Sunset over Egypt von Sennyo (Even if tomorrow dies) ================================================================================ Kapitel 93: Königswürde ----------------------- Wie plötzlich alles gewesen war, wie unglaublich schnell es ging! Es war kaum zu fassen, war nicht zu verstehen! Und wenn sie es nicht einmal begreifen konnte – wie musste es dann erst für Mana sein? Kisara war völlig durch den Wind. Sie schluckte leicht, schüttelte den Kopf. Der Pharao? Was war denn nur geschehen? Weshalb all die Panik? Gerade nur so gelang es ihr, Mana aufzuhalten, sie davon abzuhalten, sofort hinter Seth und Adalia herzulaufen. Am liebsten wäre sie selbst losgelaufen, doch sie konnte das nicht verantworten. Sie konnte jetzt nicht so unvernünftig handeln, nicht wenn sie nicht wollte, dass Seth sie für immer hasste. Sie hielt Mana sanft aber bestimmend fest, tätschelte ihr beruhigend den Kopf. „Du kannst jetzt nicht bei Seth bleiben, ja? Es ist wichtig, dass du nun gehorchst...“ Es war so ein grausiges Wort, aber es war die einzige Bezeichnung, die das Drachenmädchen für diesen Zustand hatte. Gehorsam. Blindes Vertrauen ohne zu zweifeln. Mit aller Mühe gelang es ihr, die Unsicherheit aus ihrer klaren Stimme zu verbannen und ruhig zu bleiben. Sie musste jetzt die Nerven behalten, durfte nicht alles hinschmeißen, nicht alles aufgeben nur um zu verstehen... Verstehen, was um sie herum geschah, verstehen, was ihre Unsicherheit und ihre Angst verstärkte. Sie war diejenige, auf der die grünen Augen nun ruhten. Voller Unverständnis, mit Zornestränen. Unverstanden. Allein gelassen. Genau wie sie. Aber nicht ungeliebt. Kisara schluckte. Sie musste Mana unbedingt ablenken. „Weißt du was?“, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, auch wenn sie sich selbst dadurch verraten musste, „Du hattest recht, ich habe zu viel nachgedacht eben gerade. Dich kann man einfach nicht anlügen, oder?“ Sie versuchte sich an einem halbherzigen Lächeln, doch es reichte aus um Manas Aufmerksamkeit zu bekommen. Das war genug. Das reichte völlig. Sie durfte ihn nicht wieder enttäuschen... Eine weitere Zurückweisung konnte sie nicht ertragen. Und wenn sie nur sein Kindermädchen war. Das Mädchen legte den Kopf schief, drehte sich in Kisaras Armen um. Sie musterte sie einen Moment, die Weißhaarige ließ sie los. Jetzt würde Mana nicht weglaufen, das wusste sie. Die großen Augen blinzelten sie an. „Hat es was mit Seth zu tun?“, fragte sie, und ihre Worte schnürten der Anderen die Kehle zu, so treffend waren sie, „Ich habe das Gefühl, dir geht es schlecht, wenn er da ist...“ Wieso nur konnte sie so vieles sehen? Was machte sie so empathisch für andere? Wieso verstand sie, was sonst niemand sah? Es war einfach nicht nachvollziehbar. Wieso konnte ausgerechnet sie nicht genauso blind sein wie alle anderen? Mana hatte ihre Hand ergriffen, doch Kisara ließ sie sofort los. Sie war erschrocken, erschrocken, weil sie wusste, dass das Mädchen recht hatte. Dass ihre Worte die Wahrheit waren. Und jetzt war ihr Lächeln echt. Verbittert, aber echt. Dieses Mädchen war vollkommen rein, sie hatte ihren Groll nicht verdient. Sie konnte nichts dafür. Sie machte sich aufrichtige Sorgen. Das Verständnis kam aus einer Richtung, aus der Kisara es am wenigsten erwartet hatte. Sie nickte schließlich. „Ja, es liegt an ihm“, gab sie zu, ließ ihren Blick ins Leere laufen. „Er hasst mich.“ Und in dem Moment, da sie die Worte aussprach, war sie sich sicher, dass es stimmte. Diese Erkenntnis traf sie ziemlich nüchtern. Sie lächelte. „Ich habe ihn geliebt... und... ich dachte, er würde mich ebenfalls lieben“, fuhr sie erklärend fort, „Doch ich habe ihn verärgert...“ Und sie wusste nicht einmal wie. Wusste nicht, was sie verbrochen hatte, wie sie seine Wut auf sich gezogen hatte. Sie wusste es einfach nicht. Nun war es an Mana erschrocken zu sein. Direkt stellte sie sich vor Kisara, sah sie fragend an. Es war fast zu lesen in ihren Augen. Liebe?, fragte sie sich, und Kisara wusste, dass sie noch immer nach der Bedeutung dieses Wortes suchte. „Was hast du gemacht?