte, Natsuki in Kenntnis über die Vergangenheit zu setzen. Aber das bezweifelte er. Sie und Chiaki wollten Natsuki’s kleine, heile Welt so lange wie möglich bewahren und das konnte Shinji ihnen nicht übel nehmen. So, wie er das Mädchen kannte - und Fynn gekannt hatte - würde sie sich schreckliche Vorwürfe machen. So eine Erinnerung konnte das ganze Leben verändern und obwohl er sicher war, dass Natsuki lernen würde, damit umzugehen, würde sie doch eine Menge daran zu knabbern haben. Vielleicht, dachte Shinji, wäre es besser für Natsuki, sich nie daran erinnern zu können, so schmerzhaft das auch für ihn sein würde. Doch trotzdem... woher hatte Natsuki ihr unvollständiges Wissen? Außer Marron, Chiaki, Miyako und ihm selbst konnte keiner ihr etwas erzählt haben - und er wusste ganz sicher, dass niemand von den in Frage kommenden Personen sie auf diese Fährte gebracht haben könnten. Was also wollte sie sonst da? Shinji runzelte die Stirn. Sein Freund hatte ihm bloß erzählt, er habe sich lediglich mit Natsuki unterhalten und plötzlich hatte sie es sehr eilig. Das konnte Shinji auch sehen... auch worüber haben beide geredet? Doch solange es nicht um Fynn und Access ging - und das konnte nicht sein, denn Taiki war so ahnungslos wie ein Kleinkind mit einem Teddybär - war es Shinji auch nicht sonderlich wichtig. Möglicherweise wollte Natsuki Taiki auch nur ausfragen, ob er, als jemand, der Shinji sehr nahe stand, etwas wusste, um ihn selbst so umgehen zu können. Wie auch immer - auch, wenn es Shinji die ganze Sache sehr beschäftigte, würde er ohnehin nicht darauf kommen. Er würde Natsuki einfach mal fragen, wenn er sie das nächste Mal treffen würde. Aufpassen müsste er dann allerdings auch - er hatte mit seinen unkontrollierten Reaktionen schon mehr verraten, als Natsuki wissen durfte. Das nächste Mal würde er sich darauf gefasst machen müssen... Noch in seine Gedanken versunken bemerkte er wenige Meter weiter eine schattenhafte Gestalt auf einer Parkbank, doch je näher er der Person kam, desto mehr erkannte er den Umriss eines ihm sehr bekannten Mädchens. Shinji würde sie überall erkennen... ihre Haltung, ihre Art, ihr Auftreten... er hatte diesen besonderen, sechsten Sinn für sie... Chiaki behauptete immer, er habe einen Marron-Radar. Vielleicht war es bei ihm ja so ähnlich? Natsuki hatte die Hände im Schoß gefaltet und hielt den Blick geistesabwesend auf den Boden gerichtet, vollkommen vertieft in ihre Gedanken. Shinji konnte ihre sie geradezu greifen, so offensichtlich war es, dass etwas sie so sehr beschäftigte. Etwas sehr Unangenehmes, wie er ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck entnehmen konnte. Er kam näher. Als sie seine Schritte auf dem knirschendem Kies vernahm, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn überrascht an. Nicht lange währte diese Gefühlsregung auf ihrem Antlitz, bald schon verschwand jegliche Emotion wieder und das Mädchen wandte sich ab, beobachtete weiterhin die unsichtbare Stelle auf dem Boden, die sie so in ihrem Bann hielt. Shinji war wirklich der Letzte, den sie jetzt sehen oder mit dem sie sprechen wollte. Eigentlich wollte sie nur Ruhe... Er jedoch setzte sich neben sie und zog es vor, erst einmal nichts zu sagen, spielte kurz mit dem Gedanken, sie von seinem Auslandssemester zu unterrichten - vielleicht würde sie das aufheitern? Scheinbar hatte sie schlechte Laune... Einige Augenblicke verharrten sie schweigend nebeneinander, doch als Natsuki immer noch stumm war, ergriff Shinji das Wort. "Warum bist du weggelaufen?", fragte er langsam und schaute sie von der Seite her an. Sie jedoch wandte den Blick nicht ab, als sie ihm tonlos antwortete: "Ich hatte es eilig..." "Verstehe." Shinji nickte leicht amüsiert. "Du hattest eine Verabredung mit der Parkbank hier?", versuchte er es mit einem Witz, doch Natsuki ging gar nicht darauf ein. "So ähnlich", sagte sie leise und immer noch konnte Shinji nicht die Spur eines Ausdrucks auf ihrem Gesicht erkennen. "Natsuki... was ist eigentlich los?", fragte er sanft und legte seine Hand auf ihre Schulter, um sie behutsam zu sich umzudrehen. Wie er es erwartet hatte, schüttelte sie seinen Arm ab und sah ihn endlich an, vollkommen ausdruckslos "Du nervst...", murmelte sie nicht gerade überzeugend und Shinji lachte nur leise. "Du verlierst langsam an Glaubwürdigkeit, meine Kleine...", merkte er belustigt an, wurde dann aber wieder ernst. "Willst du nicht endlich sagen, was mit dir los ist in letzter Zeit?" "Nein, will ich nicht!", sprudelte es aus Natsuki heraus und endlich sah sie ihn wieder mit zornesfunkelnden Augen an. Sie war aufgesprungen und stand nun schräg vor ihm, doch bevor sie die nächste Salve auf ihn abfeuern konnte, meldete Shinji sich selbst zu Wort. "Lass mich raten – und mir schon mal gar nicht, nicht wahr? Es geht mich ja auch gar nichts an." Obwohl ein Hauch Spott aus seinem Tonfall herauszuhören war, grinste er sie erleichtert an – diese Seite an Natsuki war ihm bekannt und vertraut und er konnte besser mit ihr umgehen, als mit der nachdenklichen, deprimierten Natsuki. Shinji lehnte sich entspannt zurück, wobei er sich insgeheim fragte, wie Frauen das so einfach hinkriegten, ihre Launen von einer Sekunde auf die andere zu ändern. "Da hast du verdammt noch mal recht, das geht dich gar nichts an!", giftete Natsuki ihn an. Das war zuviel für sie am heutigen Tag! Erst Taiki, der ihr einredete, sie würde Shinji's Leben zerstören, obwohl sie gar nichts tat und jetzt auch noch dieser Vollidiot, der es doch tatsächlich wagte, sich über sie lustig zu machen! Also hatte es gestimmt, was Taiki gesagt hatte! Dass sie für Shinji bloß ein Kind war... Plötzlich war das Mädchen gar nicht mehr wütend... In ihrem Inneren regte sich kein Gefühl des Zorns mehr, vielmehr fühlte sie sich ausgelaugt und erschöpft. Ein Verlangen, sich im Dunkeln in ihr Kissen zu vergraben und dort für den Rest der Sommerferien nicht mehr herauszukommen, überkam sie. Das angriffslustige Flimmern in ihren Augen schwand und ein anderer Ausdruck spiegelte sich darin wieder - Resignation. Shinji bedachte Natsuki mit einem ernsten Blick. "Und was ist, wenn es mich doch etwas angeht...?", fragte er leise, mit sanfter Bestimmtheit und veranlasste seine Nachbarin, überrascht zu ihm aufzublicken. Argwohn legte sich auf ihr Gesicht, als sie fragen wollte, was er damit gemeint hatte. Shinji jedoch schnitt ihr das Wort ab. "Schon gut, du hast recht, geht mich nichts an...", murmelte er schnell. Hatte er sich nicht vorgenommen, das Thema endgültig ruhen zu lassen? Aber sie provozierte es auch immer wieder... Während Natsuki ihn aufmerksam musterte, wie er sich schnell korrigierte und den Blick abwandte, kam ihr eine Frage in den Sinn, die sie sich vorher seltsamerweise niemals in dieser Form gefragt hatte. Shinji war ständig um sie herum, kein Wunder, dass Taiki daraus falsche Schlüsse zog. Aber warum war Shinji ständig um sie herum...? "Shinji... was willst du eigentlich...?" Er blickte sie an, ratloses Stirnrunzeln. "Was ich will...?", wiederholte er, verstand nicht. Was meinte sie? "Du bist doch ziemlich beliebt...", setzte sie zögernd an, um nichts Falsches zu sagen, das er missverstehen könnte. "Taiki meinte, dir laufen viele Mädchen nach und du könntest jede haben... Warum suchst du dir nicht einfach Eine aus, mit der du dich dauerhaft beschäftigen kannst?" Fragend schaute sie ihn an und beobachtete, wie es hinter seinen verständnislosen Augen arbeitete. Zweifelsohne schwankte da eine Prise Bitterkeit in ihrer Stimmlage mit, die sie nicht beabsichtigt hatte und von der sie nicht wusste, woher sie so plötzlich gekommen war. Diese Worte... das wollte sie ihm doch schon immer sagen... oder etwa nicht? "Andere Mädchen?", wiederholte Shinji irritiert. Was wollte dieses Mädchen ihm damit sagen? Wie sollten ihn andere Mädchen beschäftigen, wenn allein sie ihn in ihrem Bann hielt? Shinji hielt das alles für pure Ironie des Schicksals. Es war noch niemals sonderlich freundlich zu ihm gewesen, warum sollte sich das irgendwann ändern? "Ja, Mädchen", bekräftigte Natsuki. Dass Shinji so begriffsstutzig war auf diesem Gebiet, erstaunte sie. "Du weißt schon... diese Exemplare, die dir laut Taiki so verfallen sind?", half sie ihm auf die Sprünge und bereute ihre gehässigen Worte sofort. Was war nur los mit ihr? Shinji schien zu verstehen, denn seine Augen verengten sich zu kleinen, gefährlichen Schlitzen und in seiner Stimme schwang ganz eindeutig Misstrauen mit, als er seine nächsten Worte sprach. "Taiki? So was hat er dir erzählt?" Er wusste doch von Anfang an, dass da etwas nicht stimmte... Wie konnte er es wagen, Natsuki so einen Blödsinn in den Kopf zu setzen? Nun, gelogen war das nicht, da konnte er seinem Freund keinen Vorwurf machen, aber das Natsuki auf die Nase zu binden, die sowieso schon nicht viel von ihm hielt, war jawohl die allergrößte Sauerei! Doch dann fiel ihm noch etwas anderes auf. Seit wann sprach Natsuki so voller Abneigung von ihm im Zusammenhang mit anderen Frauen?? Er konnte sich ein Grinsen wahrlich nicht verkneifen. "Bist du deshalb so seltsam?", fragte er. "Weil du befürchtest, ich könnte mich für eine von denen interessieren? Du weißt doch, dass mein Herz nur dir gehört, Natsuki-chan", scherzte Shinji, was aber nicht den gehofften Effekt mit sich brachte. Anstatt sich wieder schrecklich darüber aufzuregen und ihn zu beschimpfen, warf sie ihm nur einen vernichtenden Blick zu. "Das ist nicht lustig", erklärte sie ihrem Nachbar angesäuert. "Solche Späße bringen die anderen nur-" "Ich halte nichts von anderen Mädchen", unterbrach Shinji sie energisch, richtete sich blitzschnell auf und griff nach ihrem Handgelenk. "Und rede bitte nicht ständig von ihnen." Seine Stimmung war umgebrochen. Er sprach ungeduldig und ernst, als habe er genug von diesem Gespräch. Verständnislos blickte das Mädchen ihn an. "Hör zu... verstehst du nicht... Die anderen Mädchen sind mir egal...", versuchte er es noch einmal mit einer Erklärung. "Was meinst du damit?", hakte Natsuki argwöhnisch nach. Warum hielt Shinji nichts von Mädchen? Die Frage allerdings schien Shinji regelrecht aufzuregen, ihm die Geduld zu rauben. "Sie sind nicht DU!", sprudelte es etwas heftiger und lauter aus ihm heraus, als er eigentlich wollte. Dann zwang er sich, sich zusammenzureißen und sah sie direkt an. Kein amüsierter Tonfall, kein freches Grinsen im Gesicht, kein Spaß... Natsuki schaute verunsichert zu ihm hoch und ihr ängstlicher Gesichtsausdruck besänftigte ihn etwas. Wie bitte? Natsuki fühlte sich plötzlich ein bisschen schwach auf den Beinen und verspürte den Drang, sich hinzusetzen, doch als sie sehnsüchtig nach der Bank spähte, hörte sie sich selbst mit heiserer Stimme fragen: "Aber... was meinst du...?", was Shinji offenbar den letzten Rest gab. Er seufzte laut auf. "Ich mache keine Witze", gestand er leidvoll. "Ich meine damit, dass ich dich mag und ich frage mich, warum du es einfach nicht sehen willst? Ich mag es, wie du mich so wutentbrannt mit angriffslustigen Augen anfunkelst und wie du mich mit deiner Schlagfertigkeit überrumpelst. Ich mag es, wie du beim Schlafen aussiehst - unschuldig und unangreifbar - und wie du vollkommen versunken in ein Buch abwesend über dessen Inhalt lächelst und die Nase kraus ziehst, wenn du vor dem Problem einer unlösbaren Matheaufgabe stehst..." Shinji‘s Blick wurde weich und er lachte leise in sich hinein. "Ich liebe es, wie du genervt die Augen rollst, wie du dir jeden Morgen, bevor du das Haus verlässt, die rechte Haarsträhne hinter das Ohr klemmst und wie du immer vorgibst, allein zurechtkommen zu können und jegliche Hilfe ablehnst. Ich... ich..." Er rang nach Worten. "...noch viel mehr! Alles!", schloss er dann unbeholfen und zuckte hilflos mit den Schultern, sich nicht sicher, ob er nicht einen schrecklichen Fehler gemacht hatte? Doch was hatte er schon zu verlieren? Eine Stille legte sich über die beiden, schon beinahe im Dunkeln stehenden Personen. Entsetzt starrte Natsuki ihn an. So etwas hatte sie von noch niemandem gehört und sie hatte auch nicht erwartet, es in nächster Zeit von irgendjemandem zu hören zu bekommen – schon gar nicht von Shinji. Sie dachte... nun, zum gegenwärtigen Zeitpunkt wusste sie nicht mehr genau, was sie dachte oder gedacht hatte. Wenn sie ehrlich war, war sie mit der Situation so ziemlich überfordert... Ihre Gedanken rasten alle gleichzeitig durch ihren Kopf und sie konnte sich nicht auf einen Einzigen von ihnen konzentrieren. Sie musste doch irgendetwas darauf erwidern? Nur was? Sie machte den Mund auf und war überrascht, tatsächlich zu hören, wie sie ein "Ähh..." hervorbringen konnte. Darauf folgte ein "Wann hast du mich denn schlafend gesehen?". Natsuki biss sich auf die Unterlippe. Hatte sie ihn das tatsächlich gerade gefragt? Das war wohl das dämlichste, was sie in solch einer Situation sagen konnte, aber sie hatte es ernsthaft zustande gebracht... nicht wahr, oder? Sie warf einen schüchternen Blick zu Shinji, der sie verdutzt anschaute und schließlich vergnügt grinsen musste. Anscheinend hatte er zu seiner alten Form zurückgefunden. "Im Krankenhaus", antwortete er lachend und dann kehrte ein liebevoller Ausdruck in sein Gesicht, den Natsuki schon mehrmals bei ihm beobachtet hatte. "Hör zu... vergiss das, wenn es dich beunruhigt. Ich erwarte nichts von dir", erklärte er, dann fiel sein Blick auf ihr Handgelenk, dass er immer noch umklammert hatte und er ließ sie los. „Ist schon in Ordnung so... Es ist alles so wie immer – eigentlich“, fügte er hinzu und kratzte sich am Hinterkopf, drehte ihr dann den Rücken zu und sagte, er müsse jetzt los. Gleichzeitig wusste er, dass sich ab jetzt alles ändern würde. Nichts war mehr, wie immer. Der Wind rauschte im Laubwerk der Bäume und spielte mit ihrem Haar. Natsuki klemmte sich unbewusst eine Haarsträhne hinter das Ohr, als sie Shinji's verschwindender Silhouette hinterher blickte und ein flaues Gefühl in ihr hochkroch. Kapitel 15: Gefühle im Dunkeln ------------------------------ Es war still im Zimmer. Die Jalousie ließ nur vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Schlitze hereinfallen und Natsuki öffnete müde die Augen. Auf den ersten Blick erschien alles friedlich und harmonisch, ruhig und angenehm und für diesen kurzen Moment, den Moment zwischen Schlafen und Wachzustand, war alles in bester Ordnung. Alles war gut, normal... Bis Natsuki einfiel, dass überhaupt nichts gut war. Innerhalb von dem Bruchteil einer Sekunde war ihr die gestrige Begebenheit wieder eingefallen und vor ihrem inneren Auge spielte sich die Szene immer und immer wieder ab, ohne, dass sie es beeinflussen konnte. Natsuki drehte sich um und presste ihr Gesicht gequält in ein Kissen, packte mit einer Hand die Decke und zog sie über ihren Kopf. Am liebsten wäre sie auf der Stelle verschwunden! Das alles, was Shinji gesagt hatte... Das hat ihr die Luft geraubt! Und je länger sie zwangsweise darüber nachdachte, desto schlechter fühlte sie sich. Natsuki schloss die Augen und versuchte, sich wieder zum einschlafen zu zwingen, gab dieses Vorhaben jedoch nach wenigen Augenblicken wieder auf. Sie war wach, hellwach, auch wenn sie sich total gerädert fühlte. Als habe sie schlafgewandelt und nebenbei am New York Marathon teilgenommen! Langsam erhob sie sich vom Bett, ihre Bewegungen waren schleppend, ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem gestrigen Abend zurück. Wie in Trance kam sie zu Hause an, ihre Eltern wie erwartet aufgeregt, aber das war ihr geringstes Problem. Ohne viel zu sagen verkroch sie sich in ihrem Zimmer und saß eine Weile lang schweigend auf ihrem Bett, im Dunkeln die Knie angezogen und die Arme drum geschlungen. Hatte Shinji ihr wirklich eine Liebeserklärung gemacht? Aber warum nur? Sie war immer eklig zu ihm gewesen, sie konnte ihn nie leiden und seine dummen Witze fand sie auch immer total daneben! Wie konnte er sie mögen? Sie war vier Jahre jünger! Als Natsuki an all die Kleinigkeiten dachte, die Shinji jemals zu ihr gesagt oder getan hatte, würde ihr richtiggehend übel, sie hatte das Gefühl, ihr Magen drehte sich um und ihr Kopf fühlte sich verdächtig fiebrig an. Seine Worte gestern abend... Natsuki sog atemlos die Luft ein, die ihr stetig wegzubleiben schien, sobald sie die Szenerie wieder vor Augen hatte. Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten, jetzt, da sie wusste, wie er sie in seinen Augen sah? Bei dem Gedanken, Shinji bald irgendwo zu begegnen, wurde ihr ganz unwohl. Ihr Magen machte unkontrollierte Saltos und wüsste Natsuki es nicht besser, hätte sie glatt von sich behauptet, im Gesicht ganz grün zu sein. Das Aufstehen und sich fertigmachen fiel ihr heute morgen unglaublich schwer - sie fühlte sich, als ob ein schwerer Stein auf ihrer Seele lastete - und das Mädchen kam auch kaum voran. Sie brauchte eine Ewigkeit für alles, was sie anfing und hatte kaum Lust, irgendetwas zu Ende zu bringen. Das Mittagessen schlug sie aus, nachdem sie lustlos mit der Gabel in ihrem Reis herumgestochert hatte und sie hatte auch keinerlei Motivation, sich mit ihren Freunden zu treffen. Auf Gesellschaft konnte sie in so einer Situation gut und gerne verzichten. Stattdessen verbrachte sie den restlichen Tag damit, in ihrem Zimmer nach einer Beschäftigung zu suchen, die es vermochte, sie abzulenken - jedoch ohne Erfolg. Am Ende hatte sie sich auf das Bett gelegt und ihre Gedanken schweifen lassen, die sie ohnehin nicht in Ruhe ließen. Kein einziges Mal dachte sie an diesem Tag an ihre eigens auferlegte Aufgabe, die Sache mit Fynn und Access herauszufinden, zu beschäftigt war sie mit ihrem eigenen Problem, das, so versuchte sie sich einzureden, überhaupt nicht ihr Problem war. Das hatte Taiki also damit gemeint, sie würde Shinji nur von allen anderen abhalten. Er wusste es also schon vorher. Wie lange ging das schon so? Seit Natsuki denken konnte, hatte ihr Nachbar ihr immer auf der Pelle gehangen, nie ließ er sie in Ruhe und nie hatte sie es geschafft, ihn endgültig loszuwerden. Es konnte doch nicht sein, dass er schon seit ihrer frühesten Kindheit so in sie vernarrt war? Shinji? Niemals... Außerdem hatte er doch zwischendurch eine Freundin, versuchte sie sich zu beruhigen. Und das relativ lange, zumindest länger, als sie es ihm jemals zugetraut hätte. Aber sie war ja sowieso der Ansicht, dass Shinji ein Nichtsnutz und Vollidiot war, mit dem man es einfach nicht lange aushalten konnte... Oder, was sie dieser Ansicht gewesen, und war es jetzt nicht mehr? Natsuki schloss die Augen und schüttelte unbewusst den Kopf. Was kamen ihr heute nur für seltsame Gedanken in den Sinn? Erschlagen von dem nicht enden wollenden Tag kroch Natsuki am frühen Abend in ihr Bett und lag noch stundenlang wach, dieselben Gedanken quälten sie und wollten einfach nicht aufhören, in ihrem Kopf zu rotieren. Verwirrt drehte sie sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Bilder spielten sich in ihrem Kopf auf, einzelne Episoden. Shinji, wie er im Krankenhaus ihre Hand hielt. "Ich kann nicht woanders sein", hatte er ihr damals gesagt und sie hatte nicht verstanden. "...als hier, bei dir", hatte er hinzufügen wollen. Hätte er hinzufügen sollen, wenn sie es hätte verstehen sollen. Im Dunkeln legte sich ein Rotschimmer auf ihre Wangen und sie kniff die Augen fest zu, doch schon hörte sie ihn wieder sprechen. "Noch viel mehr! Alles!" Und mit einem ratlosen Schulterzucken und einem unbeholfenen Lächeln hatte er sie angesehen und dem Mädchen war so, als hätte sie diese endlose Traurigkeit, die sich für einen kurzen Moment darin spiegelte, schon mal irgendwo gesehen... "Das muss jetzt aufhören", hörte Natsuki ihre eigene, strenge Stimme in die Dunkelheit hineinsagen und versuchte nun, gewaltsam alle Gedanken abzublocken. Während sie kurz vor Mitternacht in das Land der Träume hineindriftete, war ihr für den Bruchteil einer Sekunde, als habe eine verschwommene Gestalt mit langem, grünschimmerndem Haar lächelnd genickt. "Auch mal wieder da?" Taiki legte eine Hand auf Shinji’s Schulter und grinste ihn - wie Shinji fand - dümmlich an. "Haben dich schon lange nicht mehr beim Basketball gesehen", fuhr er fort und ging an seinem besten Freund vorbei, Richtung Tribüne. Shinji hatte keine große Lust, sich jetzt auch noch mit Taiki auseinanderzusetzen. Der Gute war ihm in letzter Zeit irgendwie auf die Nerven gegangen mit seiner großspurigen Art und seiner "Ich kann jede haben"-Einstellung. Shinji hatte momentan sowieso andere Sorgen... Er holte sich einen Basketball und dribbelte ihn minutenlang gedankenverloren vor sich her, um sich aufzuwärmen, ohne ein weiteres Wort an Taiki zu verlieren. Er hatte es ihr also gesagt. Dass er sie liebte. Ob das ein Fehler gewesen war? Wie würde sie sich jetzt ihm gegenüber verhalten? Bestimmt würde sie ihm bei ihrer nächsten Begegnung nicht um den Hals fallen, nein, Natsuki bestimmt nicht. Er grinste schief. Das Mädchen war eine noch härtere Nuss, als Fynn es damals gewesen ist. Obwohl er zu ihr gesagt hatte, dass alles wie immer war, war das faustdick gelogen - jetzt war gar nichts mehr wie immer. Shinji hatte Angst - ja, er musste sich eingestehen, dass er sich wirklich vor dem nächsten Treffen fürchtete. Vor ihrer Reaktion. Was, wenn sie nun noch mehr Abstand zu ihm halten würde? Mein Gott, das würde er nicht aushalten...! Und was passierte, wenn sie alles, was er gesagt hatte, ignorieren würde und ihm wie immer behandelte? Das war auch nicht das, was er wollte... Eigentlich wollte er nur eine einzige Sache und er wusste, dass diese ganz bestimmt nicht eintreten würde... Er musste dringend mit Marron sprechen - Chiaki war da leider keine Option, denn wenn es um Natsuki ging, verhielt dieser sich genau so, wie man es von einem Vollblutvater erwarten würde - vielleicht würde sie ihm weiterhelfen oder zumindest sagen können, was er jetzt tun sollte. Ein Basketball, der ihm mit aller Wucht an die Schulter geworfen wurde, holte ihn schlagartig aus seinen Gedanken zurück. Leicht erschrocken rieb sich Shinji die schmerzende Stelle und sah sich um. Natürlich, wie konnte es anders sein? Taiki grinste zu ihm herüber und öffnete auch sogleich den Mund. "Schon wieder mit den Gedanken ganz woanders, was?", lachte er und ignorierte Shinji’s missmutige Miene. "Wette, wieder bei deiner kleinen Freundin." Er hielt kurz inne und überlegte. "Gestern auf dem Campus, da hat sie dich übrigens gesucht", informierte er seinen Freund und Shinji runzelte die Stirn. Warum hatte Taiki ihm das nicht sofort gesagt? Natsuki hatte doch nach IHM gesucht? "Mich gesucht...?", wiederholte Shinji irritiert. "Warum?" Doch sein Kumpel zuckte nur mit den Schultern. "Keine Ahnung, Mann, hat sie nicht gesagt." Shinji betrachtete den Rothaarigen eine Weile. Wenn sie nach ihm gesucht hatte, warum war sie dann so schnell verschwunden, als sie ihn gesehen hatte? Das machte in Shinji’s Augen keinen Sinn. "Hat sie sonst irgendwas gesagt? Oder... Hast du vielleicht etwas zu ihr gesagt?", hakte der junge Mann nach. Irgendetwas musste doch passiert sein, mal abgesehen von der "Alle Frauen fliegen auf Shinji"-Geschichte, die dieser bereit war, um des Friedens willen zu vergessen und nicht anzusprechen. "Na ja", kicherte Taiki jetzt verhalten. "Ich hab ihr nur die Wahrheit erzählt, über dich und so. Konnte ja nicht ahnen, dass sie gleich Reißaus nimmt!" Shinji spitzte die Ohren. "Was soll das heißen - die Wahrheit?", brummte er, nichts Gutes ahnend, und ließ den Basketball in seinen Armen sinken. "Hab ihr nur zu verstehen gegeben, dass du sehr begehrt bist bei den Mädchen hier, du verstehst?" Der Rotschopf zwinkerte seinem Kumpel komplizenhaft zu, dieser jedoch starrte ihn nur an. Das wusste er bereits, aber das konnte doch nicht alles sein, oder? "Was noch...?", hakte er misstrauisch nach. "Nichts mehr." Taiki schien dieses Gespräch über Natsuki nicht mehr sonderlich interessant zu finden und zuckte teilnahmslos mit den Schultern. "Ich verstehe sowieso nicht, warum du so in dieses Kind vernarrt bist - sie hält dich nur davon ab, das wahre Leben zu genießen!" Shinji sog kaum hörbar die Luft ein. “Das hast du ihr hoffentlich NICHT gesagt?!", knurrte er Taiki an und gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen. 'Bitte, bitte lass ihn das nicht gesagt haben', stieß Shinji in Gedanken zum Himmel empor, aber zu spät - Taiki hatte bereits genickt und sein grinsendes Gesicht kam Shinji vor, wie die äußerst hässliche, fiese Fratze eines Furcht erregenden Clowns. "Doch klar. Wird endlich Zeit, dass du von ihr loskommst", bestätigte er, doch der Schwarzhaarige hörte nicht mehr hin. Stattdessen packte er seinen Freund am Kragen und noch bevor dieser realisieren konnte, was mit ihm geschah, hatte Shinji bereits die Faust im Gesicht seines Gegenübers versenkt... Es klingelte. Marron legte das Buch, das sie gerade gelesen hatte, zurück. Nur noch wenige Seiten trennten sie von dem spannenden Schluss, doch anscheinend sollte es nicht sein... Sie warf einen Blick auf ihren Mann und ihre Tochter. Beide saßen nebeneinander auf der Couch und sahen sich ihre samstägliche Quizshow an. Sie konnte zwar nicht verstehen, was die zwei daran so fesselte, aber mittlerweile war es ein festes Ritual geworden und weil Chiaki so selten zu Hause war, genossen Vater und Tochter sichtlich ihre Zeit zusammen. Es klingelte erneut und Marron erhob sich vom Sessel und schlug den Weg Richtung Haustür ein, als wiederholtes Klingeln einsetzte und gar nicht mehr abbrach. Marron rollte die Augen. "Das kann ja nur Miyako sein", murmelte sie zu sich selbst und rief dann Natsuki und Chiaki zu, sie mögen doch bitte den Fernseher etwas leiser stellen. Kaum hatte Marron die Tür geöffnet, schon purzelte Miyako ganz außer sich in die Wohnung. Interessiert betrachtete die Braunhaarige ihre langjährige Freundin. Miyako’s Gesicht war gefährlich rot angelaufen und sie schien bald vor Wut zu platzen. "Miyako, was ist denn passiert", hakte Marron besorgt nach, wurde jedoch von ihrer Freundin gar nicht beachtet. "Marron, Tee!", orderte diese herrisch und stapfte godzillaähnlich an eben genannter vorbei, Richtung Küche. "Geht das nicht freundlicher oder was?", beschwerte Marron sich empört, obwohl sie ohnehin wusste, dass Miyako sie in solch einem Zustand gar nicht mehr wahrnahm. Genervt folgte sie ihrer Freundin, die an der Couch stehen geblieben war und sich kurz vom Fernsehprogramm hat ablenken lassen. Chiaki hob amüsiert eine Augenbraue und grinste Natsuki wissend an. "Als deine Mutter und Miyako noch jünger waren, war diese Umgangsweise an der Tagesordnung", erklärte er leise flüsternd an seine Tochter gewandt, um diese etwas aufzumuntern und fügte zwinkernd "Auf die Dauer echt anstrengend für einen Mann" hinzu. Er hatte das Gefühl, dass sie sich neuerdings nicht sonderlich wohl fühlte - sie sprach fast gar nicht und hatte das Frühstück und das Mittagessen unangerührt stehen lassen. Und dieses bekümmerte Gesicht brach ihm fast das Herz. Was nur vorgefallen war? Ob es etwas damit zu tun hatte, dass sie vor zwei Tagen so spät nach Hause gekommen war? Sie wollte niemandem sagen, wo sie war, schlimmer noch, sie schlug jedes Gespräch aus, verkroch sich in ihrem Zimmer und verhielt sich seitdem sehr seltsam und für sie absolut untypisch. Natsuki jedoch nahm die Information mit einem schwachen, gezwungenen Lächeln zur Kenntnis und wandte sich wieder dem Fernseher zu, starrte auf den flimmernden Bildschirm, ohne wirklich hinzusehen. "Miyako, was ist nun passiert?", fragte Marron etwas versöhnlicher und riss damit Miyako aus ihren Gedanken. Sofort kehrte wieder dieser wütend Ausdruck auf ihr Gesicht zurück. "Dieser Junge!", brach es aus Yamato’s Ehefrau heraus. "Macht NICHTS als Ärger!" Neugierig drehte Natsuki den Kopf herum, als sie Miyako’s Schimpfschwall hörte und auch Chiaki spitzte die Ohren. "Ähm, Shinji...?", riet Marron, obwohl sie eigentlich schon sicher war, dass es sich nur um ihn handeln konnte. Allerdings, das letzte Mal, dass Miyako so wütend auf ihren Sohn war, lag auch schon einige Zeit zurück. Vor ein paar Jahren noch... Oh ja! Die Arme hatte keine ruhige Minute mit ihm gehabt. Chiaki lächelte still vor sich hin. Manchmal erschien ihm Shinji noch schlimmer als der Schwarzengel Access Time, der er damals gewesen ist... Auch Access hatte nichts als Flausen im Kopf gehabt, aber Shinji, ja, der war noch ein ganzes Stück ungezogener gewesen. Marron musste Miyako damals oft mit Beruhigungstee versorgen, während Chiaki darauf angesetzt wurde, ein "ernstes Gespräch" mit ihm zu führen. Seltsamerweise war er der Einzige, vor dem Shinji hin und wieder Respekt zu zeigen schien. "Natürlich Shinji!", polterte Miyako los. "Wer sonst? Du GLAUBST es nicht - ich glaube es ja selbst kaum? Und ich dachte, die schlimme Phase wäre vorbei!" Verzweifelt ließ Miyako die Schultern hängen und ihre wütende Stimmlage ging über in den jammernden Tonfall einer hilflosen Mutter. Marron lächelte gequält. Das hatte sie allerdings auch geglaubt. "Na na... Setz dich erstmal." Sie führte Miyako zur Couch und diese ließ sich niedersinken. Marron nahm wieder in dem Sessel Platz. "Was hat er gemacht...?", fragte sie sanft, um ihre Freundin nicht noch mehr aufzustacheln. Miyako holte Luft. "Mein Sohn...", begann sie und ließ diese zwei Worte bedeutungsschwer in der Luft hängen, bevor sie fortfuhr. "Mein zwanzigjähriger Sohn... hat sich wie ein kleiner Schuljunge geprügelt!" Eine Weile herrschte bei den Kusakabes absolute Stille. Dann brach Chiaki in lautes Gelächter aus und fing sich von Marron einen warnenden Blick ein. "Typisch für ihn", brachte er unter Lachen hervor und versuchte, sich wieder zusammenzureißen, was ihm nicht so recht gelingen wollte. Dass Shinji sich prügelte... "Weshalb?", fragte er dann etwas ernster und Natsuki blickte nun aufmerksam von einem zum anderen, um bloß nichts zu verpassen. "Das wollte er mir nicht sagen. Kam nur mit einer blutigen Nase und einer Menge blauer Flecken nach Hause, grinste mich an und erzählte irgendwas von so etwas wird er nicht noch mal machen'", erläuterte Miyako missbilligend, doch Marron fiel ihr ins Wort. "Mit wem?", wollte sie wissen und Miyako schüttelte wieder fassungslos den Kopf. "Das ist wieder so eine Sache. Mit Taiki, seinem besten Freund! Warum, um Himmels Willen, verprügelt mein zwanzigjähriger Sohn seinen besten Freund?!" Ratlosigkeit stand in Miyako’s Gesicht geschrieben, doch außer einem Schulterzucken erhielt sie keine Antwort. Und auch Shinji schwieg zu diesem Vorfall... "Er wurde vom Basketball suspendiert... Auf unbestimmte Zeit", murrte sie missmutig. "Und wofür? Für eine dumme Kleinjungenpügelei, dieser Junge scheint wirklich den Verstand verloren zu haben!" Chiaki und Marron wechselten einen Blick, der Natsuki nicht entging. Basketball... Das bedeutete Shinji eine Menge, auch wenn er nicht regelmäßig zum Training erschien. Er war trotzdem gut - zumindest besser als jeder andere im Team und deshalb behielten sie ihn da. Marron schüttelte traurig den Kopf. Was hatte Shinji sich bloß dabei gedacht? Natsuki betrübte die gedrückte Stimmung noch mehr. Auch sie verstand nicht, weshalb Shinji sich mit seinem besten Freund anlegte. Sie mochte Taiki zwar überhaupt nicht und auf die letzte Begegnung mit ihm hätte sie auch gern verzichtet, aber das wäre ja fast so, als würde sie sich mit Naomi schlagen... Der Gedanke war absurd. Nicht mal in tausend Jahren würde sie auf die Idee kommen, so etwas zu tun. Und auch, wenn man eine Auseinandersetzung hatte - die ließ sich doch ohne große Probleme schnell wieder aus der Welt schaffen. Aber vielleicht war das ja auch eine reine Jungensache, die sie nicht verstehen konnte... "Er redet nicht darüber", beklagte Shinji's Mutter sich unglücklich. "Er sagt kein einiges Wort zu dem Vorfall! Stattdessen ist er eben zu irgendeinem Treffen mit einem Mädchen abgehauen!" Natsuki's Kopf schnellte herum. Shinji hatte eine Verabredung? "Mit wem?", entfuhr es ihr ungewollt, die erstaunten Blicke ihrer Eltern ignorierte sie gekonnt, doch Miyako zuckte nur mit den Schultern und lächelte entschuldigend. "Das einzige, was ich noch mitbekommen habe, war der Satz 'Ich treffe mich heute mit ihr', bevor er auch schon aus der Tür raus war", gestand sie kleinlaut. Natsuki nickte langsam, verstehend, vorsichtig darauf bedacht, sich von all den aufkommenden Emotionen nicht überwältigen zu lassen. Gemächlich erhob sie sich von der Couch und verließ das Wohnzimmer und somit die Gruppe von Erwachsenen, die sich weiterhin über Shinji unterhielten. Shinji. Was für ein mieser Lügner er doch war! Kapitel 16: Krieg ----------------- Okay. Er hatte sie also angelogen, sich über sie lustig gemacht. Das hat er gut hinbekommen, sie hätte ihm beinahe geglaubt! Aber so einfach würde sie sich nicht veräppeln lassen. Denn dieses Spiel konnte man genauso gut auch zu zweit spielen. Natsuki würde ihm sicherlich nicht in dem Glauben lassen, dass sie auf seine kleine Lüge hereingefallen war. Nein, ganz bestimmt nicht. Die Genugtuung sollte er nicht bekommen. "Übertreibst du nicht ein bisschen?", hörte sie Naomi's zweifelnde Stimme, die sie prompt aus ihren blutigen Rachegedanken riss und wieder in die Realität zurückbrachte. Natsuki warf ihrer Freundin einen abschätzigen Blick zu und wandte sich dann wieder ihrem Papierberg zu, den sie schon seit etlichen Minuten durchforstete. Beide Mädchen saßen auf dem Boden in Natsuki's Zimmer, vor Naomi lag einsatzbereit das Telefon und das einzige, was jetzt noch fehlte, war die Klassenliste mit all den Telefonnummern der Schüler, die regelmäßig am Anfang des Schuljahres verteilt wurde. "Nein, ich übertreibe nicht", antwortete sie schließlich abwesend, während ihre Miene sich erhellte und sie ein Blatt Papier herauszog. "Da ist sie ja, ich habe sie gefunden!", informierte sie Naomi erfreut und wedelte ihr mit der Liste vor der Nase herum, schob dann den Blätterhaufen zur Seite und rückte näher. Die Blonde schaute ihre Freundin immer noch skeptisch an und suchte nach den richtigen Worten. "Vielleicht ist das ja alles bloß ein Missverständnis und er...", versuchte sie noch einmal, doch Natsuki schnitt ihr heftig das Wort ab. "Nein. Ist es nicht!", schnappte sie bestimmt und atmete tief durch. Diese Diskussion hatte sie in der vergangenen Stunde schon so oft mit Naomi geführt und diese wollte es ihr immer noch nicht glauben, dass Shinji der dümmste Mensch auf Eden war! "Ich lass mich doch nicht von ihm auf den Arm nehmen! Erzählt mir erst so einen Quatsch und läuft zwei Tage später wie ein Hündchen einer anderen nach, aber na warte, ich werde ihm schon zeigen, dass ich mich nicht zum Narren halten lasse", schnaubte sie verächtlich und wieder trat ihr die Zornesröte ins Gesicht. Wie konnte sie ihm auch nur für den Bruchteil einer Sekunde glauben? Natsuki kam sich so gedemütigt und dumm vor. Erst Taiki und dann Shinji, die beiden stecken unter einer Decke, da war sie sich ganz sicher. Und ausgerechnet sie ist das Opfer ihrer dämlichen Streiche geworden! Nein, das würde sie nicht auf sich sitzen lassen. "Du bist ja total eifersüchtig!", stellte Naomi leicht überrascht fest und fixierte ihre Freundin mit ihren wachsamen Augen, um bloß keine noch so kleinste Gefühlsregung zu verpassen. Natsuki warf ihr einen empörten Blick zu. "Du hörst dich genauso an wie Shinji", unterstellte sie der Blonden missbilligend, die daraufhin kritisch eine Augenbraue hob, aber nicht weiter drauf einging. "Ich will ihm nur zeigen, dass ich das, was er kann, schon längst auch draufhabe!", fuhr Natsuki fort, ohne dass sie das Augenrollen ihrer besten Freundin mitbekam, die sich nun aber auch zu Wort meldete. "Und den armen Takeru ziehst du in diese dumme Schlammschlacht mit hinein oder was?", fragte sie, wirklich nicht verstehend, wie Natsuki so skrupellos sein konnte, doch diese schüttelte entschieden den Kopf und grinste dann plötzlich. "So schlag ich zwei Fliegen mit einer Klappe, verstehst du das nicht? Und einer muss doch mal den ersten Schritt machen...", erklärte sie und griff nach dem Telefon, das vor Naomi's Füßen lag. Mitleidig betrachtete diese ihre Freundin, als die die Nummer eintippte und sich den Hörer ans Ohr hielt. Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich ab. Wenige Minuten später legte Natsuki den Hörer auf und drehte sich zu ihrer Freundin um. "Morgen Abend treffen wir uns", teilte sie mit und lächelte, obwohl ihr gar nicht danach zu Mute war. Zwar freute sie sich auf ihre Verabredung - immerhin war es das, was sie schon immer gewollt hatte - doch die Sache mit Shinji und seiner elenden Lüge wollte ihr noch immer nicht aus dem Kopf. "Du scheinst ja sehr begeistert darüber zu sein. Sonst hast du doch auch immer in den höchsten Tönen von Takeru geschwärmt?", merkte Naomi trocken an, als hätte sie Natsuki's Gedanken geradezu gelesen, doch diese ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Woher wusstest du, dass er ja sagen würde?", fragte sie stattdessen ihre Freundin und wechselte das Thema. Naomi hatte ihr versichert, dass Takeru ein Treffen ganz bestimmt nicht ausschlagen würde und tatsächlich schien er zwar überrascht, aber doch erfreut gewesen zu sein. "Das hat doch ein Blinder mit einem Krückstock gesehen, dass er dich von Anfang an toll fand", antwortete sie, ließ sich bereitwillig ablenken. Natsuki würde sich sowieso nicht überzeugen lassen, dass sie ihr Vorhaben besser aufgeben sollte. "Und als er mich dann gefragt hat, wer der Typ ist, der dich in unregelmäßigen Abständen zur Schule bringt und abholt, war mir dann alles klar", lachte sie nun und erinnerte sich an Takeru's gequältes Gesicht, als sie ihm verklickert hatte, dass Shinji ihr Nachbar war und sie das Gefühl hatte, er habe ein Auge auf Natsuki geworfen. "Seitdem hat er sich nicht mehr getraut, euch in die Quere zu kommen", schloss sie und betrachtete amüsiert die Reaktion ihrer Freundin. Die Braunhaarige schnaubte und zog ein genervtes Gesicht. "Wieso hast du mir das eigentlich nicht sofort gesagt?", fragte sie, wartete jedoch gar nicht erst eine Antwort ab. "Das ist ja wieder mal total typisch. Der mischt sich überall ein, taucht auf wo er nicht soll und verdirbt alles, und das allein durch seine bloße Anwesenheit! Wie kann ein einzelner Mensch nur so viel Unglück bringen?", regte sie sich auf, schüttelte fassungslos den Kopf und erhob sich vom Fußboden, das Telefon in den Händen, um es wieder an seinen Platz zu stellen. Naomi zuckte mit den Schultern. Zu widersprechen wäre sinnlos, war Natsuki doch ohnehin der Meinung, alles, was Shinji tat, tat er bloß, um ihr Schaden zuzufügen. Und dabei war er doch derjenige, der am allermeisten Schaden nahm... Nur kriegte es Natsuki einfach nicht mit. Nachdem Natsuki ihren Eltern versprochen hatte, nicht zu spät nach Hause zu kommen und gut auf sich Acht zu geben und Marron ihr viel Spaß gewünscht hatte, ließ sie leise die Wohnungstür hinter sich zufallen. Das Mädchen lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete die kühle Korridorluft ein, stieß sich schwungvoll von der Wand ab und verließ das siebte Stockwerk. Und ihre Gedanken. Im selben Augenblick legte Shinji den Telefonhörer auf, nachdem er Cersia einige ihrer Fragen zu dem Anmeldeformular beantwortet und ihr zum hundertsten Mal versichert hatte, es sei ihm ein Vergnügen gewesen, ihr das Universitätsgelände zu zeigen. Gewappnet machte er sich auf den Weg zu den Nagoyas, um der Familie von seinen Ausreiseplänen zu berichten. Der Abflugtermin stand bereits fest. Vollkommen selbstvergessen strich Natsuki sich eine Strähne aus dem Gesicht, die eine Windböe gelöst hatte und rührte mit dem Löffel in der klebrigem dickflüssigen Masse herum, das vorher noch Eis gewesen war. Die Sonne brannte vom Himmel herunter, obwohl es schon früher Abend war, sodass sich die Menschenmassen, die sich an diesem Sonntag einen Spaziergang durch die Fußgängerzone gestatteten, alle in kleinen Eiscafés saßen, die sich hier und da links und recht entlang der Straße befanden. Auch Takeru und Natsuki saßen unter einem großen Sonnenschirm auf der Außenterasse und gönnten sich einen großen Eisbecher, links von ihnen brüllte ein Kleinkind in einem Kinderwagen, was die Eltern nicht großartig zu stören schien und zwei Plätze weiter fand ganz offensichtlich eine Versammlung des alte-Damen-Bingoclubs statt - zumindest hatte es den Anschein. Natsuki seufzte tief, unbewusst, und die ganze Szenerie um sie herum schien ihr zu entgehen. "Natsuki?", räusperte sich Takeru und warf seiner Begleitung einen unsicheren Blick zu, als diese nicht reagierte. "Ähm, Natsuki?", versuchte er es noch einmal und diesmal funktionierte es - Natsuki wurde aus ihren Gedanken geholt und schaute für einen kurzen Moment den 16jährigen verwirrt an, fasste sich dann schnell wieder. Mit einem schuldbewussten Lächeln entschuldigte sie sich, sie sei in Gedanken gewesen. Takeru hätte nur allzu gern gewusst, wo ihre Gedanken waren. Er hatte sie die ganze Zeit über betrachtet und ihm war aufgefallen, dass, wo immer sie auch mit ihren Überlegungen war, es ganz sicherlich kein Ort der Freude war. Ihr bekümmerter Gesichtsausdruck sprach Bände, nur wusste Takeru nicht, was genau. "Du hast keinen Spaß, oder?", erkundigte er sich vorsichtig, in seinem Tonfall Resignation mitschwingend. Natsuki schaute ihn überrascht an und ließ den Löffel los, schüttelte vehement den Kopf. "Doch, natürlich hab ich Spaß", beteuerte sie, immer noch etwas verdattert angesichts der Frage. Takeru war immer noch skeptisch. "Sicher? Ich meine..." Er suchte nach Worten. "...wenn du noch an ihm hängst..." "Wie bitte?", unterbrach die Braunhaarige ihn irritiert, fixierte den Jungen mit ihren verständnislosen Augen und saß plötzlich aufrecht ihm Stuhl. "An wem?", bohrte sie weiter, hoffte inständig, dass Takeru die ganze Sache nicht so aufgefasst hatte, wie sie es befürchtete. "Na, an diesem Typen, du weißt schon. Groß", Takeru hob die Hand in die Höhe um es zu demonstrieren, "schwarze Haare, ein Auto hat er auch", erläuterte er, sich in seiner Haut sichtlich unwohl fühlend und rutschte auf seinem Stuhl unbehaglich hin und her, verfluchte sich in Gedanken selbst, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. "Dein Freund?", fügte er fragend hinzu und blickte sie unsicher an, suchte nach einer Regung in ihrem wachsamen Gesicht. "Shinji", erklärte das Mädchen automatisch. Wie kam Takeru nur auf diesen absurden Gedanken? Naomi musste ihm mehr erzählt haben, als sie ihr gestern gebeichtet hatte - na warte! "Sein Name ist Shinji...", wiederholte sie noch einmal entgeistert, während Takeru langsam nickte und auf eine Antwort wartete. "Er ist nicht mein Freund", informierte sie ihren Begleiter hektisch, als sie merkte, dass er sie erwartungsvoll anschaute. "Und er war es auch nie", fügte sie überzeugend hinzu. "Er ist mein Nachbar und er nervt. Wie kommst du überhaupt auf so was?" Sie zwang sich dazu, Takeru ein strahlendes Lächeln zu schenken, das ihm signalisieren sollte, er bräuchte sich gar keine Gedanken zu machen. Es funktionierte. Takeru schien sich zu entspannen, nickte zuversichtlich und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, fing an, über irgendetwas Belangloses zu reden. Natsuki jedoch hörte kaum zu, nickte nur hin und wieder und lächelte. Was war nur los mit ihr? Das hatte sie sich doch schon gewünscht, seit Takeru in ihre Klasse gekommen war vor etlichen Monaten. Sie hatte sich eine Verabredung mit ihm viel toller vorgestellt, wieso war sie jetzt so unzufrieden? Klar, Takeru war höflich, freundlich, nett, zuvorkommend, er bestand darauf, alles zu bezahlen und konnte sie zudem noch zum Lachen bringen. Also, warum hatte sie dann diese nagenden Schuldgefühle? Sie hatte nichts falsch gemacht! Warum hatte sie dann das Gefühl, etwas Falsches zu tun? Warum konnte sie es nicht einfach genießen? "Und was ist dann passiert?", fragte sie mechanisch, da Takeru gerade von seinem letzten Urlaub in Südafrika und der Safaritour erzählte, die er dort gemacht hatte. Es war bestimmt nichts - die Sache mit Taiki und Shinji hatte sie sicherlich nur so aus der Bahn geworfen, dass sie sich erstmal weder fangen musste. Und sie durfte Takeru auf keinen Fall durch die Finger gleiten lassen. "...das war schon ganz schön beängstigend", schloss er seine Erzählung lachend und warf ihr einen glücklichen Blick zu, woraufhin sie lächelnd nickte. Sie hatte sich Mühe gegeben, ihre Bedenken auszuschalten und es war ihr auch halbwegs gelungen. Als sie durch den Momokuri-Park spazierten, griff er nach ihrer Hand und sie zwang sich, sich ab jetzt nur noch auf ihn zu konzentrieren und die gemeine Spielerei, die sie so beschäftigte, wenigstens für diesen Abend zu vergessen. Sie blieben an einer Parkbank stehen und entschlossen sich, sich kurz hinzusetzen. Die Zeit war schnell vergangen und kaum, dass sie sich versahen - so sehr waren sie in ihr Gespräch über alles mögliche vertieft - war es an der Zeit, nach Hause zu gehen. Die Sonne war bereits untergegangen, ohne dass die beiden es bemerkt hatten und Takeru bestand darauf, Natsuki nach Hause zu begeleiten. Hand in Hand durchquerten sie den Park, schlenderten durch die Straßen und noch bevor sie das hell erleuchtete Orleans erreichten, blieb Takeru stehen, zog Natsuki, die schon einen Schritt vorwärts gemacht hatte, an der Hand zurück. Fragend drehte sie sich zu dem Jungen um, der sich mit der anderen Hand etwas nervös durch die Haare fuhr. Wie in Zeitlupe spielte sich diese Szene vor Natsuki's Augen ab und plötzlich fiel ihr Shinji ein, bei dem sie diese Bewegung schon öfter wahrgenommen, die ihr aber nie bewusst aufgefallen war. Bis jetzt. Natsuki schüttelte den Kopf und damit ihre Gedanken wieder ab. "Ich denke, ich gehe jetzt auch.. du bist ja fast zu Hause...", sagte Takeru und warf einen unruhigen Blick auf das beleuchtete Hochhaus. Natsuki nickte leicht und auch Takeru starrte für einen kurzem Moment schweigend auf den Boden. Eine unangenehme Stille legte sich zwischen sie, bis Takeru einen Schritt auf Natsuki zumachte, ihre Blicke trafen sich und noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte Takeru sich zu ihr heruntergebeugt - er war nur einige Zentimeter größer als sie - und seine Lippen auf ihre gepresst. Im ersten Augenblick riss Natsuki die Augen vor Überraschung weit auf, obwohl sie sich schon gedacht hatte, was jetzt kam. Jetzt war er da, der Moment, den Natsuki sich so oft erträumt hat. Sie schloss die Augen, so, wie es sich gehörte und zu ihrem Ärger sah sie vor ihrem inneren Auge Shinji, der sie an der Hand zurückgehalten und sie ebenfalls geküsst hatte. Noch bevor Natsuki realisieren konnte, was eben passiert war, löste sich Takeru auch schon wieder von ihr, seine Wangen hatten einen rosa Schimmer angenommen und er lächelte sie schüchtern an, sie lächelte verwirrt zurück. "Tja also...", begann er zögernd, brach jedoch ab, setzte wieder neu an. "Gute Nacht." "Gute Nacht...", wünschte auch Natsuki ihm, als er sich wieder aufgewühlt durch die Haare fuhr, ihr noch versprach, sie anzurufen und langsam wieder in die Richtung verschwand, aus der beide gekommen sind. Als sie enttäuscht empor blickte, registrierte das Mädchen, dass in dieser Nacht keine Sterne am Himmel leuchteten. 'Ironie des Schicksals', dachte Natsuki bitter und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum, ihr Blich kroch langsam die Hausfassade hoch und blieb an ihren eigenen Fenstern hängen. Im Wohnzimmer brannte Licht, ihr Zimmer hingegen war nicht erleuchtet. Warum auch? Natsuki ließ den Kopf hängen. Gar nichts. Die Ernüchterung kam plötzlich wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hatte nichts gefühlt bei diesem Kuss, der eigentlich ihr zweiter erster Kuss werden sollte, der alles wieder gutmachen sollte, was Shinji ihr angetan hatte - aber sie hatte nichts gefühlt! Stattdessen musste sie wieder an diesen Mistkerl denken, der es sich wohl zur Aufgabe gemacht hat, ihr ganzes Leben zu zerstören! Scheinbar verfolgte sie die ganze Sache doch mehr, als sie anfangs gedahct hatte. Und nicht nur das, die ganze Verabredung war eine Katastrophe gewesen, die einzigen Gefühle, sie die Takeru entgegenbrachte, waren Freundschaftliche und darauf war das ganze ganz sicherlich nicht ausgelegt gewesen! Was war nur los? Hatte sie sich die ganze Zeit getäuscht, hatte ihre Empfindungen ihr einen Streich gespielt? Oder hatte Takeru irgendetwas falsch gemacht? Natsuki ging den Abend noch mal in Gedanken durch - nein, es war alles perfekt gewesen, es hätte nicht besser sein können und dazu sah Takeru mit seinen dunkelbraunen Haren und den dazu passenden, schokoladenenfarbenen Augen auch noch verdammt gut aus. Dennoch... irgendetwas in ihr ließ nicht zu, dass die Gefühle sich entwickelten. Und irgendetwas nagte so heftig an ihr, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, sie fühlte sich schuldig, was ein unglaublich bedrückendes Gefühl war, es war wie eine Last, die alle anderen Emotionen um sie herum lähmte. "Und warum bist du dann nicht vorher mit Takeru ausgegangen?", hörte sie Naomi‘s skeptische Stimme in ihrem Kopf widerhallen. "Bevor das mit Shinji war?" 'Aus Rache', gestand Natsuki sich bitter ein, mit einer Mischung aus Mitgefühl für Takeru und Abscheu gegen sich selbst. Sie hatte sogar sich selbst erfolgreich belogen. Wie konnte sie nur so tief sinken? Wie hatte er es nur geschafft, sie so weit zu bringen? Kapitel 17: Missverständnis --------------------------- Hilflosigkeit stand Natsuki ins Gesicht geschrieben, als sie den hübschen, grünhaarigen Engel in Access' Armen zum wiederholten Male in ihren Träumen sterben sah. Der violetthaarige Access mit seinen schwarzen Flügeln, der mit dem Rücken zu ihr saß, schluchzte herzergreifend und sie wollte ihm so gerne helfen, aber wie auch sonst zuvor konnte sie sich nicht rühren, konnte nur zuschauen, als sei sie das Ein-Mann-Publikum und das vor ihr die Vorstellung. Der Engel mit den schwarzen Flügeln schniefte wieder. "Ich werde auch wiedergeboren!", rief er plötzlich aus und drückte die leblose Gestalt in seinen Armen noch ein letztes Mal, bevor er - das kannte Natsuki schon - ihr seinen schwarzen Ohrring in die Hand drückte. "Gib ihn mir wieder", flüsterte Natsuki zeitgleich mit Access und als hätte er das gehört, drehte er sich langsam um... Erschrocken saß Natsuki aufrecht im Bett. Sie hatte schon wieder einen von diesen Träumen gehabt, sie ließen sie einfach nicht los. Doch heute war etwas anders gewesen... der Grund, weshalb sie sich so erschrocken hatte, war die Tatsache, das derjenige, der sich zu ihr umgedreht hatte, nicht mehr Access gewesen war - nein! Es war Shinji's Gesicht gewesen, das sie so hilflos und verzweifelt angeschaut hatte und in diesem Augenblick brach ihr Traum ab, noch bevor sie genauer hinsehen konnte. Jetzt erschien er ihr sogar auch noch im Traum, hatte sie doch schon tagsüber genug von ihm. Sie musste irgendetwas dagegen tun, dass er so dermaßen ihre Gedanken beherrschte, aber vorerst würde sie sich um ihre anderen Probleme kümmern müssen... allen voran Takeru und dann natürlich die Angelegenheit mit ihren Träumen! In letzter Zeit hatte sie sich nicht sonderlich viele Gedanken um des Rätsels Lösung gemacht, aber anscheinend würde man sie nicht in Ruhe lassen, bis sie die Sache endlich mal aufklärte. Nur wann würde das passieren? Sie hatte absolut keine Anhaltspunkte! Jedoch... "Wiedergeboren...?", murmelte sie verständnislos, bevor sie sich wieder in ihr Kissen zurücklehnte. Missmutig saß Natsuki am Küchentisch. Es war Montag Mittag und sie hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, sich zu überlegen, wie sie Takeru am besten den Sachverhalt schildern könnte, doch ihr war nichts Brauchbares eingefallen. Nichts, was ihn nicht verletzte und sie nicht als böse Hexe hinstellte. Stattdessen waren ihre Gedanken immer wieder zu dem Traum gewandert sie ärgerte sich schwarz und weiß, dass sie von Shinji geträumt hatte. Ihr war schon klar, dass er nichts dafür konnte und sich nicht willkürlich in ihre Träume einschlich, aber dennoch... hatte er sie so dermaßen durcheinander bringen müssen, mit dieser Lüge, diesem Kuss und allem? Sie wollte am liebsten gar nicht mehr über ihn nachdenken, aber auch das blieb ihr verwehrt. Natsuki hatte den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Tisch und hörte sich halbherzig das muntere Geplapper ihrer Mutter an, die durch die Küche wuselte und ihr immer wieder ein neues Geburtstagsmenü vorschlug. Das Mädchen sollte die neuen Ideen ihrer Mutter entweder absegnen oder ablehnen, doch Natsuki war heute ganz und gar nicht nach schwerwiegenden Entscheidungen, ihre Letzte hatte ihr schon genug Ärger eingebrockt. "...gleich einen Kuchen backen...", erzählte Marron von weit weg. Was würde sie jetzt Takeru erzählen, wenn er sie anrufen würde? Sie überlegte sch kurz, es noch einmal zu versuchen mit ihm, aber alles in ihr wehrte sich dagegen und so gab die auch diesen Einfall schnell wieder auf und kehrte zu ihrem Problem zurück: was sagen? Auch, wenn sie ihm keinerlei romantische Gefühle entgegenbrachte, so mochte sie ihn doch sehr gerne und wollte ihn auf keinen Fall verletzten, ebenso wenig wollte sie, dass er einen schlechten Eindruck von ihr hatte. Natsuki, die Herzensbrecherin. Ihr wurde schlecht! Dabei hatte sie doch niemandem Schaden zufügen wollen! "...oder lieber Kirschkuchen?", hörte sie wieder Marron neben sich plappern, die gutgelaunt zum Kühlschrank schritt, diesen öffnete und ihren Kopf hineinsteckte. "Was sagst du dazu, Schatz?", gab sie die Frage unbekümmert an ihre Tochter weiter, die, ohne groß nachzufragen, was für Optionen sie hatte, sich für das Einzige entschied, was sie noch mitbekommen hatte: "Kirschkuchen", murmelte sie lustlos und starrte geistesabwesend auf die geöffnete Tür, auf der ein paar Merkzettel und eine Nachricht an die Eltern hingen, die noch beantwortet werden musste. Nachdem Marron den Inhalt des Kühlschranks genauestens studiert hatte, schloss sie die Kühlschranktür wieder zu und legte sich die Hand betroffen an die Wange. "Oh je, Natsuki", setzte sie bekümmert an, was Natsuki's Aufmerksam erweckte, und warf dem Mädchen einen besorgten Blick zu. "Ich fürchte, wir haben gar keine Eier mehr", erklärte ihre Mutter und dachte kurz nach. "Ich möchte Chiaki nicht wieder in den Laden schicken... er war vorhin schon einkaufen." Chiaki hatte heute seinen freien Tag - das grenzte an Seltenheitswert und natürlich wollte Marron ihn nicht ständig durch die Stadt scheuchen, er hatte auch so schon genug zu tun. Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte sie sich an Natsuki. "Würde es dir etwas ausmachen, mir ein paar Eier von nebenan mitzubringen?", bat sie. Natsuki zögerte. Nebenan? Das würde ja bedeuten, sie müsste zu den Minazukis! Da wollte sie nun wirklich nicht hin. "Dann könnte ich schon mal den Kuchenbelag vorbereiten", schlug ihre Mutter vor und lächelte Natsuki aufmunternd zu. "Ja, in Ordnung...", willigte diese ergeben ein. Es war erst 13 Uhr und die Chancen, Shinji zu Hause anzutreffen, waren sehr gering. Er war doch ständig irgendwo unterwegs. Und wenn schon... Miyako würde als Pufferzone herhalten müssen und Natsuki hatte ohnehin nicht vor, dort zu übernachten. Zwei Minuten, das dürfte sie überleben. "Wunderbar, dann kann ich Miyako heute Abend zu einer Tasse Kaffee und Kuchen einladen", lachte Marron und zwinkerte ihrer Tochter schelmisch zu, während sie sie aus der Küche hinausbegleitete. "Immerhin wird sie zu der Entstehung des Kuchens einen großen Beitrag leisten." Natsuki zog sich ihre Schuhe an und Marron schloss die Tür hinter ihr, drehte sich mit einem triumphierenden Grinsen um, wo auch schon Chiaki an der Wand lehnte und sie skeptisch betrachtete. "Ich hab vorhin doch ganze zwei Packungen Eier mitgebracht", informierte er trocken seine Frau, hob dann eine Augenbraue. "Was hast du vor?" Marron lachte und kam näher zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Miyako ist gar nicht zu Hause", kicherte sie und kam sich wieder vor wie 12, als sie damals mit ihrer besten Freundin Streiche ausgeheckt hatte. Chiaki seufzte demütig, was seiner Ehefrau nicht entging. "Ach, Chiaki", tadelte sie ihn in mildem Ton. "Du weiß doch ganz genau, dass die beiden zusammengehören." "Ja, aber...", wollte er Widerspruch einlegen, doch Marron legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihm, zu schweigen. "Du weißt es", sagte sie nachsichtig, fast schon sanft, und statt darauf zu antworten, bevorzugte Chiaki es, sie an sich zu ziehen und mit ihr in einem langen, weltvergessenen Kuss zu versinken... Die Tür wurde mit solch einer Wucht aufgerissen, dass Natsuki erschrocken einen Satz zurückmachte, noch bevor sie klingeln konnte. "Pass auf, dass dir nichts anbrennt!", rief Yamato, der das Mädchen gar nicht bemerkte, in die Wohnung rein. Er hatte einen Anzug an und seinen schwarzen Koffer in der Hand, sah aber sehr gehetzt aus. Gerade, als er eilig losstürmen wollte, fiel ihm auf, dass Natsuki vor der Haustür stand. "Ach, Natsuki-chan!", begrüßte er das Mädchen und warf einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. "Tut mir leid, ich bin leider viel zu spät dran... komm ruhig rein, immer der Nase nach", lachte er und zwinkerte ihr zu, in Anspielung auf den köstlichen Duft, der aus der Küche strömte und die ganze Wohnung und den Hausflur erfüllte. Natsuki nickte freundlich, trat ein und Yamato hechtete zum Treppenhaus - der Aufzug war ihm viel zu langsam. Die 15jährige streifte ihre Schuhe ab und begab sich auf den Weg Richtung Küche, um die gewünschten Eier zu besorgen, doch als sie eintrat, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Shinji stand mit dem Rücken zu ihr am Herd und hantierte mit einer Pfanne herum. Er griff nach dem Salzstreuer, der neben der Kochplatte stand und würzte das Hühnchen, das sich in der Pfanne befand und vor sich hinbrutzelte. Noch bevor sie ihrem Instinkt, die Flucht zu ergreifen, Folge leisten konnte, hatte sich Shinji auch schon umgedreht und sie erblickt. Überrascht hielt er in der Bewegung inne und ließ seine Hand mit dem Salzstreuer sinken. "Natsuki-chan?", fragte er, als wäre er sich nicht sicher, ob sie es wirklich war. "Was machst du hier?", entgegnete sie entgeistert und für einen kurzen Moment starrten sie sich beide an, als hätten sie einen Geist gesehen. Von der vorwurfsvollen Frage überrascht, was er in seinen eigenen Zuhause machte, musste Shinji grinsen. "Ich koche", gab er, jetzt viel lockerer, zurück und amüsierte sich innerlich sehr über den Gedanken, wie befremdend er beim Kochen auf sie wirken musste. Aber auch die konfuse Natsuki schien sich einigermaßen zu fangen. Ihr war wieder eingefallen, was für ein Mistkerl er war und sie würde ihm ganz bestimmt nicht mit Freundlichkeit begegnen, sollte er das tatsächlich annehmen. "Kann ich dir helfen?", fragte Shinji in ihre bösen Gedanken hinein, doch dann entgleisten ihm die Gesichtszüge, als der Topf, der neben der Pfanne auf dem Herd stand, zischende Geräusche von sich gab und heißes Wasser über den Rand herausströmte. "Oh man, das Wasser kocht über!", rief er entsetzt aus, wirbelte wieder zu seiner Kochstelle herum und packte den kochendheißen Deckel ohne Topflappen an, stieß einen Schmerzensschrei aus und zog seine Hand blitzschnell zurück, fuchtelte mit ihr in der Luft herum. Hektisch schaute er sich um, bis er ein Küchentuch entdeckte und endlich fähig war, den Deckel vom Topf abzuheben. Sofort setzte sich das Wasser im Topf wieder ab und mit einem erschöpften Seufzer kam Shinji nun schließlich auch auf die Idee, die Herdplatte schwächer zu stellen. Wortlos hatte Natsuki dieses Schauspiel mit angesehen, nicht wissend, was sie davon halten sollte, doch noch bevor sie sich eine Meinung darüber bilden konnte, wandte der Junge sich wieder ihr zu. "Also?", fragte er auffordernd, schaute sie fragend an und sie erinnerte sich wieder an den Grund, weshalb sie hier mit Shinji in der Küche der Minazukis stand und sich diesem Stress aussetzte. "Mama wollte sich ein paar Eier ausleihen", erklärte sie knapp in kühlem Tonfall und wich seinem Blick aus, als er sie schweigend musterte. Shinji nickte. "Im Kühlschrank sind welche, bitte bedien dich", bot er ihr höflich an und widmete sich wieder dem Topf, indem er eine Packung Reis aufriss und diesen in das kochende Wasser schüttete. Natsuki zögerte kurz, schritt dann jedoch zum Kühlschrank und öffnete diesen. "Nimm dir so viele du brauchst", fügte er mild hinzu, ohne sich zu ihr umzudrehen. Die 15jährige fühlte sich etwas unwohl dabei, einfach Eier aus dem Kühlschrank der Minazukis zu nehmen, auch, wenn Shinji es ihr erlaubt hatte. Viel lieber wäre es ihr gewesen, ihr hätte jemand die Eier eigenständig in die Hand gedrückt, sodass sie sich nicht auf eigene Faust bedienen musste. "Sind vier Stück in Ordnung...?", fragte sie kleinlaut, was sie eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte. Aber sie konnte ihn doch nicht anfahren und gleichzeitig seinen Kühlschrank ausräumen? "Natürlich, meinetwegen kannst du alle haben", sagte Shinji leichthin und wendete noch einmal das Hühnchen in der Pfanne, drehte sich dann zu Natsuki um, die, die Eier auf dem Arm balancierend, mit der anderen Hand die Kühlschranktür vorsichtig zuschloss. Als sie bemerkte, dass Shinji's Blick auf ihr ruhte, sah sie ihn kurz an, dann wieder schnell weg. Eine unangenehme Stille legte sich wieder einmal zwischen die beiden, die Natsuki schnell durchbrach. "Na ja... danke...", murmelte sie und wollte ihm schon den Rücken zudrehen und endlich aus der Hölle rausspazieren, als sie Shinji sprechen hörte. "Wie war's gestern?", fragte er sanft und fixierte sie noch immer mit seinen aufmerksamen Augen, die Natsuki keinerlei Aussagen über seinen Gemütszustand lieferten. "...was meinst du?", fragte sie zögernd und hoffte inständig, er hatte nicht irgendwie von ihrer - eigentlich schönen - katastrophalen Verabredung erfahren. Doch erfolglos. "Na, dein Treffen mit diesem Jungen", erklärte Shinji geduldig, ließ sie nicht aus den Augen. Natsuki, die sich plötzlich sehr verhöhnt vorkam, nahm eine defensive Haltung ein. "Dasselbe könnte ich dich auch fragen", spottete sie verärgert, Shinji jedoch zog nur stirnrunzelnd die Nase kraus. "Wie bitte?", hakte er noch verständnislos nach und Natsuki rollte mit den Augen. Jetzt machte der auch noch einen auf Unwissend! "Na, dein Date am Samstag mit diesem Mädchen!", half sie nach und ihre letzte Worte klangen verbitterter, als beabsichtigt, doch bei Shinji war der Groschen noch immer nicht gefallen. "Was für ein Date...? Was für ein Mädchen??", fragte er alarmiert und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was er am Samstag gemacht hatte. Er hatte Taiki eine Lektion erteilt, seiner Mutter damit einen Schrecken eingejagt und hatte Cersia auf dem Campus herumgeführt, jedoch war da weit und breit kein Rendezvous mit irgendeinem Mäd- dann leuchtete es auch ihm endlich ein. "Du meinst Cersia?", fragte er fassungslos und Natsuki's Augen weiteten sich. "Du warst mit Cersia aus??", entfuhr es ihr entsetzt und Shinji schüttelte hastig den Kopf. "Nein, natürlich nicht!", beeilte er sich zu sagen. Glaubte Natsuki tatsächlich, er machte ihr an einem Tag eine Liebeserklärung und am nächsten würde er sich schon auf die Piste begeben? "Ich habe ihr das Universitätsgelände gezeigt! Die wichtigsten Anlaufstellen und das alles. Du weißt doch, dass sie in wenigen Wochen auch anfängt, dort zu studieren", klärte er die verdatterte Natsuki geduldig auf und während sie das alles noch verarbeitete, kratzte er sich ratlos am Hinterkopf. Natsuki's Gedanken überschlugen sich. Shinji hatte also gar kein Date gehabt, was bedeutete, dass er sich nicht über sie lustig machte, was bedeutete, dass er nicht selbe Sache mit Taiki machte, was wiederum hieß, dass er das, was er zu ihr gesagt hatte, ernst gemeint haben musste! Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass er sich mit Taiki gestritten hatte und es daher gar keinen Sinn machte, für sie anzunehmen, Shinji und er hätten sich das gemeinsam ausgedacht. Dieses Geständnis im Park... Als Natsuki bewusst wurde, dass sie hier in de Küche der Minazukis stand, alleine mit dem Jungen, der ihr vor ein paar Tagen gesagt hatte, dass er sie liebte, wurde ihr ganz unbehaglich zu Mute und ein gesundes Rot legte sich auf ihre Wangen. "Ach so...", murmelte sie leise und betrachtete interessiert die Eier in ihren Armen. Shinji schmunzelte. "Warst du etwa eifersüchtig?", neckte er sie belustigt, griff wieder nach dem Salstreuer, da er sich daran erinnert hatte, den Reis noch nicht gesalzen zu haben. Miyako machte ihm deswegen immer die Hölle heiß, sie war strikte Salzfanatikerin. "Das hättest du wohl gerne!", entgegnete das Mädchen patzig, er jedoch lachte nur leise. "Ja, durchaus", gestand er und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, bevor er das Hühnchen vom Herd nahm und die Pfanne routiniert auf einer kalten Herdplatte platzierte. Während etwas in ihr sie dazu drängte, schnell zu verschwinden, bevor die Situation noch unangenehmer werden würde, betrachtete sie fasziniert, wie Shinji seine Kochkünste einsetzte. Dass er kochen konnte und es auch wirklich TAT, das hätte sie von ihm niemals erwartet, aber, da fiel es ihr wieder ein, sie hatte sich in letzter Zeit schon so oft in ihm getäuscht. Schnell riss sie sich von diesem ungewöhnlichem Anblick los und beschloss, zu gehen. "Er hat dich geküsst?", kam es plötzlich von Shinji und Natsuki blieb wie eingefroren stehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie schluckte nervös. Was sollte sie jetzt sagen? "W... woher...?", stammelte sie, doch Shinji zuckte amüsiert mit den Schultern. "Geraten", lächelte er und es erstaunte Natsuki, dass er so locker damit umging. Sie an seiner Stelle wäre bestimmt fürchterlich verletzt und wütend. Immerhin hatte er ihr gestanden, dass er sie mochte... Schuldbewusst warf sie einen sehnsüchtigen Blick zur Tür, doch als sie sich wieder zu Shinji umdrehte, um sich eiligst von ihm zu verabschieden und dieser ganzen Peinlichkeit zu entkommen, stand er bereits vor ihr und blickte sie ernst an. Er beugte sich zu ihr herunter, legte eine Hand auf ihre Schulter und Natsuki erstarrte vor Schreck, konnte sich nicht rühren, fast wie in ihren Träumen. Für einen kurzen Augenblick schoss ihr panisch durch den Kopf, dass er sie wieder küssen würde und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch Shinji tat nichts dergleichen. Er verharrte mit dem Gesicht an ihrem. "Du hast bald Geburtstag. Was wünschst du dir?", flüsterte er und sie fühlte seinen heißen Atem an ihrem Ohr, in ihrer Brust pochte es verdächtig laut und angesichts dieser Nähe stieg ihr die Hitze ins Gesicht. Unfähig, etwas zu sagen, schüttelte Natsuki nur starr den Kopf und Shinji richtete sich wieder auf, ließ ihre Schulter los. "Gar nichts?", lächelte er sie an. "Das glaube ich dir nicht." Natsuki schluckte einen großen Kloß herunter, der es sich in ihrem Hals gemütlich gemacht hatte und versuchte, das unkontrollierte Herzklopfen in den Griff zu kriegen. Shinji hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, als er sah, wie sehr sie sich von ihm durcheinander bringen ließ. Ganz sicherlich lag das an seinem Geständnis, denn seitdem verhielt sich das Mädchen noch eigenartiger als vorher. Und dann dieses Treffen mit diesem Jungen... wie war noch mal sein Name? Shinji erinnerte sich nicht mehr, wie Marron ihn genannt hatte. Als er Chiaki und seiner Frau gestern erzählt hatte, dass er für einige Monate nach England fliegt, hatten sich beide sehr für ihn gefreut und irgendwann deutete Marron dezent an, dass Natsuki den Abend mit einem Jungen verbrachte. Im ersten Moment war das für Shinji wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, doch dann schaffte er es, sich einigermaßen zu entspannen - so gut, wie es halt ging. Er würde ohnehin bald nicht mehr hier sein und er konnte dem Mädchen schließlich schlecht etwas verbieten, da sie ihn ja sowieso ganz offensichtlich hasste. Obwohl er sich hierbei nicht mehr allzu sicher war - warum sonst hatte sie so eifersüchtig auf sein vermeintliches Date mit Cersia reagiert? Shinji lachte in sich hinein. Wie musste das auch für sie ausgesehen haben? Erst eine Liebeserklärung und dann direkt ein Rendezvous mit einem anderen Mädchen! Dass sie so etwas von ihm dachte - typisch für sie! Er konnte schon nachvollziehen, warum sie das so schrecklich aus der Bahn brachte. Gut schien es ihr jedenfalls nicht zu gehen, ganz im Gegenteil - das Mädchen machte einen todunglücklichen Eindruck. Er lachte bei ihrem Anblick und sicherte sich damit sofort ihre Aufmerksamkeit. Argwöhnisch betrachtete sie ihn, als er den Deckel nahm und ihn wieder auf den Topf setzte. "Der Kuss muss ja schrecklich gewesen sein, wenn du so ein Gesicht ziehst!", zog er sie auf und musste angesichts ihrer Verlegenheit bezüglich dieses Themas grinsen. "Was weißt du schon?", brachte Natsuki ihm erbost entgegen, obwohl sie nur halb so überzeugend klang wie sonst. Shinji überschritt ihrer Meinung nach wieder einmal die Grenze und das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, egal, wie mies sie sich ihm gegenüber verhalten hatte. Auch der junge Mann merkte das. "Entschuldige", lächelte er. "Das meinte ich nicht so." Schon wieder eine Entschuldigung, dachte Natsuki. Das konnte sie jetzt überhaupt nicht brauchen,. Es war viel einfacher, wütend auf Shinji zu sein, wenn er sich nicht bei ihr entschuldigte! Es war Zeit, dieser Tortur ein Ende zu setzen! "Ich gehe!", informierte sie den Jungen etwas heftig, doch er nickte nur freundlich. "Grüß Marron von mir", sagte er und wollte Natsuki schon bis zur Tür begleiten, doch das Mädchen war ihm schon im Highspeed entwischt. Er hörte sie nur noch ein "Mach ich" rufen und die Tür, wie sie ins Schloss fiel. Mit einem amüsierten Kopfschütteln widmete Shinji sich wieder seinen Pfannen und Töpfen zu und beschloss, noch eine leckere Sauce anzurühren, während er sich nur am Rande wunderte, wie er es geschafft hatte das Hähnchen nicht anbrennen zu lassen. Ein Glück nur, dass Miyako ihm das Rezept dagelassen hatte. Und die Sauce gab es auch in praktischen Fertigpackungen! Ob Natsuki sich ein zweites Mal mit diesem Ta-irgendwas treffen würde?, überlegte der junge Mann fieberhaft, bis ihm das Wasser schon wieder überkochte und er erschrocken nach den Topflappen griff, um den Topf schnell von der Kochstelle zu nehmen. Während er so gut es ging die Sauerei beseitigte, die er angestellt hatte, versuchte er bestmöglich, das aufkeimende Gefühl von Eifersucht zu unterdrücken, dass ihm solche Probleme bereitete. Vor Natsuki hatte er es gut im Griff gehabt, denn er wollte nicht in noch mehr Fettnäpfchen treten, als ohnehin schon, aber ganz allein mit seinen Gefühlen zu sein war für ihn unheimlich anstrengend. Sie war ihm nichts schuldig, sie konnte tun und lassen, was sie wollte, versuchte er sich einzureden, versuchte er sich klarzumachen und auch, wenn er wusste, dass das absolut der Wahrheit entsprach, fiel es ihm schwer, die negativen Gefühle auszulöschen. Dieser Junge - und alle anderen auf dieser Welt - waren nicht für sie bestimmt, sie haben nicht ein Leben lang auf sie gewartet und sie haben die Ewigkeit nicht überstanden, nur, um dieses Mädchen wieder zu sehen! Wer, wenn nicht er, hatte es also mehr verdient, sie in seinen Armen zu halten, sie zu küssen und die nächste Ewigkeit zusammen mit ihr zu verbringen? Entschlossen rührte Shinji in der Sauce herum. An Aufgeben war gar nicht mehr zu denken, er fragte sich, wie er überhaupt jemals daran gedacht haben könnte? Er würde nur eine kleine Pause machen, sich ausruhen und danach... Dann würde er ihr Herz schon erobern! Das wäre ja gelacht, wenn er es nicht schaffen würde. "Tadingsbums! Du kannst einpacken", sagte er energisch zur Sauce und hörte prompt die scherzende Stimme seiner Mutter hinter sich. "Herrje, Shinji, erst legst du dich mit Taiki an und jetzt bedrohst du auch noch unser Mittagessen." Kapitel 18: Eine erste Erinnerung --------------------------------- Ihre Augen wanderten unruhig hin und her, als Natsuki durch die Straßen ging. Sie war eben bei Naomi zu Besuch gewesen, um sich ein bisschen abzulenken, doch zu schnell war die Zeit vergangen und bald schon hatte sie festgestellt, dass sie nach Hause musste. Leider war sie heute nicht besonders gut in Form. Angespannt hielt sie nach irgendwas Ausschau und vor jeder Kurve blieb sie stehen und lugte vorsichtig um die Ecke, um bloß nicht irgendwem über den Weg zu laufen... Irgendwem... "Was machst du da?", fragte eine wohlbekannte Stimme argwöhnisch hinter ihr, als Natsuki mal wieder nervös die nächste Straße inspizierte. Erschrocken fuhr sie zusammen und drehte sich in Windeseile zu ihrem Gegenüber herum, blickte ihn aus furchtsamen Augen an. Doch es war nur Taiki, der ihr da ungewollterweise über den Weg gelaufen war. Ob sie das besser fand als die andere Alternative, das wusste das Mädchen noch nicht so recht. Sie entspannte sich etwas, war es ja immerhin nicht Shinji gewesen, der ihr aufgelauert war. Nie hätte sie von sich gedacht, dass sie solch eine Paranoia an den Tag legen würde, aber die letzten Ereignisse hatten sie sehr aus dem Gleichgewicht gebracht und sie in eine neue Gefühlswelt katapultiert, für die sie noch nicht bereit gewesen war. Shinji in einem neuen Licht zu sehen war viel anstrengender, als diese ganze Kabbeleien all die Jahre über und es verunsicherte sie, dass er so viel mehr war, als sie gedacht hatte. Und dass er so viel mehr fühlte, als sie erwartet hatte... Wie sollte sie damit umgehen? Die Situation überforderte sie und sie wusste, sie würde - und das hatte sie bereits bewiesen - sich ihm gegenüber nicht normal verhalten können, bis nicht wieder alles zur alten Ordnung überging. Aber wie sollte das geschehen? Sie wollte auf keinen Fall mit dieser ganzen Sache konfrontiert werden - was für eine Qual! Und warum musste das ausgerechnet ihr passieren? "Oh", sagte sie leise zu Taiki und seufzte erleichtert auf. "Du bist es nur." Der Rothaare grinste schief. "Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, warst du aber nicht so erfreut", höhnte er und Natsuki erinnerte sich auch sofort wieder an den Grund dafür, doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Taiki auch schon fort. "Shinji hat sich ja ganz schön ins Zeug gelegt für dich." Sein Tonfall troff nur so vor Spott und als Natsuki ihn fragend anschaute, fügte er hinzu: "Hast wohl dein Schoßhündchen auf mich gehetzt, was?" "Wie bitte?", fragte das Mädchen, halb verblüfft und halb empört. Sie hatte sich schon gedacht, dass Taiki auf die Prügelei zwischen ihm und Shinji anspielte, aber so etwas zu behaupten war einfach unerhört! "Wird er auch nach dieser Unterhaltung wieder angebellt kommen?", stichelte Taiki weiter und verzog seine Fratze zu einem gemeinen Grinsen, Natsuki wich angewidert einen Schritt zurück. Dieser Typ war noch viel schlimmer, als sie es sich ausgemalt hatte! Wie konnte man nur so hässliche Sachen sagen über jemanden, mit dem man vor Kurzem noch befreundet war? "Verdient hättest du es jedenfalls", gab sie kühl zurück und bedachte ihn mit einem Blick, in dem sich nur hohle Verachtung widerspiegelte. Gerade wollte sie sich umdrehen und auf der Stelle verschwinden, denn sie hatte absolut gar keine Lust auf dieses Gespräch und Taiki's Gemeinheiten, als wieder seine gehässige Stimme hinter ihr ertönte. "Hast du kein Mitleid mit ihm?" Natsuki ballte eine Hand zur Faust und atmete tief durch. Was war er doch für ein Ekel! "Der einzig bemitleidenswerte Mensch, den ich hier sehe, bist du", antwortete sie ruhig und kalt, versuchte gewaltsam, ihre Wut unter Kontrolle zu halten. "Soso." Taiki klang belustigt. "Dann grüß mir schön dein Schoßhündchen von mir." Das war der Moment, in dem Natsuki herumwirbelte und dem verblüfften Taiki, der nicht damit gerechnet hatte, eine saftige Ohrfeige verpasst. Schwer atmend und mit vor Wut geröteten Wangen funkelte sie den überrumpelten Jungen an, der sich überrascht die Wange hielt und mit seinen Augen die Ihren suchte. "Red' nicht so über ihn!", befahl Natsuki zornig dem vielfach geschlagenen Hund und bedachte ihn mit einem letzten, vernichtenden Blick, bevor sie um die Ecke verschwand und den fassungslosen Taiki zurückließ, der so aussah, als hätte ihm noch niemals ein weibliches Wesen Kontra gegeben. Bei dem Grad an Idiotie, den Taiki an den Tag legte, konnte sich Natsuki das allerdings überhaupt nicht vorstellen. Shinji ein Schoßhündchen zu nennen! Das war jawohl die Höhe schlechthin. Immerhin war er eine eigenständige Person und konnte für sich selber denken. Und wenn er sich dazu entschloss, Taiki eine Lektion zu erteilen, dann war es sicherlich seine eigene Idee gewesen. Und mittlerweile fand Natsuki das, was Shinji getan hatte, gar nicht mehr so abwegig und verwunderlich. Bei dem Kerl konnte man doch nicht anders als irgendwann die Geduld zu verlieren. Dass Taiki allerdings davon ausging, sie hatte etwas damit zu tun, erstaunte sie. Was hatte er doch gleich behauptet? "Er hat sich ganz schön ins Zeug gelegt für dich" und "Wird er auch nach dieser Unterhaltung wieder angebellt kommen"? Sollte das etwa bedeuten, dass Shinji sich ihretwegen mit diesem Mistkerl geprügelt hatte? Denn das letzte Mal, als sie ein Gespräch mit Taiki geführt hatte, war er ebenfalls nicht sehr freundlich zu ihr gewesen... Natsuki schob den Gedanken schnell beiseite. Sie wollte jetzt auf keinen Fall über Shinji nachdenken, nicht schon wieder, nicht jetzt, wo sie einigermaßen wieder gute Laune hatte nach all den qualvollen Tagen, die hinter ihr lagen. Nun im Laufschritt und ohne weiter auf verdächtige Personen zu achten, erreichte das Mädchen endlich ihr Zuhause. Atemlos drückte sie mehrmals auf den Knopf des Aufzuges und wippte ungeduldig mit dem Fuß, während sie wartete. Ein ungewohnter Adrenalinschub hatte sie durchflossen, nachdem sie Taiki hatte stehen lassen und plötzlich konnte sie es sich nicht verkneifen, die Lifttür anzugrinsen, die sich zu dem Ganzen allerdings nicht äußerte. Sein verblüfftes Gesicht, wie er sich die Wange hielt und seine Augen hin und herwanderten, als versuche er immer noch zu begreifen, was in den letzten zwei Sekunden geschehen war, würde einfach unvergesslich bleiben. Die Tür öffnete sich, sogleich beförderte der Aufzug sie in das siebte Stockwerk und die gewohnte Vorsicht überkam sie wieder. Zaghaft steckte Natsuki den Kopf in den Hausflur und versicherte sich, dass dort niemand anwesend war, dann flitzte sie in Sekundenschnelle zur Haustür und öffnete die Tür. Wie es sich herausstellte, war Marron auch erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen, was Natsuki ganz recht war, denn sie musste ihre Mutter unbedingt etwas fragen. Sie hatte lange nachgedacht und immer wieder versucht, die einzelnen Puzzleteile in ihrem Kopf zu ordnen, sodass sie einen Sinn ergaben, war jedoch daran gescheitert. Und war es nicht ihre Mutter gewesen, die ihr von klein auf diese Geschichte über den schwarzen Ohrring erzählt hatte? Es war ihr wieder eingefallen, nachdem sie am Morgen aufgestanden hatte. Während sie sich verschlafen vor dem Spiegel die Zähne putzte, hatte sie plötzlich diesen Geistesblitz gehabt, hörte Marron's Worte. "Er wird dich zu demjenigen führen, der dir vorherbestimmt ist..." Das hatte sie doch gesagt, oder nicht? Natsuki war sich ganz sicher. Sie musste sie fragen! "Mama", sagte sie abwesend, noch in ihre Gedanken über diese ganze seltsame Sache vertieft. "Wer hat mir eigentlich diesen schwarzen Ohrring gegeben?", fragte sie, nachdem sie ihrer Mutter ins Wohnzimmer gefolgt war und sich in den Sessel hockte. Natsuki konnte sich nicht daran erinnern, wie er in ihre Hände gelangt war, also musste es schon eine Ewigkeit her sein. Marron, die die Post durchguckte, die sie eben von unten geholt hatte, blickte überrascht auf. "Wie meinst du das, Schatz?", hakte sie aufmerksam nach und ließ ihre Tochter nicht aus den Augen. "Na ja...", druckste diese herum. "Irgendjemand muss ihn mir doch gegeben haben und ich würde gerne wissen, wer und wann das war...", erklärte sie zögernd. Wenn sie herausfand, von wem sie den Ohrring bekommen hatte, würde sie vielleicht mit dieser Person Kontakt aufnehmen und Klarheit in die ganze Geschichte bringen können. Auf alle Fälle hätte sie einen Anhaltspunkt. Marron schwieg eine Weile und dachte nach. Natsuki wurde langsam neugierig, jedoch hatte sie noch absolut keine Ahnung und versuchte, die Dinge auf ihre Art und Weise zu ordnen, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste. In Bahnen, in denen sie denken konnte, wo es nichts Außergewöhnliches und Mysteriöses gab, nichts außerhalb von ihrem alltäglichen Leben und den Dingen, die sie kannte. "Du willst mir doch nicht weismachen, dass diese 'bei der Geburt in der Hand gehalten'-Geschichte stimmt", stellte das Mädchen klar, doch als Marron sie nur leicht mitleidig anschaute, fügte sie ein unsicheres "...oder?" hinzu. Ihre Mutter schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, Liebling, aber anders kann ich es mir auch nicht erklären", räumte sie ein. Sie wollte ihre Tochter auf keinen Fall anlügen, doch ihr alles erzählen, das kam auch nicht in Frage. Sie würde ihr niemals glauben, nicht Natsuki, die alles mit ihren eigenen Augen gesehen haben musste, bis sie es endlich akzeptierte. Dieses Mädchen war misstrauisch und vorsichtig und musste alles erst auf Herz und Nieren überprüfen. Ein Grund mehr, warum Shinji es so schwer hatte, dachte Marron. "Aber...", stammelte Natsuki verwirrt, riss sich dann doch zusammen. "Das kann nicht sein", sagte sie, ihre alte Zuversicht zurückgewinnend, Marron jedoch seufzte nur und zuckte mit den Schultern. "So war es aber", sagte sie und widmete sich wieder der Post, ging die einzelnen Briefe durch und sortierte unnötige Werbung heraus. Nachdenklich hatte sich Natsuki von ihrem Platz erhoben und stand stirnrunzelnd im Wohnzimmer herum. Sie wusste, ihre Mutter würde sie nicht anlügen oder ihr irgendwelche Märchen auftischen, schon gar nicht, wenn sie sie ernsthaft nach etwas fragte, trotzdem konnte sie diese Geschichte einfach nicht glauben. So etwas war doch unmöglich, oder? Oder? "Vielleicht hast du ihn ja schon vor deiner Geburt bekommen?", schlug Marron unschuldig vor, ohne den Blick von dem Briefumschlag abzuwenden, den sie nun vorsichtig öffnete, jedoch umspielte ihre Lippen ein geheimnisvolles Lächeln. "Vor...?", murmelte Natsuki gedankenverloren und in ihrem Kopf fing es an zu arbeiten. Vor ihrer Geburt? Was hatte das zu bedeuten? "Mama", sagte sie unvermittelt und starrte immer noch abwesend den Teppichboden an. Marron hob langsam den Kopf und schaute ihre Tochter an, die sich nun auch vom Fußboden löste und ihre Mutter ins Visier nahm. Einen kurzem Moment lang sahen beide sich an und eine bedeutungsschwangere Stille schwebte zwischen ihnen. "Glaubst du eigentlich an Wiedergeburt...?", flüsterte Natsuki leise, als wäre es eine Straftat, das Wort laut auszusprechen, als gäbe es irgendjemanden in diesem Zimmer, der es nicht hören durfte. Marron hätte am liebsten überrascht nach Luft geschnappt, doch sie hielt sich zurück. Damit hatte sie absolut nicht gerechnet. Offensichtlich hatte sie sich geirrt und Natsuki wusste doch schon mehr, als sie angenommen hatte. "Ich...", begann sie und stockte, fing dann wieder neu an. "Hast du noch nie davon gehört, wie Menschen erzählen, sie seien jemandem zum ersten Mal begegnet und fühlten sich, als kannten sie sich schon sein einer Ewigkeit?", fragte sie, statt ihrer Tochter eine Antwort zu geben. Diese nickte. "Denkst du, das kommt von ungefähr?", fuhr sie weiter fort und lächelte, ließ den geöffneten Umschlag auf ihren Schoß sinken. Natsuki überlegte kurz. "Darüber hab ich noch nie nachgedacht", gestand sie. Diese ungewöhnliche Antwort verwirrte sie mehr, als es ihre eigene Frage schon getan hatte. 