Sunset over Egypt von Sennyo (Even if tomorrow dies) ================================================================================ Kapitel 76: Fragen ------------------ Akim und Adalia hatte sie längst wieder vergessen. War es wichtig? Nein. Sie konnte nur Seth sehen. Das letzte Stück lief sie auf ihn zu, lief in seine Arme. Sie wollte, dass die Stille aufhörte. Es war viel zu lang still gewesen. "Seth!", rief sie und freute sich aufrichtig ihn zu sehen. Es schien schon so lange her gewesen zu sein. Nun war alles wieder gut. Seth war bei ihr. Sie war glücklich. Auf einfache Art und Weise schien alles einen Sinn zu haben. Doch es war nicht einfach. Nicht für den Hohepriester. „Ich dachte, du wärest schon hier gewesen“, versuchte er entschuldigend zu erklären, er hatte gar nicht bemerkt, dass Akim offensichtlich doch nicht hinter ihr hergelaufen war. Wo war er mit seinen Gedanken gewesen? Er sollte sich wirklich mehr anstrengen, dass all seine Gedanken ihn nicht überwältigten. Er legte ihr seinen Arm um die Schultern, vorsichtig, völlig ohne Belastung auf ihren Körper auszuüben. Sie folgte ihm dennoch bereitwillig in sein Gemach. Mana tapste neben ihm her. „Nein, ich war im Zimmer nebenan“, erklärte sie lieb, „und ich habe mir etwas trockenes angezogen!“ Voller Stolz präsentierte sie ihr Werk. „Das fliegt so schön!“ Sie hüpfte einmal demonstrativ auf der Stelle. Es gefiel ihr, das war überhaupt nicht zu leugnen. Es schnitt dem Brünetten tief ins Herz, doch es war nicht richtig, sie in diese Gefühle mit hineinzuziehen. Er musste sich endlich zusammenreißen. Es gelang ihm einfach nicht. Wie sollte er die Scharade aufrecht erhalten, wenn sie so vor ihm stand? Wie gern hätte er sich nun um seine Pflichten gekümmert, sich in Arbeit gestürzt, einfach nur um nicht zu denken. Das Mädchen blinzelte verdutzt. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr ganz und gar nicht. Vorsichtig, so wie alle anderen auch sie behandelten, legte sie eine Hand an seine Wange. „Was hast du denn?“, fragte sie besorgt mit großen Augen, blinzelte wieder - voller Unschuld. Unsicher senkte er den Blick. Ihre Berührungen machten ihn über alle Maßen nervös. Wieso war es nur so schwer ihr zu entgehen?! „Ich bin nur etwas müde“, antwortete er schließlich, denn ihr bohrender Blick verbot ihm zu schweigen. Er musste es herunterspielen, musste ihr einen Grund geben, den sie verstehen konnte. Skeptisch lächelte sie ihn an. „Dann musst du jetzt schlafen“, befand sie, entschlossen. Adalia hatte es ihr erklärt: Wenn man müde war, dann schlief man. Wenn man sich ausruhen musste, dann schlief man. Schlaf heilte. Schlaf konnte auch Seth helfen. Und wann wäre er auch nicht mehr müde und dann ginge es ihm auch besser. Es war logisch, einfach, vollkommen einleuchtend. Sie lächelte. „Los!“, befahl sie streng, „hinlegen!“ Ihre Stimme hatte so viel Vertrautes und war doch so unglaublich fremd, dass es weh tat. Sie wollte sich um ihn kümmern? Immer noch? Es war eine verkehrte Welt, in der sie lebten. Es war seine Aufgabe, sich um sie zu kümmern, nicht umgekehrt. Er hatte endlich seine Pflicht zu erfüllen, doch sein Körper gehorchte ihm einfach nicht. Stark und mächtig, wie er sonst war, war er doch nicht mehr als eine Spielfigur in ihren Händen und unter der Aufsicht ihrer strafenden, lieblosen Augen, die den Menschen verborgen hielten, mit dem er alle Zeiten hatte verbringen wollen. Vergessen. Einfach nur vergessen. Süße Erinnerungen voller Folter und Qual. Doch er hatte keine Wahl. Sein Körper schien nur ihrem Willen zu folgen. Er setzte sich auf sein Bett. Er wollte auf gar keinen Fall jetzt schlafen. Schlaf brachte kein Vergessen. Im Schlaf festigten sich die Eindrücke und konnten zu Dämonen werden, die einen selbst im Hellen noch verfolgten. Als der Hohepriester aus seinen Gedanken wieder hochschreckte, hatte Mana ihn nach hinten gedrückt. Sie stützte ihr gesamtes Gewicht auf ihn, damit er sich nicht weigerte und liegen blieb, dann beugte sie sich weiter über ihn und sah ihn an. „Nun musst du schlafen, dann geht es dir besser“, sagte sie entschlossen und in ihrem Gesicht spiegelten sich Sorgen. Seth seufzte tief. Konnte er sich ihr widersetzen? Nein. Wie hätte er es schaffen können? Er hatte es doch nicht anders verdient. Wo war sein ganzes Selbstbewusstsein hin? Sein ganzer Stolz? Wo war all die Autorität, wenn er sie brauchte? Er blickte zu ihr auf. Die Situation war absurd. Er hatte sich so oft gewünscht, sie so bei sich zu haben. Viele Male... Und nun? Es war nicht richtig. Er wollte sie an sich ziehen, wollte sie in die Arme nehmen, wollte sie halten ... wollte einfach nur wissen, dass es sie noch gab, irgendwo... Gequält lächelte er sie an. „Und was ist mit dir?