“, fragte Mana interessiert, nicht anklagend oder verneinend, einfach nur wissbegierig. Sie biss auf ihre Lippe, zog die Stirn kraus. „Seth hasst dich bestimmt nicht“, sagte sie fest entschlossen, ein trotziger Versuch sie aufzuheitern, der Kisara im Herzen traf. Die Kleine war wirklich süß in ihrem Widerwillen, in ihrem tapferen Versuch, die Wirklichkeit schönzureden. Und doch war sie ihr dankbar dafür. Trotzdem. Sie seufzte. Konnte es ihr gelingen, die stumme Anklage aus ihrem Blick zu verbannen? Alles war nur wegen Mana so aus der Bahn geraten... Nur ihretwegen hatte Seth sich so sehr verändert, nur ihretwegen hatte er sie weggeschickt. Es war wirklich Ironie. Alles nur wegen ihr... Das kleine Mädchen, das gerade vor ihr stand. Sie schloss kurz die Augen, dachte nach. Dachte lange über die richtigen Worte nach. Sie wollte die Schuld nicht abschieben, nicht mehr. Mana war mehr gestraft worden, als sie es verdient gehabt hätte, viel mehr. Sie war nicht mehr das Ziel ihres Hasses und ihrer Verzweiflung. Sie war wie eine zerbrechliche Puppe. Unendlich wertvoll und gleichzeitig so verletzlich. Noch einmal atmete sie durch, das Mädchen wartete geduldig. „Ich habe etwas getan, an das ich mich nicht erinnern kann...“ Es war bitter, oder? „Und Seth hat mich nicht verstanden.“ Es war wirklich hart. Sie wusste, dass dieses Thema sehr viel in Mana aufwirbelte, einfach aufwirbeln musste. Und doch gab es keine treffendere Bezeichnung für das, was geschehen war. „Etwas, an das du dich nicht erinnern kannst...?“ Mana schluckte sichtlich, das konnte sie verstehen. Sie konnte verstehen, wenn man sich an etwas nicht erinnern konnte, zu gut sogar. Und auch ihre Gedankengänge waren im Augenblick völlig klar. War sie zu weit gegangen? Hätte sie sich selbst stoppen müssen um stattdessen Lügen zu erfinden, die die Wirklichkeit schmeichelhafter machten? Sollte sie sich verhalten, wie alle anderen? Egal. Es war zu spät. Mana hatte nach dem Grund gefragt, und sie hatte ihr geantwortet. Und sie glaubte auch nicht, dass sie Seth Rechenschaft abzulegen hatte, immerhin war dieser ja aus dem Gemach gestürmt und hatte sie hier zurück gelassen. Sie hatte einfach nur das getan, was Mana ablenken konnte. Hatte gesagt, was ihre Gedanken beschäftigte, bis er wieder hier war. Seth. Was war nur geschehen? Was war geschehen, weswegen der Pharao nach ihm riefen ließ? Was war so dringend gewesen, das es eine solche Panik auslöste? Kisaras Blick schweifte durch den Raum hinaus durch das Fenster, über die Landschaft hinweg und verweilte dann wie erstarrt auf der Stadt. Die Stadt. Es war nicht möglich. Es war dunkel. Zu dunkel. Alles war verfinstert, verhüllt von einem tiefen Schleier. Ein tiefer Schleier aus... ... Nebel ... Ihr Herz setzte für ein paar Schläge aus. „OH NEIN!“, schrie sie erschrocken auf, trat unweigerlich ein paar Schritte zurück. Nebel... Die ganze Stadt war finster. Und es kam immer näher. Ein Gefühl tiefer Beklemmung drückte ihr die Kehle zu. Unmöglich... Es war unmöglich, es musste unmöglich sein! Panik ergriff das Drachenmädchen, erschrocken blickte sie sich um und wieder nach draußen. Was sollte sie tun? Wie sollte sie sich verhalten? Wieder blickte sie um sich, hilfesuchend, tief erschrocken. Mana. Sie musste zu Seth, sie musste so schnell es ging zu ihm! Sie musste ihn warnen, ihn und jeden, den sie traf! Panisch lief sie auf Mana zu, schob sie etwas unsanft auf das Bett, doch es kümmerte sie nicht. „Süße, du bleibst hier sitzen, ja?“, redete sie einfach los, „Mach' bitte nichts dummes, ich muss Seth Bescheid sagen, dass etwas passiert ist, in Ordnung? Unterdrücke deine Neugierde und warte hier, ohne dich irgendwie zu bewegen, hast du mich verstanden?!