'Ich werde auch wiedergeboren!', hatte der verzweifelte Engel mit den schwarzen Flügeln in ihren Träumen entschieden. "Nun, ich denke, das ergibt durchaus einen Sinn", antwortete Marron statt ihrer und nickte zuversichtlich sich selbst zu. Ihre Tochter, zu keinen klaren Gedanken mehr fähig, nickte mehrfach, eher aus Ratlosigkeit als aus Verständnis und verließ mit einem wirren Gesichtsausdruck das Wohnzimmer und überließ Marron wieder ihren Rechnungen, Werbungen und anderen Postgeheimnissen. Sie hatte jetzt erst mal selber welche zu knacken... Doch dann fiel ihr noch etwas ein. "Und glaubst du eigentlich an... Engel?", hakte sie unsicher nach, bevor sie die Küche betrat, um sich einen Tee zu kochen. Marron wandte sich wieder ihrer Tochter zu. "Wie könnte ich nicht, nachdem ich hier meinen persönlichen Engel zu Hause herumlaufen habe?", lächelte sie liebevoll, zwinkerte Natsuki schelmisch zu und schaffte es wahrhaftig, dieser ein aufrichtiges, dankbares Lächeln abzuringen. Und auch, wenn es nicht die Antwort war, die sie erwartet hatte, war es doch eine Antwort gewesen... es hätte sie auch gewundert, wenn eine Frau, die an Wiedergeburt glaubte, sich für eine so wundervolle Idee wie "Engel" verschloss... Die 15jährige setzte Wasser zum Kochen auf und lehnte sich nachdenklich gegen den Kühlschrank. Sicherlich, Wiedergeburt war ein wichtiger Teil vieler Religionen und nicht wenige Menschen glaubten daran, aber glauben bedeutet nicht gleichzeitig wissen. Und was bedeutete es für sie? Was glaubte sie oder vielmehr: was glaubte sie zu wissen? Ihr wurde bewusst, dass sie nicht einmal wusste, ob sie so etwas glauben sollte. Und vielmehr noch merkte sie, dass ihr bald der Kopf platzen würde, wenn es so weiterging. Die Tür ging auf und Marron betrat die Küche. "Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir geselle?", fragte sie freundlich, wohl in dem Wissen, dass Natsuki auf keinen Fall verneinen würde. Sie trat zum Schrank und holte zwei Tassen heraus, stellte sie auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Natsuki beobachtete ihre Mutter eine Weile und ihr kam dann eine Idee. Vielleicht konnte sie ihr in dieser Sache nicht weiterhelfen, aber sie hatte da ja auch noch dieses andere Problem... "Du, Mama...", begann sie und sicherte sich sofort Marron's Aufmerksamkeit. "Du weißt doch, ich bin ja mit Takeru ausgegangen vor ein paar Tagen...", murmelte sie undeutlich, doch Marron nickte. Und während Natsuki noch nach ihrer nächsten Formulierung suchte, ergriff sie das Wort. "War es nicht schön?", fragte sie besorgt und musterte ihre Tochter, die heftig den Kopf schüttelte. "Nein. Doch! Doch, es war schön. Aber..." Natsuki zuckte hilflos die Schultern und brach resigniert den Satz ab. "Aber...?", hakte ihre Mutter behutsam nach und der mutlose Blick ihrer Tochter entging ihr nicht. "Es war nicht so... wie es hätte sein sollen...", erklärte Natsuki ihr unsicher und wusste im selben Moment nicht einmal, wie es denn hätte sein sollen, damit sie zufrieden gewesen wäre, doch Marron hatte verstanden. "Aber du hattest vorher gehofft, dass es so sein würde?", fragte sie sanft und Natsuki bejahte mit einem Nicken. Ein Klicken ertönte und das Mädchen fuhr herum und hob den Wasserkocher von der Ladestation, goss das heiße Wasser in die zwei Tassen ein, in die Marron bereits jeweils einen Teebeutel platziert hatte. Natsuki stellte den Zucker auf den Tisch und setzte sich gegenüber ihrer Mutter. "Was soll ich denn sagen, wenn er anruft?", stöhnte sie, fast schon gequält, und kam wieder auf das eigentliche Thema zurück, doch dieses Mal konnte selbst ihre weise Mutter ihr nicht weiterhelfen. "Das weiß ich nicht, Schatz...", gab sie ehrlich zu und Natsuki ließ hoffnungslos den Kopf hängen. "Gibt es einen Grund, warum es nicht geklappt hat? Vielleicht... gibt es jemanden, den du lieber magst?", riet Marron ins Blaue hinein, natürlich nicht ohne Hintergedanken, doch davon bekam Natsuki nichts mit. Sie schüttelte nur unschuldig den Kopf und verneinte. "Nein, niemanden." "Und..." Marron gab nicht auf. "Mag dich vielleicht jemand und das bringt dich ganz schön durcheinander...?", probierte sie es noch einmal und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Auf Natsuki's Gesicht erschien ein gequälter Ausdruck und sie gab ein brummendes Geräusch von sich. "Du weißt es", stellte sie grimmig fest und bedachte ihre dampfende Tasse mit einem düsteren Blick. Marron nickte leicht mit dem Kopf und wartete darauf, dass Natsuki von selbst anfing zu erzählen. Für einen kurzen Augenblick schwiegen sich beide an und hingen ihren eigenen Gedanken nach, dann holte sich die 15jährige wieder in das Hier und Jetzt zurück, wandte ihren Blick von dem Tee ab und seufzte. "Das ist so seltsam...", gab sie leidend von sich und blickte ihre Mutter ratlos an. Immerhin kannte sie Shinji schon ihr ganzes Leben, doch zu erfahren, dass er SO über sie dachte... das war einfach zu viel des Guten. Wie lange ging das schon so? "Das verstehe ich", sagte Marron in ihre Gedanken hinein. "Und wie denkst du über ihn?", fragte sie sanft, doch Natsuki schüttelte nur unentschlossen den Kopf. "Shinji...", setzte sie zaghaft an, "...hat doch nur genervt..." Sehr überzeugend klang das jedenfalls nicht und ihr war aufgefallen, dass sie in der Vergangenheit redete. Nervte er sie jetzt etwa nicht mehr? Dadurch, dass nun Ferien waren und er nicht jeden Tag zum Frühstück aufkreuzte, sah sie ihn viel seltener... Das könnte ein möglicher Grund sein... Oder? "Und nun...?", hakte Marron wieder nach und war fest entschlossen, auch das kleinste bisschen Unsicherheit aus Natsuki herauszukitzeln. Ihre Tochter schien sich nicht mehr sicher zu sein, was ihre Gefühle dem Nachbarjungen gegenüber anging und vielleicht war das der erste Schritt zur unvermeidlichen Wahrheit. Natsuki zuckte hilflos die Schultern. Sie hatte keine Antwort auf diese Frage parat, ihre Gedanken und Gefühle waren so durcheinander und sie wollte auch am liebsten gar nicht darüber nachdenken. Und auch, wenn sie tief im Inneren wusste, dass sich ihre Grundhaltung Shinji gegenüber langsam veränderte und bereits verändert hatte, so würde sie das niemals zugeben und zugeben wollen. Nicht vor ihrer Mutter, ihrer Freundin und schon gar nicht vor sich selbst. Sie empfand keine Wut mehr, wenn sie an Shinji dachte, nicht dieses Gefühl, dass sie früher für Abneigung, ja sogar Hass, gehalten hatte, und sie hatte Angst vor dem, was diese Veränderungen noch alles mit sich bringen würden. Sie hielt es in diesem Fall für das Beste, nicht darüber nachzudenken. Im Stillen hoffte sie, es dadurch verdrängen zu können. Marron, die gemerkt hatte, dass ihre Tochter nicht sehr interessiert an einem Gespräch über Miyako’s Sohn war, beschloss, das Thema zu wechseln... zumindest ansatzweise. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und passte sorgfältig darauf auf, sich am heißen Tee nicht die Zunge zu verbrennen. "Dein Vater hatte auch viele Nerven aufbringen müssen, damals", sagte sie fröhlich und kicherte leise bei der Erinnerung daran, wie sie Chiaki so lange auf Distanz gehalten hatte. Natsuki horchte auf und vergaß für einen Moment ihre ganzen Sorgen und Probleme. Neugierig schaute sie ihre Mutter an und forderte diese auf, weiter zu erzählen. "Er hat mir Zettelchen in den Briefkasten geworfen", fuhr Marron weiter fort, den amüsierten Blick in die Ferne schweifend, während sie ihre Hände an der heißen Tasse wärmte. "Was stand denn so drin?", wollte Natsuki wissen, war sich jedoch nicht sicher, ob ihre Mutter ihr das erzählen würde. "Dass ich ihm ein Gratin machen sollte." Marron verdrehte die Augen und Natsuki prustete los. "Wie romantisch", kommentierte sie lachend und ihre Mutter lächelte nun auch. "Es wurde noch viel romantischer...", warnte Marron ironisch vor, doch bevor sie weiter sprechen konnte, fiel Natsuki ihr munter ins Wort. "...als Miyako von der Sache Wind bekommen hatte und ihm auch ein machen wollte!", vollendete sie den Satz ihrer Mutter und hielt inne, als sie bemerkte, was sie da eben gesagt hatte. Auch Marron hatte ihre Tasse sinken lassen und starrte ihre Tochter mit halb offenem Mund sprachlos an. Die Briefchen und Gratin-Geschichte hatte sie ihr vorher noch nie erzählt und dass Miyako früher auch in Chiaki verliebt war, genauso wenig. Vielleicht hatte Chiaki ja aus dem Nähkästchen geplaudert, aber so etwas sah ihm einfach nicht ähnlich... Auch Natsuki schien verwirrt. Sie kratzte sich verstreut am Kopf und überlegte kurz. Sie hatte diese Tatsache plötzlich gewusst, konnte sich jedoch nicht erinnern, dass ihr das irgendwann einmal erzählt worden war. Marron‘s und ihre Blicke trafen sich. "Miyako war damals auch in Papa verliebt gewesen, nicht wahr...?", fragte sie und in ihrem Tonfall schwang etwas Ängstliches mit. Auch, wenn sie sich zu hundert Prozent sicher war, dass das stimmte, brauchte sie dennoch die Antwort ihrer Mutter. Dieses plötzliche Wissen verunsicherte sie. Marron nickte nach einer Weile. "Wer hat dir das erzählt?", fragte sie betont gleichgültig und freundlich. Sie wollte nicht, dass Natsuki sich Sorgen machte, derjenige würde nun Ärger bekommen. Doch Natsuki sah ihre Mutter nur mit einem verzagten Gesichtsausdruck an. "N... niemand...", gestand sie leise. Kapitel 19: Bitte erinnere dich ------------------------------- Wieder einmal saß Natsuki an ihrem Schreibtisch und drehte den kleinen, schwarzen Gegenstand ratlos in ihren Fingern hin und her. Es war ein ganz normaler Ohrring, mit schwarzer, glänzender Oberfläche und gewöhnlichem Verschluss, und doch rankten sich so viele Geheimnisse darum, dass Natsuki der Kopf schwirrte. Sie war sich sicher: Sie hatte fast alle Puzzleteile zusammen, nur hatte sie absolut keine Ahnung, wie sie sie zusammenfügen sollte. Oder fehlten ihr die entscheidenden Teile doch noch? Wenn sie ein bisschen darüber nachdachte, würde ihr vielleicht eine Idee kommen? Allerdings klangen Ausschnitte dieses ganzen Mysteriums sehr seltsam... beispielsweise der Teil mit den Engeln. Die Sache mit der Wiedergeburt aber beschäftigte sie mehr als alles andere. Wenn es wirklich möglich war, wiedergeboren zu werden, Menschen aus einem früheren Leben zu treffen, wie sollte man sich denn an diese erinnern können? Und wenn Engel wirklich im Himmel wohnten... was machte dann dieser Ohrring hier? Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, dass nichts auf der Welt unmöglich war, aber an etwas glauben und es mit eigenen Augen sehen, das waren zwei so verschiedene Dinge und in der Theorie, ja, da ging alles, doch in der Praxis? Natsuki kratzte sich unbewusst am Hinterkopf, eine Geste der Ratlosigkeit, die sich so viele Menschen angeeignet hatten. Wieder spielte sie mit dem Ohrring in ihren Fingern, in der leisen Hoffnung, ein Geistesblitz würde sie bei der bloßen Berührung treffen, doch da hatte sie sich zu viel erhofft. Natürlich blieb der Geistesblitz aus, ebenso wie jegliche Erkenntnis. Diese neue Idee, die in Natsuki aufkeimte, nämlich die Möglichkeit der wiederkehrenden Leben, brachte viel mehr Fragen als Antworten mit sich und es war unglaublich anstrengend, über Sachen nachzudenken, die einem keine Erklärung lieferten. Natsuki seufzte. Das war ja alles unglaublich romantisch, Liebe, die über den Tod hinausgeht und so, aber das sollte Natsuki glauben? Viel eher ging ihre Fantasie wieder mit ihr durch. Oder etwa nicht...? Und wenn dem tatsächlich so wäre, wieso war der Ohrring dann ausgerechnet bei ihr gelandet? Fynn sollte doch den Ohrring Access zurückgeben und nicht sie! Ihr Kopf schmerzte leicht. Das war alles eine Nummer zu groß und Natsuki zweifelte langsam, aber sicher an ihrem Verstand. Wiedergeborene Engel, ewige Liebe und sie vollkommen ahnungslos mittendrin! Das waren echt tolle Aussichten. Und dem einzigen Menschen, der etwas zu wissen schien, konnte sie auf keinen Fall mehr gegenübertreten. Warum denn auch ausgerechnet Shinji, fragte sie sich. Es gab so viele andere Menschen auf dieser Welt, die es hätte treffen müssen, aber nein! Doch, redete sie sich ein, konnte er ihr bestimmt auch nicht weiterhelfen. Vielleicht hatte er ja ähnliche Träume und genauso wenig eine Ahnung wie sie. Sonst hätte er ihr bestimmt etwas gesagt. Oder? Zu viele "oders", bemerkte Natsuki. Die Wolken verzogen sich und ließen ein paar Sonnenstrahlen durch das Fenster fallen. Der schwarze Ohrring funkelte für einen kurzen Moment auf und Natsuki fixierte ihn wieder. Er war ihr einziges Anhaltszeichen... der einzige Verbindungspunkt zwischen ihren Träumen und der Realität. Das Mädchen seufzte genervt auf und ließ den Ohrring wieder in das Schmuckkästchen fallen. Sie konnte wieder einmal nichts tun und das ärgerte sie! Und dennoch waren ihr diese Nachforschungen um einiges lieber, als sich mit ihrem aktuellsten Problem auseinander zu setzen: Takeru. Sie stand auf und ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen, starrte eine Weile lang die Decke an, ohne wirklich nach einer Lösung zu suchen. Irgendwann schloss sie die Augen... ..."Fynn! Findest du nicht, dass es langsam reicht?" "Darf ich dir etwas sagen, wenn du zurückkommst?" "Ich gehe mit euch, dann seid ihr nicht so einsam..." "Ich werde auch wiedergeboren!" "Ich gebe ihr meine Kraft." Erschrocken machte Natsuki die Augen auf, doch um sie herum war pure Dunkelheit, alles war schwarz... Sie lag auf dem Boden und alle Glieder schienen ihr wehzutun. Mühsam stemmte sie die Hände gen Erde und setzte sich auf, blinzelte in die Dunkelheit hinein, doch es war nichts zu erkennen. Um sie herum schwirrten Stimmen, Männerstimmen, Frauenstimmen, leise Stimmen und laute Stimmen. Einige murmelten nur, andere schrieen entsetzt auf, doch sie konnte nur wenige von ihnen wirklich verstehen. Der Boden unter ihr war kalt und hart und sie hatte das Gefühl, sie war in einer unendlichen Weite gefangen, da sie nicht wusste, wo sie sich befand und ob es an diesem Ort überhaupt Wände gab. Benommen lauschte sie den Stimmen und versuchte, etwas aus dem ganzen Wirrwarr herauszuhören. "...heißt sie wieder Natsuki." Natsuki? Das war doch ihr Name, aber wer sprach da? Wem gehörte diese junge, heitere Frauenstimme? Doch schnell wurde sie von einem Flüstern abgelenkt. "Bald ist es soweit...", sagte eine leise Männerstimme, wurde jedoch unterbrochen von einem lauten "Nein, FYYYYNNNN!!", einhergehend mit einem dunklen, tiefen "Ich danke dir...". Verwirrt und überfordert schüttelte Natsuki den Kopf. Auch, wenn sie nicht ganz bei sich war, so war es doch niemals gut, Stimmen zu hören. Verlor sie jetzt endgültig den Verstand? Wie oft hatte sie sich das in der letzten Zeit schon gefragt! In ihrem Kopf drehte sich alles, sie hatte sogar das Gefühl, sie selbst drehte sich! Um ihre eigene Achsen, rundherum, sie schloss die Augen, doch das Rotieren wollte nicht aufhören, genauso wenig wie die Stimmen ringsherum, die Flüsternden und Schreienden, die Lachenden und die Weinenden... "Natsuki!" Sie öffnete wieder die Augen. Diese Stimme war erstaunlich klar und nah. Fynn stand vor ihr und streckte die Hand aus. "Natsuki, erinnere dich", bat sie lächelnd und das Mädchen streckte die Hand nach Fynn's Ausgestreckter aus und kaum, dass sie sie berührt hatte, tauchte sie in eine andere Welt ein... Es war kein richtiger Ort und es gab nichts Materielles, keinen Boden, keine Wände, das Einzige, was um Natsuki herum war, waren Bilder. Einzelne Bilder, wie Fotografien, bewegliche Sequenzen, wie Filmausschnitte und wieder diese Stimmen... sie bemerkte jetzt, dass diese Stimmen aus den Filmausschnitten stammten, die ihr hier vorgeführt wurden. Vielmehr rasten die Bilder und Szenen an ihr vorbei, oder vielleicht raste auch sie an ihnen vorbei. Als sie sich nach Fynn umdrehen wollte, war diese nicht mehr an Ort und Stelle. Natsuki war allein, inmitten dieses Chaos. "...mag dich vielleicht jemand und das bringt dich ganz schön durcheinander...?", hörte sie die Stimme ihrer Mutter und wirbelte herum, so schnell man eben konnte, wenn man irgendwo im Nirgendwo herumschwebte. Die Sequenz von ihrem vorhergegangenem Gespräch mit ihrer Mutter rauschte an ihr vorbei, sie erhaschte einen Blick auf ihren eigenen, geknickten Gesichtsausdruck und ihre lächelnde Mutter, die die Teetasse in den Händen hielt. Erschrocken starrte sie auf die Stelle, an der dieser Ausschnitt verschwunden war. Stattdessen entstand dort eine neue Sequenz. Sie mit Takeru im Schatten des Baumes und er legt die Hand auf ihre Schulter... Sie wandte sich ab. Das wollte sie nicht sehen. Ein einzelnes, unbewegliches Bild von einer aufgebrachten Miyako im Wohnzimmer der Nagoya's schoss an ihr vorbei und natürlich die dazu passende Stimme: "Dieser Junge! Macht NICHTS als Ärger!" Natsuki schüttelte verwirrt den Kopf, als könnte sie so dieses seltsame Geschehen um sie herum abschütteln. Doch dann sah sie sich selbst. Die andere Natsuki stand unweit von ihr entfernt und starrte verwirrt geradeaus. Etwas materialisierte sich an dieser Stelle und Natsuki - die Jetzige - schnappte nach Luft: Es war Shinji! "Noch viel mehr! Alles!", gestand er und sie bemerkte seinen verzweifelten Ausdruck im Gesicht. Sofort verschwommen die beiden Gestalten wieder, doch an ihre Stelle trat etwas anderes. Ihr Vater, Chiaki, wie er sie auf Shinji's Geburtstag erschrocken auffing, als sie das Bewusstsein verlor. Nicht lange dauerte diese Szene an, wurde ersetzt durch eine lachende Naomi an ihrem Geburtstag, wie sie ein Geschenk auspackte, das Natsuki ihr geschenkt hatte. Verzweifelt hob Natsuki ihre Hände und bedeckte mit ihnen ihr Gesicht. Wo befand sie sich? War sie etwa im Jenseits, oder warum sah sie ihr Leben an sich vorbeiziehen...? Und warum zog ihr Leben in der falschen Reihenfolge an ihr vorbei? Von Hinten nach Vorne! "Bitte erinnere dich...", flüsterte es wieder, ganz nah an ihrem Ohr, nein, an beiden Ohren! Sie wagte wieder einen Blick und sah eine Fotografie von Shinji und seiner damaligen Freundin. ‚Wie hieß sie doch gleich?‘, schoss es Natsuki durch den Kopf, doch sie kam nicht wirklich dazu, darüber nachzudenken, denn es schien, als beschleunigte sich das Tempo dieser eigenartigen Vorstellung. Sie sah sich als Kind bei der Einschulung. "Hallo. Ich heiße Naomi!", tönte es aus dieser Sequenz und ein kleines, blondes, lachendes Mädchen streckte ihr die Hand entgegen und sie sah auch sich selbst erleichtert lachen. Natsuki wurde von einer anderen Stimme abgelenkt. "Wenn wir groß sind, kaufe ich dir auch ein Schloss!", beteuerte ein Achtjähriger, schwarzhaariger Junge, den Natsuki zweifellos als Shinji identifizierte. Hoffnungsvoll schaute er auf die kleine Natsuki und wartete auf eine Antwort. Unbewusst musste Natsuki bei diesem Anblick zärtlich lächeln. Der gab doch wirklich nie auf! Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, gebannt verfolgte sie das Szenario weiter, bis sie dem Achtjährigen erklärte, sie würde ihren Vater heiraten - daran allerdings konnte sich Natsuki gut erinnern. In diesem Alter hatte sie den eindeutigen Wunsch gehegt, später mal Chiaki zu heiraten. Von ihren Freundinnen wusste sie, dass es denen in ihrer Kindheit nicht anders ergangen war. Belustigt sah sie dabei zu, wie sie Shinji mit Bausteinen bewarf und vollkommen getroffen war von seinen - für sie damals - harten Worten. Sie betrachtete den kleinen Shinji, wie er ihr perplex hinterher starrte und obwohl sie ihn für "doof" erklärt hatte, machte er sich nichts daraus. Stattdessen fing er an zu lächeln und dieses Lächeln eines Kindes katapultierte Natsuki's Gedanken sofort zu dem jetzigen, erwachsenen Shinji, zu seinem süffisanten Lächeln, wenn sie ihn beschimpfte, wenn sie ihn abwies, zu seinem frechen Grinsen, seinen unverschämten Sprüchen... War er etwa schon so lange so... so unangreifbar? Während sie über Shinji nachdachte, wurde ihre Aufmerksamkeit sofort wieder von einer anderen Sequenz in den Bann gezogen. Es war ähnlich der, die sich vorhin materialisiert hatte. Ihre junge Mutter legte ein Bündel in die Arme des Vierjährigen. Er hielt es ganz vorsichtig - Natsuki konnte sich schon denken, dass sie das Bündel war - und seinen Augen weiteten sich. "F... Fynn?", fragte er mit zittriger Stimme, doch den Rest dieser Sequenz bekam Natsuki nicht mehr mit, denn dieses eine Wort aus dem Mund eines Vierjährigen traf sie wie ein harter Schlag ins Gesicht. Shinji hatte sie - SIE - mit dem Namen dieses Engels angesprochen! Dieser Person, die von Access den Ohrring bekommen hatte - den SIE jetzt hatte! In ihrem Kopf pochte ihr Herz so laut, dass sie kaum etwas anderes hören konnte und ihr Puls beschleunigte sich. 'Das kann nicht sein, das kann nicht sein...', wiederholte sie immer wieder, doch ihre Gedanken waren schon längst weitergewandert. Zu ihrer Mutter, die ihr erklärte, sie glaube an Wiedergeburt. Zu Shinji, der so eigenartig reagiert hatte, als sie ihn nach Access gefragt hatte... zu dem schwarzen Ohrring, zu Fynn, zu Access... 'Das kann nicht sein, das...' Natsuki atmete tief ein und wieder aus, als würde es ihr an Sauerstoff mangeln, doch so richtig beruhigen konnte sie sich nicht, vor allem, da jetzt ganz andere Szenen an ihr vorbeirauschten... schneller und lauter. Ungläubig betrachtete sie das Spektakel. Marron - etwa in ihrem Alter - wie sie sich in eine blonde Gestalt verwandelte und über die Dächer sprang, ihr Vater, Chiaki, der sie, auch als jemand anderer verkleidet, auf einem Dach küsste, ein kleiner Engel in Taschenformat mit grünen Haaren - Fynn? - wie sie Access einen Blumentopf mit einer Rose schenkte. Dann veränderten sich die Bilder, Fynn war jetzt in ihrer großen Gestalt und lachte gefährlich auf, Miyako griff ihre Mutter an, Access tauchte auf, groß und sehr würdevoll, und wurde von Fynn attackiert, bis beide auf dem Boden lagen, sie über ihm, ihr Schwert steckte neben seinem Kopf in der Erde. "Ich habe dich die ganze Zeit geliebt!", schallte es von überallher und Natsuki befiel eine Welle von Verzweiflung und Traurigkeit, aber ebenso Erleichterung, eben jene Gefühle, die sich in Fynn's Augen widerspiegelten. Diese Augen... Gebannt starrte Natsuki in Fynn‘s Angesicht, in ihr regte sich etwas wie Verständnis... Wieder Szenenwechsel. Ein großer Palast, etwas Gestaltloses griff Marron an, doch Fynn warf sich mutig vor ihre Mutter. "Ich gehe mit Euch...", sagte sie noch mit einer sehr schwachen Stimme und schloß dann die Augen, sank in Access' Arme. Was jetzt kam, kannte Natsuki schon. Der Ohrring. "Ich werde auch wiedergeboren!", schluchzte es, doch Natsuki konnte nichts mehr erkennen. Wiedergeboren. Alles drehte sich, alles wurde schwarz, Natsuki fiel. Wiedergeboren... Kapitel 20: Wahrheit -------------------- Schwer atmend stand Natsuki plötzlich in der Tür, die mit einem lautem Krachen aufgeflogen war. Marron, die dem gerade erst nach Hause gekommenem Chiaki einen Begrüßungskuss auf die Wange geben wollte, fuhr erschrocken herum und auch ihr Vater schaute etwas irritiert auf seine Tochter, die einen äußerst verstörten Eindruck machte. "Natsuki, Schatz, alles in Ordnung mit dir... Du hast doch nicht etwa Fieber?", fragte Marron besorg und trat ein paar Schritte auf ihre Tochter zu, deren Stirn seltsam glänzte. Doch Natsuki antwortete nicht. Vollkommen bewegungslos stand sie in der Tür, mit gesenktem Kopf und schwerer Atmung, vermochte es nicht, sich ihren Eltern mitzuteilen, denn mit welchen Worten sollte sie das ausdrücken, was sie eben erlebt hatte? "Das... das kann nicht sein...", murmelte sie schließlich mit zittriger Stimme. Chiaki runzelte die Stirn, denn nun schien auch er besorgt. "Was ist passiert?", fragte er alarmiert, auf das Schlimmste gefasst, doch Natsuki schüttelte nur irritiert den Kopf. "Das kann nicht... sein...?!" Es war mehr eine Frage und endlich hob sie ihren Kopf und fasste ihre Eltern in Augenschein. Etwas ratlos sahen diese sie an und erst jetzt merkte das Mädchen, wie sie am ganzen Leib zitterte und die Hände zu Fäusten geballt hatte. Hilfesuchend blickte sie von einem zum anderen, Marron legte ihr einen Arm um die Schulter und führt sie behutsam zur Couch. "Beruhig dich erst mal", besänftigte sie ihre aufgebrachte Tochter und drückte sie sachte auf das Sofa, setzte sich selbst neben sie, Chiaki nahm an der anderen Seite Platz. Langsam stabilisierte sich Natsuki's Atmung wieder. Sie war bereits in diesem Zustand aus ihrem Schlaf hochgefahren. Es war immer noch derselbe Abend, nur wurde es draußen langsam dunkel und ganz offensichtlich war ihr Vater gerade erst heimgekommen. Marron hatte ihm ein kleines Abendessen zubereitet, so verriet jedenfalls der Duft frischer Brötchen, der aus der Küche strömte. Die Fünfzehnjährige faltete ihre Hände im Schoß, damit diese nicht mehr so zitterten und starrte abwesend ihren Fingerknochen an, während ihr Kopf immer noch schwer damit beschäftigt war, ihre Gedanken und die ganzen aufgekommenen Impressionen zu verarbeiten, sortieren und an den richtigen Platz zu ordnen. Leider erfolglos. "So, und jetzt erzähl uns, was passiert ist...", lächelte Marron ihre Tochter an, Chiaki hingegen fixierte Natsuki aufmerksam und sagte kein Wort. Natsuki atmete noch einmal tief durch, um sich selbst ein wenig zu beruhigen. "Ich... ", begann sie, brach jedoch ab. "Du...", startete sie noch einmal einen Versuch, doch auch diesen Satz vermochte sie nicht, weiterzuführen. Sie setzte noch einmal an. "Der Ohrring..." Marron nickte langsam und wartete darauf, dass es weiterging. "Access hat... ich habe...", stammelte sie. Es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, einen vollständigen Satz zu formulieren. Es gab so vieles, was sie beschäftigte, so viele Fragen und gleichzeitig so viele Antworten, doch viel mehr war es ihr Unglaube, der sie davon abhielt, das auszusprechen, was sie in ihrem Inneren vermutete, wovor sie sich fürchtete. Marron schwieg immer noch und es hatte den Anschein, dass Chiaki ein bisschen bleich um die Nase herum war. Die Erwähnung von Access' Namen hatte ihn etwas aus dem Konzept gebracht, doch er hatte sich schnell wieder gefasst, wollte sich nichts anmerken lassen. Sollte das bedeuten, dass Natsuki sich langsam wieder erinnern konnte? Natürlich... wie konnte es auch anders sein...? Wie sonst hätte sie wissen können, wer Access war? Chiaki war nicht unbedingt glücklich mit der Entwicklung der Dinge. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Frau, die Ruhe selbst war. Wie schaffte sie es bloß, so cool zu bleiben, angesichts dieser Situation, vor der sich beide so gefürchtet haben? Na gut... er musste zugeben, es war ihm nicht entgangen, dass nur er sich vor dieser Situation gefürchtet hatte. Marron hingegen hatte sich nie ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Sie sagte immer nur, es würde schon alles gut werden. Woher nahm sie nur diese Zuversicht? Natsuki warf Marron eine hilfesuchenden Blick zu und diese verstand sofort. "Du... weißt, wer Access ist...?", half sie nach, da ihre Tochter wohl viel zu verstört war, um ihre Gedanken zu einer Erklärung zu ordnen. Natsuki nickte, schüttelte aber sofort darauf wieder den Kopf. "Ja... nein... ich weiß nicht...", gab sie verzweifelt zu und fasste sich mit einer Hand an den Kopf, der unaussprechlich stark schmerzte. "Er wollte wiedergeboren werden!", rief sie plötzlich aus, als sei ihr diese Tatsache jetzt erst eingefallen, und sah ihre Eltern aufgeregt an. Chiaki’s Gesichtszüge entgleisten, doch Marron nickte nur langsam, geduldig. "Und... und du und Papa...", stammelte die Fünfzehnjährige wieder und wandte sich dieses Mal explizit an ihre Mutter. "Ihr... habt gekämpft und...“ Ein plötzlicher Schmerz zuckte wieder durch ihren Kopf. "Jeanne und Sindbad...", flüsterte sie, vollkommen fassungslos angesichts dieser blitzartigen Erkenntnis. "Ja...", stimmte Marron nachdenklich zu. "Ja, du hast recht." Chiaki schluckte nervös, doch Natsuki hatte noch mehr zu sagen. Völlig gebannt von den Dingen, die sie auf einmal - ohne jegliche Erklärung - wusste, redete sie weiter. "Und... und... Miyako hat dich angegriffen und... noch etwas anderes auch, aber Fynn hat dich gerettet, sie... Sie hat Access eine Rose geschenkt!", sprudelte es aufgeregt aus ihr heraus. "Und Shinji hat..." Natsuki stockte plötzlich. Shinji hatte sie mit Fynn angesprochen. Sie sah es ganz klar vor sich. Shinji hatte sie "Fynn" genannt. Und sie hatte den schwarzen Ohrring, der Fynn gehörte. Und Access wollte wiedergeboren werden... "Was hat Shinji, Schatz...?", hakte Marron vorsichtig nach, doch ihre Worte erreichten Natsuki nicht. Das verwirrte Mädchen schaute sich hilflos nach ihrem Vater um, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Mit wachsendem Entsetzen musste sie feststellen, dass ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war, jedoch hielt er ihrem Blick stand und versuchte nicht, auszuweichen. Die beiden blickten sich sekundenlang stumm in die Augen, die Verzweiflung des jeweils anderen spiegelte sich darin wider und in seinem Ausdruck konnte Natsuki all die Antworten lesen, die sie brauchte, die sie haben wollte und wiederum auch nicht. "Das kann nicht sein...", flüsterte sie abermals und schüttelte langsam den Kopf, doch Chiaki widersprach nicht und sein niedergeschlagenes Schweigen war wie eine Bestätigung, es zerschlug ihre letzte, geheime Hoffnung, dass alles ganz anders war, als es den Anschein hatte. "Nein...", murmelte Natsuki gequält und senkte den Kopf, ihre Eltern konnten aus ihrem Tonfall die Resignation heraushören und wechselten besorgte Blicke. Marron hob die Hand und strich ihrer Tochter das Haar zurück, welches ihr ins Gesicht gefallen war. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, wusste sie doch ebenfalls nicht genau, was genau Natsuki bereits wusste und was nicht. Marron verstand schon, dass es Erinnerungen waren, an die man nicht unbedingt gerne zurückdachte, war doch Fynn's Leben damals keineswegs ein Heiteres gewesen. Sie hatte viel durchgemacht, sie hat Dinge getan, auf die sie im Nachhinein nicht unbedingt stolz gewesen ist und sie hat viel Leid erfahren. Und wie würde Natsuki auf die Tatsache reagieren, dass der Grund für all das nur zwei Türen weiter wohnte? Wenn Marron ehrlich war, beschäftigte sie dieses Problem mehr als alles andere. Sie war sich sicher, dass Natsuki mit allem fertig werden würde, aber Shinji... nun ja, das war eine Sache für sich. Sie warf einen flüchtigen Blick zu ihrem Ehemann und entschied, dass er ihr hierbei keine große Hilfe sein würde. Vielmehr würde sie ihn nachher wahrscheinlich mit Beruhigungstee versorgen müssen, genauso wie ihre Tochter, sollte diese wirklich darauf kommen, dass Shinji derjenige war, den sie als Fynn über alles geliebt hatte. Das würde eine lange Nacht werden... "Shinji hat...", nahm Natsuki das Gespräch wieder auf und ihre Augen huschten unruhig hin und her. Alles kam ihr so irreal vor und merkwürdigerweise beruhigte sie das Wissen, dass die Wohnung noch genauso aussah, alle Gegenstände an ihrem Platz standen und alles so war wie immer - fast. Dass sich aber gar nichts verändert hatte, machte das Ganze noch unvorstellbarer. "...gesagt, dass ich... ich Fynn sei?" Es war eher eine Frage als eine Aussage. Das Mädchen wandte sich mit einem unsicheren Gesichtsausdruck an Marron und sah sie hilfesuchend an, als erwartete sie eine Erklärung für das, was Shinji da gesagt hatte. Marron jedoch missverstand das. "Wann hat er das gesagt?", fragte sie scharf, fast schon erbost. Sie hatten doch ganz klar abgesprochen, dass er ihr nichts verraten sollte! Und er schien ja auch einverstanden gewesen zu sein, damals... "Na ja... als ich geboren wurde..." Natsuki verstand die Aufregung ihrer Mutter nicht ganz, ebenfalls kam es ihr etwas eigenartig vor, ihrer Mutter etwas zu erzählen, woran sie sich rein theoretisch gar nicht erinnern konnte, da sie noch ein Baby gewesen war. Doch Marron entspannte sich wieder und seufzte erleichtert. "Ach so..." Shinji hatte also doch nichts verraten, allerdings hatte gerade sie etwas mit ihrer Reaktion preis gegeben... Natsuki wurde misstrauisch. "Mama, jetzt sag mir doch endlich, was los ist... ich verstehe das alles nicht?", flehte sie verzweifelt und warf ihrer Mutter ein paar bittende Blicke zu. Sie musste jetzt endlich die Wahrheit erfahren, das war eine Nummer zu groß für sie alleine und sie war sowieso gerade nicht fähig, rational zu denken! "In Ordnung...", räumte Marron zögerlich ein. "Aber erst musst du uns sagen, was du noch alles weißt... und wie es dazu kam." Natsuki nickte. Wenn sie dafür Informationen bekommen würde, würde sie ihren Eltern alles erzählen, was sie wusste! Und jetzt, wo sie sich sicher sein konnte, dass sie nicht ihren Verstand verloren hatte, hatte sie nichts mehr zu befürchten. Entweder das, oder die ganze Familie Nagoya war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Was doch ein wenig... zweifelhaft war. "Ich... ich hatte seltsame Träume. Verschiedene Träume, von diesem Engel...Fynn. Und von Access. Ich habe gesehen, wie er ihr den Ohrring gegeben hat, als sie gestorben ist. Und dass sie ihn ihm wiedergeben soll. Fynn hat gesagt, ich muss ihn finden..." Sie machte eine kurze Pause und überlegte, ob sie vielleicht irgendetwas vergessen hatte, doch bis dato stimmte noch alles. Marron und Chiaki nickten gespannt und warteten auf die Fortsetzung, als erzählte Natsuki eine spannende Geschichte. "Na ja, und dann", fuhr sie weiter fort, "hab ich versucht, einen Access ausfindig zu machen, aber so jemanden gibt es nicht..." Sie dachte wieder kurz nach und beschloss kurzerhand, die Geschichte mit Shinji zu verschweigen. Sie gab sich der Illusion hin, dass, je weniger sie ihn erwähnte, desto weniger würde er mit der ganze Sache zu tun haben. "Als ich im Krankenhaus lag, habe ich auch wieder so etwas geträumt, und die ganze Zeit davor auch schon. Später wurden die Träume klarer und seltener... Und eben gerade... ich muss eingeschlafen sein..." Sie zuckte mit den Schultern und es klang schon fast wie eine Entschuldigung. "Da waren so viele Bilder... von der Vergangenheit und von..." Sie erinnerte sich an die Sequenz von ihrer Einschulung. "...wie ich in die Schule kam und Naomi traf und... und noch viel mehr, was mal so passiert ist... Miyako und so..." Wieder wagte sie es nicht, Shinji zu erwähnen, obwohl viele der gesehenen Momente doch mit ihm zu tun hatten. "Da war noch anderes... als ihr jung wart, als... als Jeanne und Sindbad... nicht wahr?" Unsicher sah sie Marron an. "Ja, so ist es", lächelte diese erinnerungsselig. "Dein Vater und ich, wir waren..." Sie hielt inne. Sollte sie ihrer Tochter wirklich erzählen, dass Chiaki, der angesehene Arzt und sie, ihre Mutter, Diebe waren, oder zumindest für solche gehalten wurden? "Diebe", vervollständigte Natsuki ihren Satz vollkommen unbeeindruckt. "Siehst du, Mama?", fragte sie dann wieder leidend. "Woher weiß ich das alles? Woher habe ich dieses Wissen? Was passiert hier?" Doch bevor ihr eine Antwort gegeben werden konnte, ergriff sie auch schon wieder das Wort. "Access hat gesagt, er will wiedergeboren werden", sagte sie beherrscht. Dieses Thema wühlte sie immer noch auf. Marron verstand nun auch endlich, was Natsuki's Frage nach der Wiedergeburt und den Engeln sollte. Fynn's Seele versuchte also in ihren Träumen, sie wachzurütteln. Sie wollte endlich dahin, wo sie hingehörte... zu Access. Nach Hause. Marron seufzte leise. Was für eine tragische Geschichte... "Und ich habe den Ohrring, den Fynn haben sollte...", erklärte Natsuki weiter, ohne jegliche Gefühlsregung. Das alles war so... verwirrend und unwirklich, es konnte doch einfach nicht sein? Zu allem Überfluss fiel ihr auch noch der Traum an, in dem Access sich zu ihr herumgedreht und sie mit Shinji's Gesicht angeschaut hatte. Und Fynn, wie sie sagte "er hat dich schon längst gefunden". Das alles kombiniert mit Shinji's merkwürdiger Reaktion, als sie ihn nach Access fragte und der Tatsache, dass er sie anscheinend schon seit Kindertagen mochte, ließ nur einen Schluss zu... und in diesem Moment wünschte sich Natsuki nichts sehnlicher, als sich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Alles war besser als DAS. Sie ließ die Szene noch einmal revue vor ihrem inneren Auge ablaufen. Shinji war mehr als nur geschockt gewesen. Er hatte versucht, herauszufinden, was Natsuki von Access wollte, jedoch hatte diese abgeblockt. Als er endlich den Mund aufmachte und Natsuki auf eine hilfreiche Information hoffte, hatte Shinji nur ein Wort gesagt... "Fynn...?" "Mama", drängte sie. "Bitte sag, was los ist..." Sie wusste es ja schon, sie ahnte es, die Tatsachen sprachen Bände, sie schrieen es ihr ins Gesicht, aber das letzte Wort hatten ihre Eltern und oh, wie sehr hoffte sie, dass diese ihr sagen würden, es war nur ein böser Alptraum! Das wäre zu schön. "Natsuki-chan", sagte Marron leise und sah ihre Tochter ernst an. "Weißt du noch, was ich dir über Wiedergeburt gesagt habe...?" Das Zittern setzte wieder ein. Gleich würde ihr Marron das bestätigen, wovor sie sich so fürchtete. Gleich würde Marron es aussprechen und es würde Realität werden. Der Grund, warum Natsuki nicht gewagt hatte, es selbst auszusprechen, es sich gar einzugestehen, den Gedanken in ihrem Kopf zu formulieren war, wenn sie es erst täte, gäbe es kein Zurück mehr, es wäre ausgesprochen und ausgesprochen bedeutete festgelegt, bedeutete, dass es so war... Es sollte nicht so sein... Sie nickte. "Als ich in deinem Alter war", erzählte Marron. "Begegnete mir ein kleiner, bezaubernder Engel. Diesen Engel habe ich jetzt wiedergetroffen." Ihre Mutter lächelte Natsuki aufmunternd zu, diese schwieg. Ihr Blick haftete starr am Bein des Couchtischchens und wieder einmal liefen ihre Nervenbahnen heiß. "Dieser Engel hieß Fynn", erklärte ihre Mutter weiter. "Und er machte mich zu Jeanne. Dein Vater wurde dank Access zu Sindbad, wir waren Rivalen, zumindest anfangs..." Erschöpft lehnte sich Natsuki in die Polster zurück. Die Geschichte, die Marron da erzählte, klang unglaublich und doch erkannte sie ab und zu Teile wieder, jedoch noch längst nicht alles. "Ich gab ihr meine Kraft, damit sie wiedergeboren werden konnte... ich wollte Fynn unbedingt wiedersehen, sie war - ist - mir sehr wichtig", schloss Marron ihre Geschichte und Schweigen legte sich zwischen die drei Betroffenen. Natsuki kannte jetzt die ganze Wahrheit über Fynn und Access, über Marron und Chiaki und Gott und Satan. Sie wusste jetzt, dass Fynn sich nur wegen Access dem Teufel zugewandt hatte, sie wollte ihn wiedersehen, komme, was da wolle. Und jetzt wollte sie das immer noch... "Ich war Fynn...", stellte Natsuki langsam fest. Es war alles so unfassbar, dass sie es noch nicht ganz realisieren konnte, um irgendwelche angemessenen Gefühle aufbringen zu können. "So ist es...", stimmte Marron zu und ließ ihre Tochter aus lauter Sorge nicht aus den Augen. "Deshalb hast du den Ohrring..." "Und Access ist..." Natsuki wurde still. Und Access war Shinji, aber sie traute sich nicht, das auszusprechen. Wie konnte Access nur Shinji sein? Wie konnte Shinji nur Access sein? Wie konnte das überhaupt alles sein?! Natsuki überlegte sich kurz, die Augen zu schließen und so zu tun, als träumte sie das alles bloß, aber es hatte doch ohnehin keinen Sinn. Das war viel zu real und irreal zugleich, als dass es ein Traum sein konnte. Dass sie sich vorhin äußerst schmerzhaft gezwickt hatte, als niemand hinsah, hatte auch schon das gleiche Ergebnis zur Folge gehabt! Niemand, weder Chiaki, noch Marron, vollendeten ihren Satz, sahen sie nur von beiden Seiten fast schon erwartungsvoll an. Doch statt das selbst zu tun, kam Natsuki auf etwas anderes. "Access mochte Pfannkuchen." Sie blickte Chiaki an und dieser nickte, mit einem hoffnungslosen Lächeln auf den Lippen. "Ist er deshalb so oft hier...?", fragte sie mit einem schiefen Grinsen. Das war ja alles so dermaßen verdreht! Ein ehemaliger Engel saß jeden Morgen bei ihr in der Küche und futterte Pfannkuchen! Das war nun sicherlich nicht der Stoff, aus dem ein guter Film gemacht wurde. Chiaki aber nickte. "Ich hab's ihm versprochen. Leider!", fügte er hinzu und verdrehte genervt die Augen. Marron war beruhigt. Natsuki schien die ganze Sache beherrschter aufzufassen, als sie angenommen hatte und dass Shinji Access’ Wiedergeburt war, regte sie anscheinend nicht sonderlich auf. Jedenfalls nicht nicht, denn sie war sich sicher, dass ihre Tochter noch viel zu geschockt war, um alles in seiner Vollständigkeit zu erfassen. Dann kam ihr eine Idee. "Wenn du mit ihm darüber sprechen möchtest, könnten wir ihn herholen?", schlug sie vor. Natsuki's und Chiaki’s Köpfe schnellten gleichzeitig herum und beide sahen sie mit dem gleichen, entsetzten Gesichtsausdruck an. Erstaunt schaute Marron von einem zum anderen, bemerkte sie doch wieder mal, wie ähnlich ihre zwei Schätze sich doch waren. "Bloß nicht!", rief Natsuki mit einer ungewohnten Heftigkeit aus und eine blasse Röte legte sich auf ihre Wangen. Oh Gott, das wäre das Schlimmste von allem, jetzt Shinji zu begegnen um ihm eingestehen zu müssen, dass sie bescheid wusste! Shinji, der die ganze Zeit doch nur darauf gewartet hatte, dass sie sich erinnern konnte - was noch nicht ganz der Fall war - um endlich mit ihr zusammensein zu können! "Der hatte mir gerade noch gefehlt...", murmelte das Mädchen nun grimmig und wich dem Blick ihrer Mutter aus. Chiaki’s Mimik entspannte sich ein wenig angesichts Natsuki's Abneigung gegen Shinji. Das Offensichtliche schien er gar nicht mitzubekommen, ging Marron durch den Kopf. Männer! "Du magst ihn!", stellte sie erfreut fest und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, wobei sie Chiaki, der aufgeregt nach Luft schnappt, gekonnt ignorierte. Ebenfalls wie Natsuki, der vor lauter Überraschung die Kinnlade runterklappte. "So ein Quatsch", verteidigte sie sich vehement, sobald sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Irgendwie fühlte sie sich unangenehm ertappt, aber warum bloß? Diesmal meldete sich auch ihr Vater zu Wort. "Auch das noch", nuschelte er bitter und sein Gesichtsausdruck zeigte nur allzu deutlich, was er davon hielt. Seine kleine Tochter, die er, als wäre es gestern gewesen, noch im Arm gehalten hatte, an diesen unzuverlässigen, liebestollen Trottel zu verlieren? Mochte ja sein, dass Access damals sein bester Freund gewesen ist und Shinji kein schlechter Mensch war, aber hier ging es um sein Heiligtum, eines der wertvollsten Dinge für ihn auf dieser Welt: seine Tochter! "Chiaki!", warnte Marron ihn in einem zischenden Tonfall und schickte einen abschreckenden Blick hinterher, der seine Wirkung nicht verfehlte. Chiaki klappte seinen Mund wieder zu und drehte sich fast schon beleidigt wieder weg, fasste nun ebenfalls das Tischbein ins Auge, an dem Natsuki's vorhin auch großes Interesse bekundet hatte. "Müssen wir es ihm denn sagen...?", hakte diese nun gequält nach, entgegen allen Erwartungen in der Hoffnung, ihre Eltern würden "nein" sagen. "Nein!", versicherte Chiaki prompt, noch bevor Marron es geschafft hatte, den Mund aufzumachen. "Chiaki!", schimpfte sie wieder streng und dieser warf ihr einen jungenhaften "Du bist ja sooo gemein"-Blick zu, bevor er sich wieder schmollend seinem Tischbein widmete und weiterhin schweigend die Unterhaltung zwischen Marron und Natsuki verfolgte. "Es liegt ganz an dir, Natsuki-chan", beschien Marron ihrer Tochter und entschied sich dazu, den Teil mit "Er wartet schon so lange" für sich zu behalten. Natsuki würde schon von selbst darauf kommen, sie war ja alles andere als dumm. Darüber hinaus wollte sie ihr nicht alles auf einmal zumuten. Sie würde schon wissen, was richtig war und was nicht und früher oder später danach handeln. Natsuki schwieg. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, es kam ihr fast so vor, als hätte das ganze Nachdenken und das viele neue Wissen ihren Kopf so vollgestopft, dass sie jetzt wirklich nur noch eines brauchte: Ruhe. Und über Shinji nachzudenken, dazu hatte sie gerade weder viel Lust, noch die nötigen Nerven. Marron schien das auch zu bemerken. "Schatz, leg dich doch hin... wir können morgen weiterreden, in Ordnung? Das war sicherlich genug für heute, meinst du nicht?", lächelte sie und Natsuki nickte. Eine Prise Schlaf würde ihr bestimmt gut tun. "Ja...", stimmte sie zu und stand auf. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das ihr nicht gelingen wollte. Bei dem Anblick ihres angeschlagenen Vater aber hielt sie inne. Irgendetwas beschäftigte ihn, er war sehr schweigsam gewesen und schien mindestens genauso erschlagen von der Situation, wie sie selber. "Papa, was ist denn los...?", fragte sie, ihr Tonfall voller Zweifel und Chiaki, der niemanden beunruhigen wollte, versuchte ein aufmunterndes Lächeln. "Gar nichts, Liebes, mach dir keine Sorgen", besänftigte er seine Tochter, doch auch Marron schaltete sich ein. "Sie hat recht. Jetzt sag uns endlich, was mit dir los ist", trug sie ihm streng auf, doch ihr Tonfall wurde schon bald sanfter. "Es ist eine schwierige Situation für uns alle, aber das kriegen wir schon hin, Liebling. Und Natsuki wird uns ja nicht abhanden kommen, wenn..." Sie stockte. Dass Natsuki und Shinji zueinander finden würden, davon war sie überzeugt, aber es wäre sicherlich kein intelligenter Schachzug gewesen, das vor ihrer Tochter und ihrem Ehemann, die beide momentan nicht sonderlich gut auf den Jungen zu sprechen waren, laut herauszuposaunen. Also ließ sie ihren unvollendeten Satz in der Luft schweben und hatte Glück, dass keiner von beiden Verdacht schöpfte. "Das ist es nicht", widersprach Chiaki und kratzte sich ratlos am Hinterkopf. Wie sollte das den Mädels begreiflich machen? "Was dann?", wollte Marron überrascht wissen und Chiaki schien nach Worten zu suchen. "Wenn Natsuki sich wieder an wirklich alles erinnern kann...", setzte er an und unterbrach sich, überlegte. "Na ja... Fynn konnte mich nicht leiden", gestand er dann trotzig und erinnerte Marron wieder einmal einen kleine Schuljungen, der etwas angestellt hatte. Sie war so überrumpelt von seiner Aussage, dass sie ihn sprachlos anstarrte, bevor sie erfolglos ein Lachen unterdrücken musste. Obwohl sie mit größeren Problemen konfrontiert waren - beispielsweise Natsuki's Gemütszustand und eventuelle Schuldgefühle für Fynn's Taten - war seine einzige Sorge, dass Fynn's Abneigung gegen ihn auch auf Natsuki abfärben würde. Der Mann hatte Angst, die Liebe seiner Tochter zu verlieren! Natsuki allerdings, die nicht minder überrascht war, brauchte erst einmal einen kurzen Augenblick, um die Situation zu erfassen und zu verstehen, was ihr Vater da meinte. "Ach, Papa...", seufzte sie, ließ sich wieder neben ihm auf der Couch nieder und schloss ihn in ihre Arme. Und das war alles, was nötig war, um Chiaki seine Befürchtungen zu nehmen. Ein Hauch von Zufriedenheit und Erleichterung spiegelte sich in seinem Gesicht, als er seine Tochter fest drückte. Zärtlich betrachtete Marron ihre beiden Sorgenkinder, danach erhob sich Natsuki vom Sofa, wünschte beiden eine gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmer. Marron konnte nur erahnen, dass ihre Tochter noch minutenlang den schwarzen Ohrring anstarrte, um zu begreifen, dass das alles wirklich passierte und sie es sich nicht bloß einbildete. Kapitel 21: Liebesbriefe, Erkenntnisse und Lösungsansätze --------------------------------------------------------- Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht - Natsuki hatte kaum ein Auge zutun können und kam aus dem Nachdenken nicht mehr heraus - betrat das Mädchen mit ein paar grundlegenden Fragen die Küche der Nagoyas, in der Marron und Chiaki sich bereits gemütlich eingerichtet hatten, da Chiaki mal wieder früh aus dem Haus musste. Der Duft von Kaffee erfüllte den Raum, so wie jeden Morgen und Natsuki war schon so sehr daran gewöhnt, dass sie es sich nicht mehr vorstellen konnte, morgens in einer Küche zu sitzen, in der es nicht nach geröstetem Kaffee roch. Noch im Schlafanzug schlurfte sie zu ihrem Platz und setzte sich auf einen Stuhl, gegenüber ihrem Vater. Sie hatte nicht sonderlich viel Appetit, was nicht zuletzt auch daran lag, dass eine ganz andere Sache sie nun belastete. "Guten Morgen, Natsuki", grüßte Marron ihre verschlafen aussehende Tochter und warf ihr ein Lächeln zu. "Was möchtest du frühstücken?", erkundigte sie sich, doch Natsuki schüttelte nur den Kopf. "Ich hab keinen Hunger, vielleicht später...", lehnte sie das Angebot ab und betrachtete ein Sandwich auf Chiaki's Teller. Es kam ihr so verrückt vor, dass so etwas "Gewöhnliches" wie ein Sandwich hier auf einem Teller liegen konnte, während sie, die sie sich vorher für ein ganz normales Mädchen hielt, eine ganz gewöhnliche 15jährige, ähnlich wie das Sandwich, die Wiedergeburt eines Engels war, der damals so viel hat erleben und durchstehen müssen. Chiaki nahm eine Schluck dampfenden Kaffee und biss ein Stück von seinem Brot ab, an dem immer noch Natsuki's Blick hing. Schon wieder so eine Sache. Ihr Vater saß hier in der Küche und aß seelenruhig ein ganz normales, gewöhnliches Sandwich, obwohl er früher ein Meisterdieb gewesen war, der in Gottes - GOTTES!!! - Auftrag gehandelt hatte. Ganz zu schweigen seine Zusammenarbeit mit Access alias Shinji oder Shinji alias Access... Und gleich würde er zur Arbeit gehen, einer ganz gewöhnlichen Arbeit, wie Tausende von Menschen sie hatten und dort so tun, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Arzt und nicht die Wiedergeburt von Sindbad, Adam oder sonst wem. Sie konnte die ganze Sache noch immer nicht so richtig erfassen, jedoch hatte sie verstanden, dass Unglaube jetzt hinderlich wäre, denn so sehr sie sich auch anstrengen würde, die Beweise würden immer eine viel eindeutigere Sprache sprechen, als sie es sich einreden würde. Doch sie war nicht untätig geblieben. Nachdem sie stundenlang hellwach im Bett gelegen hatte, hatte sie ihren Computer angemacht und sich ins Internet eingewählt. Dort durchforstete sie mehrere Seiten auf der Suche nach Kaito Jeanne und Kaito Sindbad und tatsächlich - sie war fündig geworden! Es hatte sie sogar überrascht, dass ihre Suche so viele Ergebnisse hatte - nach der Pleite mit Access hatte sie nicht mehr wirklich an Suchmaschinen und Ähnliches geglaubt - und sie hatte sich die Artikel, die sich nur in der Wortwahl voneinander unterschieden hatten, alle durchgelesen, bis sie nicht mal in ihrem tiefsten Innern hatte leugnen können, dass es so etwas wie diese beiden Meisterdiebe gegeben hatte. Am Interessantesten fand sie aber die wenigen Fotos, die sie finden konnte. Sie hatte sich jedes einzelne auf dem PC gespeichert und sie dann aufmerksam studiert. Ihr Vater - Kaito Sindbad - war ganz einfach zu identifizieren, fand sie. Bei Jeanne war es schon etwas schwieriger, denn mit ihrem langen, blonden Haaren ähnelte sie Marron nur bedingt. Oftmals war auch von der aufsteigenden Polizistin Miyako Toudaiji die Rede, die eine von Jeanne's erbittertsten Feinden war. Das passte wiederum zu der Geschichte, die ihre Mutter ihr gestern erzählt hatte. Miyako ist die Einzige, die über Marron's und Chiaki's Geheimidentität bescheid weiß, noch nicht einmal Yamato wurde eingeweiht, doch Marron hatte ihr erklärt, dass je weniger Leute bescheid wussten, desto besser war es. Und Miyako war eine treue und loyale Seele, die noch niemals ihr Wort gebrochen hatte. So, wie Marron gestern über Miyako gesprochen hatte, hatte Natsuki gemerkt, wie wichtig Miyako ihrer Mutter war und wie viel Wert sie auf ihre Freundschaft legte. Es war schön zu sehen, dass solch eine starke Freundschaft noch bis ins Alter hinein andauern konnte und Natsuki hoffte, dass es bei ihr und Naomi genauso sein würde. Auch wenn es viel mehr Negativbeispiele gab als Happy-End-Geschichten, doch wer hat denn behauptet, dass es keine Wunder gäbe? Natsuki war verwirrt und beschloss, sich keine allzu großen Gedanken mehr um das gewöhnliche Sandwich zu machen, dass Chiaki mittlerweile vollständig verschlungen hatte, denn wenn sie ehrlich war, hatte sie momentan weitaus größere Probleme als die zwei Scheiben Brot. Und da gab es etwas, was sie schon die ganze Nacht beschäftigt hatte... "Wie kann ich Fynn sein?", brach es aus Natsuki heraus, die es nicht mehr länger ertragen konnte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. "Ich meine, ich... ich bin doch ich, oder? Ich weiß gar nichts mehr...", murmelte sie und schnipste einen Krümel weg, den neben Chiaki's Teller lag. "Bedeutet das jetzt, ich bin Fynn?", fragte sie zweifelnd und bedachte ihre Mutter mit einem unsicheren Blick. Sie verstand es nicht, wie sich das alles zusammenfügte. Sie war die Wiedergeburt von Fynn, aber was bedeutete das? Hieß es, dass sie nun halb Fynn und halb Natsuki war oder war sie ausschließlich Fynn? Was aber heißen würde, dass es die Natsuki, die sie vorgab zu sein, gar nicht wirklich gab... wenn das so weiterging, würde sich dieses Problem zu einer ernsthaften Identitätskrise entwickeln und Natsuki hatte weitaus besseres zu tun, als sich mit 15 Gedanken darüber zu machen, wer sie war und wer sie nicht war und was sie in diesem Leben sollte. "Ach, Natsuki...", lächelte Marron weise und legte ihre Hand auf die ihrer Tochter, hauptsächlich, um diese davon abzuhalten, noch weitere Krümel auf den Boden zu schnipsen. "Dass Fynn's Seele in dir schlummert, bedeutet doch nicht, dass du nicht mehr du selbst bist. Ich bin mir sicher, viele Menschen wurden wiedergeboren und waren früher jemand anderer. Schau dir deinen Vater und mich an. Wir wissen es zwar, können uns aber auch nicht erinnern. Nun ja..." Sie runzelte die Stirn und warf einen kurzen Blick zu Chiaki, der ihr eifrig zunickte. "Ich habe einen kurzen Ausschnitt aus Jeanne's Leben miterlebt, aber das bedeutet noch gar nichts. Und wie du siehst, bin weder ich eine Kriegerin, noch ist dein Vater ein bekannter Seefahrer." Marron musste bei diesen Worten lachen. "Wenn wir ehrlich sind, kann er nicht einmal mit einer Angel umgehen...", kicherte sie und zwinkerte ihrer Tochter zu, die auch etwas lockerer wurde und sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen konnte. "Das hab ich gehört", warnte Chiaki die beiden und bedachte sie abwechselnd mit ein paar scherzhaft bösen Blicken. Marron hatte schon recht. Das Angeln war nie seine Lieblingsbeschäftigung gewesen und dass Marron‘s Vater Takumi - sein Schwiegervater - ihn einmal mit zum Fischen genommen hatte, hat an dieser Einstellung nichts ändern können, er flickte lieber Leute zusammen und rettete Leben. Warum sollte er unschuldige Fische quälen? "Verstehst du?" Marron wurde wieder ernst. "Du bist ein vollkommen unabhängiger Mensch und kannst so sein, wie du willst, ganz unabhängig davon, wer du früher einmal warst." Natsuki überlegte eine Weile. "Aber Fynn wollte, dass ich mich erinnere", widersprach sie. Die Vorstellung, dass Fynn sie in irgendeiner Art und Weise beeinflusste, behagte ihr nicht ganz, doch Marron schüttelte geduldig den Kopf. "Nein, Schätzchen. Fynn gibt es nicht mehr, sie ist... tot..." Marron schluckte, als sie diese Worte aussprach, riss sch aber schnell wieder zusammen. "Und alles, was Fynn war oder erlebt hat, ist in deinem Unterbewusstsein gespeichert. Das ist auch der Grund, weshalb die Erinnerungen im Schlaf kamen... wenn wir schlafen, sind wir dem Unterbewussten viel näher und wer weiß, vielleicht ist ja irgendetwas passiert, dass dein Unterbewusstsein aufgerüttelt hat?", schlug ihre Mutter vor und war wieder bester Laune, als hätte sie nie das Thema angerissen, dass sie so sehr berührte: Fynn's Tod. "Ich weiß nicht." Natsuki zuckte die Schultern. Was sollte schon Großartiges passiert sein? Sie war weder dem Teufel noch Gott begegnet und von Jeanne und Sindbad wusste sie vorher auch nichts. Ihr Leben bestand bis vor kurzem noch darin, die täglich die Schule hinter sich zu bringen, mit Naomi herumzualbern und den Tag zu überleben, ohne Shinji über den Weg zu laufen. Wenn sie ehrlich war, war das immer noch ihr Lebensinhalt... nur aus mittlerweile vollkommen anderen Gründen. Verdammt noch mal, warum mussten ihre Gedanken ständig zu Shinji schweifen? Das war doch nicht mehr auszuhalten. Dass sie wohl in einem früheren Leben so eng mit ihm verbunden war, machte ihr die Sache auch nicht leichter. Wie konnte sie sich nur in derart schwierige Situationen hineinmanövrieren, und das auch noch gleichzeitig? Seitdem Shinji sie im Auto geküsst hatte, war alles irgendwie anders und zur selben Zeit fingen auch die seltsamen Träume an. 'Ein Problem kommt selten allein', dachte Natsuki grimmig, doch dann kam ihr urplötzlich ein Gedanke - natürlich! Warum war sie nicht sofort darauf gekommen? Es könnte natürlich auch sein, dass dieser Kuss so traumatisch war, dass er ihr Unterbewusstsein verstörte und alles ans Licht kam, versuchte sie sich einzureden, sah aber gleichzeitig ein, dass, wenn Fynn und Access sich wirklich so sehr geliebt hatten, das wohl eher nicht der Fall war. Es war doch ganz einfach: Shinji war am allem Schuld. Hätte er sie nicht so aus der Fassung gebracht und sie somit gleichzeitig gezwungen, sich zu erinnern, wäre es niemals so weit gekommen und das Einzige, worüber sie sich Gedanken machen müsste, wäre ihre Zukunft und nicht ihre Vergangenheit noch obendrein. Als hätte man mit 15 nicht schon genug andere Schwierigkeiten zu umgehen. Für einen kurzen Augenblick fühlte sich wieder wohl, bis ihr dann einfiel, woher das rührte: es war beruhigend, jemand anderem die Schuld an allem geben zu können. Nein, nicht einfach irgendjemandem. Shinji. Dass ihre Gedanken schon wieder um ihn kreisten, brachte sie fast um den Verstand. 'Schluss damit!!', befahl sie sich streng und wandte sich wieder ihrer Mutter zu. "Nein", log das Mädchen. "Nein, ich denke nicht, dass irgendetwas passiert sein könnte..." Marron nickte, doch war ihr Natsuki's zwischenzeitlicher Gesichtsausdruck nicht entgangen. Es war sehr wohl etwas geschehen, nur wollte ihre Tochter es ihr nicht sagen. Daraus schloss sie, dass es nur etwas mit Shinji zu tun haben konnte. Marron glaubte nicht, dass er ihr irgendwelche Hinweise gegeben haben könnte, die den Erinnerungsprozess in Gang gesetzt haben, aber irgendetwas hatte er in ihr ausgelöst und über dieses Etwas wollte Natsuki ganz offensichtlich nicht reden. "Ach, übrigens", unterbrach Chiaki, der eben noch gleichmütig seine Tasche inspiziert hatte, ob auch ja nichts fehlte und sich gänzlich aus dem Frauengespräch herausgehalten hatte - er fand, Marron konnte mit diesen Sachen viel besser umgehen, allein schon deshalb, weil ihn das Thema Wiedergeburt nicht großartig interessierte. "Ich habe heute Nachmittag einen Termin mit Shinji, wir gehen einige Sachen für seine Prüfung durch. Nur, um euch vorzuwarnen." Obwohl er in der Mehrzahl sprach, war es eindeutig , dass er die Warnung explizit an Natsuki richtete. Marron nickte gutgelaunt und stand auf, begleitete ihn bis zur Küchentür. "In Ordnung, Schatz, wir wissen bescheid", flötete sie, beugte sich aus der Küche und griff nach etwas, drückte ihm anschließend einen Regenschirm in die Hand. "Hier, pass auf, dass du nicht nass wirst", ermahnte sie ihn und beide gaben sich einen Abschiedskuss. "Tschüss, Papa!", rief Natsuki von ihrem Platz aus und griff geistesabwesend nach einer Scheibe Brot, auf der sie, ihren Gedanken nachhängend, herumkaute, bis Marron eine Weile später die Küche wieder betrat. "Ist das in Ordnung für dich?", fragte sie besorgt und setzte sich wieder auf ihren Platz, holte ihre Tochter wieder zurück in das Hier und Jetzt. "Was meinst du?", fragte diese verwirrt. Hatte sie doch eben noch darüber nachgedacht, was Marron ihr erzählt hatte - dass sie ganz sie selbst war und niemand sie in irgendeiner Art und Weise beeinflusste. "Dass Shinji heute Nachmittag kommt...", wiederholte ihre Mutter und warf einen Blick aus dem Fenster, hinter dem die ersten, großen Regentropfen an das Glas prallten und die Scheibe hinunterliefen. Hatte sie also Recht gehabt mit ihrer Ahnung, dass der Tag gar nicht so trocken werden würde, wie gestern Abend noch in dem Wetterbericht vorausgesagt. Natsuki schwieg eine Weile und überlegte. Sie würde nur zu gerne der Wohnung fernbleiben, wenn es soweit war, doch leider - oder gar zum Glück?! - war sie mit Naomi verabredet. Sie wollten sich etwas überlegen, was Natsuki Takeru sagen konnte - oh je!! Erst jetzt fiel es dem Mädchen wieder siedend heiß ein! Takeru! Noch ein weiteres Problem auf ihrer langen Liste... Sie seufzte. Sie wollte Naomi weder absagen, noch wollte sie sich selbst bei ihr zu Hause einladen. Naomi war so gestresst mit ihren drei Brüdern, dass sie jede Gelegenheit nutzte, von zu Hause zu entkommen. Es war für sie so etwas wie Ferien, wenn sie einige Stunden lang ihrem Zuhause fern bleiben konnte. "Ich bin heute auch mit Naomi verabredet...", sagte Natsuki langsam, noch immer überlegend, ob sie Naomi's Besuch eher unter Unheil oder Glück verbuchen sollte. Sie entschied sich für letzteres. "Das wird schon irgendwie gehen..." Sehr überzeugt war sie zwar nicht davon, aber sie würde schon eine Möglichkeit finden, die Tatsachen, dass Shinji sie 1. liebte, 2. aus ihrem früheren Leben kannte, 3. damals schon geliebt hatte und 4. darauf wartete, dass ihre Erinnerungen wiederkamen, außer Acht zu lassen und ihn ganz normal zu behandeln... was auch immer "normal" war, angesichts so einer Situation... "Bitte sag ihm nichts, ja?", bat sie ihre Mutter und warf ihr einen regelrecht flehenden Blick zu, woraufhin diese beruhigend nickte. "Natürlich nicht, Schatz, ich wüsste auch nicht, was es da zu erzählen gäbe...", tat Marron das Ganze ab, als wüsste sie nicht, worum es ging und grinste ihre Tochter schelmisch an, die ein Lachen nicht unterdrücken konnte. Auf ihre Mutter konnte sich Natsuki wirklich immer verlassen und wenn diese ein Versprechen gab, dann hielt sie es auch. Das wusste die 15jährige. Natsuki wusste nicht mehr, wie es geschehen war, aber sie fand sich am frühen Abend auf der Couch sitzend neben Naomi, im Sessel hatte Shinji es sich gemütlich gemacht und ihre Mutter war in die Nachbarwohnung ausgeflogen, um sich mit ihrer besten und ältesten Freundin auf einen Kaffee zu treffen. Grimmig schaltete Natsuki durch die Sender, fand jedoch nichts, was in irgendeiner Art und Weise ihr Interesse wecken könnte und ärgerte sich darüber, dass sie schon wieder durch fremde Hand in eine Situation hineinmanövriert wurde, die sie auf alle Fälle vermeiden wollte. Chiaki machte mal wieder Überstunden und war nicht rechtzeitig zu seinem Termin mit Shinji aufgetaucht und schon hatte sie ihn am Hals! Das Einzige, wofür Natsuki in diesem Moment dankbar sein konnte, war die Tatsache, dass sie die Naomi bei sich hatte, die munter plauderte und Natsuki von ihrer Sorge abhielt, sich mit Shinji unterhalten zu müssen. Allein schon, dass er zwei Meter weiter in ihrem Wohnzimmer hockte, behagte ihr nicht und verunsicherte sie zutiefst. Wo war nur ihre gewohnte Schlagfertigkeit geblieben? Wahrscheinlich hatte sie die Sache mit Fynn und Access und der Wiedergeburt so aus der Bahn geworfen, dass sie sich erstmal wieder an Shinji gewöhnen müsste, redete sie sich ein. Als Shinji zu seiner Verabredung mit Chiaki angetreten war, hatte Marron ihm angeboten, bei den Nagoyas auf ihren Ehemann zu warten. Shinji war zwar kurz davor gewesen, abzulehnen, aber sie hatte darauf bestanden und ihm versichert, Chiaki würde in wenigen Minuten eintreffen, da er für gewöhnlich immer anrief, sollte er Überstunden machen. Als Shinji die Wohnung betreten hatte, hatte sie sich neugierig nach ihm umgedreht. Sie konnte nicht anders, sie musste sich ihn ansehen, ihn, der er früher einmal Access, der Schwarzengel gewesen war. Sie betrachtete seine schwarzen Haare mit dem Violettstich, seine stets amüsierten Augen und sein selbstsicheres Lächeln und verglich sie mit ihren unvollständigen Erinnerungen von Access und den Bildern aus ihren Träumen. Während sie ihn so heimlich beobachtete, ohne, dass er es mitbekam, stieg ein warmes Gefühl in ihr auf und für einen kurzen Augenblick sah sie ihn nicht mehr als einen großen Störfaktor mit noch größerer Klappe, sondern bemerkte die menschliche Seite an ihm. Marron hatte Access als kindisch und chaotisch beschrieben, genauso, wie sie Shinji als Teenager in Erinnerung hatte. Jetzt war nicht mehr viel davon übrig, nur die Entschlossenheit und ein ewig währender Glaube waren geblieben, mit denen sich beide in ihre Aufgaben stürzten und gestürzt hatten. Vielleicht war Shinji auch mehr Shinji als Access, genau so, wie ihre Mutter ihr an diesem Morgen erklärt hatte, aber es gab Dinge, die änderten sich wohl selbst nach dem Tod nicht. Natsuki lächelte leicht bei dem Gedanken, dass Access Fynn bis zum Ende nicht aufgegeben hatte und genauso würde Shinji wahrscheinlich niemals aufgeben... Plötzlich drehte sich dieser zu ihr um und ihre Blicke trafen sich, katapultieren Natsuki ohne Vorwarnung wieder zurück in die Wirklichkeit. Ertappt wandte sie sich ab, beschämt, dass er sie erwischt hatte, wie sie ihn so offenkundig angestarrt hatte. Während sie sich alle Mühe gab, nicht rot zu werden, huschten ihre Augen hektisch hin und her, um auf etwas Interessantes zu stoßen, womit sie sich beschäftigen konnte. Ihr Blick blieb an der Fernbedienung hängen und sie griff danach, wie ein Mensch nach einer Rettungsleine greifen würde. Shinji hatte sich natürlich von Marron breitschlagen lassen und sich in den Sessel gesetzt, Naomi, die sowieso ganz begeistert war von ihm, hatte ihn sofort in ein Gespräch verwickelt, während Natsuki selbst mit verkniffener Miene daneben saß und den Bildschirm fixiert hatte. Das war ja nicht auszuhalten! "Gestern Abend...", kicherte Naomi neben ihr und Natsuki widmete sich wieder ihrer besten Freundin, um zu erfahren, was gestern Abend so Lustiges vorgefallen war. "...habe ich mein Zimmer aufgeräumt und ratet mal, was ich gefunden habe?!" Ganz aufgeregt blickte sie erst von Natsuki zu Shinji und grinste beide dann selbstgerecht an. Natsuki zuckte desinteressiert die Schultern. Eine alte Socke? Ihren verloren geglaubten Lieblingsrock? Doch ohne einen von beiden zu Wort kommen zu lassen, fuhr Naomi weiter fort. "Einen LIEBESBRIEF!!", rief sie sensationslüstern aus und wartete auf ungläubige Reaktionen, die jedoch ausblieben. "An wen schreibst du denn Liebesbriefe?", fragte Natsuki trocken und runzelte die Stirn. Das war ihr neu. "Ich doch nicht, du Dummerchen", lachte ihre Freundin. "Der ist von meinem kleinen Bruder, was der allerdings in meinem Zimmer sucht, kann ich dir auch nicht sagen." Sie machte ein ratloses Gesicht, das jedoch nicht lange anhielt, bevor sie es zu einem hinterhältigem Grinsen verzog. "Jetzt hab ich so viel Erpressungsmaterial!", schwärmte sie. "Maaacht!" Natsuki schüttelte belustigt den Kopf und grinste schief. "Du spinnst doch. Du wirst ihn sowieso niemals darauf ansprechen", prophezeite sie und Naomi warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. "Musst du meine Illusionen so früh zunichte machen?", grummelte sie und seufzte theatralisch, doch ihre pseudo-resignierte Stimmung hielt nicht lange an, denn schon kam ihr der nächste Gedanke. "Eigentlich süß, aber das ist mir neu, dass Jungs Liebesbriefe schreiben", erörterte sie und wandte sich dann an Shinji. "Hast du so was auch mal gemacht?", fragte sie zweifelnd. "Nein", lachte dieser. "Noch nie." Natsuki interessierte es eigentlich nicht, ob Shinji schon mal einen Liebesbrief geschrieben hat - und am allerwenigsten, an wen dieser dann adressiert gewesen wäre! "Einen bekommen?", hakte Naomi ohne Umschweife nach und erst jetzt bemerkte Natsuki, dass die einzige Sache, die sie noch weniger interessierte, ob Shinji einen Liebesbrief geschrieben hatte, diejenige war, ob er jemals einen bekommen hatte. Und, nicht zu vergessen, von wem. Zu allem Überfluss sah sie ihn nicken und ihr wurde leicht flau im Magen. Was sollte überhaupt das ganze Gerede über Liebesbriefe? Gerade wollte sie schnell das Thema wechseln, aber Naomi kam ihr zuvor. Jetzt vollkommen auf Shinji fixiert, bedachte sie ihn mit einem neugierigen Blick und drehte ihren Oberkörper in seine Richtung. Das Gesprächsthema schien sie sehr zu interessieren. "Und von wem?", fragte sie wissbegierig und Natsuki sah ihre Chancen, so unwissend wie möglich über Shinji's Liebesleben zu bleiben, schwinden. "Von Haruko", antwortete Shinji wahrheitsgemäß. "Meiner damaligen Freundin", fügte er hinzu, als Naomi gerade den Mund aufmachte, um ihn zu fragen, wer das sei. Natsuki hatte sich abgewandt und versuchte, nicht zuzuhören und sich auf das Fernsehprogramm - Waschmittelerbung - zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht ganz, sich von dem Waschpulver vollkommen in seinen Bann ziehen zu lassen. 'Haruko', ging es ihr durch den Kopf, während ihre Augen dem seltsamen Männchen, das aus der Waschmittelpackung heraussprang, folgten. So hieß die Freundin von Shinji also. Sie hatte es bereits vergessen... "Wie süüüüüüß", quietschte Naomi neben ihr und wandte sich mit einem strahlenden Lächeln an Natsuki. "Findest du das nicht auch süß?", fragte sie ihre Freundin und Natsuki brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. "Das ist doch albern", entgegnete sie kalt und mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte. "Liebesbriefe sind albern, das ist nur etwas für kleine Kinder", wiederholte sie noch einmal und tat ihr Bestes, um Shinji's Blick auszuweichen. So würdevoll wie möglich wandte sie sich von Naomi ab und schaltete wieder um. Diesmal liefen die Nachrichten im Fernsehen. Griesgrämig starrte Natsuki auf die Mattscheibe vor ihr und fragte sich, woher die plötzliche Wut gegen Liebesbriefe kam, die in ihr aufgestiegen war, während Naomi irgendetwas murmelte, das sich verdächtig nach "Du bist ja total unromantisch" anhörte. Ihr aufkeimender Ärger klang auch nicht ab, als Naomi Shinji weiterlöcherte, wie lange er mit seiner Freundin zusammen war und ob sie noch Kontakt hatten. Shinji bejahte. Sie waren noch immer sehr gute Freunde. Natsuki umklammerte die Fernbedienung, sodass ihre Knöchel ganz weiß wurden und betrachtete verbissen den Nachrichtensprecher, der wild gestikulierend vor einer Wettertafel stand, die natürlich per PC eingeblendet wurde. Sie hatte nicht gewusst, dass Shinji noch Kontakt zu seiner ehemaligen Freundin hatte und aus irgendeinem unersichtlichen Grund traf sie dieser Erkenntnis und nagte an ihr. Während sie über das eigenartige Gefühl nachdachte, das sie überkam, wenn sie sich Shinji mit seiner Ex ausmalte, unterbrach Naomi urplötzlich ihre Überlegungen. "Hey!", rief sie. ihr war soeben etwas eingefallen. "Wir haben noch gar nichts wegen Takeru besprochen! Ich bin dafür, du sagst ihm einfach, dass du kein Interesse hast." Natsuki hätte ihre beste Freundin in diesem Moment am liebsten auf den Mond katapultieren können. Konnte sie denn nicht wenigstens den Mund halten, solange Shinji da war? Das Ganze ging ihn immerhin nichts an und je weniger er wusste, desto besser war es. Dieser hatte sich mittlerweile neugierig im Sessel aufgesetzt und lauschte interessiert dem Gespräch. Doch bevor Natsuki Naomi über den Mund fahren konnte, hatte diese sich auch schon zu dem Jungen umgedreht und brachte ihn auf den aktuellsten Stand der Dinge. "Wir brauchen nämlich eine Ausrede, um Takeru loszuwerden... Fällt dir vielleicht was ein?", hakte sie nach und schaute den jungen Mann hoffnungsvoll an. Belustigung blitze kurz in Shinji's Augen auf und er lächelte leicht. "Warum sagt ihr ihm nicht die Wahrheit?" Natsuki betrachtete verschämt den Boden. Dass ihr Liebesleben - na ja, Nichtliebesleben eher - hier vor Shinji so breit getreten wurde, war ihr sehr unangenehm. Schließlich ging es ihn gar nichts an und so würde er sich darauf zu allem Überfluss auch noch etwas einbilden. Dass er zum Beispiel recht gehabt hatte, als er erwähnte, der Kuss müsse ja schrecklich gewesen sein. Und was wäre, wenn er irgendetwas Falsches dachte? Dass sie nur mit Takeru gespielt hatte oder Ähnliches? Hilflos und in Gedanken versunken kratzte sie sich am Hinterkopf und wagte es noch immer nicht, Shinji anzusehen oder sich gar am Gespräch zu beteiligen. "Ich weiß nicht, ob das so gut kommt...", äußerte Naomi ihre Zweifel. "...wenn Natsuki ihm sagt, sie hatte mal Interesse, aber plötzlich nicht mehr. Der Arme kriegt doch Komplexe und wird denken, das läge an der Verabredung..." "Ach so?" Shinji blinzelte und bedachte Natsuki mit einem undefinierbaren Seitenblick, den sie nur erahnen konnte. "Soll ich mal mit ihm reden?", bot er an und die Köpfe der Mädchen schnellten blitzartig zu ihm herum, doch während Naomi ihn mit heller Begeisterung anstrahlte, spiegelte sich in Natsuki's Gesicht Entsetzten und Missrauen wieder. "Bloß nicht!", stieß sie scharf aus und hob abwehrend ihre Hände, doch Shinji grinste nur und zwinkerte der 15jährigen frech zu. "Du kannst ihm natürlich auch gerne erzählen, du hättest bereits den attraktiven und intelligenten Nachbarn zum Freund", fuhr er weiter fort, ohne auf Natsuki's Protest zu achten. "Danach lässt er dich garantiert in Ruhe." Er hielt inne und wurde dann plötzlich ganz ernst. "Er belästigt dich doch nicht etwa?", wollte Shinji wissen und sah Natsuki durchdringend an, die empört den Kopf schüttelte. "Natürlich nicht!", erklärte sie und merkte, wie Naomi neben ihr leise verhalten kicherte. Natsuki stieß ihre Freundin böse mit dem Ellbogen in die Seite. Shinji lehnte sich zufrieden wieder in den Sessel zurück und sagte eine Weile lang gar nichts, überlegte. "Du solltest ihn zuerst anrufen und nicht erst warten, bis er sich bei dir meldet...", riet er eindringlich, dieses Mal direkt an Natsuki gewandt, die ihn im ersten Moment verdrießlich anblickte, bis sie bemerkte, dass er es vollkommen ernst meinte. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber ihm so direkt in die Augen zu sehen, ließ die Hitze in ihr hochsteigen und sie hatte alle Mühe, sich dazu zu zwingen, sich von ihm abzuwenden. Auf die dummen Sprüche des frechen Shinji konnte sie kontern, aber was sollte sie mit diesem erwachsenen Shinji machen, der sich Sorgen machte, der ihr gestand, dass er sie mochte, der sie ernst anblickte, als schaue er in ihr Innerstes? Sie hatte schon so lange das Gefühl, dass er sie mit seinem Blick direkt durchschaute und vielleicht war es ja das, was ihr so große Sorgen bereitete? Und was sollte sie dagegen tun, dass sie sich unter seinem Blick so unsicher fühlte und dass sie in seiner Nähe die Kontrolle über ihren rationalen Verstand verlor, dass sie keine Luft mehr bekam, wenn er ihr nahe war und dass jedes Lächeln von ihm ihre Wangen zum erröten brachte? Was sollte sie dagegen tun, dass sein Liebesgeständnis ihr jeden Abend vor dem Schlafengehen durch den Kopf ging und jeden Morgen nach dem Aufstehen wieder einfiel und was dagegen, dass sie sogar bei ihrer Verabredung mit Takeru ständig hatte an ihn denken müssen? Was sollte sie dagegen tun, dass sie das Bild von ihm und seiner Exfreundin nicht mehr aus dem Sinn bekam und sich die zwei, obwohl sie es gar nicht wollte, laufend beim Eisessen vorstellte, im Kino, im Park, wie sie Händchen hielten und... Sie schüttelte den Kopf. Das reichte! Sie wehrte sich gegen diesen aufkommenden, verrückten Gedanken. Noch versuchte sie, alles rational erklären zu können. Aber hatte sie nicht gestern erst gelernt, dass manche Dinge sich nicht bloß durch pure Vernunft erklären lassen? Sie wagte einen weiteren, schüchternen Blick in Richtung Shinji, in der Hoffnung, er würde es nicht bemerken, doch vergeblich. Der Junge lächelte ihr aufmunternd zu und sie wandte den Blick schnell ab, errötend, weil sie ertappt wurde. Sie konnte es leugnen. Das würde sie bestimmt hinkriegen! Und sie könnte... Nun ja, es gab ihn schließlich noch. Diesen schwarzen Ohrring. Und Access wollte ihn doch wiederhaben... Plötzlich hörte man Schlüsselgeräusche aus der Diele und die Tür ging auf. Chiaki, ihr Retter in Not, trat ein, klitschnass. Er zog die Schuhe aus und steckte seinen Kopf vorsichtig ins Wohnzimmer. "Ist Marron nicht da?", fragte er flüsternd in einem hoffnungsvollen Tonfall und alle Drei schüttelten stumm die Köpfe, Natsuki’s Vater betrachtend, und wunderten sich, was diese Geheimniskrämerei sollte. "Oh gut..." Erleichtert und in normaler Zimmerlautstärke betrat er den Wohnraum. "Ich habe nämlich den Regenschirm im Krankenhaus vergessen", gestand er mit einem entschuldigendem Lächeln und letztendlich blieb sein Blick an Shinji hängen. "Ich hole schnell ein Handtuch, dann können wir loslegen. Ich konnte mich zum Glück noch schnell loseisen." Er warf einen Blick auf die Uhr. "Nur eine halbe Stunde zu spät!", rief er begeistert und stakste Richtung Badezimmer. "Das soll mir erstmal einer nachmachen...", hörten ihn Shinji, Natsuki und Naomi noch murmeln, wobei Naomi sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte und Shinji sich von seinem Platz erhob. "Na dann, Mädels", verabschiedete er sich. "Noch einen schönen Abend euch." "Viel Erfolg bei deiner Prüfung", wünschte Naomi ihm, als er bereits auf dem Weg ins Büro war und Natsuki nickte nur stumm, obwohl er es ohnehin nicht sehen konnte. Als der junge Mann endlich auf dem Zimmer verschwunden war, konnte sie endlich entspannt aufatmen. Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, jemand würde ihr die Luft nehmen und erst jetzt, wo sie sich ein bisschen auflockerte, bemerkte sie, wie nervös sie die ganze Zeit gewesen war. Ihre Gedanken wanderten erst zu dem schwarzen Ohrring, der friedlich in der Schatulle lag und dann zu Shinji, wie er an jenem Abend verzweifelt all die Dinge aufgezählt hatte, die Natsuki so verstört haben... "Alles!" Sie sah ihn vor sich, wie er atemlos vor ihr gestanden hatte, wie er ihr den Regenschirm über den Kopf gehalten hatte, wie er aufgeregt den Namen "Fynn" ausgesprochen hatte, voller Hoffnung, sie würde bejahen und voller Angst, dass sie es nicht tun würde... Wie er die ganze Nacht ihre Hand im Krankenhaus gehalten und wie er ihre Einkaufstüten getragen hatte. Und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er Taiki einen perfekten Kinnhaken verpasste, als dieser wieder irgendwelche Schwachsinn von sich gegeben hatte. Sie dachte daran, wie lange er schon wartete und wie es sich wohl anfühlte, so lange so verzweifelt auf etwas zu warten. Sie dachte an all die Dinge, die sie über ihn wusste und die sie mit ihm erlebt hatte, an all die Sachen, die er zu ihr gesagt hatte und plötzlich, ganz plötzlich wollte sie gerne wissen, was für Dinge er noch zu ihr sagen würde, wenn er könnte... Sie fragte sich, wie es wäre, ihm die Gelegenheit dazu zu geben... "Ich muss es ihm sagen...", murmelte sie völlig selbstvergessen vor sich her. "Takeru?", hakte Naomi fröhlich nach und brachte Natsuki wieder in die Realität zurück. "Oh, äh, ja...", stammelte diese etwas verwirrt. "Lass uns das schnell erledigen...", beschloss sie und dachte an Shinji‘s Worte. Wahrscheinlich hatte er recht. Wenn sie zu lang wartete, würde sie ihn noch mehr verletzen... Für einen kurzen Augenblick vergaß selbst Natsuki, welchem der beiden Jungen dieser Gedanke galt. Sie stand auf und griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf dem Couchtisch lag, zog dann ihre Freundin vom Sofa hoch und bugsierte sie in ihr Zimmer, wo sie sich wenigstens einem ihrer vielen Probleme stellte.  