“, fragte er, weil es die einzigen Worte waren, die ihm über die Lippen kamen. „Solltest du nicht auch Ruhe haben?“ „Ich schlafe dann auch“, antwortete sie prompt, „Es ist schließlich schon spät.“ Für sie war alles ganz einfach. Sie ließ sich zur Seite fallen, legte sich neben ihn. Ein Kichern kam über ihre Lippen. Es war so schön warm. Locker legte sie ihren Arm auf seinen Oberkörper und kuschelte sich an ihn. „Ich freue mich, dass du wieder da bist“, erklärte sie, gähnte und schloss die Augen. Sie war wirklich müde, doch da war noch etwas anders. So viele Gedanken, die in ihrem Kopf spukten, so viele Fragen. Töchterchen... Was hatte es zu bedeuten? Sie drückte ihre Stirn an seine Schulter. Ob er ihr antworten würde? Sie musste es versuchen. Vielleicht hatte sie bei ihm ja mehr Glück als bei Adalia? „Seth?“, leise und vorsichtig erklang ihre Stimme, verunsicherte den Angesprochenen noch mehr, als ihre bloße Nähe. „Ja?“, erwiderte er, es war nur ein Hauch und seine Stimme drohte zu brechen. Wie konnte sie das tun? Sie trieb ihn in den Wahnsinn, machte ihn unglaublich nervös. Das Mädchen lächelte kurz, nicht weniger unsicher, wenn auch aus einem anderen Grund heraus. Es gelang ihr, ihren Kopf unter seinen Arm zu schieben und ihn so dazu zu zwingen, sie fester zu halten. Sie legte sich auf seinen Oberkörper, krallte sich leicht an ihn. Sie hatte ein wenig Angst davor zurückgewiesen zu werden. Würde auch er ihr die Antworten verweigern? Würde er sie jetzt wegschieben? War es vielleicht falsch, was sie gerade tat? Sie wusste nicht, wieso sie so an ihm hing, aber er war irgendwie ganz anders als alle anderen. Er kümmerte sich immer um sie, passte immer auf sie auf. Adalia hatte das auch getan, aber trotzdem war sie anders. „Adalia hat versucht mir einiges zu erklären“, fing sie schließlich an, zunächst langsam, dann zunehmend sicherer. „Aber sie hat mir oft auf meine Fragen nicht geantwortet...“ Schmollte sie? Sie blickte unsicher zu ihm auf. „Darf ich dir ein paar Fragen stellen, bevor ich schlafen muss?“ Bei der Priesterin hatte das auch so funktioniert. Sie hatte ihr auch meist vor dem Schlaf etwas erklärt, damit sie Ruhe gab. Oder hatte sie nur das Gefühl, es wäre so gewesen, weil sie andauernd hatte schlafen sollen? Der Hohepriester festigte seinen Griff um ihren Körper ganz unwillkürlich. Er konnte sich nicht gegen sie wehren. „Adalia hatte mit Sicherheit Gründe dir nicht zu antworten“, gab er ausweichend zurück. Durfte er sich hierauf einlassen? Er wusste genau, dass er es bereuen würde. Dass er es würde bereuen müssen. Doch er nickte. „Aber nur ein paar Fragen“, war seine einzige Einschränkung. Es war wie ein Funke, der in ihren Augen Feuer fing. Sie durfte Fragen stellen! Sie kicherte kurz, dachte nach, versuchte die Fragen wieder zu finden, erneut in Worte zu fassen. „Adalia hat mir gesagt, du bist der Hohepriester ... und sie hat mir alles über den Palast erzählt.“ Sie lächelte, er schluckte. „Und sie hat gesagt, ich war einmal eine Priesterschülerin...“, sie stoppte kurz, blickte ihn fragend an, „Aber was habe ich denn nun für eine Stellung?“ Musste es ausgerechnet diese Frage sein? Hätte sie nicht irgendeine andere Frage stellen können? Egal welche? Sie konnte nicht wissen, wie schwerwiegend das Wissen war, nach dem sie da fragte. Sie hatte einfach keine Ahnung. Was sollte er jetzt tun? Sollte er es schaffen, sich herauszureden? Wie sollte das gehen? Er lächelte verlegen, atmete tief ein und schließlich wieder aus. Er wollte sie nicht belügen, setzte an, doch stockte sogleich wieder. Er brachte kein Wort heraus, verfluchte sich selbst dafür. Welchen Eindruck konnte er so vermitteln? Er hatte ihr versprochen, dass sie glücklich sein würde, doch er konnte nicht einmal ihre Fragen beantworten. Wie sollte sie so glücklich sein können? Mana seufzte leise. Er würde es ihr wohl auch nicht sagen, genau wie Adalia. Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Wieso wollte ihr niemand antworten? Was verbargen sie vor ihr? Es war merkwürdig. So viele komische Dinge geschahen mit ihr, alle kümmerten sich um sie, alle kannten sie, doch niemand erklärte es ihr. Wieso bewachten sie alle sie so sehr? War sie vielleicht doch böse? Musste deshalb auf sie aufgepasst werden? Hatte dieser Weißhaarige nicht Töchterchen zu ihr gesagt? Was bedeutete das? Er war böse... Wie konnte sie dann gut sein? Mana schwieg eine ganze Weile, drückte sich näher an ihn. Eine seltsame Kälte ging durch ihren Körper, die sie sich nicht erklären konnte. Eine Kälte, die sie erzittern ließ. Da war wieder diese Stille. Wieder war es eine Stille, die sie beenden wollte. „Andere Frage, ja?“ bot sie an, behielt aber ihre erste Frage dennoch im Gedächtnis. „Wer war das vorhin am Teich?“ Seth betrachtete sie ernst, biss sich kurz auf die Lippe. War es besser so? War es gut, dass sie selbst diese Alternative anbot? Es war doch so noch viel schlimmer. Ihr enttäuschtes Gesicht war eine Folter. „Hör zu“, setzte er wieder an, „Ich werde es dir beantworten, ja? Deine Frage von eben ... aber nicht heute.“ Er konnte es ihr nicht an diesem Tag sagen, konnte es ihr nicht gestehen. Es war so grausam. Er musste sich erst genauestens darüber klar werden, was und wie viel sie wissen durfte und was und wie viel er wollte, das sie wusste. Er schüttelte leicht den Kopf, ging dann zu ihrer anderen Frage über. „Der Mann am Teich?“, wiederholte er ruhig, „Ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn eben zum ersten Mal gesehen. Doch wie es scheint, ist er dein Vater...“ Zumindest das wollte er ihr nicht vorenthalten, zumindest diese Frage wollte er ihr beantworten. Natürlich warf er damit weitere Fragen auf, das war ihm vollkommen klar. Doch vielleicht gelang es ihm dadurch, das Gespräch in eine Ebene zu lenken, in der es nicht so viele gefährliche Details gab, die ihn oder sie in Bedrängnis bringen konnten. Mana lächelte ihn an, zufrieden. Sie nickte. „Danke...“, flüsterte sie, er würde ihr die Frage beantworten. Er hatte sie nicht weggeschickt, würde sie nicht länger zurückweisen. Vielleicht musste sie sich gar keine Sorgen machen und sie war gar nicht böse? Vielleicht hatte sie das ja auch nur falsch verstanden? Sie sah ihn ernst, aber fröhlich an. Sie würde fragen, er würde ihr antworten. Aber nicht jetzt. Jetzt ging es um eine andere Frage. „Mein Vater?“, wiederholte sie blinzelnd, sichtlich verwirrt. „Was heißt das? Und ist das gut oder böse?“ Sie wusste es nicht. Was wollte er ihr sagen? Geschickt drehte Mana sich in Seths Arm und setzte sich auf, damit sie ihn besser ansehen konnte. Seinen Arm hielt sie dabei fest, das Gefühl von Sicherheit, das er in ihr weckte, wollte sie auf gar keinen Fall loslassen. Was sollte er sagen? Nie hatte er erwartet, einmal so um Worte verlegen zu sein. Das Thema war nicht heikel, an sich zumindest nicht und doch brachte es ihn aus dem Konzept. Es war so basal, so grundlegend und doch konnte sie es nicht wissen. Sie wusste es einfach nicht. Es war eine simple Tatsache. Und es blieb seine Aufgabe, es ihr zu erklären. Nicht lange war es her, da hatte sie mit ihm die Strategie des Krieges durchgesprochen und sie dabei entscheidend beeinflusst. Nun wusste sie einfach gar nichts mehr. Er seufzte unmerklich. „Jeder Mensch hat eine Mutter und einen Vater. Und Eltern haben Kinder, um die sie sich eigentlich kümmern müssten. Die Mutter bringt das Kind auf die Welt...“ Es war schwierig, es ihr zu erklären, zumindest empfand er es als schwierig. „Das Kind soll bei den Eltern aufwachsen, das ist normal. Und es ist gut, wenn es so ist.“ Er stockte kurz. „Dein Vater hat sich aber nicht um dich gekümmert, also ist das schlecht...“ Konnte er das so sagen? Es war äußerst wenig und ihm persönlich hätte eine solch schwammige Antwort niemals gereicht. Doch er konnte kaum mehr sagen. Die Geschichte der Vernichtung Kul Elnas und ihre wahre Herkunft durfte sie zu ihrem eigenen Schutz niemals erfahren. Über ihre Mutter wusste der Hohepriester praktisch nichts außer dem wenigen, das die Schreiber des ehemaligen Pharaos für erwähnenswert gehalten hatten – und das war gewiss nicht viel. Dass sie ein Sklavenkind war... Nun, das sollte im besten Fall in der Geschichtsschreibung untergehen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)