“ Ihre Stimme war voller Nachdruck, und das obwohl sie zitterte. Nicht ihre Hände zitterten. Sie waren als einziges ruhig. Doch es war als stünde sie unter Strom. „Du darfst dich erst rühren, wenn entweder Seth, Adalia oder ich dich hole, ja? Bitte, tu' mir den Gefallen!“ Sie konnte sie unmöglich mitnehmen, sie durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Verzweifelt sah sie ihr in die verwirrten Augen. „BITTE!“, wiederholte sie flehend, „Ich komme gleich wieder!“ Und noch bevor Mana auch nur etwas sagen konnte, war sie bereits losgelaufen. Sie rannte aus dem Zimmer, schloss die Tür, nicht jedoch ohne darauf zu achten, dass sie auch wirklich geschlossen war und dann lief sie. Sie lief und lief, ohne zu wissen, wohin ihre Füße sie trugen, lief einfach nur, ohne eine einzige Sekunde zu verschnaufen. Seth. Sie musste zu Seth. Er war bestimmt noch im Gemach des Pharaos, er musste einfach! Wenn er nicht dort war... Sie durfte nicht an diese Möglichkeit denken. Und wenn sie den ganzen Palast zusammenschreien musste, sie würde ihn finden. Sie musste einfach!!! Die Tür zum Gemach der Prinzessin stand offen, sonst hätte sie dort niemals nachgesehen. Kisara rannte ohne nachzudenken hinein, geführt von Seths Stimme, die aus dem Inneren drang. Geweitete Augen fielen auf Teana, panisch schüttelte sie den Kopf, konnte die Schreckensbilder nicht vertreiben, die scheinbar an jedem Ort darauf warteten, offenbart zu werden. Der Nebel über der Stadt, der Staub, den die einfallenden Truppen aufwirbelten, Teana tot auf ihrem Bett, ihr Blut überall verteilt, der Pharao wie eine Puppe in Seths Armen – Kisara schloss kurz die Augen. Und sie musste jetzt der Unglücksengel sein, der den Urteilsspruch verkündete, den die Feinde über dieses Land gesprochen hatten. Sie hatten keine Zeit mehr. Es war eine unsagbare Aufregung, die sie durchfahren hatte, als der Diener nach dem Hohepriester geschrien hatte. Er war so plötzlich eingetreten, hatte sich so plötzlich in den Lauf der Dinge eingemischt, dass sie selbst erschauderte. Natürlich wusste sie, was geschehen war, hatte sie es doch selbst initiiert. Und doch war es ein eigenartiges Gefühl von Macht, Befriedigung und Nervenkitzel. Sie wusste nicht genau, woher das Gefühl kam, doch sie wusste sofort, was es bedeutete. Ohne nachzudenken war Adalia hinter Seth hergelaufen, als er zum Ort des Geschehens gekommen war, sie hatte sich einfach selbst ein Bild davon machen müssen, wie der Pharao reagierte. An Kisara und Mana hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Nur einen kurzen Moment nach Seth war sie im Gemach der Prinzessin angekommen, zurück an dem Ort, wo sich das Schicksal gewendet hatte. Sie presste ihre Hand vor ihren Mund, riss die Augen auf. Doch sie sagte keinen Ton. Nicht ein einziger Laut entwich ihren Lungen, der sie hätte verraten können. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, als ihr Blick auf den Leichnam der Prinzessin fiel. Jemand hatte den Dolch gezogen und damit das Bild des Grauens in Blut getränkt. Selbst wenn sie die Stichwunde hätte überleben können, so hatte sie auf keinen Fall eine Chance behalten. Die Klinge machte sich gut zu Füßen der beiden mächtigsten Männer des ägyptischen Reiches, rostrot gefärbt durch das königliche Blut, das hier vergossen worden war. Es war ein wahrhaft erhabener Anblick. Die Panik, die Trauer und der Hass – das Schauspiel des Pharaos war weitaus besser als selbst sie es erwartet hatte. Er reagierte genau auf die Weise, wie sie es vorausgesehen hatte, und noch viel besser. Langsam aber sicher legte sich ihre Aufregung, ebbte ein wenig ab. Ganz langsam nur, doch sie durfte die Hand noch nicht von ihrem Mund entfernen. Sie lächelte, und ihre Augen hätten sie verraten, wenn nur irgendjemand auf sie geachtet hätte. Doch das tat niemand. Niemand hatte den Blick für das