Kapitel 22: Sternschnuppen -------------------------- Das Handy klingelte, doch Natsuki bedachte es nur mit einem desinteressierten Blick und wartete darauf, dass ihre hartnäckige Mutter endlich auflegte. Sie nahm ihr Telefon in die Hand und drückte auf die "Off"-Taste. Die 15jährige hatte keine große Lust, sich jetzt mit ihren besorgten Eltern auseinander zu setzen. Die Zwei sprangen sicherlich schon im Dreieck, weil Natsuki bereits seit eineinhalb Stunden "verschwunden" war, doch das Mädchen wollte mit keinem reden, keinen sehen. Sie fühlte sich, als bräuchte sie ein bisschen Ruhe von all dem Trubel, einen Ort, an dem sie ihre Gedanken endlich sammeln und ordnen konnte und diesen Ort hatte sie schließlich gefunden. Eigentlich war sie bei ihren Großeltern am anderen Ende der Stadt zu Besuch gewesen, doch auf dem Weg heim, den sie nur mit Unlust antrat, fiel ihr der Park ein und es überkam sie das große Verlangen, sich einfach auf eine der vielen Parkbänke zu setzen und dort sitzen zu bleiben. Kaum jemand war um diese Uhrzeit - es war bereits abends - hier unterwegs und in der Abgeschiedenheit hatte sie endlich das Gefühl, zur Ruhe zu kommen. Kein Wunder, nach all den spannenden und unmöglichen Dingen, die sie in den letzten Tagen so aufgewühlt hatten. Auf dem Weg durch den Park blieb sie vor einer Bank stehen und betrachtete diese schweigend. Zögernd ging sie auf sie zu und setzte sich vorsichtig darauf. Es war dieselbe Bank, an der Shinji sie damals gefunden hatte, nachdem sie vor ihm weggelaufen war. Mit ihren Fingern fuhr sie langsam über das alte, trockene Holz und verfolgte mit den Augen eine kleine Ameise, die erst auf sie zulief, es sich dann aber anders überlegte und den Rückzug antrat, bis sie unter einer Holzleiste verschwand und nicht mehr zu sehen war. Natsuki seufzte und wandte sich von der Ameise ab, starrte gedankenverloren geradeaus, wo außer eine Menge Bäumen weiter nichts zu sehen war. Morgen war ihr sechzehnter Geburtstag. Ihre Großeltern würden zum Kaffee und Kuchen kommen, ebenso wie die Minazukis. So war es schon immer gewesen. Aber Natsuki hatte keine große Lust auf all diese Leute, sie wollte am liebsten den ganzen Tag alleine sein, nicht einmal ihre Eltern hätte sie sehen müssen, aber diese gehörten nun einmal dazu, wie die Möbel in der Wohnung. Sie hatte auch keinen Appetit auf Kuchen oder Sonstiges und auch auf die Geschenke und die Glückwünsche könnte sie verzichten, alles, was sie wollte, war nur ein bisschen Ruhe und keinen, der sie zusätzlich aus der Fassung brachte. Sie wusste nicht warum, aber in den letzten Tagen war sie äußerst traurig gewesen. Es war keine Traurigkeit, die man hat, wenn man eine schlechte Note mit nach Hause bringt oder wenn etwas kaputtgeht. Es war viel mehr, als hätte sie etwas verloren. Es war keine schreiende, rebellierende Traurigkeit - es war eine stille, ergebene Resignation und sie fühlte sich kraftlos und demotiviert, was auch immer sie anfing. Die Tage waren wie eine Qual und nur im Schlaf konnte sie das bedrückende Gefühl, das auf ihr lastete, vergessen, doch mit jedem erneuten Aufwachen fiel es ihr Sekunden später wieder ein und der Teufelskreis begann von vorne. Und obwohl sie ahnen konnte, wer an ihrem Gefühlswirrwarr Schuld war, konnte sie sich nicht dazu aufraffen, sich zu überwinden und dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sie war viel zu verunsichert, um zu wissen, was sie wirklich wollte und sie hatte viel zu viel Angst, es sich einzugestehen. Obwohl irgendetwas unter der Oberfläche nagte und heraus wollte, wehrte sie sich dagegen und verbot sich jeden Gedanken daran. An ihn. An Shinji. Er hatte irgendetwas mit ihr gemacht, worauf sie ganz und gar nicht vorbereitet war und jetzt war sie auf sich allein gestellt mit all diesen Gefühlen und Gedanken, die sie gar nicht haben wollte, die sie verdrängte und verfluchte und beiseite schob, aber sie ließen sich nicht einfach wegsperren und je mehr Zeit verging, desto schlechter ging es ihr. Ihre Laune war auf dem Nullpunkt, ihre Motivation blieb auf der Strecke, sie begegnete ihren Eltern und sogar ihrer besten Freundin nur noch einsilbig und an Tagen wie diesen, wenn die Sonne so hell und freundlich am Himmel schien, erschien sie ihr so grausam und unnachgiebig. Wie konnte die Sonne nur so fröhlich scheinen, wenn sie am liebsten Dunkelheit um sich herum hätte? Aber sie schien weiter und die Erde drehte sich weiter und nur Natsuki steckte in einer Sackgasse und konnte weder vor noch zurück. Je länger sie in der vergangenen Woche über Shinji nachgedacht hatte, desto mehr hat ihr das die Augen geöffnet. Seitdem hatte sie keinen einzigen Traum mehr von Fynn oder Access gehabt, aber sie dachte ständig an die Beiden. Doch vielmehr dachte sie an Shinji und ihr konfuses Verhältnis zu ihm, an sein Benehmen, an seine Worte und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor ihrem inneren Auge aufblitzen. Zuerst hatte es sie erschreckt und beunruhigt, doch die Emotionen, die gleichzeitig aufkamen, waren so überwältigend, dass sie gar nicht anders konnte, als sich sein freches Grinsen bei jedem Blinzeln und in jedem Traum herbeizuersehnen. Und obwohl es eigentlich so einfach war - so einfach sein KÖNNTE - zögerte sie. Natsuki war sich nicht sicher, ob sie das alles wollte. Sie wusste nicht, was sie eigentlich genau wollte und sie hatte Angst, schreckliche Angst. Angst, dass ihre Gefühle überbrodeln, sie unter sich begraben, die Kontrolle übernehmen würden. Und sie fürchtete sich davor, ihm nahe zu sein, obwohl sie jede Nacht davon träumte, in seinen Armen zu liegen. Betrübt betrachtete sie den Erdboden mit der Gewissheit, dass der schwarze Ohrring sich sicher in ihrer Jackentasche befand. Sie trug ihn neuerdings immer mit sich, nur für den Fall. Sie fühlte sich sicherer, wenn er bei ihr war und nicht unbeaufsichtigt in ihrem Zimmer lag. Und falls sie Shinji begegnen sollte... zumindest dann, wenn sie irgendwann aufhörte, ihm aus dem Weg zu gehen, sich vor ihm zu verstecken, in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren, wenn er auftauchte und einen großen Bogen um sein Auto und seine Haustür zu machen. Irgendwann also... Langsam wurde es dunkel und die Sonne, die ihre letzten, schwachen Strahlen zur Erde schickte, verschwand auch bald hinter dem Horizont. Der Himmel war in allen möglichen Rottönen gefärbt, die aber schneller verblassten, als die Zeit verging und alles, was blieb, waren ein paar schwache Farben am Himmel und eine Holzbank in einem leeren Wald, auf der ein bedrücktes Mädchen saß. "Hier bist du also." In Entsetzen schnellte Natsuki's Kopf in die Höhe und erschrocken starrte sie den jungen Mann, der vor ihr stand, mit aufgerissenen Augen an. "Deine Mutter vergeht vor Sorge", informierte er sie und sein Blick blieb an ihrem ausgeschalteten Handy hängen, das immer noch neben ihr lag. "Warum gehst du nicht ans Telefon?" Wortlos schaute Natsuki ihn an. Da war er also wieder, der Typ, dem sie ständig aus dem Weg ging und dem sie trotz allem immer wieder begegnete. Es schien, als würde irgendjemand, der die Fäden zog, sie immer wieder zueinander führen. Es war gar unmöglich, zu fliehen. Da stand er also vor ihr. Nachdem er anscheinend nach ihr gesucht hatte und sich Sorgen machte. Und anstatt ihn zum Teufel zu schicken, so, wie sie es sonst immer gemacht hatte, wandte sie den Blick von ihm ab und dachte daran, wie lieb es von ihm war, nach ihr zu suchen, obwohl er so viel zu tun hatte und obwohl sie so mit ihm umging. Shinji merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er wurde schon eine ganz lange Zeit nicht mehr beschimpft, beleidigt, geschlagen oder verflucht und er konnte sich keinen Reim darauf machen. Jetzt redete sie noch nicht einmal mit ihm, sondern saß stumm auf einer Parkbank, während die Dunkelheit über sie hereingebrochen war: etwas stimmte nicht. Er setzte sich behutsam neben sie und überlegte, was er als nächstes sagen sollte, worauf er auch eine Antwort bekommen konnte. Er wusste nicht, was los war. Vielleicht hatte sie Probleme zu Hause oder mit ihren Freunden, es konnte alles sein. Er hatte immerhin keine Ahnung, was sich in ihrem Leben so abspielte, da sie ihm für gewöhnlich nichts erzählte. Natsuki schwieg ebenfalls. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also blieb sie sitzen und sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte, hatte Angst, dass ihre Stimme zitterte, also blieb sie stumm. Dass Shinji auch nicht sprach und nur schweigend neben ihr saß, hätte sie beunruhigen können, tat es aber nicht. Solange er sie nicht zwang, mit ihm zu reden, ihm zu antworten, solange konnte sie hier bewegungslos sitzen und nach einer Lösung suchen, auf den Impuls warten, endlich irgendetwas zu unternehmen. Gerade als Shinji sich erheben und sie bitten wollte, nach Hause zu gehen, fiel ihm wieder ein, zu welchem Zweck er an diesem Abend zu den Nagoya's gekommen war. "Kann ich Natsuki für eine Weile ausleihen?", hatte er Marron mit gedämpfter Stimme gefragt, als diese ihm geöffnet hatte, damit Chiaki ihn nicht hörte, doch sie schüttelte nur bekümmert den Kopf. "Ich weiß nicht, wo sie steckt", erklärte sie ihm sorgenvoll. Natsuki habe schon vor zwei Stunden das Haus ihrer Großeltern verlassen, gehe nichts ans Handy und nun sei es ganz ausgeschaltet. "Chiaki meint, sie habe noch einen Abstecher zu Freunden gemacht, aber... ich mache mir solche Sorgen! Warum geht sie nicht ans Telefon? Sie ist doch sonst nicht so..." Marron hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. Shinji konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten ihre Jacke gepackt und ihre Tochter auf eigene Faust suchen gegangen wäre, doch Chiaki beruhigte seine Ehefrau und schlug ihr vor, bei Naomi anzurufen. Marron nickte und warf Shinji einen entschuldigenden Blick zu. "Ich kann im Park nachsehen, wenn du möchtest. Ich war sowieso auf dem Weg dorthin", schlug er vor und Marron nickte dankbar, fast schon erleichtert. Der junge Mann stand auf. "Natsuki-chan...", begann er vorsichtig und die Braunhaarige blickte ihn unsicher an. "Das ist vielleicht nicht der richtige Augenblick, aber würdest du bitte mit mir mitgehen? Ich möchte dir gerne etwas zeigen." Er klang so höflich und zaghaft, dass Natsuki gar nicht anders konnte, als zu nicken und auch aufzustehen, obwohl das Herz in ihrer Brust wie wild zu hämmern begann und sie sich ängstlich fragte, was für einen Augenblick er meinte und wohin sie ihm folgen sollte... Erleichtert, dass sie nicht sofort ablehnte, fasste Shinji neuen Mut und das altbekannte Grinsen umspielte wieder seine Lippen. "Dann los, wir müssen uns beeilen!", rief er ihr zu, nachdem er einen raschen Blick auf seine Armbanduhr geworfen und sich im Laufschritt auf den Weg gemacht hatte. Eilig versuchte Natsuki, hinterherzukommen. Ihre Neugier war geweckt und lenkte sie ein bisschen von ihren trüben Gedanken ab. Sie wuchs sogar noch mehr, als Shinji von dem regulären Kiesweg einen kleinen Abstecher ins Gebüsch machte und ihr bedeutete, ihm zu folgen. Natsuki kletterte mühsam durch die Büsche und befand sich plötzlich mitten im Wald, der aber noch zum Park gehörte, auf einem kleinen Trampelpfad, der im Zickzack zwischen den Bäumen verlief. Auf einem Hügel, an der Stelle, wo der Park und die Bäume aufhörten und der Hügel steil nach unten ging, blieb Shinji stehen. Natsuki trat atemlos neben ihn und sah sich um. Ihr bot sich eine Aussicht, die bei Tag höchstwahrscheinlich atemberaubend wäre, denn man hatte freie Sicht auf das Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckte und in der Ferne leuchteten die Lichter der nächstgelegenen Stadt Biwachou. Am Himmel war kein einziges Wölkchen zu sehen und ein paar helle Sterne hatten sich bereits hervorgewagt. Eine dünne, gelbe Mondsichel hing über dem Tal und gab dieser Aussicht den letzten Schliff. Zufrieden ließ Shinji seinen Blick über die Tiefe schweifen und schaute noch einmal auf seine Armbanduhr. Nachdem Natsuki die Aussicht in sich aufgenommen hatte, wandte sie sich verwirrt an ihren Nachbarn. Sie verstand nicht, was das sollte. Zwar war sie noch nie hier gewesen und fand das Panorama hinreißend, aber warum hatte Shinji sie hierher gebracht, am späten Abend, und wieso sagte er ihr nicht, was es damit auf sich hatte? "Was wollen wir hier?", wollte sie wissen, doch er schüttelte nur den Kopf, um ihr zu bedeuten, sie sollte still sein. "Gleich", murmelte er nur und seine Augen waren immer noch fest auf den Himmel gerichtet. Argwöhnisch folgte Natsuki seinem Blick und betrachtete ebenfalls stumm den sternenklaren Himmel, an dem nichts Sonderbares passierte. "Schau genau hin", riet er ihr, gerade, als sie sich schon wieder abwenden wollte und tatsächlich... Es schien, als fiel ein kleiner, leuchtender Stern vom Himmel, der einen langen Schweif hinter sich herzog, doch genauso schnell, wie er erschienen war, war er auch wieder verschwunden. Mit großen Augen starrte Natsuki auf den Fleck am Firmament, wo eben noch etwas aufgeleuchtet hatte. "Woow...", gab sie fasziniert von sich und vergaß für den Moment all ihre Sorgen und Gedanken. Shinji Brust schwellte unmerklich an vor Stolz und er grinste in die Dunkelheit hinein. Kaum wenige Sekunden später erschienen mehr Lichtpunkte am Horizont, die einen Schweif hinter sich herzogen und schon nach kurzer Zeit in der Atmosphäre verglühten. Ein wahrer Sternenregen rieselte auf sie herab und Natsuki stockte fast der Atem angesichts dieses bezaubernden Naturschauspiels. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Wie oft hatte sie schon am Fenster gestanden und sich gewünscht, eine Sternschnuppe zu erblicken, um sich etwas wünschen zu können? Und nun stand sie hier am späten Abend mit dem Nachbarsjungen und war Zeuge von Hunderten von fallenden Sternen. Fassungslos verfolgte sie die kleinen Sternschnuppen, die überall am Himmel auftauchten und wieder einfach so verschwanden, verglühten... "Wünsch dir was", sagte Shinji freundlich und bedachte sie mit einem lächelndem Blick. Ihm war es tatsächlich gelungen, sie zu beeindrucken und er war unheimlich stolz auf seinen Erfolg. Seine Augen leuchteten wie die des Achtjährigen, der erfolgreich eine Bauklotzburg gebaut und die volle Annerkennung des kleinen Mädchens bekommen hatte, das nun Jahre später vollkommen fasziniert neben ihm stand und diese bemerkenswerte Darbietung beobachtete. Natsuki wandte sich von den Sternen ab und bedachte ihn mit einem zaghaften Blick, so, als sei sie sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte oder es ernst meinte, doch Shinji nickte ihr nur aufmunternd zu. "Mach schnell", riet er noch und sie drehte sich wieder den glühenden Feuerkugeln zu und schloss für einen ganz kurzen Moment die Augen, den Kopf zum Himmel empor erhoben. Als sie die Augen wieder aufmachte, begann Shinji zu sprechen. "Das sind Meteoritenteile des Kometen Sanguin, der vor kurzem die Umlaufbahn der Erde gekreuzt hatte", erklärte er ihr. "Dieser Komet taucht nur alle 12 Jahre auf." Etwas in Natsuki fraß sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Fynn und Access, küssend auf einem Baum, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel herab. Eine weitere Erinnerung... also war es tatsächlich so, wie sie es sich bereits gedacht hatte: Shinji brachte alle die Erinnerungen wieder zurück in ihr Bewusstsein, ohne es selbst zu wissen. Shinji war der Grund für alles... Sie betrachtete ihn, wie er da stand, den Blick ebenfalls zu den Sternen gerichtet, die Hände in die Jackentaschen vergraben. Der Reisverschluss der Jacke war offen und darunter hatte er das schwarze Hemd an, das sie damals auf seinem Bett hatte liegen sehen Sie bemerkte, dass es ihm unheimlich gut stand und wunderbar mit seiner Haarfarbe harmonierte. Als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete, drehte er sich zu ihr um, doch dieses Mal wich sie seinem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn, während ihr Herz wieder Luftsprünge in atemberaubende Höhen machte. Er lächelte sie fast schon schuldbewusst an. "Ich wollte unbedingt, dass du es dir ansiehst..." Er zuckte hilflos die Schultern. "Ich wusste nicht, was ich dir sonst schenken sollte, auch, wenn dein Geburtstag erst..." Er schaute auf seine Uhr, "in einer Stunde ist." Überwältigt starrte sie ihn an, sagte nichts und etwas wie Rührung regte sich in ihr. Shinji aber missdeutete ihr Schweigen. "Ich weiß, du würdest dir das wahrscheinlich lieber mit jemand anderem angucken, aber..." Sein Redefluss versiegte und seine Augen wandten sich von ihr ab und widmeten sich den letzten Sternschnuppen, die nur noch hin und wieder am Himmel auftauchten. Er sprach den Satz nicht zu Ende, ließ ihn einfach unausgesprochen in der Luft schweben. Shinji wusste selbst nicht, was "aber". Es gab kein Aber. Oder doch... Damals, vor 24 Jahren, da hatte er diesen Sternschnuppenregen schon einmal gesehen, nun, Access hatte ihn gesehen, mit Fynn zusammen. Er war eine bewölkte Nacht gewesen und nur eine einzige Sternschnuppe war vom Himmel herabgefallen, zumindest die Einzige, die mit bloßen Auge sichtbar gewesen war. Und auch, wenn Natsuki von alledem nichts wusste und vielleicht niemals wissen würde, so war es ihm doch wichtig gewesen, sie an diesen Ort zu bringen und dieses besondere Ereignis mit ihr zusammen zu betrachten... "Nein...", widersprach das Mädchen zögernd in seine Gedanken hinein und er blickte sie überrascht an. Natsuki wusste auch nicht, woher sie plötzlich den Mut hatte, aber sie bemühte sich um eine festere Stimme, als sie weitersprach. "Das ist... schon in Ordnung so...", stammelte sie und konnte dem verdatterten Shinji auf einmal nicht mehr in die Augen sehen. War sie dabei, eine Fehler zu begehen? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Schnell verstummte sie und fixierte wieder das Sternenzelt, bloß um den Blick nicht verräterisch auf den Boden zu senken. Damit hatte der Junge nicht gerechnet. Es war in Ordnung für sie, dass sie mit ihm hier war? Hatte sie ihm etwa gerade damit zu verstehen gegeben, dass sie NICHT lieber mit jemand anderem hier gewesen wäre? Was bedeutete das genau? Er trat vorsichtig einen Schritt auf sie zu und runzelte grübelnd die Stirn. "Wirklich?", hakte er genauso hoffnungsvoll, wie ungläubig nach. Natsuki's Augen huschten unsicher von einem Stern zu einem anderen. "J...ja...", murmelte sie und warf ihm einen sehr kurzen Blick zu, um seinen Gesichtsausdruck zu inspizieren. Darin stand nur purer Unglaube geschrieben. Vor ihr stand ein junger Mann, der da gerade seinen Ohren nicht traute und von der Plötzlichkeit dieses Ereignisses so sehr überwältigt war, dass er sich kaum rührte und es nicht wirklich erfassen konnte. Und das nur, weil sie ihm ein kleine, klitzekleines Zugeständnis gemacht hatte, was nicht wirklich der Rede wert war. Aber für ihn... es war wie Weihnachten! Er machte noch einen Schritt auf sie zu, doch sie wich vorsichtig zurück und er blieb stehen. Immer noch wagte sie es nicht, ihn anzusehen und dieses Mal konnte sie ihre Augen der Erde nicht fernhalten, nachdem sie schon fast alles um sich herum betrachtet hatte. Shinji hielt inne und überlegte. Was sollte er als nächstes tun? Machte er etwas Falsches, so würde er wieder in ein Fettnäpfchen treten und das ganze Theater würde wieder von vorne losgehen. Darauf hatte er nicht viel Lust und jetzt, wo sie langsam anfing, ihn nicht mehr zum Teufel zu wünschen, durfte er sich diesen Vorteil auf keinen Fall verspielen, indem er etwas Dummes oder Voreiliges tat. Also, sollte er sie darauf ansprechen und fragen, wie sie das eben gemeint hatte? Oder sollte er es einfach dabei belassen? Er bemerkte, wie unbehaglich sie sich fühlte und dass sie vor ihm zurückwich, war nicht unbedingt ein Zeichen, dass die Ampeln auf grün standen. Er entschied sich für die letztere Möglichkeit. Es dabei zu belassen. "Okay..." Irritiert kratzte er sich am Hinterkopf und Natsuki fragte sich, was genau nun "okay" sei, während sie seine ratlose Bewegung registrierte. "Du solltest nach Hause, Marron hat bestimmt schon die halbe Stadt auf den Kopf gestellt", witzelte er und steckte seine Hände wieder in die Jackentaschen. Ihm entging, wie für einen kurzen Augenblick die Enttäuschung in Natsuki's Gesicht Einzug hielt und ihre Schultern automatisch resigniert sanken. Sie wusste selbst nicht, warum sie so enttäuscht war, dass er sie nach Hause schickte, aber irgendwie hatte sie mehr erwartet... Natsuki erschrak. Sie hatte mehr erwartet! Das wurde ihr jetzt erst bewusst. Deshalb war sie so angespannt gewesen, deshalb war sie nun so betrübt. War es das? Hatte Shinji etwa aufgegeben? Jetzt gerade, wo sie anfing, ihn gern zu haben? Das konnte doch nicht sein... das durfte nicht sein! Access hatte Fynn doch auch nicht aufgegeben? Sie hatte geglaubt, Shinji wäre genauso... vielleicht war sie zu spät. Mutlos ließ sie ihren Kopf hängen. "Kommst du? Ich bringe dich nach Hause...", informierte ihr Nachbar sie und schritt langsam den Weg entlang. Da es dunkel war, war nicht mehr viel zu erkennen und beide standen buchstäblich im Wald, er durfte also den kleinen Pfad nicht aus den Augen verlieren. Natsuki betrachtete seinen Rücken, der in wenigen Schritten vollends in der Dunkelheit verschwinden würde und war unfähig, sich zu rühren. Sie griff mit ihrer rechten Hand in ihre Jackentasche und umklammerte fest den Ohrring. Tränen traten ihr in die Augen, von denen sie nicht wusste, woher sie rührten. Shinji schaffte es nicht mehr, sich rechtzeitig umzudrehen, um zu gucken, ob Natsuki ihm auch folgte. "Access!!!" Eine verzweifelte Mädchenstimme hallte durch den Wald, das Tal hinunter und eine letzte Nachzügler-Sternschuppe verglühte in der Atmosphäre, als die Erde den Meteoritenstrom endlich hinter sich ließ und Shinji erschrocken herumwirbelte. In einer ähnlichen Situation hatte er sich schon einmal befunden, doch irgendwie war das hier anders... Seine Augen suchten in der Dunkelheit die Ihre und er ging ein paar Schritte auf sie zu, sodass er sie endlich ansehen konnte. Sie schniefte und wischte sich mit dem linken Ärmel schnell eine einzelne Träne weg, als sei es ihr unangenehm, dass er sie weinen sah. Warum sie weinte, war ihm ein Rätsel. "Ich weiß es", platzte es aus dem Mädchen heraus. "Ich weiß alles..." Ihre Stimme wurde wieder zittrig und Shinji konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen. Er machte den letzten, entscheidenden Schritt auf sie zu und zog sie sachte, aber bestimmt an sich, drückte sie fest und wollte sie am liebsten gar nicht mehr loslassen. Niemals. Natsuki vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd und nahm einen sanften, angenehmen Duft wahr, der von Shinji aus ging. Mit ihren Händen hielt sie sich am Stoff seiner Jacke fest und noch ein paar weitere Schluchzer entflohen ihrer Kehle, ein paar weitere Tränen sogen sich in sein Hemd hinein. "Nicht doch...", murmelte er beruhigend, wagte es aber auch nicht, bloß nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Obwohl sie sich vor genau dieser Nähe gefürchtet hatte, bemerkte sie, wie wohl sie sich fühlte. Das hätte sie niemals gedacht, dass Shinji in ihr so ein Gefühl auszulösen vermochten. Am liebsten wäre sie für immer mit ihm in dieser Position verharrt. Wieso hatte sie es bloß nicht viel früher gemerkt? Viel, viel früher? Warum hatte sie sich ständig mit ihm streiten müssen? Warum hatte sie denn bloß nichts GEMERKT?! Und nun war es womöglich zu spät... Sie schob den jungen Mann behutsam von sich weg, nur einige Zentimeter, und öffnete ihre rechte Hand. Ihre Augen und Wangen waren gerötet und ihre Knie fühlten sich seltsam weich an. Als würden sie unmittelbar unter ihr einknicken. "Hier...", sagte sie und hielt ihm ein wenig schüchtern den Ohrring hin, der auf ihrer offenen Handfläche platziert war, ohne ihn anzusehen. "Der gehört dir..." Shinji lächelte. Er hob seine Hände und berührte die Natsuki's. Bei der bloßen Berührung lief ihr ein sanfter Schauer über den Rücken. Doch anstatt den Ohrring an sich zu nehmen, schloss er sorgfältig ihre Finger wieder um den kleinen Gegenstand. "Nein", widersprach er. "Er gehört dir." Die Augen der 16jährigen füllten sich wieder mit Tränen, bei so viel Güte, die der junge Mann aufbrachte, bei so viel Verständnis... "Es tut mir so leid...", schluchzte sie leise und diese Entschuldigung implizierte so vieles, wovon sie nicht fähig war, es momentan alles aufzuzählen. Dass sie sich nicht sofort erinnern konnte, so wie er, dass er so lange warten musste, dass sie ihn so schlecht behandelt hatte, dass sie ihm so viel Kummer bereitet hatte, ihre Verabredung mit Takeru, alle Missverständnisse und vor allem, dass sie hier so hilflos in seinen Armen lag und ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte. Shinji atmete tief durch. Dann legte er beide Hände auf ihre Schultern. "Das muss es nicht...", flüsterte er, kaum hörbar, als hätte er verstanden, und als sie den Kopf hob, um ihn anzuschauen, beugte er sich langsam zu ihr herunter... Ein Feuerwerk. Oder eine Achterbahn. Oder eine heiße Tasse Kakao im Winter. Ein Sprung ins kalte Wasser oder... Oder Sternschnuppen. Unbeschreiblich schön. Hätte er sie nicht festgehalten, hätten ihre Beine unter ihr nachgegeben. Der Kuss schmeckte salzig, den Tränen sei dank, und dennoch süß, so unendlich süß, dass es ihr den Atem verschlug. Für diesen kurzen, aber endlosen Augenblick - es kam ihr so vor, als hätte jemand die Welt angehalten und in Zeitlupe weiterlaufen lassen - hörte sie auf zu atmen, ihr Herz hörte auf zu schlagen, ihr Verstand setzte aus. Als er sich vorsichtig von ihr löste und sie forschend anschaute - er hatte so viele Fragen an sie - blickte sie ihn atemlos an. Fast hatte er schon erwartet, dass sie sich wehren würde, oder ihm wieder eine scheuern, jedoch nichts davon trat ein. Sie stand nur da und sah ihn an und obwohl er ihren Blick nicht richtig deuten konnte, beschloss er, es für ein gutes Zeichen zu halten. Natsuki musste sich erst einmal sammeln. Es war atemberaubend, es war genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, bei Nacht, unter sternklarem Himmel und... nun ja, Shinji hatte in ihren Vorstellungen sonst immer irgendwo gefesselt auf dem Mond gelegen, aber unter diesen Umständen war sie sogar bereit, ihre Ansichten zu revidieren. So sollte ein Kuss sein, dachte sie, als sie sich wieder wortlos in seinem Hemd vergrub. "Das war Nummer Eins...", murmelte sie so leise in den Stoff hinein, dass er sie nicht verstehen konnte. Shinji, der immer noch vollkommen benebelt war von dem, was da gerade passiert war, fiel es plötzlich wieder ein. "Deine Eltern machen sich Sorgen...", machte er das Mädchen, um das er einen Arm gelegt hatte, etwas fahrig aufmerksam und atmete den Duft ihrer Haare ein. Zitrone. "Wir sollten nach Hause gehen..." Wieder versetzt in die Wirklichkeit machte die Fünfzehnjährige sich von ihm los und nun, mit einem Meter Abstand zwischen ihm und ihr, fühlte sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, wie sie eben noch war. Zaghaft nickte sie und warf Shinji einen ängstlichen Blick zu, der seine Sinne immer noch nicht beieinander hatte. Zerstreut deutete er in die Richtung, aus der beide gekommen waren und langsam machten sie sich auf den Weg nach Hause, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Natsuki war dicht hinter Shinji und er hielt die Äste, die ihnen im Weg waren, immer so lange fest, bis er sicher war, dass sie Natsuki nicht mehr ins Gesicht schlagen konnten, wenn er sie losließ. Als sie wieder aus dem Gebüsch kletterten und im eigentlichen Park, mit dem breiten Kiesweg und den Bänken links und rechts, ankamen, konnte Shinji seine schützende Tätigkeit aufgeben und seine Arme endlich baumeln lassen. Da Natsuki kein Wort sagte, wagte auch er es nicht, diese friedliche Ruhe, die sich zwischen die Zwei gelegt hatte, zu zerstören. Er würde noch genug Gelegenheiten haben, sich mit ihr zu unterhalten. Im Moment musste er sich erst einmal bewusst werden, was da überhaupt abgelaufen war, denn so richtig begriffen hatte er es immer noch nicht. Natsuki erinnerte sich an Fynn und Access, das hatte sie doch gesagt, oder? Und plötzlich mochte sie ihn auch noch? Sie mochte ihn sogar so sehr, dass sie sich von ihm hatte küssen lassen! Da blieb ihm doch fast die Luft weg. Es kam ihm so irreal vor, wie ein Traum, aus dem man Angst hat, wieder aufzuwachen, weil er so schön ist und weil man gleichzeitig weiß, dass er auf keinen Fall der Wirklichkeit entsprechen kann. Und deshalb schwieg er erst mal. Wer weiß, vielleicht würde er aufwachen, sobald einer etwas laut aussprechen würde... Natsuki warf dem nachdenklichen Shinji einen Seitenblick zu, den er gar nicht mitzukriegen schien. Er war so vertieft in seine Überlegungen, dass er die ganze Zeit schwieg, dabei hätte sie ihn so gerne dabei gesehen, wie er ihr den Arm um die Schulter legte oder etwas in der Art. Warum war er jetzt so still? Als er sie geküsst hatte, hatte sie für einen kurzen Moment geglaubt, dass sie doch nicht zu spät war, dass alles gut werden würde, aber kurz darauf bestand er darauf, sie nach Hause zu bringen. Wollte er sie loswerden? Sie musste es ein für allemal herausfinden, denn auf eine weitere Woche voller Ungewissheit hatte sie keine Lust, ebenso wenig wie sie Nerven dafür hatte. Sie hatte sich bereits so abgequält, dass sie wirklich keine Kraft hatte, das noch einmal durchzustehen. Und im Hinterstübchen wusste sie, diesmal würde es wahrscheinlich noch schlimmer werden. Ihr Blick fiel auf seine Hand. Sie würden gleich den Park verlassen, den unbeleuchteten Park, und auf die hellen Straßen treten, versehen mit Straßenlaternen und den Lichtern, die von den Autos und aus den Fenster der Häuser leuchteten. Natsuki streckte zögernd ihre Hand aus und griff nach Shinji's Fingern. Das schien ihn aus seiner Starre zu lösen und ohne sich zu ihr umzudrehen, lächelte er leicht vor sich hin, während er ihre Hand mit seiner - so kam es Natsuki zumindest vor - Großen umklammerte und sie sanft drückte. Erlöst und dennoch mit lauter Herzklopfen folgte sie ihm durch die Straßen bis nach Hause. Beide schwiegen und plötzlich kam Natsuki die Stille nicht mehr so unangenehm und ungewiss vor. Ohne sich voneinander zu lösen, standen sie im Aufzug, fuhren hoch und er ließ ihre Hand erst dann los, als sie vor Natsuki's Haustür hielten. Unschlüssig sahen sie sich an, sich gegenüberstehend, beide nicht sicher, was sie tun sollten oder der jeweils andere tun würde. "Gute Nacht, mein Engel", sagte Shinji schließlich, flüsternd, als befürchte er, ein einziger lauter Ton würde die ganze Harmonie zerstören, die ganze Stimmung, das Schweigen zwischen ihnen... Er drehte ihr den Rücken zu und schritt zu der eigenen Wohnungstür, schloss auf. Bevor er die Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss fallen ließ, drehte er sich noch einmal kurz zu Natsuki um, um zu sehen, ob sie noch da war oder ob der Traum sich in einen Alptraum verwandelt hatte und sie verschwunden war. Doch sie stand noch immer dort, vor der Holztür der Nagoyas, und schaute ihm nach, in ihrem Blick lag dieselbe Angst, die er verspürte, Ungewissheit, aber auch Sehnsucht und er lächelte ihr zuversichtlich zu. Das hier war kein Traum. Kapitel 23: Sechzehn -------------------- "Wo warst du?!" Die sonst so sanftmütige Marron hatte sich in voller Größe vor Natsuki aufgebaut und sah ihre Tochter streng an. "Wir haben uns Sorgen gemacht! Was hast du dir dabei gedacht, vier Stunden lang verschollen zu sein?" Mit einem Mal war Natsuki's träumerische Stimmung zerstört. Stimmt ja... sie hatte noch Eltern, die zu Hause auf sie warteten und sie seit bereits vier Stunden erwartet hatten. Irgendwie hatte sie das aus den Augen verloren. "Ich, äh... ich hab die Zeit vergessen", stammelte sie kleinlaut, auf der Suche nach einer guten Ausrede. "Es tut mir leid..." "Die Zeit vergessen!", rief Marron fassungslos aus. Sie schien sehr müde und erschöpft. "Dein Vater und ich, wir haben die Zeit leider nicht vergessen, mein Kind", wütete sie weiter, während sich Natsuki, die plötzlich das Gefühl hatte, um einige Zentimeter geschrumpft zu sein, an ihrer zornigen Mutter ins Wohnzimmer vorbeidrückte. "Marron, beruhige dich...", kam Chiaki seiner Tochter zu Hilfe und legte seiner Frau besänftigend eine Hand auf die Schulter. Diese drehte sich entzürnt zu ihm um. "Ich bin fast gestorben vor Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte!", versuchte sie ihm klarzumachen. "Wozu hast du ein Handy, wenn du es ausmachst?" Sie wandte sich wieder an Natsuki. "Ähh...", gab das Mädchen von sich. "Bestimmt war der Akku leer! Das passiert mir auch ständig", erklärte Chiaki und sicherte sich wieder die Aufmerksamkeit seiner wütenden Frau. "Außerdem", fügte er süffisant lächelnd hinzu. "Du warst doch früher genauso!" "Ich war...?" Marron hielt inne und sah ihn fassungslos an. "Ich war was?", wiederholte sie nun noch einmal, absolut empört. "Ich habe mich nie draußen herumgetrieben, ohne, dass jemand bescheid wusste!", verteidigte sie sich, doch Chiaki schüttelte nur amüsiert den Kopf. "Wer auch? Deine Eltern waren ja abwesend", erinnerte er sie, doch davon ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. "Das hat damit nichts zu tun", beharrte Marron. "Niemand hatte je den Anlass, sich um mich Sorgen zu machen!" "Oh, bitte", spöttelte Chiaki und zog eine Augenbraue hoch. "ICH habe mir Sorgen gemacht, wenn du nachts allein über die Dächer gehüpft bist!" Während seine Frau nun tief einatmete, um zum Gegenschlag auszuholen, traf sein Blick den von Natsuki und er zwinkerte seiner Tochter heimlich zu, nickte mit dem Kopf Richtung Kinderzimmer. Sie verstand sofort. "DU hast doch nichts anderes gemacht!", warf Marron ihm vor, deutete anklagend auf ihn und Natsuki presste sich hinter Marron's Rücken vorbei in ihr Zimmer. "Wer musste dir denn ständig aus der Patsche helfen?", konterte Chiaki gekonnt und schmunzelte leicht. "Na, du bestimmt nicht", murmelte Marron pikiert, war aber nicht mehr so aufgebracht wie noch vor einigen Minuten, obwohl sie genau wusste, dass die Version, die sie hier zum Besten gab, nicht gerade der Wahrheit entsprach. Aber wie konnte sie ein Vorbild für ihre Tochter sein, wenn sie sich früher selbst in gefährlichen Gegenden rumgetrieben hatte? Das hatte sie ja nicht aus reinem Spaß an der Freude gemacht! "Doch", bestand Chiaki seelenruhig auf sein Recht. "Hättest du mich nicht gehabt, wärst du direkt am ersten Abend als Jeanne aufgeflogen", neckte er sie, wohl wissend, dass das nun ebenfalls nicht die Wahrheit war. Jeanne war ziemlich flink und clever gewesen damals, aber er konnte es manchmal nicht lassen, seine Frau ein bisschen zu ärgern. Diesmal musste auch Marron grinsen. "Bild dir das ruhig ein, Mister Oberschlau", sagte sie und stolzierte erhobenen Hauptes am ihm vorbei. "Du kannst doch bloß den Gedanken nicht ertragen, dass ich auch ohne dich gut zurechtgekommen wäre", fügte sie in einem spielerisch überheblichem Tonfall hinzu, doch bevor Chiaki den Mund aufmachen konnte, fuhr sie auch schon fort. "Genauso wie du denkst, deine Tochter wäre eben gerade auf dich angewiesen gewesen, um vor ihrer Furie von Mutter zu fliehen." Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und Chiaki hob schuldbewusst die Schultern. "Erwischt", gab er dann lachend zu und Marron schüttelte nur belustigt den Kopf. "Ich werde morgen früh trotzdem ein ernstes Wörtchen mit ihr reden, das weißt du", warnte sie ihn vor. "Und was willst du ihr sagen?", hakte Chiaki nach. "Dass sie das Verhalten ihrer Eltern nicht nachahmen soll?", witzelte er. "Genau das werde ich ihr sagen", erwiderte Marron ruhig. "Und du solltest ihr das besser auch eintrichtern, wenn du mich nicht jeden Abend tausend Tode sterben lassen willst!", drohte sie ihm. Chiaki überlegte einen Moment. Auf so einen stressigen Abend und eine so aufgebrachte Marron wie heute legte er nicht besonders großen Wert. Er nickte seufzend. "Wie du willst..." Seine durchsetzungsfähige Ehefrau hatte mal wieder den Sieg davongetragen. "Der Kirschkuchen kommt auf den Tisch, Natsuki. Und der Schokoladenkuchen ist jetzt auch fertig. Chiaki, hol ihn bitte aus dem Backofen. Oh, und... autsch!" Marron riss ihre Hand zurück, nachdem sie sie unter den vermeintlich kalten Wasserstrahl gesteckt hatte. Der entpuppte sich leider als kochend heiß. Doch sie ließ sich davon nicht beirren. "Würdest du ihn bitte noch anschneiden?", delegierte sie ihre Tochter weiter und hielt ihre Hand nun unter echtes kaltes Wasser, um sie etwas abzukühlen. Wortlos nahm Natsuki ein Messer und schnitt den Kirschkuchen sauber in viele, ähnlich große Stücke, brachte das Gebäck dann ins Esszimmer, wo der Tisch schon fast gedeckt war. Sie hätte sich gerne kurz hingesetzt oder ins Bett gelegt, aber es gab viel zu tun und das Mädchen fühlte sich mittlerweile wie ein willenloser Roboter, der alles erledigte, wozu er abkommandiert wurde. Normalerweise half sie ja sehr gern, vor allem, wenn es ihr Geburtstag war, aber heute war ihr einfach nur nach träumen zumute. So richtig anwesend war sie sowieso nicht und sich auf die Arbeit konzentrieren konnte sie auch nicht, denn ihr kam alles noch absolut surreal vor, als bewege sie sich in einer Seifenblase, abgeschnitten von der ganzen Außenwelt. Es war kein schlechtes Gefühl, im Gegenteil... sie fühlte sich, als sei sie unter Wasser, abgeschieden von jeglicher Hektik, jeglichem Lärm, als ob sie schwebte, sie fühlte sich, als sei sie... Allein bei dem bloßen Gedanken daran wurde sie schon rot und musste leise vor sich hin lächeln. Verliebt. "...Sklaventreiberin", murmelte jemand hinter ihr und holte sie somit wieder in die Wirklichkeit zurück. Chiaki hatte das Esszimmer betreten und trug den gut duftenden Schokoladenkuchen herein, seine Finger über und über mit Pflastern bedeckt. Leidend blickte er seine Tochter an, die erst einen fragenden Blick auf seine Hände warf und ihm schließlich denselben schenkte. "Mensch, Papa... du flickst ständig Leute zusammen und rettest Leben und so und kannst nicht einmal einen Kuchen aus dem Ofen holen?", fragte sie ungläubig, fast schon belustigt. Chiaki schaute sie grimmig an. "Erstens", begann er, "bin ich kein Feuerwehrmann und muss die Menschen nicht aus der Feuerhölle retten!" Er klang ganz schön eingeschnappt. "Zweitens", fuhr er fort, "verbrenn ich mir an meinen Patienten nicht die Finger. Und Drittens", fügte er so würdevoll wie möglich hinzu, "hat mir niemand gesagt, dass ich dafür Topflappen brauche!" Er platzierte den heißen Kuchen auf dem Tisch und rauschte wie eine beleidigte Diva ab, während Natsuki ihm zärtlich nachschaute. Wie sollte sie ihm bloß erklären, dass sie... dass sie verliebt war? In Shinji? Katastrophe hoch zwei... Es klopfte. Natsuki holte tief Luft. Gleich würde sie ihm wieder gegenüberstehen... ob sie dafür schon bereit war? Ihre Handflächen waren feucht und sie musste sich fast schon zwingen, ruhig zu bleiben und nicht dem Fluchtimpuls zu folgen, der sich in ihr breit machte. Es war eine Sache, jemanden bei Nacht zu küssen und Hand in Hand spazieren zu gehen, aber wie würde die ganze Sache bei Tageslicht aussehen? Plötzlich war es ihr sehr unangenehm, was die letzte Nacht passiert ist. Sie wollte nicht an diese Tür gehen. Und gleichzeitig wollte sie es auch. "Nanu, Natsuki, bist du zur Salzsäule erstarrt?" Marron eilte an ihr vorbei zur Tür und öffnete diese ohne Vorwarnung, ohne ihr noch etwas Zeit zu geben. Machte den Blick auf die vollkommen unvorbereitete Natsuki frei. Entsetzt sog sie die Luft ein - und seufzte erleichtert auf, als nur ihr Opa Kaiki im Türrahmen zu sehen war. Der wesentlich ältere Mann war seit kurzem in den Ruhestand gegangen, trieb sich aber, zu Chiaki's Unmut, immer noch im Krankenhaus herum und mischte sich überall ein, wo man ihn brauchte und auch da, wo nicht. Chiaki's Krankenhausalltag bestand zur Zeit hauptsächlich darin, seinen Vater durch das Hospital zu jagen und ihn zu maßregeln. Aber dieser hatte seinen eigenen Kopf, so wie scheinbar jeder aus der Familie der Nagoya's. "Natsuukiii-chan", rief er freudig aus und kam mit ausgebreiteten Armen auf seine Enkeltochter zugeeilt, drückte sie fest an sich und als sie über seine Schulter hinwegblickte, stockte ihr nun wirklich der Atem. Miyako, Yamato und Shinji waren wohl gleichzeitig mit ihrem Großvater angekommen. Wie erstarrt wandte sie sich von der Nachbarsfamilie ab und hielt sich nah an ihrem Großvater, während Marron die Minazuki's begrüßte und ihr schließlich einen auffordernden Blick zuwarf, der ihr sagen sollte "Sei so höflich und sag Guten Tag!". Natsuki trat näher. "Guten Tag", sagte sie so förmlich, als sähe sie Miyako und Yamato zum ersten Mal, vermied es allerdings, sich in irgendeiner Art und Weise an Shinji zu wenden. Das alles war wirklich seltsam, total merkwürdig. Vielleicht hätte sie nicht so ein großes Problem mit seiner Anwesenheit gehabt, wenn sie nicht von einem halben Dutzend Erwachsenen umgeben wären. Miyako lächelte und umarmte das Mädchen ebenfalls und Yamato übergab ihr ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen. "Herzlichen Glückwunsch", wünschte er ihr, Miyako fiel ihm allerdings ins Wort. "Wir hoffen, es gefällt dir." Natsuki nickte und bedankte sich höflich, jedoch wurden alle durch das erneute Klopfen an der Tür abgelenkt. Marron's Eltern, Korron und Takumi, waren soeben erschienen. Yamato, der der Tür am nächsten stand, griff nach der Türklinke und öffnete. "Huch, hier wird es langsam eng", lachte Marron. "Kommt doch bitte ins Wohnzimmer, ich fürchte, wir passen hier nicht alle rein", bat sie und führte Miyako, Kaiki, Yamato und Shinji aus der engen Diele in das Wohnzimmer. "Hallo Oma, Opa!", rief Natsuki erleichtert, was nicht zuletzt an Shinji's Verschwinden aus ihrem Blickfeld lag. "Hallo, Schätzchen!", begrüßten die beiden ihre einzige Enkelin und auch hier mangelte es nicht an ausgiebigen Umarmungen. "Wir haben uns zwar gestern erst gesehen", setzte Korron an, "aber ich hab dich trotzdem schon vermisst." Sie lächelte die Sechzehnjährige liebevoll an und Natsuki erwiderte das Lächeln. Ihr Großvater strich ihr sanft über die Haare und drückte ihr eine kunstvoll gestaltete Geschenktüte in die Hand. "Alles Gute zum Geburtstag, Engelchen", wünschte er. "Viel Erfolg in der Liebe dieses Jahr", fügte Korron hinzu und zwinkerte ihrer fassungslosen Enkelin zu. "Oma!", rief diese empört aus. Wie kam sie nur auf solche Ideen?! "Hey..." Ein bisschen erschrocken drehte sich Natsuki um. Sie war auf den Balkon gegangen, um frische Luft zu schnappen, doch anscheinend hatte Shinji das mitbekommen und war ihr gefolgt. Es war ein äußerst merkwürdiger Nachmittag gewesen und Natsuki hatte sich die meiste Zeit aus den Gesprächen herausgehalten. Wenn sie jedoch etwas zur Unterhaltung beitrug, achtete sie sorgfältig darauf, dass sie sich nicht an Shinji wandte. Sie stocherte in ihrem Kuchen herum und das flaue, aber schöne Gefühl in ihrem Magen erlaubte es ihr nicht, mehr herunterzuschlucken als nur ein paar Stückchen. Hin und wieder hatten sich ihre Blicke getroffen und sie lächelte ihn kurz schüchtern an, bevor sie sich sofort wieder abwandte und ihr Lächeln zu verstecken suchte. Ihr war selbst neu, wie zurückhaltend und scheu sie war, doch sie hoffte, dass sich das mit der Zeit legen würde. "Hi...", murmelte Natsuki und drehte sich wieder zum Geländer um, ließ ihren Blick über die Stadt schweifen. Shinji gesellte sich zu ihr. "Wir sollten reden, findest du nicht?", fragte er behutsam, ohne sie anzusehen. Er hatte das Gefühl, das Mädchen brauchte momentan sehr viel Zeit, um gewisse Sachen zu verarbeiten. Sie nickte langsam. "Ja... ja, vielleicht..." Sehr überzeugt klang das nicht, das wusste sie, aber sie wusste ebenso, dass dieses Gespräch unvermeidlich war. Am letzten Abend hatten beide nicht sonderlich viel geredet und sie hatten viel zu klären. "Vielleicht?", hakte Shinji mit einem schiefen Grinsen nach. Auch er war überrascht davon, wie schüchtern die Sechzehnjährige sein konnte, aber andererseits war es nur allzu verständlich... Er war sich sicher, dass er der Erste war, den Natsuki so nah hat an sich herankommen lassen. Und er musste zugeben, er war ziemlich stolz darauf. "Mhm", machte Natsuki und Shinji merkte schon, dass er es selbst in die Hand nehmen musste, wenn er einen Fortschritt sehen wollte. "Na gut. Äh... soll ich dich heute Abend abholen? Wir können... ich weiß auch nicht. Was du willst...", bot er unschlüssig an. Na gut... er wollte ein Date. Eine Verabredung. Ein Rendezvous, aber wollte es nicht so offensichtlich machen, denn Natsuki schien immer noch unsicher. Er wollte sie nicht verletzen, indem er zu ungestüm an die Sache ranging, oder zu schnell, er wollte sie nicht verängstigen, nicht verscheuchen. Und er wollte keine Zurückweisung. Schon wieder! "Nein, nein!", widersprach sie schnell und schaute ihn dieses Mal länger als nur für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. In ihrem Gesicht stand teilweise Furcht, teilweise Empörung geschrieben und Shinji befürchtete schon das Allerschlimmste. "Nicht abholen", bat sie und blickte ihn bittend an. "Meine Eltern..." "Oh, ach so... okay." Der junge Mann entspannte sich wieder und nickte. "Dann äh...", setzte er an, doch Natsuki fiel ihm ins Wort. "Ich muss noch beim Aufräumen helfen, also..." Es schien, als suchte sie nach Worten. "Kann ich... einfach... mh, vorbeikommen, wenn ich fertig bin?", fragte sie zaghaft, als sei sie sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. "Natürlich", versicherte Shinji ihr energisch und konnte sein Glück kaum fassen. Endlich, endlich hatte das Schicksal doch noch Erbarmen mit ihm gehabt! Hat ja auch lang genug gedauert. Im Hinausgehen grinste er ihr freundlich zu und zu seiner großen Freude erwiderte sie es mit einem strahlenden Lächeln. Mit einem Blick auf die Uhr stellte Natsuki fest, dass es schon viel später war, als sie angenommen hatte. Sie hatte sich wirklich viel Zeit genommen und es immer wieder hinausgezögert, denn auch wenn sie es äußerst ungern zugab: Sie war nervös wie noch nie! Dabei war es nur Shinji, versuchte sie sich immer wieder einzureden. Der Shinji, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, beschimpfte und beleidigte. Der Shinji, der fast jeden Morgen bei ihr am Frühstückstisch saß und sogar ihretwegen seinen besten Freund verprügelt hatte... Sie seufzte. Wenn sie allerdings noch mehr Zeit verlor, würden ihre Eltern ihr verbieten, den Abend noch das Haus zu verlassen. Sie musste an die Gardinenpredigt denken, die sie ihr heute morgen gehalten haben. Nun ja... viel mehr hatte Marron ihren Unmut ausgesprochen und Chiaki hatte immer wieder mit dem Kopf genickt, jedoch nur, solange er in Marron's Blickfeld war. Kaum hatte diese sich nämlich abgewandt, schickte er seiner Tochter leidende Blicke zu und grinste sie an. Das endete leider damit, dass er am Ende derjenige war, der eine Standpauke gehalten bekam und zwar von einer noch viel wütenderen und dazu noch gestressten Marron. Den Rest des Tages war sie nicht besonders gut auf ihn zu sprechen gewesen und so kam es auch dazu, dass er zu lauter undankbaren Aufgaben abkommandiert wurde. "Schatz, wenn du noch weg willst, musst du dich aber beeilen..." Marron, die ihren Kopf ins offene Badezimmer gesteckt hatte, wo Natsuki unschlüssig vor dem Spiegel stand, warf einen Blick auf die Uhr. "Bitte bleib nicht so lange weg, in Ordnung?" "Versprochen", versicherte die nun Sechzehnjährige ihrer besorgten Mutter und war froh, dass diese ihr trotzdem noch so viel Vertrauen schenkte. Sie wusste allerdings auch, dass sich das ganz schnell ändern konnte, deshalb würde sie es war nicht darauf ankommen lassen. Das gestern war wirklich ein Versehen gewesen und sie hatte nicht nachgedacht, ein zweites Mal würde ihr das bestimmt nicht passieren. Marron nickte und verschwand wieder aus dem Bad, tauchte jedoch schon einige Sekunden später mit einem verschmitztem Lächeln wieder auf. "Und hör endlich auf an deinen Haaren herumzuzupfen, du siehst schon bezaubernd genug aus", riet sie ihr zwinkernd Natsuki atmete tief durch und warf noch einmal einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel. Mit einem kritischen Stirnrunzeln strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich endlich zum Gehen um, nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken und verließ die Wohnung, nicht ohne sich noch einmal von ihren Eltern zu verabschieden. Sie hatte ihnen nicht gesagt, wohin sie ging oder was sie vorhatte - sie wusste es ja selbst auch nicht so genau - aber beide hatten sie auch nicht danach gefragt. Alles, was sie verlangt haben, war lediglich, dass sie nicht allzu spät wieder zu Hause auftauchte und damit konnte sich Natsuki sehr gut anfreunden. Miyako öffnete. Das war ja klar. Sie schien gar nicht so überrascht, wie Natsuki es vermuten würde. Anscheinend wurde sie schon von Shinji unterrichtet, das Mädchen fragte sich nur, was GENAU er seiner Mutter erzählt hatte. Irgendwie war das doch alles recht... unangenehm. Da stand sie nun plötzlich vor der Frau, dessen Sohn sie jahrelang hatte - wenn auch unbewusst - abblitzen lassen und wollte ihren Sohn abholen, doch Miyako schien gar nicht wütend oder auf andere Weise schlecht auf sie zu sprechen zu sein. Im Gegenteil, sie schenkte ihr ein warmherziges Lächeln und gab ihr die Auskunft, Natsuki's Nervosität geflissentlich übersehend, dass Shinji sofort bei ihr sein würde. "Das ist so schön", begann sie und seufzte erleichtert, "dass ihr euch endlich vertragen habt. Ich habe ja schon nicht mehr dran geglaubt." Sie lachte. "Vor allem, weil er doch sehr bald ins Ausland geht. Das ist sicherlich eine große Motivation für ihn, dort nicht den Hampelmann zu spielen...", plauderte Miyako glücklich und nickte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Natsuki stand nur wie vom Blitz getroffen da. Ins Ausland? Was redete Miyako da denn bloß? "Wie bitte?", fragte sie mehr als verwirrt nach, doch Miyako missverstand ihre Irritation. "Na ja, ich meine, hoffentlich wird er das Jahr auch dazu nutzen, um zu lernen, anstatt vor seinen Problem wegzulaufen...", versuchte sie zu erklären, doch Natsuki schüttelte nur verständnislos den Kopf. Das Jahr? Weglaufen? "Ah, da bist du ja." Shinji's Mutter wurde davon abgelenkt, dass dieser in der Diele auftauchte und in seine Schuhe schlüpfte. Sie lächelte ihm noch mal kurz zu und verschwand wieder ins Innere der Wohnung, was Natsuki gar nicht mehr mitbekam. Ihre Gedanken überschlugen sich und um keinen davon zu verlieren, hatte sie konzentriert die Fußmatte fixiert und versuchte, das, was sie eben gehört hatte, zu einer sinnvollen Information zusammenzufassen. Die sah bis jetzt wie folgt aus: Shinji ging für ein Jahr ins Ausland. Sehr bald. Das hatte Miyako doch gesagt, oder? Es gab doch nichts Missverständliches daran? "Natsuki?" Sie schreckte auf und sah Shinji ins Angesicht. Er lächelte sie munter an und fischte nach seiner Jacke, das Mädchen allerdings bewegte sich nicht vom Fleck, sie schenkte ihm auch kein Lächeln, sie sah ihn einfach nur fassungslos an. Shinji schob es auf ihre Schüchternheit. "Wir können gehen", sagte er freundlich und wollte gerade einen Schritt auf sie zu machen, als sie nach der Türklinke griff und ihm mit einem letzten, eisigen Blick seine eigene Haustür vor der Nase zuschlug. Kapitel 24: Endlich für immer ----------------------------- Irritiert stand Shinji vor der geschlossenen Tür und runzelte verständnislos die Stirn. Was sollte das jetzt? Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Aber wie konnte er etwas falsch machen, wenn er gar nichts getan hatte? Er hatte doch erst ein paar Worte mir ihr geredet? Der junge Mann beschloss, dass er entweder noch lange rumrätseln oder zu den Nagoya's gehen und das Mädchen fragen konnte. Was würde ihm auch anderes übrig bleiben? Immer noch leicht durcheinander trat er auf den Flur und wollte schon zu der Wohnung von Marron und Chiaki rübergehen, als er aus dem Treppenhaus dumpfe Schritte vernahm, die immer leiser wurden. Die Sechzehnjährige hatte sich wohl dazu entschlossen, den Fluchtweg ins Freie zu bevorzugen. Shinji hechtete zum Aufzug, der sich momentan glücklicherweise im siebten Stockwerk befand, und drückte mehrmals auf den Knopf, der für das Erdgeschoss bestimmt war. Der Lift setzte sich sogleich in Bewegung und brachte ihn nur wenige Sekunden später auf die gewünschte Etage. Der Zwanzigjährige stürzte in den Flur und bekam gerade noch mit, wie die Eingangstür ins Schloss fiel. Ohne lange zu zögern rannte er aus dem Haus und sah sich um. Natsuki lehnte an der spärlich beleuchteten Hauswand und strich sich mit dem Handrücken über die Augen. Weinte sie? "Natsuki!", rief Shinji ihr ratlos entgegen - der Junge hatte keine Ahnung, was hier los war und warum das Mädchen vor ihm flüchtete. Was hatte er falsch gemacht? Als sie ihn hörte, schaute sie erschrocken in seine Richtung und stieß sich impulsartig von der Wand ab - sie hatte nicht damit gerechnet, dass er hinter ihr hergerannt kam. Doch noch bevor sie ihrem Verlangen, wieder die Flucht zu ergreifen, folgen konnte, war Shinji mit einem Satz bei ihr und griff nach ihrem Handgelenk, hielt das Mädchen fest. "Natsuki...", wiederholte er noch einmal, diesmal leiser und versuchte, ihren Blick einzufangen, doch sie hatte ihr Gesicht von ihm abgewandt und starrte mit einem verbissenen Ausdruck auf den Boden. "Lass los", befahl sie ihm kalt und riss ihre Hand los, ohne abzuwarten, ob er ihrer Forderung Folge leisten würde, rührte sich jedoch, zu seiner Erleichterung, nicht vom Fleck. "Was willst du?", fragte sie dann und schaute ihn endlich an, ihr Blick kühl, ihre Augen feucht. Absolut aus dem Konzept gebracht fuhr sich Shinji mit einer Hand durch seine Haare und bedachte das Mädchen mit einem orientierungslosen Blick, vollkommen verunsichert von ihrer Reaktion. "Was... was ist denn los mit dir...?", stammelte er, verlor völlig seine Selbstsicherheit und ließ seine Arme hilflos sinken. Woher kam nur dieser Stimmungswandel bei Natsuki? Und wieso redete sie nicht mit ihm darüber? Das Mädchen schnaubte nur verächtlich. "Phh. Das kann dir doch egal sein." "Wieso sollte es mir egal sein?", wollte er verständnislos wissen und schüttelte den Kopf. Langsam aber sicher wurde er ein bisschen wütend. Frauen! Wieso sagten sie nie, was sie wollten? Er war doch schließlich kein Hellseher, der Gedanken lesen konnte. "Du haust doch ab. Also kann es dir auch egal sein", half Natsuki ihm auf die Sprünge, ihr Tonfall hart und herablassend. Sie verschränkte schützend die Arme vor der Brust und sah ihn kritisch an, doch Shinji wusste immer noch nicht, wovon sie da eigentlich sprach. Dachte sie etwa, er würde sie küssen und sich dann aus dem Staun machen? Er fragte sich, wann er ihr dieses Bild von sich vermittelt haben konnte? In der kurzen Zeitspanne, in der sie vor seiner Tür stand und er die Jacke angezogen hatte? Wie kamen Mädchen nur manchmal auf so dumme Gedanken? "Ich habe nicht vor, abzuhauen. Wie kommst du überhaupt darauf?", fragte er entgeistert, doch Natsuki ließ sich nicht von ihren Ideen abbringen. Sie blickte ihn weiterhin spöttisch an. "Oh bitte", höhnte sie. "Dann hat sich deine Mutter das mit dem Ausland aus den Fingern gesogen oder was?" Der Groschen fiel. "Oh." Shinji erstarrte. "Das wusstest du nicht?", hakte er nach einem Augenblick des Schweigens nach und sah das Mädchen zweifelnd an, doch dieser harte Ausdruck verschwand noch immer nicht aus ihrem hübschen Antlitz. "Woher denn?", schnappte sie erbost zurück, entknotete ihre Arme und ballte die Hände zu Fäusten. Machte er Witze? Woher sollte sie etwas wissen, wenn er es ihr nicht sagte? "Ich dachte, deine Eltern haben es dir gesagt?", gab Shinji kleinlaut zu und zuckte ratlos mit den Schultern. Immerhin hatte er Marron und Chiaki davon erzählt und wenn er ehrlich war, hatte er ein bisschen angenommen, dass Natsuki gemerkt hatte, wie wichtig er ihr war, als sie die Nachricht erfahren hatte. Anscheinend war dem doch nicht so. Er zog die Nase etwas kraus. "Meine Eltern? Denen hast du es also auch schon erzählt?", fuhr sie ihn an und wurde von Wort zu Wort immer zorniger. "Schön!", rief sie und ignorierte seine verzweifelten Versuche, die Sache klarzustellen. "Schön, dass ich die Letzte bin, der hier etwas erzählt wird." Sie sah ihm mit ihrem kalten Blick genau in die Augen. "Wenn überhaupt", sagte sie dann ruhig, tonlos und wollte sich zum Gehen wenden, als Shinji endgültig die Geduld verlor und seine Arme links und rechts von ihrem Kopf gegen die Hauswand stemmte und sie somit am Flüchten hinderte. "Was...? Lass...", setzte Natsuki irritiert an, doch er schnitt ihr sofort das Wort ab. "Nein." Ernst blickte ihr Nachbar sie an und sie verstummte augenblicklich, verspannte sich und sah ängstlich zu ihm auf. "Es tut mir leid", sagte er aufrichtig und bedauernd, ohne den Blickkontakt zu dem Mädchen zu verlieren. "Wirklich, ich wusste das nicht. Ich habe mich für ein Auslandssemester in England eingeschrieben und wurde genommen. Ich..." Er suchte nach Worten. "Ich bin nur ein paar Monate weg, aber wenn... Ich würde verstehen, wenn du nicht so lange warten willst..." Es brach ihm fast das Herz, so etwas zu sagen, doch er wusste, dass er nicht von ihr verlangen konnte, auf ihn zu warten. Er konnte nur hoffen, dass sie dieses Angebot ablehnen würde, oh, wie sehr er das hoffte... Natsuki schwieg eine Weile, betrachtete seine Jackenknöpfe und überlegte. "Miyako hat von einem Jahr geredet...", murmelte sie dann schließlich, sich immer noch unwohl fühlend, dass Shinji sie so zwischen sich und der Wand gefangen hielt. "Nein, das ist nicht wahr", korrigierte er ruhig. "Es sind nur wenige Monate." Natsuki nickte langsam, immer noch an die Wand gepresst, und wich seinem Blick aus. Sie schwieg eine Weile und Shinji wartete geduldig auf das, was als nächstes kommen würde. "Ich bin vier Jahre jünger...", äußerte sie schließlich ihre Bedenken, sich wohl bewusst, dass diese nun vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen waren, doch sie konnte ihre Zweifel nicht länger für sich behalte. Das Mädchen wagte es, ihm einen schüchternen Blick zuzuwerfen, doch Shinji sah jetzt nur noch extrem überrascht aus und gar nicht mehr aufgebracht. Damit hatte er nun absolut nicht gerechnet "Das macht dir Sorgen?!", fragte er sie perplex und sie nickte zaghaft. Fast schon überfordert blinzelte er sie an, als sie weiter sprach. "Taiki hat sich darüber auch lustig gemacht und deine Freunde..." "Vergiss Taiki!", fiel Shinji ihr energisch ins Wort. "Er ist ein Vollidiot! Vergiss alle. Es ist mir vollkommen egal, wer was sagt", erklärte er ihr nachdrücklich, während sie den Blick wieder bedrückt auf den Boden gerichtet hatte. Er löst seinen Arm von der Wand und hob zärtlich ihr Kinn an, sodass sie gezwungen war, ihn anzusehen. "Es interessiert mich nicht", sagte er noch einmal und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln, ließ seine Hand wieder sinken, während sie nervös am Reißverschluss ihrer Jacke herumnestelte. "Okay", nickte sie dann, etwas ermutigt. "Mich auch nicht." Sie lächelte und entspannte sich langsam. Warum hatte sie nicht sofort mit Shinji geredet? Er war verständnisvoll und wusste es, jeden Zweifel zu beseitigen. Sie würde in Zukunft wohl erst noch lernen müssen, ihm richtig zu vertrauen. Dann kam ihr ein Gedanke. "Da hast du dir aber einen echt schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um zu verreisen...", machte sie ihn aufmerksam und musste beinahe schief lächeln, angesichts der Ironie ihrer eigenen Worte und auch Shinji lachte leise auf, froh, dass sie nicht mehr so wütend auf ihn war. "Ich konnte ja nicht wissen, dass du ausgerechnet jetzt darauf kommst, was du über die Jahre alles an mir verpasst hast", scherzte er hochnäsig und bekam prompt einen Boxhieb gegen die Schulter. "Das kann ja nicht so viel gewesen sein", konterte Natsuki und hob skeptisch die Augenbrauen, rang sich zu einem Grinsen durch, auch wenn der Gedanke, Shinji würde sie bald verlassen, sie sehr traurig machte. "Da solltest du mal Haruko fragen, wenn du mir nicht glaubst", witzelte er weiter und warf ihr einen vielsagenden Blick zu, musste jedoch einen weiteren Schlag einstecken, was ihm aber vollkommen unbeeindruckt ließ. "Blödmann", schimpfte sie leicht erbost angesichts der Tatsache, dass der Zwanzigjährige sie wohl ganz offensichtlich eifersüchtig machen wollte. Leider zog seine Masche tatsächlich und sich dessen vollkommen bewusst, lächelte er sie süffisant und selbstsicher an, während er ihr ganz nahe kam. Langsam zog Shinji das Mädchen an sich heran und schweigend ließ sie es geschehen, ohne sich zu wehren oder zu widersprechen. Im kläglichen Licht einer Straßenlaterne küssten sie sich und als sie voneinander ließen, schimmerten die Wangen des Mädchen rosa und ihre dunklen Augen glitzerten mit den Sternen um die Wetter. "Hast du gesehen, wie sie ihn angesehen hat?", wetterte Chiaki aufgebracht, während Marron, mit einem Buch auf dem Schoß, entspannt auf der Couch saß und versuchte, ihren Ehemann, der wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Wohnzimmer rannte, so gut es ging zu ignorieren. "Ich möchte nur zu gern wissen, mit wem sie sich heute Abend trifft! Bestimmt mit I H M!" Seine Ehefrau klappte seufzend ihr Buch zu und bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick, sagte jedoch nichts. Chiaki, der schon seit geraumer Zeit nervös im Zimmer hin und her tigerte und sich ganz offensichtlich über Shinji aufregte, ließ nicht locker. "Wie sie ihn angesehen hat! Als wäre er... ich weiß auch nicht! Hast du es gesehen?", wollte er wieder wissen und Marron nickte gequält. "Ich habe es gesehen...", bestätigte sie und wie sie vermutet hatte, brachte das ihren Ehemann nur noch mehr auf. Er holte tief Luft für sein nächstes Donnerwetter, doch Marron unterbrach. "Das ist doch nicht so schlimm", versuchte sie ihn zu beruhigen. "Außerdem, du weißt doch nicht, ob..." "Nein!", fiel er ihr wiederum ins Wort. "Das war genau derselbe Blick wie... wie du, wenn du mich so anguckst!", versuchte er ihr verzweifelt klarzumachen und sie lächelte wortlos. "Sie... irgendwas hat er mir ihr angestellt! Letzte Woche hat sie ihn noch gehasst!", redete Chiaki sich verzweifelt ein und kratzte sich ratlos am Hinterkopf, blieb dieses Mal stehen und sah seine Frau aufmerksam an, die immer noch weise vor sich hin lächelte. "Das hat sie uns zumindest gesagt", bestätigte sie nickend und er kniff misstrauisch die Augen zusammen. "Was soll das heißen?" "Das soll heißen", erklärte Marron gleichmütig, "dass sie es selbst gedacht hat." Chiaki überlegte kurz und schüttelte dann entschieden den Kopf. "Das kann nicht richtig sein. Wer weiß, was er gerade mit ihr macht?", entrüstete sich der Chefarzt und Marron merkte, wie er sich immer in seine Wahnvorstellungen reinsteigerte. "Chiaki!", rief sie warnend, um ihn wieder auf den Teppichboden der Tatsachen zurückzuholen. "Hör auf so etwas zu sagen. Wenn du schon Shinji, der früher mal dein bester Freund war und wirklich alles für deine Tochter tun würde, wenn ich dich daran erinnern darf, nicht vertraust, dann vertraue wenigstens Natsuki!", versuchte sie ihm einzutrichtern und man merkte richtiggehend, wie Chiaki mit sich rang. "Ja, aber..." Er verfiel nun in einen jammernden Tonfall. "Sie ist erst 16! Das kann nie im Leben gut gehen." Dieses Mal schnaubte Marron verächtlich auf. "Wir waren auch 'erst 16', findest du etwa, das ist nicht gut gegangen?", wollte sie abweisend von ihm wissen und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Unfassbar, was ihr Ehemann hier von sich gab! "So habe ich das nicht gemeint", stöhnte Chiaki teils hilflos, teils genervt und wusste nicht, ob er auf Marron wütend sein sollte, weil sie ihm seine eigenen Worte im Mund herumdrehte oder auf sich selbst, weil er wieder mal zu vorschnell geredet hatte, ohne vorher nachzudenken. "So?", fragte Marron kühl und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. "Ja und das weißt du auch! Du bist das Beste, was mir jemals passiert ist, aber Natsuki ist doch... noch so klein..." "So klein ist sie gar nicht mehr, Chiaki", versuchte sie ihm wieder einigermaßen versöhnt, begreiflich zu machen, doch er seufzte nur und ließ sich erschöpft neben sie auf das Sofa sinken. "Ich weiß...", gab er leidend zu und ließ den Kopf hängen und bevor er weitersprechen konnte, strich Marron ihm zärtlich durch die Haare. "Und das ist ganz schön hart, nicht wahr?", hakte sie liebevoll nach und quittierte sein müdes Nicken mit einem verständnisvollen Lächeln, das sich schließlich in ein gemeines Grinsen verwandelte, als ihr eine neue Idee kam. "Keine Sorge. Mit ein bisschen Glück haben wir bald wieder kleine Kinder im Hause", neckte sie ihren ermatteten Ehemann, der sie sofort entsetzt anschaute, als würde er für einen kurzen Moment ernsthaft überlegen, Shinji vom Balkon zu schubsen. "Sag doch sowas nicht?!", rief er vollkommen erschüttert, doch Marron lachte nur und tätschelte tröstend sein Knie, bevor sie sich wieder ihr Buch nahm und die Seite suchte, auf der sie stehen geblieben war. "Wann?", fragte sie leise, mit heiserer Stimme und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust, fühlte sich sicher und beschützt und wusste, dass sie das, solange sie bei ihm war, auch immer sein würde. Shinji zögerte kurz. "Am Montag...", antwortete er und strich über ihre Haare, die so wunderbar dufteten. Natsuki schloss leidvoll die Augen. Sie hatte nicht erwartet, dass es schon so bald sein würde. "Am Montag schon...", wiederholte sie flüsternd, den Schmerz unterdrückend und spürte, wie er sie tröstend fester an sich drückte. "Ja, aber", setzte Shinji hoffnungsvoll an, "es dauert ja nicht so lange und ich komme pünktlich zum neuen Jahr wieder zurück." Natsuki lächelte gequält in sein Hemd hinein und war froh, dass er es nicht sehen konnte. Sie wollte es ihm nicht unnötig schwerer machen, denn sie wusste, nicht nur sie hatte daran zu knabbern, es würde sicherlich auch ihm nicht leicht fallen. Wahrscheinlich war es für ihn sogar noch härter, denn während sie erst seit kurzer Zeit Gefühle für ihn hegte, hatte er sich schon seit ganzes Leben lag damit geplagt. "Ja", bestätigte sie, so zuversichtlich, wie sie nur konnte. "Ja, es dauert nicht so lange." "Bis dahin..." Shinji wurde ganz mulmig. "Bis dahin kannst du ja, na, wie gesagt, du weißt schon..." "Nein", unterbrach sie ihn bestimmt. "Nein. Das brauche ich nicht. Ich werde warten", versicherte die Sechzehnjährige entschieden und Shinji fiel ein ganzer Steinbruch vom Herzen. "Ich auch", sagte er erleichtert und Natsuki lachte. "Das will ich doch schwer hoffen", zwinkerte sie ihm zu, griff nach seiner Hand und zog ihn die Straße entlang, zu dem Spaziergang, den sie für den heutigen Abend eigentlich geplant hatten. "Du weißt..." Er stockte. Natsuki blickte ihn fragend an, während sie seine Hand nicht losließ. "Du weißt, du müsstest es nur sagen und ich bleibe." Shinji sah sie durchdringend an, doch Natsuki schüttelte nur entschlossen den Kopf. "Mach keine Witze. Das ist eine große Chance und ich werde bestimmt die Letzte sein, die dir das vermasselt. Nachher hasst du mich noch dein ganzes Leben lang", winkte sie bestimmt ab, als wollte sie nichts von dem Ganzen wissen. Als würde sie wirklich so dreist sein und ihn aus egoistischen Gründen von seinem Studium abhalten! Sie wusste doch, wie wichtig es für ihn war. Sie konnte warten. Und genau das würde sie auch tun. Shinji schüttelte energisch den Kopf. "Das könnte ich nie!", versicherte er ihr aufrichtig, fast so, als hörte er zum ersten Mal, dass so etwas überhaupt möglich war. Sie hassen? Wie kam das Mädchen nur auf solche Gedanken? "Aber danke...", fügte sie leise lächelnd hinzu und warf ihm einen dankbaren Blick zu. Eine Weile lang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, doch dann durchschnitt Shinji die Stille. "Natsuki-chan?", fragte er und zu Natsuki's Verwunderung hörte sich seine Stimme sehr unsicher an. "Ja?", fragte sie. "Wenn ich wiederkomme..." Er kratzte sich mit der freien Hand an der Wange. "Würdest du dann... mit mir ausgehen?" Wie ein kleiner Junge warf er ihr einen flehenden, sehnsüchtigen Blick zu. Natsuki versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. "Das würde ich sehr gerne", bestätigte sie höflich und musste bei Shinji's begeistertem Gesichtsausdruck grinsen. "Das ist eine Verabredung!", informierte er sie freudestrahlend, als könnte er sein Glück gar nicht mehr fassen, und als sie glücklich nickte, zog er sie in eine dunkle Gasse, wo er mit ihr, abgeschirmt von den ganzen Autos und erleuchteten Fenstern, nicht zum letzten Mal in einen zärtlichen Kuss versank, der die Welt anhielt und beide alles um sich herum vergessen ließ. Und alles, was zu hören war, war der raue Herbstwind, der in den Bäumen rauschte und das Schlagen zweier Herzen, die füreinander bestimmt waren. Dieses Mal für immer. Kapitel 25: Epilog: Leben ------------------------- Die Achtzehnjährige blieb vor einer riesigen Eiche stehen und schaute sich genervt um, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ihre Freundin war eindeutig zu spät, dabei hatten sie es doch eilig. In 15 Minuten mussten sie im Hörsaal 31 zur Einführungsveranstaltung sein, doch sie hatte keine Ahnung, wo sich dieser befand. Naomi hatte den Gebäudeplan und war mit diesem wie vom Erdboden verschluckt! Pech aber auch! Natsuki blickte noch einmal in die Menge. Überall auf dem Universitätsgelände wuselten Studenten herum, die älteren Semester saßen gemütlich im Gras, die Neuen, zu denen sie auch gehörte, liefen nervös hin und her, keiner wusste, was er so recht hier machte und wohin er sollte. Seufzend lehnte sich Natsuki mit dem Rücken an den breiten Baumstamm der Eiche. "Sie kommt nicht mehr", hörte sie eine ihr sehr wohlbekannte Stimme. Natsuki schaute nach rechts und links, doch niemand war zu sehen. Sie runzelte die Stirn. "Hier oben!" Das Mädchen blickte auf. Shinji saß auf einem großen, stabilen Ast und ließ ein Bein herabbaumeln, ein Buch lag auf seinem Schoß. Er grinste schelmisch auf seine Freundin herab, die die Augen verdrehte. "Du bist 22 Jahre alt und hast nichts besseres zu tun, als wie ein kleiner Junge auf Bäume zu klettern?", fragte sie ihn leicht verächtlich, doch er zuckte nur mit den Schultern. "Hier ist es schattig und außerdem ist mir da unten zu viel los", erklärte er gelangweilt und wechselte dann das Thema. "Wo musst du hin?" "Hörsaal 31", antwortete Natsuki ihm gequält. "Und Naomi hat sich mit dem Plan verkrümelt!", schimpfte sie. Shinji grinste. "Die wirst du so schnell auch nicht wiedersehen", prophezeite er und sie schaute ihn fragend an. "Wie meinst du das?" Statt zu antworten, klappte Shinji sein Buch zu und stieß sich im Nullkommanichts von seinem Ast ab. Erschrocken wich Natsuki einen Schritt zurück, als er wohlbehalten neben ihr auf dem Boden ankam. Er klopfte sich seelenruhig den Staub von den Klamotten. "Spinnst du? Du hättest dir was antun können?", brauste sie verärgert auf, doch in ihren Augen stand Sorge geschrieben. Shinji lächelte. "Du solltest dir mehr Sorgen um deine Freundin machen...", sagte er sanft und Natsuki runzelte die Stirn. "Warum?", wollte sie wissen und Shinji nickte mit dem Kopf in Richtung einer kleinen Menschentraube. Natsuki folgte seinem Blick und ihr stockte fast der Atem. Naomi stand da, mit einigen anderen Mädchen, darunter auch Cersia - was sie nie erwartet hätte - und sie alle umringten einen von den älteren Studenten. Aber nicht irgendeinen, nein - dieser hier hatte feuerrotes Haar und ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht. "Oh nein...", stöhnte Natsuki tonlos, ohne den Blick von diesem faszinierendem Schauspiel abzuwenden. Die Mädchen biederten sich dem jungen Mann ja beinahe schon an. Dann wandte sie sich wieder an ihren Freund. "Wieso hast du sie nicht davon abgehalten?", forderte sie, doch er zuckte nur die Schultern. "Das sind deine Freunde, also ist es auch deine Aufgabe, sie zu warnen", erwiderte er grinsend, sich sehr wohl bewusst, dass er wieder dabei war, seine Freundin auf die Palme zu treiben. Das tat er wirklich gern. In Natsuki's Augen blitzte es gefährlich auf. Das kannte er schon. "Außerdem hab ich sie gewarnt, BEIDE, aber glaubst du wirklich, die haben auf mich gehört?", besänftigte er sie, bevor sie ihre brodelnde Wut wieder an ihm auslassen konnte. "Ihr Frauen macht doch immer nur, was ihr wollt", fuhr er weiter fort und schmunzelte, angesichts des naserümpfenden Blickes, den die Achtzehnjährige ihm zuwarf. "Die Mädchen wurden ihm - leider - zugeteilt und Cersia wollte ihn - natürlich - bei der harten Arbeit unterstützen", erklärte er Natsuki trocken, die die kleine Menschengruppe nun misstrauisch beäugte. "Hier bekommt jeder Neuling Einen, der auf ihn aufpasst." Taiki war der Mädchenschwarm wie eh und je, es schien, als hatte sich in den letzten zwei Jahren nichts geändert. Nun, etwas hatte sich geändert. Irgendwie war das Leben angenehmer geworden. Nicht, dass es vorher unangenehm war. Aber nun war es viel... schmerzfreier. Na ja, ausgenommen Natsuki's Boxhiebe, die er immer noch frech grinsend quittierten musste, wenn er sie mal wieder ärgerte. "Oh." Natsuki schaute ihn besorgt an. "Und wem wurde ich zugeteilt? Wieso hat mir das niemand gesagt?", wollte sie wissen. Hier war ja alles total kompliziert und sie blickte schon am ersten Tag überhaupt nicht mehr durch! Woher sollte sie all diese Informationen haben? Woher wussten die anderen es? "Keine Ahnung", sagte Shinji ratlos. "Das ist nicht verpflichtend...", beruhigte er sie. "Außerdem hast du mich!" "Ob mir das weiterhilft...?", äußerte sie zweifelnd und musste lachen, als sie seinen empörten Blick sah. "Sehr witzig", erwiderte er trocken, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Doch bevor sie sich weiternecken konnten, wurden sie unterbrochen. "Shinji Minazuki?" Beide blickten auf. Ein paar Mädchen standen vor ihnen und schauten den 22jährigen fasziniert an, als hätten sie noch niemals zuvor einen männlichen Studenten gesehen. Natsuki würdigten sie keines Blickes. "Ja?", fragte Shinji und lächelte höflich. "Wir sind neu hier", giggelte eines der Mädchen. Es hatte pechschwarze, lange Haare und einen gewagten Ausschnitt. "Und wir haben gehört, du studierst auch Medizin, also... würdest du uns vielleicht ein bisschen herumführen?" Sie klimperte mit den Wimpern und die anderen beiden kicherten nun auch, während sie ihm verstohlene Blicke zuwarfen. Der junge Mann lächelte die drei Neulinge immer noch höflich an. Dann zog er die verblüffte Natsuki näher zu sich heran und legte beschützend seinen Arm um ihre Schultern. Natsuki rollte genervt die Augen, sagte jedoch kein Wort. Die drei Mädchen blickten überrascht zu der Achtzehnjährigen und betrachteten sie abschätzig. In ihren Blicken stand Abneigung geschrieben. "Tut mir leid, ich habe bereits eine andere Aufgabe übernommen", entschuldigte er sich freundlich, ohne etwas von seinem charmanten Lächeln einzubüßen. "Aber dort hinten - der Typ mit den roten Haaren - der macht gleich eine Führung durch die Uni", empfahl er den Dreien und sie drehten sich alle um, um zu sehen, von wem er sprach. Sogleich wuselten sie, ohne die beiden noch einmal anzusehen, zu dem gutaussehenden Taiki, der ganz offensichtlich ihren Ansprüchen genügte. Natsuki machte sich kopfschüttelnd von ihrem Freund los. "Ganz schön dreist von dir, mich dafür zu benutzen, deine ganzen Verehrerinnen loszuwerden", kommentierte sie und warf Shinji einen abfälligen Blick zu, der sie jedoch wieder nur frech angrinste. "Eifersüchtig?", neckte er sie und sie hob missbilligend die Augenbrauen. "Träum weiter." Der 22jährige lachte. "Du kannst mich auch gerne für so was benutzen", bot er ihr großzügig an, aber sie winkte nur ab. "Ich komm auch ganz gut ohne dich zurecht", beschien sie ihm desinteressiert. Shinji machte einen Schritt auf seine äußerst schlagfertige Freundin zu und lächelte. Dann legte er wieder behutsam seinen Arm um sie und schob sie mit sanfter Gewalt in Richtung Hauptgebäude. "Komm, ich bringe dich zu deinem Hörsaal", sagte er liebevoll. "Sonst kommst du noch zu spät." Kapitel 26: Special #1: Catch Your Smile ---------------------------------------- Sorgfältig legte Shinji den letzten Baustein - einen Gelben - auf die Spitze des Bausteingebildes. Mit vor Stolz geschwellter Brust warf er einen bedeutungsvollen Blick zu dem vierjährigen Mädchen, das ihm gegenüber saß und ihn bewundernd anschaute. Ihre Augen leuchteten, lachten. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Shinji schien vor Stolz fast zu platzen - diese grenzenlose Bewunderung, die ihm von der vierjährigen Natsuki entgegengebracht wurde, ließ sein achtjähriges Herz fast im Dreieck zerspringen. Das Mädchen klatschte einmal ihre kleinen Hände zusammen. "Das Schloss ist fertig!", rief sie laut aus. "Schaut mal, Mama, Papa, Shinji hat das Schloss fertig gebaut!" Die Eltern der Kleinen drehten ihre Köpfe zu den Kindern und lächelten gütig, nickten und gaben anerkennendes Murmeln von sich. Miyako betrachtete ihren kleinen Sohn, der selbstgefällig grinste und schüttelte besorgt den Kopf. "Marron, bist du sicher, dass das normal ist?", fragte sie ihre beste Freundin in gedämpften Tonfall und nickte zu Shinji herüber. "Der Junge hat einen Narren an deiner Tochter gefressen, vom ersten Augenblick an..." Marron jedoch winkte bloß ab. "Ich denke nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen", beruhigte sie Shinji's Mutter, die sich nur allzu gerne vom Gegenteil ihrer Befürchtungen überzeugen ließ, nicht ohne einen letzten, besorgten Blick zu den zwei kleinen Gestalten zu werfen, die auf dem Boden hockten. "Natsuki-chan, wenn wir groß sind und ich ganz viel Geld habe, kaufe ich dir ein echtes Schloss, ja?", fragte Shinji erwartungsvoll, in der Hoffnung, noch eines von diesen unwiderstehlichen Lächeln zu bekommen, von denen er einfach nicht genug bekommen konnte. Und wahrhaftig - das kleine Mädchen strahlte ihn wieder glücklich an. "Wirklich?", fragte sie hoffnungsvoll, wartete jedoch gar nicht erst die Antwort ab. "Dann ziehen wir alle da ein. Mama, Papa, Oma, Opa...", zählte sie auf und Shinji fühlte sich nun endgültig auf der sicheren Seite. "Wir heiraten dann auch, ja, wenn wir groß sind?", schlug er vor und Natsuki brach mit ihrer Aufzählung ab. Sie überlegte einen kurzen Moment und schüttelte dann entschieden den Kopf. "Das geht nicht", sagte sie ernst. "Ich heirate schon jemand anderen." Shinji Augen weiteten sich vor Schreck. "Wen?", fragte er, etwas gestört von dieser Absage. "Na, meinen Papa", erklärte Natsuki ihm mit kindlichem Unverständnis, als sei es das Offensichtlichste und Normalste auf der ganzen Welt, seinen Vater zu ehelichen. Shinji lachte nervös. "Das geht aber nicht", widersprach er. "Du kannst deinen Vater nicht heiraten." Natsuki's Augen verengten sich. "Warum nicht?", fragte sie misstrauisch, nicht sicher, ob sie ihm Glauben schenken sollte oder nicht. Shinji überlegte kurz. Wie sollte er das erklären? "Er ist doch schon mit deiner Mama verheiratet", sagte er schließlich, doch Natsuki schüttelte vehement den Kopf. "Na und?", keifte sie ihn an. "Mama macht das bestimmt nichts aus!" Irritiert blickte der Junge sie an. "Doch...", entgegnete er, "das macht ihr bestimmt etwas aus! Außerdem kann man seinen Vater nicht heiraten. Das ist verboten", erklärte er altklug mit hocherhobenem Haupt. Für einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen, die Vierjährige schien das eben Gehörte zu verarbeiten und Shinji klopfte sich innerlich schon auf die Schulter, sie so gut überzeugt zu haben, doch dann fing Natsuki‘s Unterlippe verdächtig an zu zittern an und der Achtjährige biss sich schmerzlich auf die Zunge. Was hatte er angestellt? "Ich will aber!", rief sie laut aus, bevor krokodilsgroße Tränen ihre Wangen runterkullerten und sie in ein herzergreifendes Weinen und Schluchzen überging. Hilflos blickte Shinji sich um, nicht wissend, was er jetzt tun und wie und ob er sie trösten sollte. "Aber... ich...", stammelte er unsicher, brach jedoch wieder ratlos ab. "Du bist doof", warf sie dem Achtjährigen mit aller Wut an den Kopf, die sie nur aufbringen konnte und fegte mit der Hand vor lauter Zorn den Turm aus Bausteinen um. "Ich hasse dich!" "Shinji Minazuki, was hast du jetzt schon wieder angestellt?!", donnerte es. Miyako war aufgesprungen und zerrte den Jungen am Arm hoch, schob ihn weg von der weinenden Natsuki, derer sich auch schon Marron angenommen hatte. "Ich hab ihr doch nur gesagt, dass sie Chiaki nicht heiraten kann", verteidigte sich Shinji verzweifelt, doch bevor Miyako wieder losmeckern konnte, beruhigte Marron ihn auch schon. "Ist schon in Ordnung, Shinji... aber vielleicht solltest du noch ein bisschen mit den Heiratsanträgen warten, ja?" Sie zwinkerte ihm lächelnd zu und nahm Natsuki auf den Arm, die zwar aufgehört hatte zu weinen, ihn jedoch mit geröteten Augen und Wangen böse anstarrte. "Geh in dein Zimmer spielen, Schatz, okay?", schlug Marron ihrer Kleinen freundlich vor und diese nickte, Shinji immer noch wütend fixierend. Bevor sie sich von ihm abwandte und sich in ihr Zimmer zurückzog, streckte sie ihm allerdings noch gehässig die Zunge raus, als niemand sonst hinsah. Anfangs erstaunt und irritiert von der Frechheit dieses Kindes musste Shinji schließlich doch noch grinsen. "Wie du willst, dann eben auf diese Weise", murmelte er zu sich selbst und in seinen Augen flackerte es entschlossen auf, während er siegessicher vor sich hin lächelte. Kapitel 27: Special #2: Reminiscence Of Lovers' Goodbye ------------------------------------------------------- Wie verabredet klingelte der kleine, schwarze Funkwecker um punkt sieben Uhr morgens. Ein dumpfes Grummeln war zu hören; jemand wälzte sich unruhig im Bett herum und schon im nächstes Moment fuhr ein kräftiger Männerarm unter dem Kissen hervor und fegte den unschuldigen Gegenstand unsanft von seinem Platz. Der Wecker wurde aus der Steckdose gerissen und fiel polternd zu Boden. Verstummte. Unter der Decke waren zufriedene Laute zu vernehmen und der junge Mann, der dort nächtigte, drehte sich auf die andere Seite und setzte seinen Murmeltierschlaf ungestört fort. Um acht Uhr kam Bewegung und Leben in die schlafende Wohnung. Eine ältere Frau schreckte plötzlich aus dem Schlaf hoch und bedachte mit einem wachsenden Gefühl der Panik die Uhr. Sie hatte recht: Sie hatten verschlafen! Die Frau mit den violetten Haaren sprang wie von der Tarantel gestochen auf und riss dabei ihrem Ehemann, der immer noch ruhig neben ihr im Tiefschlaf verharrte, gewaltsam die Decke weg. Dieser rührte sich nun auch, öffnete verschlafen ein Auge, um die Situation abzuschätzen und noch bevor seine Frau ihn zurechtweisen konnte, fiel es auch ihm siedend heiß ein und er tat es ihr gleich, indem er erschrocken aus dem Bett hüpfte und sie voller Hysterie anstarrte. "Wir sind zu spät!", stellte er dann absolut fassungslos fest und seine Ehefrau schüttelte nur verdrießlich den Kopf. "Ich habe es geahnt...", murmelte sie genervt und fing an, durch das Schlafzimmer zu hetzen, nicht wissend, was sie als erstes erledigen sollte. Als sie sich nach einer einsamen Socke bückte, um diese aufzuheben, winkte ihr Mann ab. "Lass nur, ich mach das schon. Geh um weck Shinji, ich kümmere mich derweil um das Frühstück." Der ebenfalls etwas ältere Mann mit den braunen, kurz geschnittenen Haaren, durch die sich auch hier und da ein paar graue Strähnen zogen, war nach dieser kurzen Panikattacke wieder einmal die Ruhe selbst und wusste schnell eine Lösung zu finden, während sich seine Frau wieder einmal verrückt machte und hektisch durch die Gegend hopste. Miyako nickte eifrig, zog sich ihren Morgenmantel über und stürmte aus dem Zimmer, wieder einmal froh, Yamato an ihrer Seite zu haben, der sich immer darauf verstand, in dem schlimmsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. "Shhhiiiinnnjjiiiiiiiiiiiii!!!!!!!!!!!!!" In der Wohnung gegenüber, bei den