Offensichtliche, niemand sah, was alles einen Grund gegeben hätte. Der Dolch. Immer wieder fiel er ihr ins Auge, immer wieder hielt er ihre Aufmerksamkeit gefangen. Verstand denn niemand, was dieser Dolch bedeutete? Wusste denn niemand, wer einen solchen Dolch zu tragen pflegte? Es hätte kaum deutlicher sein können. Doch in dem Moment, da Adalia den Mund öffnen wollte, hörte sie einen keuchenden Atem und Schritte, die schnell zum Stehen kamen. Die Priesterin wirbelte herum und blickte in das emotionsträchtige Gesicht von Kisara. Ihr weißes Haar fiel ihr zerzaust in die Augen, unsanft wischte sie es zur Seite. Adalia verstand nicht, was vor sich ging. Fragend sah sie Kisara an. Hatte sie etwa Mana allein gelassen? Schon der Gedanke daran, ließ ihr sie erschaudern. Wie konnte sie? Seth würde sie hassen... Es war die einzige Schlussfolgerung, die sie ziehen konnte. Doch der Blick in die blauen Augen sprach eine ganz andere Sprache. Sie hatte einen guten Grund dafür, dass sie Mana allein gelassen hatte... Kisara konnte den erschrockenen Ausdruck nicht von ihrem Gesicht vertreiben. Sie atmete tief durch, wie um sich selbst Mut zu machen. „Seth, Pharao, ihr solltet das ein anderes Mal klären!“, sagte sie laut – Adalia zischte aufgebracht. Wie konnte sie es wagen, so respektlos zu sprechen?! Doch Kisara ließ sich nicht beeinflussen. „Es ist Krieg!“, schrie sie, als sie sich der vollen Aufmerksamkeit bewusst war, „Truppen begleitet von Nebel haben die Stadtmauern überwunden!“ Verzweiflung lag in ihrer Stimme. Die Priesterin erstarrte. Krieg. Ihr Herz schlug schneller. Krieg. Die Zeit schien eingefroren. Wie in Zeitlupe verfolgte Adalia, wie die Starre sich von Kisara auf Seth und den Pharao ausbreitete. Es war totenstill. Atemu schluckte, trat einen Schritt zurück. Er wirkte wie versteinert, doch er zitterte nicht mehr. Im Gegenteil. Für eine kurze Weile regte er sich überhaupt nicht mehr. Dann wand er sich aus Seths Griff heraus, der ihn längst losgelassen hatte, noch immer den Blick auf das Drachenmädchen gerichtet. Und Atemu nickte. Kurz betrachtete er den Dolch, dann lenkte er seinen Blick auf Teana, und wieder atmete er tief durch. Dann sah er Seth mit festem, aber verbittertem Blick an. „Du hast recht, Cousin“, sagte er mit brüchiger Stimme, „Ich muss mich um unser Volk kümmern.“ Zum ersten Mal, seit sie das Gemach betreten hatten, sah er aus, als wäre er einiger Maßen bei Sinnen und als wüsste er, was er sagte. Adalia starrte ihn an, wusste nicht, was sie erwarten sollte. Sie wagte es kaum, zu atmen. Krieg... Fassungslos beobachtete die Priesterin, wie Atemu Seth noch einmal fest ansah und dann das Millenniumspuzzle abnahm. Mit ruhigen Händen und entschlossenem Blick hielt er es seinem Cousin hin. Er blinzelte einmal langsam. Adalias Herz schlug schneller. „Führe du die Truppen an meiner statt an, lass' nicht zu, dass dieses Land untergeht...“ Er hauchte die Worte, wirkte gefasst und doch war es nicht mehr als eine Bitte. Seths Blick war undurchschaubar. Sein Kopf bewegte sich fast unmerklich von rechts nach links, doch sein Blick war starr auf Atemu gerichtet. Er zögerte. Ihr Atem ging schneller, vielleicht sogar schneller als seiner. Kisara und ihre Botschaft war in den Hintergrund gerutscht, alles drehte sich nur noch um dieses Puzzle. Das Millenniumspuzzle. Die Verantwortung über die Truppen. Die königliche Würde, die sich dahinter verbarg... Und er zögerte. Unendlich lange, so schien es, dauerte dieser Augenblick, doch letztendlich nahm Seth das Millenniumspuzzle entgegen. „Dieses Land wird nicht untergehen...“, flüsterte er seinem Cousin entgegen, die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und dann lief die Zeit weiter. Lief in einem unglaublichen Tempo. Und Seth rannte. „PASS AUF MANA AUF!“, schrie er noch, dann war er verschwunden. Adalia lächelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)