Nagoyas, schaute Chiaki, der mit dem Rest seiner Familie gemütlich am Frühstückstisch saß, stirnrunzelnd von seiner Zeitung auf. "Was war das...?", fragte er verunsichert und blickte in die Runde. Marron und seine Tochter Natsuki wechselten einen vielsagenden Blick und seine Ehefrau lächelte nachsichtig, während Natsuki sich das breite Grinsen nicht verkneifen konnte. "Sie haben verschlafen...", erklärte sie amüsiert und Chiaki nickte verstehend mehrmals mit dem Kopf. "Das war zu erwarten...", murmelte er unbeeindruckt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, bevor er seinen Kopf wieder in den Nachrichten vergrub. Mit einem Ruck saß der junge Mann aufrecht im Bett und blinzelte angestrengt in das Licht hinein, verstand nicht, was um ihn herum geschah. "W... wa...?", nuschelte er verschlafen, doch Miyako ließ ihm keine Minute Zeit, um die Situation zu begreifen. "Steh auf und beeil dich, wir sind spät dran! Gleich müssen wir schon los!", kommandierte sie ihren Sohn herum, wieder in Panik verfallend, während sie nun auch in seinem Zimmer hin und her lief und sämtliche Sachen, die sich auf dem Boden befanden, aufhob, zusammenfaltete oder aufsammelte, um sie in den Wäschekorb zu werfen. Shinji jedoch, immer noch im Halbschlaf, schüttelte verständnislos den Kopf. "Wohin?", wollte er wissen, seine Gedanken waren ganz offensichtlich noch dort, wo auch er vor einigen Minuten noch gewesen war: im Traumland. Miyako hielt inne und sah ihren erwachsenen Sohn, der sich nicht immer so zu benehmen pflegte, verstört an. "Zum Flughafen!", keifte sie dann schließlich und war kurz davor, die Geduld zu verlieren, denn die Zeit lief ihnen davon und es gab noch viel zu tun. Eine Stunde hatten sie bereits verloren und Shinji's Koffer stand immer noch unfertig mitten im Zimmer. Das würden sie niemals schaffen! Bei dem Wort Flughafen allerdings schien Shinji urplötzlich hellwach zu sein. Er riss erschrocken seine Augen auf und suchte nach dem Wecker, um die Uhrzeit zu erfahren, jedoch fand dieser sich nicht an gewohnter Stelle. Auf dem Boden liegend erblickte er ihn schließlich und schlug sich die Hand vor den Kopf. "Oh nein...", murmelte er fassungslos, sich zusammenreimend, was geschehen sein musste. Seine Mutter jedoch ließ ihm keine Zeit, um sich Vorwürfe zu machen. "Mach, dass du auf dem Bett kommst und deinen Koffer fertig packst! Ich predige dir schon seit einer Woche, du sollst dich mit dem Packen beeilen, aber nein, Monsieur muss ja immer alles auf den letzten Drücker erledigen!", schimpfte sie schon wieder, vollkommen außer sich, weil mal wieder alles schief zu laufen schien. "Ja, ja...", murrte Shinji entnervt, schlug die Decke zurück und quälte sich missmutig aus dem Bett. Der Tag fing ja gut an und er fürchtete schon den weiteren Verlauf. Plötzlich lief ein aufgescheuchter Yamato in seinem hellblauen Schlafanzug an Shinji's Zimmer vorbei. Dieser warf seiner Mutter einen irritierten Blick zu, die sich ihrerseits vor seinem Koffer hingekniet hatte und nun alles umpackte. Dabei schimpfte sie leise vor sich hin, das sich verdächtig danach anhörte, dass Männer ohne Frauen absolut unfähig seien, irgendetwas ordentlich hinzukriegen. Der junge Mann seufzte ergeben und sammelte seine Kleidung ein, machte sich auf den Weg ins Badezimmer, wurde an der Tür jedoch fast von seinem Vater umgerannt, der wieder aufgebracht in die andere Richtung lief, ohne auf irgendjemanden zu achten, und wieder in der Küche verschwand. Shinji bemerkte, dass Yamato - im Gegensatz zum ersten Mal - eine schwarze Socke am linken Fuß anhatte, während der Rechte immer noch barfuss war. Er schüttelte belustigt den Kopf und schloss sich für die darauffolgenden Minuten erst einmal im Bad ein. Die Pfannkuchen stapelten sich auf dem Teller und wurden gekonnt von der kleinen Familie übergangen. Chiaki und Natsuki wussten, dass sie nicht für sie bestimmt waren, also begnügten sie sich mit Kaffee, der Zeitung und ein wenig Toast. Während Chiaki abwesend an seiner Tasse nippte und die Sportseite umblätterte, seine Lesebrille auf der Nase, entschied sich Natsuki für den Käse als Brotbelag und Marron summte leise ein altes Kinderlied vor sich hin, als sie die Post, die sie eben unten abgeholt hatte, durchging. Plötzlich hämmerte es an der Tür und Natsuki's Mutter eilte fröhlich von dannen, Chiaki allerdings blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf, wie Natsuki feststellte, als sie ihrem Vater einen heimlichen, nervösen Blick zuwarf. "Da bin ich!", strahlte Shinji vergnügt und betrat die Küche mit ausgebreiteten Armen, jedoch rührte sich niemand vom Fleck. Natsuki und Chiaki schienen keineswegs beeindruckt oder begeistert von seinem Auftauchen zu sein. Chiaki blätterte wieder um und Shinji war, als bedachte ihn Natsuki mit einem mitleidigen Blick. Der junge Mann hielt inne und ließ die Arm sinken. "Ich bin zum letzten Mal für lange Zeit hier, da darf ich doch ein bisschen mehr Begeisterung erwarten?", erklärte er verstört und blickte von Chiaki zu seiner Tochter und wieder zurück. Der Chefarzt seufzte laut und faltete die Zeitung langsam und umständlich zusammen, richtete dann sein Augenmerk auf den empörten Jungen, der vor ihm stand. "Oh, wir sind begeistert", versicherte Chiaki ihm ruhig. Shinji runzelte die Stirn und suchte nach dem Anzeichen eines Lächelns, doch es blieb aus. "Wirklich begeistert, dass wir demnächst innerhalb unserer eigenen vier Wände vor deinen Fressattacken sicher sind", fuhr Chiaki weiter fort und das erwartete Grinsen zeichnete sich nun deutlich auf seinem Gesicht ab und klang auch nicht ab, als Marron ihn wieder mit ihrem allseits bekannten, tadelnden "Chiaki!" ermahnte. Shinji schien erleichtert und empört zugleich, doch sein Zustand hielt nicht lange an, denn schon hatte er den Berg an Pfannkuchen erblickt und seine Augen begannen zu leuchten. "Die sind für dich, Shinji", lachte Marron vergnügt bei seinem Anblick. "Du kannst sie alle haben." Er sah aus, wie ein kleiner Junge, der gerade erfahren hatte, dass Weihnachten und sein Geburtstag dieses Jahr auf denselben Tag fallen würden und machte sich ans Essen. "Danke, Marron", mümmelte er zwischen zwei Pfannkuchen. "Ich wusste schon immer, dass du die Bessere von euch beide bist." Bei diesen Worten nickte auffällig mit dem Kopf zu seiner Linken, wo Chiaki saß und erbost aufblickte, doch Marron legte schnell die Hand auf dessen Schulter, tätschelte sie und lächelte Shinji geschmeichelt an. "Die Frage erübrigt sich doch wohl", fügte sie gespielt herablassend hinzu, und Chiaki verdrehte genervt die Augen, wandte sich wieder seiner Morgenlektüre zu, während Natsuki vergnügt gluckste. Ihre Eltern erinnerten sie stark an sich selbst... Auf einmal flog die Tür zur Küche mit einem lauten Krachen auf, alle fuhren erschrocken zusammen und eine wütende, im Gesicht rot angelaufene Miyako deutete mit ihrem Zeigefinger anklagend auf Shinji. Sie atmete einen kurzen Moment tief durch, während alle Blicke auf ihr ruhten. "SHINJI!!!!!!!!!!!", donnerte sie schlussendlich und der Genannte sprang sofort wie ein Soldat von seinem Platz auf und blieb stocksteif stehen. Zornig stakste seine Mutter auf ihn zu, vorbei an Marron, die verdattert in ihrer eigenen Küche stand. "Aber... wie...?", setzte sie an, doch Miyako unterbrach. "Du hast die Tür offen gelassen", informierte sie sie kurz angebunden, während sie Shinji mit ihrem Blick durchbohrte. Er schluckte und versuchte es mit einem unsicheren Grinsen, aber das half ihm nicht weiter. "Das ist also deine Vorstellung von Packen?! Du sitzt hier und vergnügst dich bei einem fremden Frühstück und ich kümmere mich um deinen Koffer?", keifte sie den armen Jungen an, der unter ihren Worten immer kleiner zu werden schien. Natsuki schaute ihn amüsiert an. "Du fliegst ins wenigen Stunden und hast noch nicht einmal gepackt?", fuhr sie dazwischen und konnte nicht umhin, eine kleine Prise Spott in ihrem Tonfall zurückzuhalten, doch in ihrem Blick lag nicht die gewöhnliche Verachtung, an die Shinji sonst gewöhnt war. Er öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch Miyako fuhr schon fort. "Fliege ich etwa nach England oder was?", wollte sie entzürnt wissen und wies ihm dann mit der Hand zum Ausgang. "Du gehst jetzt deine restlichen Sachen einräumen oder du fliegst nirgendwohin!", drohte sie, wie man kleinen Kindern zu drohen pflegte, und sah zufrieden mit an, wie Shinji verzweifelt seufzte und mit hängenden Schultern, wie ein geprügelter Hund, den Rückzug antrat. Als er aus der Küche entschwand, seufzte nun auch Miyako erschöpft und die zornigen Züge fielen von ihrem Gesicht ab. Sie sah müde aus und lehnte sich kurz gegen einen Küchenschrank. "Alles in Ordnung?", fragte Marron besorgt und näherte sich ihrer besten Freundin. Chiaki indessen hatte sich erhoben und murmelte etwas von "nach der Haustür schauen", während er die Küche verließ. "Der Junge macht nichts als Ärger", beschwerte sich Miyako, doch sie klang gar nicht mehr so wütend wie noch eben gerade. "Wie soll er da so weit weg von Zuhause zurechtkommen?", äußerte sie ihre Zweifel und blickte Marron fragend an, die ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. "Das wird er schon hinbekommen. Du musst ihm einfach mehr zutrauen", riet die der violetthaarigen Frau, die immer noch skeptisch schien. Dann jedoch nickte sie langsam und stellte sich wieder aufrecht hin. "Wenn er allein zurechtkommen MUSS, wird er das schon, nicht wahr?", versicherte sie sich und Natsuki's Mutter nickte nun ihrerseits. "Das wird er ganz sicher." Natsuki wandte den Kopf von den beiden Frauen ab. Und sie? Sie würde auch zurechtkommen müssen. "Wir haben es tatsächlich geschafft!", sagte Miyako fassungslos und sah nun zum ersten Mal an diesem Morgen einigermaßen erleichtert aus. Sie hatten Shinji's Koffer am Check-in Schalter abgegeben und hatte nun noch eine gute halbe Stunde, bevor er an Bord gehen konnte. Yamato legte beruhigend den Arm um die Schultern seiner Frau. "Wie ich es dir gesagt habe." Er konnte sich ein genüssliches Gähnen nicht verkneifen. Die zwei Familien standen unweit eines der im Flughafen so viel verbreiteten Zeitungskiosks herum und mittlerweile war die Müdigkeit in den Gesichtern von Yamato und Miyako nur allzu deutlich zu erkennen. Viel zu lange haben sie sich gestern Abend noch aufhalten lassen und waren natürlich viel zu spät ins Bett gekommen, doch war noch einiges zu klären gewesen, bevor Shinji aufbrechen konnte. Dieser stand angespannt und mit den Händen in den Hosentaschen neben seinen Eltern und starrte stumm, angestrengt in eine andere Richtung, schien in seinen Gedanken versunken, während Natsuki ihren Blick bedrückt auf den Boden gerichtet hatte und genauso schweigsam war wie Shinji. Marron beobachtete die beiden eine Weile lang und holte dann ihre Geldbörse heraus. "Natsuki-chan?", fragte sie, während sie in ihrem Portemonnaie herumkramte. Ihre Tochter blickte auf. "Dort hinten ist ein kleiner Kaffeestand, würdest du uns vier Kaffee holen?" Sie drückte dem überraschten Mädchen einen Geldschein in die Hand und lächelte ihr zu. Natsuki nickte bereitwillig und Marron fügte hinzu: "Shinji, hilfst du ihr beim Tragen?" Während der mürrische, alte Mann hinter der Theke kassierte und mit langsamen Bewegung die Kaffeebecher füllte, stellte sich Shinji direkt hinter Natsuki, sodass Chiaki nicht sehen konnte, wie sie sich miteinander unterhielten. Er war froh, ein paar wenige Minuten mit dem Mädchen alleine zu sein. Die letzten Tage waren sehr hektisch und sie waren nicht dazu gekommen, sich richtig voneinander zu verabschieden und jetzt, am Flughafen, hatte er auch keine Möglichkeit gesehen, bis Marron, die wunderbare Marron, ihm eine Ausrede geliefert hatte. "Ich würde mich ja anständig von dir verabschieden...", setzte er an und seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen, doch Natsuki konnte ihn bestens verstehen und sogar heraushören, wie er bei diesen Worten praktisch anzüglich grinste. "...aber ich fürchte, dein Vater dreht mir dann den Hals um...", beendete Shinji seinen Satz, halb belustigt, halb besorgt und warf einen Blick über seine Schulter hinüber zu Chiaki, der ihn aus Argusaugen beobachtete. Schnell wandte sich Shinji wieder von ihm ab und spürte dessen Blick noch allzu deutlich im Rücken. Natsuki lachte. "Was für ein großer Verlust", spöttelte sie, während sie zwei der bereits gefüllten Becher entgegennahm. Shinji verzog das Gesicht. Immer noch diese Abwehrhaltung! Dann wurde sie wieder ernst und schaute den schmollenden Jungen an. "Ich bringe es ihm schonend bei. Wenn du weg bist", informierte sie ihn und drückte ihm den Kaffee in die Hände. "Vorsicht, heiß." Shinji betrachtete die dampfenden Kaffeebecher und wandte sich dann wieder an die 16jährige. "Dann bin ich wenigstens außer Reichweite", stellte er pragmatisch fest, machte aus Versehen eine unkontrollierte Handbewegung und Kaffee schwappte über den Becherrand. "Vorsicht!", warnte Natsuki ihn noch einmal, eindringlicher und nahm die letzten beiden Pappbecher, die der alte Mann ihr grimmig hinhielt. Das Mädchen drehte sich nun ganz zu dem 20jährigen um und beide blickten sich für einen kurzen Augenblick in die Augen. Natsuki warf einen schnellen Blick hinter Shinji, doch ihr Vater hatte anscheinend das Interesse verloren und stand nun an einem Zeitschriftenstand, wild mit Yamato über etwas diskutierend. Marron und Miyako verfolgten das Ganze mit amüsierten Blicken und schienen sich ganz offensichtlich zu vergnügen. Blitzschnell stellte sich Natsuki auf die Zehenspitzen und drückte Shinji einen kurzen, aber sanften Kuss auf die Wange auf. Vollkommen überrascht angesichts dieses unerwarteten Ereignisses weiteten sich seine Pupillen und Natsuki meinte zu erkennen, dass seine Gesichtsfarbe ein paar Nuancen dunkler wurde. Die dunkle, duftende Flüssigkeit schwappte wieder über und erwischte dieses Mal einen seiner Schuhe, doch Shinji schien das gar nicht mitzubekommen. Ein dümmliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er grinste den mürrischen Kaffeeverkäufer entzückt an, doch Natsuki stieß ihm leicht ihren Ellbogen in die Seite. "Komm schon", murmelte sie drängend und ging mit ihrem Kaffee voraus, während Shinji vertrottelt hinter ihr herwankte, vollkommen fassungslos in Anbetracht seines Glücks, dass nicht er dieses Mal - sondern SIE - die Initiative ergriffen hatte. Das, was da passiert war, war ein großer, großer Schritt nach vorne. "Mach's gut, Shinji. Pass auf dich auf. Wir werden dich vermissen", verabschiedete Marron sich lächelnd von dem Sohn ihrer besten Freundin, doch Chiaki fiel ihr ins Wort. "Du vielleicht. Ich bin froh, wenn ich den Kühlschrankinhalt endlich für mich habe", sagte er trocken, doch dann griff er nach Marron's Handtasche und zog ein Buch hervor, drückte es Shinji in die Hand, der ihn verblüfft anstarrte. "Mit diesem Buch schafft man es bis zum Chefarzt", brüstete sich Natsuki's Vater, Shinji grinste und Marron verdrehte die Augen. "Hör nicht auf ihn. Er ist ein alter Spinner", riet sie ihm wieder und umarmte den 20jährigen zum letzten Mal. "Wir sehen uns dann im nächsten Jahr", grinste nun auch Chiaki, legte einen Arm um seine Frau und zog sie ein bisschen weiter weg, damit sich auch Yamato und Miyako in Ruhe von ihrem Sohn verabschieden konnten. Natsuki war, seitdem sie vor zehn Minuten vorgab, zur Toilette entschwunden zu sein, noch nirgends aufgetaucht. Marron konnte nur hoffen, dass sie es rechtzeitig zurück schaffte und auch Shinji schien unaufmerksam und wandte den Kopf in alle Richtungen, um nach ihr Ausschau zu halten. Als auch Yamato und Miyako Shinji umarmten und zurücktraten, während Miyako sich ihre Tränen wegwischte und versuchte, tapfer zu lächeln, waren schnelle Schritte zu hören und Natsuki kam einige Meter entfernt von Shinji zum Stehen. Marron reagierte sofort und noch ehe Chiaki begriff, was passierte, zog sie ihn hektisch mit sich und zeigte ihm, indem sie seinen Kopf gegen eine Fensterscheibe drückte, in einem Schaufenster ein paar Armbanduhren unter dem Vorwand, dass ihr ein ganz besonderes Exemplar davon sehr gefiel. Miyako und Yamato, die sich diskret zurückgezogen haben, stießen hinzu und auch Miyako begeisterte sich für das edle Stück, während Chiaki verwirrt ins Schaufenster blinzelte und nicht verstand, was die Frauen, die ihn so urplötzlich belagerten, von ihm wollten. Natsuki’s Atem ging schnell, sie war offensichtlich gelaufen. "Ich hab mich verlaufen", erklärte sie und atmete noch einmal tief durch, doch Shinji sagte nichts, er betrachtete sie nur mit einem sanften Lächeln, mit leichter Neugier im Gesicht. Wollte sie nur ansehen und sich so viel wie möglich merken, wollte sich am liebsten alles in die Netzhaut brennen, um nicht ein einzelnes Detail zu vergessen. "Hör zu...", begann Natsuki und fühlte sich plötzlich wieder sehr unsicher und ungeschützt. Shinji bemerkte ihre Unsicherheit, doch er stand still, sah sie an und hörte zu. "Also...", stammelte sie, ihr Blick huschte hin und her, doch sie schaffte es, ihn auf Shinji zu fixieren. Sie schaute ihn fest an, hatte sich einigermaßen wieder gesammelt. "Wenn du zurückkommst..." Shinji hob unmerklich eine Augenbraue. "...darf ich dir dann etwas sagen?" Im ersten Moment verblüfft, machte seine perplexe Miene einem herzlichen Lächeln Platz. "Natürlich darfst du...", versicherte er ihr leise und seine Worte klangen freundlich und liebevoll und Natsuki hatte das eigenartige Gefühl, eben diese Situation schon einmal durchlebt zu haben. Einige Sekunden lang sahen sie sich an und hatten beide das Empfinden, der Gegenüber wusste, was der jeweils andere dachte, doch dann hörten sie Chiaki's grimmige Stimme, der sich über seinen halbleeren Kaffeebecher beschwerte, und waren auf der Stelle wieder in der Realität. "Bis bald, Shinji", sagte Natsuki beherrscht, leise und sog die Luft ein, um sich noch so lange wie möglich zusammenzureißen. Es war ihr nun völlig egal, ob sie jemand beobachtete oder nicht. Alles erschien absolut gleichgültig... "Bis bald, Natsuki-chan." Shinji nickte und schenkte ihr ein leises Lächeln, dann drehte er sich um und trat an den Schalter, reichte der reizenden Frau vom Bodenpersonal seine Bordkarte und verschwand kurz darauf in den Tiefes des Flughafens. Kapitel 28: Special #3: A Grey Sky Between Us --------------------------------------------- Momokuri, Japan, 23:07 Uhr. Der kalte Novemberregen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster, das Zimmer war dunkel. Nur unter dem Türspalt schimmerte ein wenig Licht; wenigstens ein Zeichen von Leben in der Wohnung. Obwohl Natsuki ihren Eltern gesagt hatte, dass sie früh ins Bett wollte und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, saß sie schon seit geraumer Zeit im Dunkeln an ihrem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Alles, was sie sehen konnte, war jedoch das endlose Schwarzblau des Himmels und die Regentropfen, die stetig gegen die Glasscheibe tropfen. Es tat fast schon gut, dieses schlechte Wetter, wenn sie denn überhaupt behaupten konnte, dass ihr etwas gut tat, doch an Tagen wie diesen wusste sie nicht, ob sie traurig war und das Wetter dazu passte oder ob es andersrum der Fall war. Es wäre viel schwieriger und frustrierender gewesen, wenn die Sonne scheinen würde, allerdings würde es vielleicht auch einfacher sein, dann die Traurigkeit abzuschütteln. Nun, was das anging, so konnte sie sich so lange darüber den Kopf zerbrechen, wie sie wollte. Fest stand jedoch: sie wusste einfach nicht, was es mit dem Wetter auf sich hatte. Es war nicht so, als wäre es jeden Tag so. Oder durchgehend. Es war nicht so, als könnte sie ohne Shinji nicht leben. Sie konnte es sehr gut. Sie ging weiter zur Schule, kümmerte sich um Freunde und Familie und hatte Spaß. Nicht weniger, als sie vorher auch gehabt hatte. Aber jeden Morgen, wenn sie die Tür zur Küche aufstieß, fand sie den leeren Stuhl vor, auf dem früher immer der schwarzhaarige Nachbar gesessen hatte - den Mund vollgestopft mit Pfannkuchen und immer ein freches Grinsen parat. Und jeden Morgen fiel ihr immer wieder von neuem ein, wie sehr sie ihn vermisste. Seit zwei Monaten war er nun weg und die letzte Email, die sie von ihm bekommen hatte, lag auch schon einige Tage zurück. Shinji hatte viel zu tun, viel zu lernen... Aber wenn sie erwartungsvoll ihren PC anmachte, hoffnungsvoll ihre Emails abrief und keine Neue von ihm vorfand, war die Enttäuschung, die sie überkam, einfach viel zu groß, um nicht beinahe den Mut zu verlieren. Sie dachte oft an Shinji, sogar rund um die Uhr, jedoch dachte sie nebenbei an ihn und einige Orte oder Situationen ließen sie unabsichtlich an ihn denken. Er war immer in ihrem Kopf, doch sie konnte ihn so weit zurückschieben, dass sie ohne große Probleme die Tage überstehen konnte. Dass sie von Herzen lachen und sich auch auf anderes konzentrieren konnte. Es war, als sei er immer bei ihr, in ihrem Kopf, und dann freute sie sich auf den Tag, an dem er in Natura vor ihr stehen würde. Aber an Tagen wie diesen, Tagen, an denen es unaufhörlich regnete und die Dunkelheit jeden Tag früher durch die Fenster kroch, als an dem davor, an Tagen, an denen sie so sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihm wartete, es aber nicht bekam, da drohte sie die Einsamkeit und die Sehnsucht zu übermannen und vor allem Abends, wenn das Sonnenlicht alles Leben mit sich nahm, konnte sie die Hoffnungslosigkeit nicht mehr zurückhalten. Die Gedanken an Shinji krochen aus den hintersten Winkeln ihres Kopfes hervor und waren plötzlich so präsent, dass sie ihr fast die Luft nahmen und das Wissen, dass er so weit weg war und die Ungewissheit, was sein würde, wenn er wieder zurückkam, brachten eine Verzweiflung mit sich, gegen die sie sich unglaublich hilflos und ohnmächtig fühlte, da sie nichts an diesem Zustand ändern konnte. An Tagen wie diesen fühlte es sich nicht an, als sei er immer bei ihr. Vielmehr wurde ihr dann immer wieder schmerzhaft bewusst, dass er es nicht war und noch weit davon entfernt war, es zu sein. Und wenn sie abends schlafen ging, dann war der Gedanke, in seinen Armen zu liegen, der Letzte, den sie hatte. Nottingham, Großbritannien, 5 Stunden später, 19:32 Uhr. Abwesend an seiner Tasche nestelnd trottete Shinji langsam aus dem Hörsaal, in dem eben die Vorlesung zur Ethik der Medizin gehalten worden war. Er versuchte gerade, eines seiner Bücher noch in die Tasche zu den anderen zu stopfen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte und sich ein blonder, schlaksiger, junger Mann mit blauen Augen neben ihn schob. "Jake", stellte Shinji halb überrascht, halb erfreut fest. "Was machst du hier?" Jake Matthews, gebürtiger Engländer, war einer der Ersten, mit denen Shinji sich in Nottingham angefreundet hatte. Der 19jährige war zwar ein Jahr jünger als Shinji selbst und zwei Semester unter ihm, doch das machte überhaupt keinen Unterschied. Jake war ein angenehmer Zeitgenosse und zu seinen Mitmenschen stets freundlich und höflich. Außerdem war er mit dem für die Briten so typisch trockenem Humor ausgestattet und sehr beliebt, was ihn aber nicht zu Höhenflügen veranlasste, wie Shinji sie von seinem ehemals besten Freund Taiki kannte. "Dich abholen", erwiderte der Blondschopf mit einem verständnislosen Gesichtsausdruck, davon ausgehend, dass es offensichtlich gewesen war. "Die Jungs treffen sich noch im Pub", schob er dann doch noch die Erklärung für sein Auftauchen hinterher. "Komm doch mit!" Er blickte Shinji erwartungsvoll an, doch dieser schüttelte lachend den Kopf. "Ich kann nicht, aber danke für das Angebot", lehnte er dankbar ab, doch Jacob, so sein voller Name, ließ sich nicht so einfach abspeisen. "Komm schooon", versuchte er es noch einmal und schien dann eine Idee zu haben, wie er Shinji doch noch dazu bringen könnte, ihn zu begleiten. "Rachel wird auch da sein... du weißt ja... die steht auf dich", fügte er verschmitzt grinsend hinzu, konnte Shinji damit aber nur ein gequältes Lächeln abringen. "Quatschkopf", warf er Jake vor und der 19jährige zuckte entschuldigend die Schultern. "Hast recht. Rach hat sowieso jede Woche 'nen anderen...", sagte er bedauernd und verzog das Gesicht. "Wann ich wohl an der Reihe bin?", überlegte er dann laut weiter und brachte Shinji damit zum Lachen. "Nein, ehrlich, warum nicht?", hakte Jakob nach und versuchte mit Shinji, der seinen Weg weiter fortgesetzt hatte, Schritt zu halten. "Ich muss noch einiges für den Sprachkurs morgen aufarbeiten, früh aufstehen und habe nach den Seminaren noch zwei Stunden Training", zählte der junge Minazuki auf und runzelte die Stirn. "Und..." Er stockte, als er an Natsuki dachte. Wie gern würde er sie jetzt sehen, sie halten, sie küssen... er vermisste sie so sehr, dass es schon fast wehtat. "Und...?", wollte Jake wissen und blickte Shinji neugierig von der Seite an. Sein argloser, wissbegieriger Blick amüsierte Shinji schon wieder, doch der Gedanke an Natsuki trübte seine Freude und er brachte nur ein kleines Lächeln hervor. "Und ich muss dringend eine Email schreiben", beendete er seinen Satz langsam. Mittlerweile waren sie aus dem Gebäude getreten und der nasse Asphalt zeugte noch von dem Regen, der den ganzen Tag gefallen war, jetzt aber aufgehört hatte. Es war bereits dunkel draußen und weiße Wölkchen kamen aus ihren Nasen und Mündern, wenn sie ausatmeten, so kalt war es geworden. Shinji fragte sich, ob zu Hause in Japan auch solches Wetter herrschte. "Eine Email?", wiederholte Jake, fassungslos, dass Shinji eine Email einem Abend im Pub vorzog. Shinji nickte. "Aha." Eine Weile lang liefen die beiden nebeneinander her, niemand sagte ein Worte und beiden hingen ihren eigenen Gedanken nach, doch dann war es wieder Jake, der offensichtlich zu einem Schluss gekommen war. "An deine Freundin?" Er grinste breit und stieß Shinji seinen Ellbogen in die Seite, was dieser mit einem schmerzverzogenem Gesicht quittierte. "Nun sag schon!", drängelte Jake, aber der 20jährige lächelte nur still vor sich hin und zuckte die Achseln. "So ähnlich...", wich er aus, doch wenn er dachte, Jakob würde sich damit zufrieden geben, dann hatte er falsch gedacht. "So ähnlich", äffte dieser ihn ungeduldig nach und fuchtelte genervt mit seinen Armen herum. "Mach nicht so ein Staatsgeheimnis draus!", forderte er Shinji auf, als sie endlich zur Bushaltestelle ankamen. Mit einem Blick auf die Uhr stellte Shinji fest, dass der Bus, der sie runter in die Innenstadt bringen würde, noch einige Minuten auf sich würde warten lassen. Zeit genug für Jake also, ihn weiter auszufragen. Besagter änderte aber seine Taktik. "Wie ist sie so?", wollte er wieder wissen und ungewollt entschlüpften Shinji seine nächsten Worte: "Sie ist vier Jahre jünger." Er wusste auch nicht, warum ihm das als erstes eingefallen war. Vielleicht, weil er oft daran denken musste, dass es Natsuki wichtig gewesen war, dass sie sich Sorgen gemacht hatte. Aber nun wandte er sich interessiert an seinen Freund und wollte unbedingt wissen, was er darüber dachte. Wollte sehen, ob Natsuki's Zweifel berechtigt waren, ob das wirklich ein "zu großer" Altersunterschied war. Jake studierte angestrengt die Zeittafel, die Auskunft über die Busfahrzeiten gab. "Vier Jahre jünger", wiederholte er noch einmal abwesend. Shinji war schon öfter aufgefallen, dass Jake dazu neigte, alles, was man von sich gab, zu wiederholen. Jedoch hielt er es für keine schlechte, oder gar nervige Eigenschaft an ihm. Er hatte mit der Zeit verstanden, dass, während er sich die Worte noch mal auf der Zunge zergehen ließ, gleichzeitig mehr Zeit verschaffte, sie zu begreifen und darüber nachzudenken. Und seit wann war nachdenken über das, was man als nächstes sagen würde, eine schlechte Eigenschaft? Viel zu wenig Menschen dachten heutzutage groß nach, bevor sie sprachen und viel zu wenige dachten überhaupt nach. "Sechzehn also", analysierte Jacob langsam und wandte sich dann wieder Shinji zu. "Na und?" Sein nachdenklicher Ausdruck war von einer Sekunde auf die andere verschwunden und er starrte seinen Freund so verständnislos an, dass dieser fast wieder Lachen musste. Plötzlich wusste auch er nicht mehr, warum er das erwähnt hatte. "Ach, gar nichts", gab er erleichtert zu und wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung weg. "Sie ist... schlagfertig und hat ein großes Mundwerk", beantwortete er dann endlich gewillt Jake's Frage und musste bei seinen Worten und der Erinnerung an Natsuki's zornesfunkelndes Gesicht schief grinsen. Er vermisste sie so! Nun war Jake an der Reihe zu lachen. "Klingt ja unwiderstehlich", kommentierte er trocken, doch Shinji schüttelte lächelnd den Kopf, als wollte er ihm widersprechen. "Das mag für dich lustig sein, aber ich hab mir alle meine Zähne an ihr ausgebissen, bevor sie endlich mal gemerkt hat, dass ich überhaupt im selben Haus wohne", erklärte er energisch und all die Erinnerung an den ganzen, langen, schweren Prozess kam ihm wieder in den Sinn. "Dann bist du ja ganz schön hartnäckig. Kann nur gut sein für’s Studium", lobte Jake anerkennend und nickte mehrmals mit dem Kopf, um seine Behauptung zu untermauern. Der rote Doppeldeckerbus bog um die Ecke und kam neben den beiden Jungs zum Stehen. Sie stiegen zusammen mit den anderen Medizinstudenten ein und suchten sich zwei Plätze im hinteren Teil des Busses. "Und du willst wirklich nicht mit?", fragte Jake bedauernd, in einem letzten Versuch, doch Shinji schüttelte nur den Kopf. "Ein andermal vielleicht. Ihr seid doch sowieso jeden zweiten Tag dort." Jake grinste. "Da hast du recht, Mann. Aber letztes Mal war echt witzig. Erinnerst du dich noch, wie Rachel einen zu viel über den Durst gekippt hat und-" "Jaah", unterbrach Shinji seinen Freund leicht ungeduldig. "Ich erinnere mich noch. Und du solltest sie endlich fragen, ob sie mit dir ausgehen will, anstatt jedem ein Ohr abzukauen, wie toll du sie findest." In diesem Momente schaute Jake überrascht und empört zugleich drein. "Das hab ich nie gesagt!", verteidigte er sich ertappt und seine Ohren liefen leicht rosa an, während Shinji wissend vor sich hin grinste. "Ich muss aussteigen", informierte er dann den rotohrigen Jake nach einem Blick aus dem Fenster und stand auf. "Bis morgen." "Bye", verabschiedete sich der Blonde ebenfalls und sah Shinji nach, wie er aus dem Bus stieg und den Weg Richtung Studentenwohnheim einschlug. Der hatte leicht reden! Shinji betrat sein Zimmer, knipste das Licht an und entledigte sich seiner Jacke, die er an einen Garderobenhaken an der Rückseite der Tür hing. Dann legte er seine Tasche aufs Bett und schon den Stuhl, der am Schreibtisch stand, zurück, setzte sich darauf und betätigte die "Power"-Taste an seinem Laptop. Er hatte ihr schon seit einigen Tagen nicht mehr geschrieben und anrufen konnte er sie wegen des großen Zeitunterschieds von neun Stunden auch nicht. Er rief seinen Browser auf, loggte sich in sein Emailprogramm ein und begann zu schreiben. Im Zimmer um ihn herum herrschte Stille, die nur von dem Tippen auf der Tastatur unterbrochen wurde. "Liebe Natsuki..." Kapitel 29: Special #4: Whenever We Meet, There Will Be Light ------------------------------------------------------------- Dicke Schneeflocken rieselten vom wolkenbedeckten, grauen Himmel, während sich Natsuki zusammen mit ihrer besten Freundin Naomi und deren Freund Yukio mühsam einen Weg durch den Schnee bahnte, der ihnen bis zu den Fußknöcheln reichte. Es war eine Seltenheit, so viel Schnee liegen zu sehen, ebenfalls wie es den Kindern fast wie ein Wunder vorkam, dass es pünktlich zu Weihnachten schneite. So etwas wünschte man sich zwar jedes Jahr, doch meistens begrub die weiße Pracht erst im Februar oder noch später das Land, wobei es nie lange anhielt. Natsuki konnte den schmutzigen Matsch, der entstand, sobald es anfing zu tauen, nicht leiden. Das Mädchen, gehüllt in eine dicke Winterjacke und mit einem gestreiften Schal um den Hals, streckte ihre handschuhbedeckte Hand aus und betrachtete die große Schneeflocke auf dem Wollstoff. Nicht lange dauerte es, bis sie wieder schmolz. Die Sechzehnjährige steckte ihre Nase tiefer in den Schal hinein - es war wirklich kalt und nichts hätte sie jetzt lieber, als endlich zu Hause anzukommen und eine warme Tasse Kakao zu trinken. Eben war sie mit Naomi, Yukio und einigen anderen aus der Klasse im Momokuri Park gewesen. Die Kinder hatten dort eine Schneeballschlacht veranstaltet und einige hatten ihre Schlitten mitgenommen, um einen kleinen Abhang herunter zu rutschen. Zur Folge hatte diese kleine Winterferien-Party, dass Natsuki und ihre Mitschüler nun vollkommen durchnässt und erschöpft waren, ganz zu schweigen von der Kälte, die sich in ihre Knochen stahl. Naomi lachte gequält. "Puh. Wer hatte eigentlich diese dumme Idee gehabt? Mir ist eiskalt und ich seh schon, wie meine Mutter mir den Kopf abreißt", prophezeite sie und Natsuki nickte zitternd. "Geht mir genauso", gestand sie und bereute es nun zutiefst, dass sie nicht ihre Lieblingsmütze mitgenommen hatte. Schließlich verlor man den Großteil der Wärme über den Kopf. Aber natürlich hatte sie nicht darüber nachgedacht und nun war es ja ganz eindeutig zu spät. "Wann kommt Shinji noch mal nach Hause?", fragte Naomi - nun bestimmt schon zum tausendsten Mal in wenigen Wochen - und Natsuki verdrehte genervt die Augen. "Anfang Januar", antwortete sie dennoch und zog es vor, ihre Freundin nicht schon wieder darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihr diese Frage bereits mehrere Male gestellt hatte. Natsuki konnte sich ja denken, was Naomi im Sinn hatte - sie wollte sie aushorchen und erwartete mehr Informationen, als nur jene, die Natsuki bereit war zu geben. Doch da konnte sie lange warten. Sie wusste ja schließlich selbst nichts genaues, was nun Shinji anging... und besonders Shinji und sie. "Soso...", murmelte Naomi vielsagend, doch Yukio unterbrach ihr pseudo-weises Gesäusel. "Wer war noch mal Shinji...?", wollte der Junge wissen. Yukio kam aus der Parallelklasse und bei der Klassensprecherkonferenz am Anfang des Schuljahres hatten er und Naomi sich angefreundet. Es hat aber noch eine ganze Weile gedauert, bis sie sich endlich zu ihren Gefühlen bekannt haben, doch schließlich ist alles gut ausgegangen. Natürlich hatte er nicht so viel Ahnung von Natsuki's Liebes-oder-auch-nicht-Leben, und das war dem Mädchen ganz recht so. Das ging schließlich keinen etwas an. Bevor sie ihn umständlich erklären konnte, dass Shinji ihr Nachbar war, der für ein paar Monate nach England geflogen war, um dort ein Auslandssemester zu absolvieren, übernahm Naomi diese Aufgabe für sie. "Natsuki's Freund", sagte sie grinsend und stieß ihrer besten Freundin schelmisch den Ellbogen in die Seite, als diese sie mit einem strafenden Blick bedachte. "Ach so." Yukio war zufrieden, doch Natsuki war alles andere als das. "Er ist nicht mein Freund", protestierte sie und fuchtelte mit ihren eingepackten Händen in der Luft herum, als wollte sie ein fliegendes Getier abwehren. Sie wusste selbst nicht, was Shinji war. Sie wusste nur, dass sie auf seine Wiederkehr wartete und gleichzeitig hatte sie eine panische Angst davor. Sie hatte ihn im September das letzte Mal gesehen und nun war es bereits Ende Dezember, das waren also fast vier Monate und niemand konnte wissen, wie sich in dieser langen Zeitspanne alles entwickelt hatte. Wie würde es weitergehen? Sie hatte in all der Zeit kein einziges Mal mit ihm telefonieren können, was vor allem an dem Zeitunterschied zwischen Japan und Großbritannien lag. Neun Stunden! Was soviel bedeutete, dass, wenn Natsuki in der Schule war, Shinji gerade schlief, kam sie nachmittags aus der Schule, war er in der Uni und kam er nach Hause, war sie bereits im Bett. Alles, was blieb, waren die Emails, die sie sich hin und wieder schickten. Anfangs noch sehr oft, aber mittlerweile schrieb Shinji nur noch sehr selten. Er schob es auf die Prüfungen, die sehr hart waren, wie er sagte, zudem besuchte er das Basketballteam, so hatte er ihr jedenfalls geschrieben, und belegte jeden Nachmittag zusätzliche Sprachkurse, um das "Cambridge Certificate of Proficiency in English" zu erwerben, da blieb wirklich kaum Zeit. Aber Natsuki machte sich Sorgen. Was, wenn das alles nur Ausreden waren? Vielleicht hatte er es sich anders überlegt oder die Zeit ohne sie in seiner Nähe hatte ihm endlich die Augen geöffnet, dass er ohne sie viel besser dran war. Ja, sie hatte Angst. Und andererseits wusste sie selbst nicht mehr genau, was sie für Shinji empfand. Drei Tage schwebte sie im siebten Himmel, dann verschwand er und ließ sie für vier Monate alleine. Nach einiger Zeit konnte auch sie sich nicht mehr an den Schmetterlingen im Bauch festhalten und die Herzklopfen in ihrer Brust hatte sie das letzte Mal gespürt, als er sie im Arm hielt, bevor er nach England geflogen war. Wie sollte sie wissen, was sie jetzt für ihn fühlte, wenn er so lange weg war? Vielleicht waren ihre Gefühle genauso verkümmert, wie eine Pflanze, die nicht gegossen wurde. "Was denn nun?", fragte Yukio in ihre Gedanken hinein. "Freund oder nicht?" "Doch", beharrte Naomi, Natsuki aber schüttelte nur seufzend den Kopf, übermannt von ihren deprimierenden Gedanken. "Ich weiß es nicht", gestand sie ratlos und schickte einen flehenden Blick zum Himmel, als hoffte sie, dort die Antwort lesen zu können. Doch alles, was sie bekam, waren weiße Schneeflocken. "Wie kann man so was nicht wissen?", hakte Yukio verwirrt nach - Mädchen waren einfach seltsam und das war mal wieder das beste Beispiel dafür. Was gab es da nicht zu wissen? Entweder man war ein Paar oder eben nicht. Punkt. Die Sechzehnjährige schien genervt. "Er kam nicht gerade an und hat gesagt wir sind jetzt zusammen'", erklärte sie ungeduldig und hoffte, ihre beiden Freunden würden schon von selbst merken, dass sie nicht mehr weiter über das Thema sprechen wollte. Erfolglos. "Wär ja auch blöd", kommentierte Naomi skeptisch. "Wer fragt denn heutzutage noch 'willst du mit mir gehen'? Uah..." Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, doch Yukio hob nur eine Augenbraue, als sei ihm das neu, sagte allerdings kein Wort. "Aber", setzte Naomi ihren Redeschwall ungebremst fort, "er hat dich geküsst, du hast ihn geküsst, ihr habt geredet, er wartet auf dich, du wartest auf ihn - ist doch alles klar!" Voller Begeisterung über ihre clevere Analyse und die Einfachheit der ganzen Sache strahlte sie Natsuki an, die nur schlechtgelaunt den Kopf schüttelte und abwinkte. "Das sagt gar nichts. In letzter Zeit meldet er sich nicht einmal", räumte sie ein, verschwieg dabei aber all ihre Ängste und Befürchtungen, die damit einhergingen. Naomi schwieg eine Weile, überlegte, bis sie weitersprach. "Er studiert dort und macht doch noch dieses ganze andere Zeug-" Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, um zu bedeuten, dass sie sich nicht wirklich erinnern konnte, was das "ganze andere Zeug" war. "Da bleibt halt nicht viel Zeit." Auch, wenn ihre Freundin so gut wie möglich versuchte, sie zu überzeugen, so konnte Natsuki nicht leugnen, dass ihr das kurze Zögern und die Spur von Unsicherheit in Naomi's Tonfall nicht entgangen waren. "Ja, das hat Shinji auch gesagt...", murmelte sie und heftete den Blick auf die schneebedeckte Straße. Obwohl es erst früher Abend war, ging die Sonne bereits jetzt schon unter und die Dunkelheit legte sich langsam aber sicher wie ein Schleier über die Stadt. Die Straßen waren hübsch dekoriert mit Tannenbäumen und Lichterketten, die erst im Dunkeln ihre ganze Pracht entfalteten. Der weißte Schnee funkelte im Licht und auf dem großen Platz mit dem Brunnen prangte ein herrlicher, großer Weihnachtsbaum, geschmückt mit gebastelten Sternen, Schneemännern und Schleifen von Kindern, die ihre Wünsche mit unsicherer Schrift auf die Rückseite ihrer Werke gekritzelt hatten. Vor einigen Tagen war Natsuki auf dem Nachhauseweg näher getreten und hatte sich lächelnd einige der Wünsche durchgelesen. Sie reichten von “Ich wünsche mir schöne Geschenke“ bis zu “Ich wünsche mir, dass niemand alleine sein muss.“ Die Drei sagten eine Weile lang gar nichts, doch Yukio durchschnitt als Erster die Stille. "Brrr, kalt...", sagte er leise, eher zu sich selbst als zu den anderen beiden. Natsuki schreckte aus ihren Gedanken hoch. "Ja", nickte sie. "Wir können uns bei mir zu Hause bei einer Tasse Kakao aufwärmen", schlug sie vor. "Es sei denn, ihr müsst schnell heim." "Nööö", gab Naomi erfreut von sich, da das wieder eine Chance war, ihren reizenden kleinen Brüdern für einige weitere Stunden zu entkommen und auch Yukio schüttelte verneinend den Kopf. Natsuki lächelte. Sie wollte den Nachmittag nicht allein verbringen, nicht, nachdem sich jetzt wieder so viele bedrückende Gedanken angesammelt hatten. Ein bisschen Ablenkung mit Naomi und Yukio tat ihr gut und wenn sie alle drei wieder warm und trocken waren, würden sie bestimmt wieder zur ihrer Hochform auflaufen - sie waren nämlich nicht immer so schweigsam und wortkarg wie jetzt. Ganz im Gegenteil - Yukio war eine angenehme Gesellschaft und Natsuki war froh, dass ihre beste Freundin jemanden so Nettes gefunden hatte. "Wir sind da", verkündete sie, nun etwas besser gelaunt und deutete auf das Wohnhaus "Orleans". "Gerade rechtzeitig", grinste Naomi. "Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass mein rechter Zeh bereits der Kälte zum Opfer gefallen ist!" Natsuki lachte und die drei fuhren mit dem Lift ins siebte Stockwerk, wo sich Natsuki's Appartement befand. Nachdem sie alle aus dem Auszug in den Flur heraustraten, schnupperte Natsuki irritiert in der Luft herum, während Yukio schon verächtlich die Nase rümpfte. Im ganzen Flur stank es. "Was riecht hier so angebrannt?", fragte das Mädchen alarmiert - nicht, dass irgendwo drohte, ein Feuer auszubrechen, doch Naomi zuckte nur gleichgültig die Schultern und folgte ihrer Freundin bis zu der Haustür. "Bei uns riecht es genauso, wenn mein Bruder zum Kochen gezwungen wird. Könnte Gebäck sein", schlug sie vor, vollkommen unbeeindruckt und Natsuki ließ sich einigermaßen davon beruhigen, denn, vor der Tür angekommen, konnte sie sich sicher sein, dass der Gestank nicht aus der Wohnung ihrer Eltern kam. Hätte sie auch gewundert, wenn ihre Mutter irgendetwas hätte anbrennen lassen. Die 16jährige zog sich einen Handschuh von der rechten Hand und steckte diese in die Jackentasche, um den Haustürschlüssel herauszuziehen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Gerade, als Natsuki den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, wurde die Tür der Minazuki's geöffnet und eine ihr sehr wohlbekannte Stimme rief gleichzeitig "Ich bringe den Müll schon raus, Mama!" Der Schlüsselbund fiel klirrend zu Boden und die beiden starrten sich einen ewig währenden Augenblick geschockt hat. Naomi und Yukio beobachteten die ganze Szene mit Argusaugen, und wenn Yukio auch nicht ganz verstand, was sich da gerade abspielte, so ahnte er eins: Der junge Mann, der mit einer Mülltüte in der Tür stand, konnte nur dieser Shinji sein, von dem Naomi und Natsuki noch vor wenigen Minuten geredet haben. "Shinji", stellte Natsuki fassungslos fest und war noch immer nicht fähig, irgendeine Gefühlsregung zu zeigen. Sie stand einfach nur dar, mit dem Schlüsselbund vor ihren Füßen liegend, und starrte den Nachbarsjungen wie eine Erscheinung an. Der jedoch schien schneller wieder zu sich zu kommen, denn er hatte bereits ein entschuldigendes Grinsen im Gesicht und kratzte sich verlegen mit der freien Hand am Hinterkopf. "So sollte das aber nicht ablaufen", erklärte er lächelnd, in einem schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen, obwohl das niemand von ihm verlangt hatte. Natsuki's Gedanken rasten durch ihren Kopf, ohne, dass sie sich auf einen von ihnen richtig konzentrieren konnte. Stand da wirklich Shinji vor ihr? Mit einem Müllbeutel in der Hand? Und erzählte irgendetwas von einem "Plan"? Noch bevor sie auf eine dieser verwirrenden Tatsachen näher eingehen konnte, unterbrach Yukio ihre Gedankenachterbahn. "Kommt dieser Gestank etwa da raus?" Er rümpfte wieder die Nase und deutete auf Shinji, oder besser gesagt, auf die Wohnung, aus der Shinji eben herausgekommen war. Und tatsächlich: der Geruch nach verbranntem Gebäck strömte unverkennbar aus der Wohnung der Minazuki's. Natsuki drehte ihren Kopf zu Yukio um, fassungslos, wie man in so einer Situation auf etwas so Triviales kommen konnte und konnte gerade noch sehen, wie Naomi ihrem Freund genervt den Ellbogen in die Rippen stieß, was diesen sofort wieder verstummen ließ. Shinji aber, froh, dass dieser interessante Einwurf die Stimmung etwas aufgelockert hatte, lachte erleichtert. "Back-Experimente", erklärte er knapp und setzte sich in Bewegung, stand plötzlich vor Natsuki, die ihn stirnrunzelnd ansah. Er sah noch genauso aus, wie vor vier Monaten, aber was sollte sich in dieser kurzen Zeitspanne denn auch großartig verändert haben? Noch bevor das Mädchen den Mund aufmachen konnten, um ihn zu fragen, weshalb er schon früher zurückgekehrt war - immerhin hat sie ganz und gar nicht mit ihm gerechnet und sein plötzliches Auftauchen hat ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt - ging er vor ihr in die Knie. Hinter Natsuki sog Naomi scharf die Luft ein. Doch Shinji richtete sich sofort wieder auf und drückte der ebenfalls geschockten Natsuki ihren heruntergefallenen Schlüsselbund wieder in die Hand. Als sie ihn mit großen Augen ansah, beugte er sich vor und küsste sie vollkommen unerwartet auf die Wange, war aber genauso schnell schon wieder fünf Meter von ihr entfernt und grinste sein altbekanntes Grinsen. "Ich komm nachher vorbei", kündigte er an und wedelte den drei verdutzen - genauer gesagt zwei verdutzen und einer feixenden - Gestalten winkend mit dem Müllbeutel zu, bevor er die Treppe hinuntereilte und Yukio, Natsuki und Naomi nur noch seine Schritte im Treppenhaus hallen hörten. Langsam begriff Natsuki, was gerade geschehen war. Shinji war wieder zurück, früher als erwartet und immer noch genauso dreist und frech wie immer. Sein plötzliches Auftauchen hatte ihr einen leichten Schrecken eingejagt, aber so, wie sie ihn kannte, war es genau dieser Überraschungseffekt, den er zu erzielen vorgehabt hatte. Wenn auch irgendetwas "nicht nach Plan" gelaufen war. Das, was nicht nach Plan gelaufen war, so schätzte Natsuki jedenfalls, war die Tatsache, dass sie ihm rein zufällig über den Weg lief, als er das Appartement verlassen wollte. Mit einem Müllbeutel in der Hand. Wenn sie es sich hätte aussuchen können, wäre sie ihm ebenfalls nicht in diesem Zustand begegnet - dick eingepackt, frierend und bis auf die Knochen durchnässt. Ja, es war wirklich etwas ganz und gar nicht nach Plan gelaufen! Ihre beiden Freunde folgten Natsuki schweigend in die Wohnung. Sie merkten, dass etwas in der Luft lag und wagten es nicht, das Wort an die 16jährige zu richten, die mit einem äußerst grimmigen Gesichtsausdruck zielstrebig Richtung Wohnzimmer marschierte, wo, wie erwartet, Marron saß und gerade mit einer defekten Lichterkette kämpfte. Ihr Vater, Chiaki, saß seelenruhig auf der Couch und studierte, seine Lesebrille auf der Nase, irgendein Ärztemagazin. Fast schüchtern traten Yukio und Naomi herein und begrüßten die Eltern, doch Natsuki kümmerte sich nicht um sie, blieb, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihrer Mutter stehen und bedachte diese mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. Marron blickte perplex zu ihr auf und ließ das Kabel sinken, das sie gerade zu entknoten versuchte. "Ich habe eben Shinji getroffen", erklärte ihre Tochter vorwurfsvoll und sah Marron anklagend an. "Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass er früher heimkommt?" Ihrer Meinung nach war alles eine riesengroße Verschwörung von den zusammenarbeitenden Parteien, vor allem ihre Mutter und Shinji rührten kräftig mit! Marron bekam ganz große Augen. "Shinji ist schon zurück?", fragte sie verwundert ihre Tochter und schien gar nicht mitzubekommen, dass der Vorwurf in ihre Richtung gegangen war. Natsuki war nun etwas verunsichert ob der Reaktion ihrer Mutter, die sofort aufstand und vor Freunde beinahe in Begeisterungsstürme verfiel. "Das ist ja wunderbar! Chiaki, hast du gehört?" Von Chiaki hingegen war ein lautes Grummeln zu hören und er legte missmutig seine Zeitschrift beiseite. "Und ich habe auf ein paar erholsame Festtage gehofft", beschwerte er sich und abgesehen von Yukio wussten alle in diesem Raum, dass DAS nicht wirklich Chiaki's Problem war. "Ach, hör doch auf. Als würde er dich stören!", tadelte Marron ihn und wandte sich wieder der verwirrten Natsuki zu. "Miyako hat mir gar nichts davon erzählt", erklärte sie ihrer Tochter und war in Gedanken wahrscheinlich schon bei den weihnachtlichen Pfannkuchen, die sie Shinji morgen früh zubereiten würde. Resigniert, da sie ganz offensichtlich keinem die Schuld für Shinji's verfrühte Rückkehr geben konnte, machte sie sich auf den Weg in die Küche, um den versprochenen Kakao zuzubereiten, denn Yukio und Naomi standen immer noch stumm hinter ihr und warteten auf das wärmende Getränk. In der Küche duftete es außerdem nach leckeren Weihnachtsplätzchen, die Marron wohl gerade erst frisch aus dem Ofen geholt zu haben schien... "Natsuki? Natsuuuki! Huhu!" Genervt wedelte Naomi ihrer besten Freundin mit der Hand vor dem Gesicht herum. Seitdem sie Shinji vorhin im Flur begegnet war, war sie nicht mehr wieder zu erkennen. In sich zurückgezogen und abwesend saß sie am Tisch und knabberte schon seit mindestens zehn Minuten an demselben Keks herum, beteiligte sich auch kaum am Gespräch. "Entschuldige", murmelte das Mädchen und ihr Blick hing immer noch an der großen Uhr über der Tür, die sie die ganze Zeit über anstarrte. "Ich war in Gedanken..." "Haben wir kaum gemerkt", spöttelte Naomi, wurde dann aber wieder ernst. "Machst du dir Sorgen?" Natsuki erwachte wie aus einer Trance und warf ihrer besten Freundin einen vielsagenden Blick zu. Ihr erster Impuls war gewesen, es abzustreiten, aber wenn sie so darüber nachdachte, hatte Naomi gar nicht so Unrecht. Wie würde das Zusammentreffen mit Shinji nach vier-monatiger Abwesenheit verlaufen? Er jedenfalls war immer noch der Alte und sich anscheinend seiner Sache sehr sicher. Und trotzdem war Natsuki irgendwie aufgeregt und nervös. "Ein bisschen", gab sie zögernd zu und Naomi nickte und tätschelte ihre Schulter. "Das wird schon!", versprach sie zuversichtlich und Yukio, der nichts von diesem Mädchenzeug verstand, widmete sich derweil konzentriert seinen Keksen und dem Kakao, diskret darauf bedacht, den Eindruck zu erwecken, er würde nicht das Geringste von dem Gespräch mitbekommen. Kurze Zeit später verabschiedeten sie sich von Natsuki und ließen das Mädchen alleine mit ihren Gedanken. Den Rest des Tages schlich sie ruhelos durch die Wohnung und versuchte, irgendwie das flaue Gefühl in ihrer Magengegend loszuwerden, doch je später es wurde, desto nervöser wurde sie, konnte sich jedoch auch nicht ablenken, da der Gedanke an das spätere Treffen sie einfach nicht mehr losließ. Sie erinnerte sich an ihre Verwirrung und Unsicherheit, als sie zum ersten Mal bemerkt hatte, dass Shinji mehr für sie war als nur der nervige Nachbar und sie mehr für ihn war als nur die Tochter der Leute, die ihm ihr Frühstückbuffet zur Verfügung stellten. Das Gefühl damals kam dem Jetzigen ziemlich nahe, doch hatte sie es damals nicht so bewusst wahrgenommen, wie jetzt, wahrscheinlich, weil sie noch ganz andere Sachen beschäftigt haben. Zum Beispiel die Sache mit der Wiedergeburt... Mittlerweile dachte sie fast gar nicht mehr daran, denn im Grunde hatte sie ihr eigenes Leben zu leben und konnte es sich nicht leisten, einem längst Vergangenem nachzuhängen. In einer gewissen Weise beruhigte sie der Vergleich sogar, denn das ließ ihre Zweifel bezüglich ihrer Gefühle verblassen. Sie war nervös und aufgeregt und ihr Herz klopfte bis zum Hals! Diesen Zustand konnte man wohl kaum auf Gefühllosigkeit zurückführen! Diese Erkenntnis linderte ihre Nervosität aber kein bisschen. Genauso wenig wie die Ungewissheit, welchen Zeitpunkt genau Shinji mit "nachher" gemeint hatte. Sie musste also allzeit bereit sein und schon kurze Zeit später saß sie geduscht, mit gewaschenen Haaren und fertig angezogen auf ihrem Bett, hatte die Hände im Schoß gefaltet, um sie stillzuhalten und betrachtete ungeduldig den Sekundenzeiger der Uhr, der - zu ihrem Missmut - viel langsamer ging als ihr eigener Herzschlag. Nach schier endlos langer Zeit ertönte endlich die Türklingel und Natsuki sprang, wie von der Tarantel gestochen, auf und wollte schon zur Tür rennen, rief sich aber doch noch zur Ordnung und zwang sich, sich erstmal zu beruhigen. Nach ihrer gefühlten Zeit waren schon einige Stunden ins Land gezogen, während sie auf ihn gewartet hatte. Dabei waren gerade mal Zwei vergangen. Betont langsam - was wirklich eine Herausforderung war in diesem Zustand - schlenderte sie zu ihrer Zimmertür und ins Wohnzimmer hinaus. Sie konnte hören, dass Marron bereits die Tür aufgemacht hatte und sich mit Shinji unterhielt. Natürlich war sie neugierig auf alles, was er in Großbritannien erlebt hatte und einige Fragen brannten ihr auf der Zunge, die wohl nicht warten konnten. So, wie es aussah, hatte sie Chiaki in die Küche zum Kochen verbannt, denn aus dieser drangen laute Geräusche heraus, knallende Schranktüren und das Geräusch von Metall, das auf Metall aufschlug. Was machte ihr Vater da nur mit den Töpfen?! Natsuki jedenfalls war ganz froh, dass Chiaki ihr nicht in die Quere kommen würde, es war für sie allein schon eine schwierige Situation, da konnte sie die doppelte Anspannung nicht gebrauchen. Trotzdem machte sie sich ein bisschen Sorgen um das Kücheninventar und als sie in Shinji's Blickfeld kam und sich in einigem Abstand zu ihrer Mutter, die mit dem Rücken zu ihr stand, stehen blieb, drehte diese, als hätte sie es geahnt, sich von Shinji weg und lächelte ihre Tochter mit einem bekümmerten Ausdruck an. "Ich gehe mal lieber nachsehen, was er da macht, das hört sich nicht gut an!", erklärte sie und rauschte an dem Mädchen vorbei in die Küche, ließ die beiden allein. Eine unangenehme Anspannung legte sich zwischen sie, beide wussten nicht so recht, was sie machen oder wie sie sich verhalten sollten. Natsuki ärgerte sich über ihre eigenen Zurückhaltung. Wäre es nicht normaler gewesen, ihm in die Arme zu fallen und ihm zu versichern, wie sehr sie ihn vermisst hatte? Aber andererseits kam ihr das viel zu melodramatisch vor und so viel Zeit hatte sie nun auch wieder nicht mit ihm verbracht, bevor er weggeflogen war. Wie auch immer sie es drehte und wendete: der Zeitpunkt für eine große melodramatische Geste war nun eindeutig verstrichen und sie standen sich noch immer schweigend gegenüber, jeder den jeweils anderen musternd. Schließlich war es - und das war für beide keine große Überraschung - Shinji, der die Stille durchbrach. Er streckte die Hand aus - in der er bis dato etwas Glitzerndes gehalten, was Natsuki aber gar nicht bemerkt hatte - und hielt ihr eine durchsichtige, kleine Tüte hin, die mit einem schönen Band zusammengebunden war. In seinem Gesicht blitzte ein fast verlegenes Grinsen auf. "Für dich", sagte er und Natsuki machte automatisch ein paar Schritte auf ihn zu und nahm neugierig und sich gleichzeitig wundernd das Geschenk entgegen. Sie betrachtete es genauer und stellte fest, dass sich in der Tüte Kekse befanden. Um genauer zu sein, es waren sternförmige Kekse. Stirnrunzelnd blickte sie zu Shinji hoch, der sie nun übermäßig stolz und selbstzufrieden angrinste. "Was ist das...?", wollte das Mädchen klugerweise wissen. Dass es Plätzchen waren, das war ihr schon klar, sie verstand nur nicht, was an ihnen so besonders war und weshalb Shinji sich deswegen so anstellte. Zumindest erklärte das den verbrannten Gestank vorhin im Flur. Die Gesichtszüge des 20jährigen entgleisten und er starrte das Mädchen nur fassungslos an. Als er sprach, mischte sich Empörung in seinen Tonfall mit hinein. "Das sind Sternschnuppenplätzchen!", versuchte er ihr, so würdevoll wie möglich, klarzumachen und erst da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Shinji, in seiner Ehre ein bisschen verletzt, plapperte rechtfertigend weiter: "Sie haben zwar keinen Schweif und so, aber es war schon schwer genug, die Sterne herauszuschneiden." Natsuki warf ihm einen gerührten und gleichzeitig fragenden Blick zu. Herausschneiden? Bevor sie die Frage stellen konnte, setzte er auch schon zu einer Erklärung an. "Wir haben keine sternförmigen Backformen." "Ohh..." Sie schaute wieder auf die verkümmerten Kekse in ihren Händen und lächelte sie liebevoll an, als eine Welle der Zuneigung über sie schwappte und sie, ohne darüber nachzudenken oder die Pro's und Contra's abzuwiegen, die Arme ausbreitete und Shinji stürmisch umarmte. Der junge Mann wusste gar nicht, wie ihm geschah, denn damit hatte er nicht gerechnet. Vielmehr, dass sie sich über seine kleine Aufmerksamkeit lustig machen würde, denn nach ihrem Blick nach zu urteilen, wusste sie anfänglich nicht so recht, was sie damit anfangen sollte. Ein Glück für ihn nur, dass sie nicht wusste, wie viele Versuche er gestartet und wie viele Miyak'sche Nerven er verbraucht hatte, um diese kleine Tüte zu füllen. Der Gestank war ihr höchstwahrscheinlich trotzdem nicht entgangen... Schnell drückte er sie an sich, immer noch etwas perplex, und dachte schon, dass sie ein paar Tränen vergoss, während sie das Gesicht so in seinen weinroten Pullover drückte, doch dann blickte sie zu ihm auf und strahlte ihn an. Ein Lächeln, das ihn vor Übermut fast aus der Haut fahren ließ. "Danke", sagte Natsuki, wandte sich von ihm ab und hielt die Tüte behutsam in die Höhe, als sei es eine Kostbarkeit, um sie sich genauer anzusehen. "Die kann ich doch nicht so einfach aufessen?" Shinji lachte. "Wenn ich ehrlich sein soll, bezweifle ich auch, ob sie essbar sind...", gestand er grinsend und merkte, dass das Eis zwischen ihnen nun endgültig gebrochen war. Das würde der Anfang von etwas ganz Besonderem sein. "Wollen wir gehen?", schlug er vor und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie nickte, nahm sich ihre Jacke, die Marron zwischenzeitlich wohl auf die Heizung verbannt hatte, da sie nun trocken war, und Shinji hielt ihr die Tür auf. Als sie sich ein wenig von dem "Orleans" entfernt hatten - Shinji hatte ein bisschen über seine Backversuche sinniert und Miyako's Nervenzusammenbrüche zwischendurch verblüffend echt nachgeahmt - hielt der 20jährige plötzlich inne und blieb stehen, zog Natsuki an der Hand zurück. "Was ist?", wollte sie wissen und schaute ihn fragend an. Er erwiderte ihren Blick nachdenklich. "Da fällt mir ein... am Flughafen damals. Du wolltest mir etwas sagen?" Wenn Natsuki's Puls sich gerade auf dem Weg zu der Normalität befunden hatte, dann hatte diese Bemerkung den absolut gegenteiligen Effekt. Vielmehr schoss ihr das Blut ins Gesicht und stattete es mit einer gesunden Portion Farbe aus. Sie sog scharf die Luft ein und blickte ihren Freund mit einer Mischung aus Qual und Misstrauen entgegen. Stimmt ja, sie hatte ihm versprochen, ihm etwas zu sagen, sobald er zurückkam. Tja, nun war er zurück und... wie konnte sie nur so etwas versprechen?! Sie muss total neben sich gestanden haben! "Oder?", hakte er nach, weil sie ihm auf seine Frage - eher Feststellung - keine Antwort gegeben hatte. Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht, während er sie prüfend ansah. Für einen kurzen Augenblick glaubte Natski, das bereitete ihm alles sehr viel Vergnügen. "Möglich", wich sie dann aus und mied seinen bohrenden, amüsierten Blick. Die dicken Schneeflocken fielen immer noch vom Himmel, genauso wie vorhin, als sie mit Naomi und Yukio nach Hause gegangen war. Es war, als hätte der Himmel einen ewig währenden Vorrat an diesen kleinen Schneekristallen und für einen kurzen Moment fragte sie sich, wie voll es dort oben wäre, wenn dem wirklich so wäre. "Also?" Shinji's Stimme ließ sie - zu ihrem Leid - nicht weiter über die Schneeflocken nachdenken - was ihr im Moment als ein viel besseres Thema erschien als das, worauf er unwissentlich hinauswollte. Natsuki spielte mit dem Gedanken, es einfach auszusprechen, aber als sie den Mund aufmachte, kam kein Laut heraus und sie merkte, dass es nicht viel Sinn machte, noch weitere Anläufe zu machen. Irgendwann würde sie es ihm sagen können, aber nicht heute. "Das geht dich nichts an, klar?", erwiderte sie patzig, wieder in der Defensive. Dann drehte sie sich von ihm weg und begann, die Straße wieder entlangzulaufen. Hinter ihr hörte sie zu ihrem eigenen Erstaunen, wie Shinji belustigt gluckste. Argwöhnisch blieb sie stehen und warf über ihre Schulter einen Blick nach hinten, bemerkte, wie er sie amüsiert musterte. Dann setzte auch er sich in Bewegung, trat neben sie und griff nach ihrer Hand. "Verstehe." Shinji blickte geradeaus die Straße entlang und lächelte vor sich hin. "Ich dich auch." Natsuki hätte sich fast verschluckt, zumindest, wenn sie gerade etwas zum Essen oder Trinken gehabt hätte. "Was?", fragte sie alarmiert, ihre Wangen immer noch glühend, sich nicht ganz sicher, was das jetzt sollte. Hatte sie sich verhört? "Das geht dich nichts an", grinste Shinji sie schelmisch an, hob seine freie Hand an ihre Wange und beugte sich leicht zu ihr herunter... Kapitel 30: Valentine's Special #5: Just A Matter Of Right Timing ----------------------------------------------------------------- Eilig bog Natsuki um die Ecke und lehnte sich, nachdem sie den Flur, der nun vor ihr lag, genauestens inspiziert hatte, an die Wand, um zu verschnaufen. Sie fühlte sich wie auf der Flucht, aber andererseits - das war sie ja auch! Mittlerweile kannte sie die Gänge der Momokuri Universität in- und auswendig und hatte sich auch schon den ein oder anderen Schlupfwinkel zurechtgelegt, doch leider hatte ihr Gegenspieler ihr 4 Jahre Uni-Kenntnisse voraus. Und würde sie immer haben! So ein Mist! "Oh Gootttt!!", dröhnte es plötzlich in ihren Ohren und sie fuhr erschrocken zusammen, doch es war nur Naomi, die schwer atmend ihre Arme auf den Knien abstützte und ziemlich erschöpft den Kopf schüttelte. "Du kannst rennen wie ein Hase auf der Flucht. Was ist denn los?" Natsuki grinste schief und wurde plötzlich wieder an alte Zeiten erinnert. "Ich verstecke mich vor Shinji", wisperte sie ihrer besten Freundin zu, indem sie sich näher zu dieser vorbeugte und darauf bedacht war, den Vorbeigehenden das Mithören zu erschweren. Naomi bedachte Natsuki mit einem merkwürdigen Blick, der sie als verrückt abstempeln sollte und hob eine Augenbraue. "Wieso das denn? Ich dachte, die Zeiten wären vorbei?", wollte sie verständnislos wissen und richtete sich langsam auf, ihre Atmung normalisierte sich wieder. Während Natsuki ihren Weg in normalem Tempo weiter fortsetzte, mit Naomi im Schlepptau, erklärte sie die ganze Situation. "Er ist einfach überall! Ich kann nicht mit anderen Mädchen reden, weil er dann direkt auftaucht und sie denken, wir wollen 'allein gelassen werden' und wenn Jungs in der Nähe sind, macht er einen auf 'großer Beschützer'." Sie rollte zwischendurch genervt die Augen. "Und alle ergreifen sofort die Flucht. Ich hab nicht mal den Hauch einer Chance, mich mit normalen MENSCHEN anzufreunden!" Grimmig starrte das Mädchen vor sich hin. Shinji's dauernde Allgegenwärtigkeit machte ihr wirklich zu schaffen und manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt studierte oder sich nur auf die Lauer legte, um alle ihre sozialen Kontakte zu zerstören! Er hatte aber auch ein echt gutes Timing, was das anging... "Ich muss da lang. Sehen wir uns nachher in der Cafeteria?", fragte Naomi und zeigte nach rechts, wo ein weiterer Gang vom Flur abging. Natsuki nickte und winkte dem Rücken ihrer Freundin zu, der sich langsam entfernte. Als sie weitergehen wollte, wäre sie fast gegen etwas geprallt, das bedenklich nah vor ihr stand. Sie blickte auf und erkannte Kei, einen Jungen aus ein paar ihrer Kurse. Er hatte schwarze, kurze Haare und grüne Augen, die jetzt amüsiert auf ihr ruhten. "Hallo, Natsuki", begrüßte er sie freundlich, wich jedoch keinen einzigen Schritt zurück. Da ihn nur wenige Zentimeter von ihr trennten, tat Natsuki es. Soziale Kontakte in Ehren, aber an so einen Kontakt hatte sie dabei nun auch wieder nicht gedacht. "Hallo Kei", sagte sie und lächelte, strich sich dabei automatisch eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Kei sah sich um und schien erleichtert. "Endlich erwische ich dich mal ohne deinen ständigen Begleiter", sagte er gerade, als auch schon ein wohlbekannter Schatten leise neben ihm auftauchte. Shinji grinste munter. "Du hast einen ständigen Begleiter, Natsuki-chan?", wollte er voller Unschuld wissen. "Wieso weiß ich davon nichts?" Das Mädchen sog hörbar genervt die Luft ein und schenkte ihrem Freund einen vernichtenden Blick, doch dieser ließ sich nicht davon beeindrucken. Stattdessen trat er an ihre Seite und legte ihr voller Selbstverständlichkeit den Arm um die Schultern. Natsuki entging es nicht, dass er Kei dabei herausfordernd angrinste. Dieser hob abwehrend die Hände in die Luft. "Ich will dann auch nicht stören", entschuldigte er sich. "Wir sehen uns im Seminar." Und so schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder im selben Flur, den Naomi vor einigen Minuten entlanggegangen war. Natsuki machte sich wutschnaubend von Shinji Umarmung los und trat einen Schritt zurück, funkelte ihn zornig an. Der junge Mann erwiderte ihren Blick ratlos, schien jedoch geduldig auf die nächste Salve Wut zu warten, die ihn schon bald erfassen würde, doch seine Freundin stierte ihn nur in einer "Wenn-Blicke-töten-könnten“-Manier an und, ohne ein Wort zu sagen, machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte in die andere Richtung davon. Die Worte waren ihr einfach im Hals stecken geblieben, so sauer war sie auf Shinji! Durfte sie sich denn mit keinem mehr anfreunden? Würde er immer so kontrollsüchtig bleiben? Der junge Mann, der mal wieder wie bestellt und nicht abgeholt stehen gelassen wurde, setzte sich nach einer kurzen Schrecksekunde in Bewegung und hatte seine Freundin schon nach ein paar Schritten eingeholt, hielt sie am Handgelenk fest, doch sie riss sich wieder los. Wenigsten war sie stehengelieben und warf ihm wieder diese tödlichen Blicke zu. Dann, ganz langsam, hob sie ihre Hand und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. "Du nervst!", keifte sie ihn an. "Bist du eigentlich überall?" Obwohl Shinji eben noch so unschuldig getan hatte, wusste er sehr wohl, worum es ging. "Ich mag ihn nicht", verteidigte er sich, froh darüber, dass sie mittlerweile die Einzigen im Gang waren und ihnen gaffende Studenten erspart blieben. "Er ist mir nicht geheuer." "Na klar!", höhnte Natsuki. "Nur weil er ein Mann ist! Du bist doch so eifersüchtig, dass es beinahe weh tut!" Shinji grinste anmaßend und lehnte sich zurück. "Er ist doch kein Mann", spottete er und ein hämisches Lächeln umspielte seine Lippen, doch Natsuki schnaubte genervt. "Weißt du was?", fragte sie aufgebracht. "Den Titel 'Mann' muss man sich erst einmal verdienen! Angefangen damit, dass man sich nicht wie ein eifersüchtiger Trottel benimmt!", spielte sie ihren letzten Trumpf aus und drehte sich wieder um, um Shinji, der bei ihren letzten Wörter zur Eissäule erstarrt schien, wieder stehen zu lassen. Als sie um die Kurve bog, entdeckte sie eine Damentoilette, die auf der anderen Seite einen weiteren Eingang hatte, durch den Natsuki in Nullkommanichts entkommen konnte. Was für ein Glück! Wütend riss sie die Tür auf und ließ sie hinter sich ordentlich knallen, um auch ja keine Missverständnisse zwischen ihnen aufkommen zu lassen. Das Wochenende war beinahe um und Natsuki hatte Shinji am Freitag, dem Tag des großen Streites, das letzte Mal gesehen. Die freien Tage hatte sie viel mit Naomi verbracht und war so oft wie möglich unterwegs, denn sie wusste, früher oder später würde Shinji bei ihr zu Hause auftauchen. Anfangs hatte sich das Mädchen dagegen gesträubt, weil sie noch zu wütend war und keine Ausflüchte oder Entschuldigungen hören wollte, aber mittlerweile hatte sie nur noch Angst vor der Konfrontation, denn die Zweifel hatten sie doch übermannt. Vielleicht hatte sie überreagiert? Vielleicht war sie im Unrecht? Sie wusste, dass er es nur gut meinte und ja, sie hatte ihn gern in der Nähe, aber... es war zu viel. Trotzdem hätte sie es ihm doch auch ganz normal erklären können? Sie hatte wirklich überreagiert... oder? Natsuki seufzte und zog sich, nach einem kurzen Blick auf die leuchtende Funkuhr, die Decke über den Kopf. In weniger als zehn Stunden würde sie ihn vielleicht schon wiedersehen. Vorrausgesetzt, er tauchte, wie immer, ungefragt auf. Sie hoffte wirklich, dass er ungefragt auftauchte... Als hätte es nicht anders kommen können, tauchte Shinji nicht auf. Und zwar den ganzen Vormittag nicht. Er stahl sich auch nicht in ihren Hörsaal und saß plötzlich neben ihr und hielt sie vom Mitschreiben ab. Nein, er begegnete ihr auch nicht in der Mittagspause in der Mensa und auch nicht am Nachmittag. Langsam fing sie an, sich Sorgen zu machen. War er tatsächlich so sauer auf sie? Hatte sie ihn verletzt? Natsuki wurde fast übel, als sie sich daran erinnerte, was sie zu ihm gesagt hatte. "Den Titel 'Mann' muss man sich erst einmal verdienen"! Sie hatte nicht nachgedacht und jetzt... ging er ihr aus dem Weg! So schlimm war es noch nie gewesen, denn wann immer ihr Temperament mit ihr durchging, tauchte er wieder auf und brachte sie mit seiner charmanten, entwaffnenden Art wieder zum Lachen und ihr Ärger verpuffte im Nichts. Er war großartig, was das anging. Und sie, sie war viel zu ungeduldig. Was hatte sie angerichtet? Sie würde auch nicht mehr dazu kommen, ihn heute zu Hause zu besuchen, um sich zu entschuldigen, denn sie hatte bis acht Uhr abends Kurse und danach musste sie sofort zum Kendo. Die Montage waren immer voll ausgefüllt und meistens fiel sie nach den anstrengenden zwölf Stunden wie tot ins Bett, jedoch wusste sie, dass sie heute kaum ein Auge zutun können würde... Vollkommen mit den Nerven fertig - in der Zwischenzeit hatte sie mit ihrer schlechten Laune sogar Naomi vergrault, und das kam äußerst selten vor - suchte Natsuki sich ihre Blätter zusammen und packte diese in den Ordner, den sie zusammen mit ihren Stiften lieblos in ihre Umhängetasche beförderte. Auf Kendo hatte sie jetzt wirklich gar keine Lust und spielte mit dem Gedanken, zu schwänzen, doch was sollte sie ihren Eltern erzählen? Und noch zwei Stunden im Park oder in der Stadt zu bummeln, danach stand ihr wirklich nicht der Sinn. Abwesend schlenderte sie, als eine der Letzten, aus dem großen Hörsaal in die Vorhalle, außer ihr war fast keiner mehr da, was ja auch kein Wunder mehr war, bei dieser Uhrzeit! Durch die Glastür einige Meter weiter konnte sie sehen, dass die Sonne bereits untergegangen und es dunkel war. Zum Glück war die Kendohalle nur einige Straßen weiter, sodass sie nicht lange zu Laufen brauchte. Schweren Herzens steuerte sie den Ausgang an, hinter dem sie die kühle Abendluft erwartete. Es war angenehm draußen, nicht kalt und nicht warm, gerade richtig für einen schönen Herbstabend, und trotzdem fehlte da etwas, um das zu genießen... Noch bevor sie diesen Gedanken weiter nachgehen konnte, spürte sie, wie jemand neben sie trat und sie an der Schulter streifte. Fast schon erfreut wirbelte sie herum und blickte dem Neuankömmling erleichtert an. Doch die Vorfreude wich einem enttäuschten Seufzten, als sie bemerkte, dass es nicht Shinji war, der dazugekommen war. Es war Kei. "Oh", machte sie automatisch und zwang sich im selben Augenblick, sich zusammenzureißen. Sie wollte nicht unhöflich sein. "Hallo." "Du hast einen Stift verloren, Natsuki", sagte der Schwarzhaarige fröhlich und hielt ihr einen gewöhnlichen Bleistift hin. Natsuki griff automatisch nach dem Stift, doch dann schaute sie ihn sich genauer an. "Das ist nicht meiner, tut mir leid." Sie gab ihn Kei wieder zurück, doch der zuckte nur die Schultern. "Schade. Ich hätte gerne einen Vorwand gehabt, um mit dir reden zu können", gestand er, immer noch heiter, und Natsuki wusste nicht so recht, wie sie diese Aussage interpretieren sollte. "Einen Vorwand? Du kannst immer mit mir reden", versuchte sie es auf diese Weise, doch Kei's Gesichtsausdruck wurde plötzlich ganz ernst und er fixierte sie. Natsuki fühlte sich, als wäre sie unter seinem durchdringenden Blick festgenagelt worden, seine Augen blitzten auf. "Etwa wenn dein Freund dabei ist?", wollte er wissen und in ihren Ohren klang der spöttische Unterton nach, den sie in seinem Satz zu hören glaubte. Plötzlich fühlte sie sich sehr unwohl. Was wollte Kei? "Na ja...", sagte sie lahm. "Jetzt ist er ja nicht hier..." Er lachte, es klang nicht aufrichtig. "Genau." Doch dann lächelte er wieder und entließ sie aus seinem hypnotischem Blick, das Mädchen atmete erleichtert auf. "Denkst du wirklich, er ist der Richtige für dich?", hakte Kei nach und Natsuki schnappte nach Luft. "Wie bitte?" Kei starrte in den Abendhimmel und tat gleichgültig. "Ich hab gesehen, wie ablehnend du ihn angesehen hast. Du bist genervt von ihm. Du kannst unmöglich glücklich sein", analysierte er das geschockte Mädchen, das ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. Dann sah er sie wieder mit demselben, durchdringenden Blick an, doch anstatt sich davon wieder so gefangen nehmen zu lassen, kroch schon wieder die Wut in Natsuki hoch. Langsam erhob sich die Welle, füllte ihre Brust, ihren Kopf, ihre Zehenspitzen aus, ihre Finger kribbelten gefährlich, doch sie ballte die Hände zu Fäusten. "Du spinnst doch", sagte sie, schneidend kalt, wie ein Winterwind, der schmerzhaft unter die Haut ging. "Du hast absolut keine Ahnung." Überrascht hob der gleichaltrige Kei die Augenbrauen, doch schon nach weniger als dem Bruchteil einer Sekunde lachte er in sich hinein. "Verstehe. Du machst dir doch selbst etwas vor. Sträub dich doch nicht dagegen, Süße..." Er lehnte sich zu ihr vor und streckte die Hand nach ihr aus, doch Natsuki tat einen Schritt zur Seite und schlug seine Hand energisch zurück. "Wag es ja nicht!", warnte sie den jungen Mann, der wohl ihm Begriff gewesen war, sie zu küssen. Die Panik kroch langsam in ihr hoch, als sie sich umschaute und bemerkte, dass niemand mehr auf dem Hof anwesend war. Wieso hatte sie auch den hinteren Ausgang nehmen müssen? Kei schüttelte verständnislos den Kopf. "Du wärst mit einem anderen viel besser dran", versicherte er ihr in ruhigem Tonfall, der ihn beinahe schon gefährlich erscheinen ließ. Natsuki lachte bitter auf. "Etwa mit DIR?" Er zuckte gleichgültig die Schultern. "Zum Beispiel." Doch das Mädchen hatte dafür nur ein schiefes Lächeln übrig. "Nein, danke." Kei schien plötzlich wütend zu sein, denn seine Augen verengten sich zu Schlitzen und Natsuki erinnerte das Ganze an den Blick eines Psychopathen. Vielleicht hätte sie sich diesen Horrorfilm letzten Freitag nicht anschauen sollen... Sie schluckte und trat wieder unbewusst einen Schritt zurück. Kei öffnete wieder den Mund, als er ihr näher kam. "Du gibst mir einen Korb?", fragte er ungläubig und streckte wieder eine Hand nach ihr aus, doch mitten in der Bewegung stockte er. Natsuki blinzelte. Erst dann bemerkte sie, dass nicht er inne hielt, sondern sich eine andere Hand um sein Handgelenk gelegt hatte. Mit eisernem Griff hinderte diese ihn daran, sie zu berühren. "Das hoffe ich doch", sagte eine altbekannte Stimme in scharfem Tonfall. Er war Shinji, natürlich! Der wunderbare Shinji, der immer zur rechten Zeit auftauchte. "Shinji", rief Natsuki erleichtert und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, doch ihr Freund starrte Kei herausfordernd an. Dieser, von Shinji's Alter - immerhin lagen vier Jahre und acht Semester zwischen ihnen - und seiner Größe eingeschüchtert, zog seine Hand schnell zurück und stand plötzlich stramm. Misstrauisch musterte Shinji den Jungen. "Lass dich ja nicht noch einmal in ihrer Nähe blicken", murmelte er drohend. "Und was, wenn doch?", fragte Kei provokativ und für einen kurzen Moment lieferten sich die beiden ein intensives Blickduell, sodass Natsuki fast schon überrascht war, seine keine Funken flogen. Doch letztendlich war es Kei, der als erster den Kopf zur Seite drehte. Mit einem verächtlichen Schnauben und einer plötzlichen Bewegung wandte er sich von den beiden ab und stolzierte davon, Richtung Gittertor. Natsuki atmete beruhigt aus. Kurzzeitig hatte ihr der sonst immer so nette Kei echte Angst eingejagt. Shinji nahm nun endlich seine Freundin in Augenschein. Ernst blickte er sie an. "Du kannst doch Kendo!", wies er sie streng zurecht. "Wieso verteidigst du dich nicht?" Natsuki schien erstaunt. Stimmt! Sie konnte ja Kendo! Sie hätte ihm in Nullkommanichts das Knie zertrümmern können, oder Ähnliches... "Du hast recht!", bestätigte sie verblüfft, als sei ihr das vollkommen neu. Shinji musste angesichts ihrer Überraschung lächeln und das entspannte auch sie ein wenig. Er war nicht böse. Er war immer noch da. Und das war das einzige, was zählte: er war immer noch da! Sie ließ sich bereitwillig einen Arm um ihre Schulter legen und zusammen traten sie den Rückweg an. "Gutes Timing", grinste sie anerkennend und er lachte. "Darauf kannst du dich verlassen", versicherte er ihr und drückte sie kurz an sich, dann wurde er wieder ernst. "Du hattest recht. Ich geh dir auf die Nerven." Natsuki wollte schon protestieren. Aus seinem Munde klang es wirklich grausam, was sie da zu ihm gesagt hatte! Doch Shinji ließ sich nicht unterbrechen. "Es ist nur so, dass das mein letztes Semester an der Uni ist. Wenn alles gut geht, bin ich ab Winter im Krankenhaus, wegen der praktischen Ausbildung... Und das wird hart und ich werde wenig Zeit haben, deshalb..." Er sprach nicht mehr weiter, doch Natsuki wusste auch so, was er sagen wollte. Das stimmte. Für Shinji stand das praktische Jahr unmittelbar bevor und von ihrer Mutter wusste sie, wie sehr das die Auszubildenden einnahm. Viel lernen, viel arbeiten, wenig Freizeit... Immerhin hatte Marron die ganze Prozedur auch mit Chiaki durchlaufen und kannte sich bestens aus. "Ich weiß", seufzte sie. "Es tut mir leid. Ich habe das nicht so gemeint, ich war nur..." "Genervt", vollendete er ihren Satz und sie nickte bedrückt. Eine Minuten lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie hatten automatisch den Heimweg eingeschlagen. Viel lieber als zu Kendo zu gehen schlenderte Natsuki hier still neben Shinji her. Am liebsten für immer. Dann durchbrach er die Stille, die sich zwischen sie gelegt hatte. "Und?", fragte er vergnügt. "Hab ich mir den Titel 'Mann' nun verdient oder muss ich noch irgendwelche anderen Heldentaten vollbringen?" Natsuki wurde ein bisschen rot und lachte befangen. "Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe", stellte sie klar. Von einem Baum fiel ein kleines, gelb-gefärbtes Blatt vor ihre Füße. "Ist das ein Nein?" Er ließ nicht locker, doch die Antwort aus ihr herauszukitzeln schien ihm unverschämtes Vergnügen zu bereiten. "Nein", gab sie widerwillig zu und jetzt erst bemerkte sie die Sporttasche, die Shinji über seine linke Schulter gehangen hatte. Verblüffte schaute sie ihn an. "Was soll die Tasche?", wollte sie wissen. Er lächelte. "Basketball", sagte er knapp. "Ich hab das Training wieder aufgenommen. Irgendwie muss ich mich ja beschäftigen, wenn ich nicht in deiner Nähe sein darf." Gespielt empört stieß sie ihm sanft ihren Ellbogen in die Seite und er grinste. Dennoch war sie überrascht. Shinji hatte das Training vor einem Jahr aufgegeben, um mehr Zeit für sein Studium zu haben - zumindest hat er das behauptet. "Ich geh eh kaum hin, da kann ich es ganz bleiben lassen", hatte er damals schulterzuckend gesagt. Und jetzt spielte er wieder im Team - weil er nicht "in ihrer Nähe sein durfte". Natsuki rollte sie Augen. "Du bist ein Idiot", stellte sie ruhig fest, doch Shinji kannte das schon. "Aber ein Idiot, der sich den Titel 'Mann' verdient hat", korrigierte er sie vergnügt und Natsuki ahnte schon, dass sie das in den nächsten Wochen noch öfter zu hören bekommen würde. Aber da war sie selber Schuld dran. "Du darfst immer in meiner Nähe sein, solange du nur die Leute nicht verscheuchst", stellte sie klar, um Shinji nicht in falschem Glauben zu lassen. Er dachte darüber nach, sagte jedoch nichts dazu und wechselte nach einer Weile das Thema. "Ich hab dir doch gesagt, er ist mir nicht geheuer. Wie er dich immer angestarrt hat. Wie ein hungriger Wolf." Verblüffte schaute Natsuki ihren Freund an. Er starrte feindselig geradeaus und hatte die Zähne zusammengebissen. Kei schien ihn wirklich verärgert zu haben und das konnte sie ihm kaum verübeln. Immerhin war sie es, die ihn falsch eingeschätzt hatte. Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, redete Shinji weiter. Sein Tonfall hatte wieder einen ruhigen, munteren Klang angenommen, denn nur selten ließ er sich aus der Ruhe bringen. "Übrigens, diesen Shima, der immer mit euch zu Mittag isst, find ich eigentlich ganz in Ordnung." Bei diesem Satz musste Natsuki laut losprusten. "Das findest du aber auch nur, weil er auf Naomi steht, gib es zu", forderte sie ihn lachend auf und er grinste ertappt. "Woher weißt du das?", lenkte er ab und sie schüttelte verständnislos den Kopf. "Woher weißt DU es?", stellte sie die Gegenfrage. Shinji grinste wieder. "Sieht doch ein Blinder, dass das so ist", antwortete er und holte den Schlüssel für das Wohnhaus aus seiner Jackentasche, denn die beiden waren mittlerweile am Orleans angekommen. Natsuki lächelte "Siehst du. Daher weiß ich es auch." Beide gingen hinein und Natsuki drückte auf den Knopf, der den Aufzug ins Erdgeschoss befördern würde. Nach kurzer Zeit öffnete sich der Lift und beide traten ein. Die Türen schlossen sich wieder und mit einem kleinen Ruck setzten sie sich in Bewegung, hinauf in das siebte Stockwerk. Shinji lehnte sich entspannt zurück, sein Blick ruhte auf Natsuki, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen. Auf einmal stieß er sich von der Wand ab und war ganz nah an Natsuki's Ohr. "Und weißt du, was einen 'Mann' noch ausmacht?", raunte er ihr zu und ein Schauer bahnte sich den Weg durch alle Fasern ihres Körpers. Sie drehte sich um und erwiderte seinen Blick. "Ja", sagte sie leise, geheimnisvoll lächelnd. "Das richtige Timing." Hosted by Animexx e.V. 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