Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde von Linchan ================================================================================ Kapitel 6: Schlüssel -------------------- Wenn Salihah geglaubt hatte, Nalani einfach so in die Lehre schicken zu können, hatte sie sich geirrt. „Wir bitte?!“ fauchte Kelar auf die Botschaft hin, seine Schwiegertochter sollte für ein ganzes Jahr nach Tuhuli, „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Sie bleibt hier!“ Die Familie saß seit langer Zeit einmal wieder gemeinsam beim Abendessen und wie üblich zerteilte der Hausherr den Braten. Jetzt gab es wenigstens wieder Wild zu jagen. Tabari, der das Wild erlegt hatte, gebührte die Ehre, die Innereien des Tieres zu bekommen, das zarteste und beste Fleisch, wie es hieß. Tabari war froh, dass sein Vater ihm gegenüber offenbar nicht mehr feindselig war; zumindest hatte er nicht mehr gemeckert, seit es wieder Essen gab im Land. „Du hast das nicht zu bestimmen, Kelar,“ warf Salihah ein, „Und sei nicht albern, sie ist Schwarzmagierin, natürlich kriegt sie eine Lehre.“ „Damit sie lernt, zu zaubern, und womöglich noch Geisterjägerin wird?!“ schnappte er, „Niemals, sie ist hier, um eine Frau zu sein und endlich Söhne zu gebären, nicht, um Magierin zu sein! Ich erlaube es nicht, und aus ist!“ „Das kannst du nicht machen!“ zischte Nalani verärgert, und er stierte sie wütend über den Tisch hinweg an, als sie kaltblütig den Kopf hob. „Das entehrt sämtliche Geister! Wir haben Pflichten und Gesetze, die die Geister uns auferlegen im Gegenzug dafür, dass wir sie beherrschen dürfen! Wir müssen uns an diese Gesetze halten!“ „Schweig!“ blaffte er sie an, „Wie kannst du es wagen, unerlaubt mit mir zu sprechen, du Wachtel?! Und dann so respektlos, tss! Dein Vater war offenbar ein Versager darin, dich zu erziehen und die Manieren beizubringen! Die Geister, Regeln, pah! Ich stelle hier die Regeln, ich bin der Herr der Geister, verdammt! Und ich dulde es nicht, dass eine minderwertige Frau, die nicht mal fähig ist, Kinder zu gebären, so mit mir spricht!“ „Nalani,“ sagte Salihah auch ruhig, als die Schwarzhaarige von ihrem Platz aufsprang und ihrem Schwiegervater einen tötenden Blick zuwarf. „Und du wage es nie wieder, über meinen Vater zu sprechen und sein Andenken zu beschmutzen! Mein Vater war ein sehr viel besserer Mann als du es bist, Kelar! Ich fürchte dich nicht und du kannst mir nicht verbieten, diese Lehre zu machen!“ „Du irrst dich, Nalani!“ zischte er grimmig und umklammerte das Messer, mit dem er den Braten teilte, unwillkürlich etwas fester. „Hier, auf meinem Land, in meinem Schloss, tue ich, was immer ich will! Ich werde nicht zulassen, dass du eine Magierin wirst!“ „Huh,“ machte sie und schnappte nach Luft, „Warum? Weil du Angst hast, ich könnte dir gefährlich werden, wenn ich stärker werde?“ Kelar ließ sein Messer sinken und stierte sie jetzt mit einem bohrenden Blick voller Hass und Grausamkeit an. Salihah drehte beunruhigt den Kopf. „Nalani, setz dich bitte hin,“ sagte sie etwas energischer, aber das Mädchen hörte nicht auf sie. „Das ist alles, um das es geht, nicht wahr?“ schnappte sie kalt, „Macht… wer dir in die Quere kommen könnte dabei, der Beste zu sein, wird eiskalt… umgenietet. Wie der Senat, wie die Geisterjäger, die du nicht mehr zu Rate ziehst…“ Wie meine Eltern… addierte sie in Gedanken, sprach es aber nicht aus. Und dennoch war die grausame Wahrheit in diesem Moment so zum Greifen nahe, so buchstäblich in der Luft, dass Salihah fürchtete, die Lage würde eskalieren, so erhob sie sich prompt. „Nalani, setz dich bitte hin!“ rief sie energisch, „Und Kelar, sei nicht verrückt, sie muss die Lehre bekommen. Wenn nicht, werden die Geister ihren Körper zertrümmern und dann wird sie erst recht keine Erben gebären, wenn es dir so rum besser passt.“ „Gar nichts passt mir, Weib!“ schnappte er wütend und griff wieder nach dem Messer, „Und wage es ja nicht, mir weiter zu widersprechen! Du bist so geistig anwesend, hast du heute noch nicht dein Laudanum getrunken?“ Sie starrte ihn an und er zeigte ihr ein verhohlenes, diabolisches Grinsen, worauf sie den Kopf senkte und dann den Rest des Essens schwieg. Kiuk beobachtete das Verhalten seiner Eltern mit großer Sorge und auch Tabari war irritiert von so viel Feindseligkeit. Irgendwie war es kaum zu glauben, dass die beiden es geschafft hatten, zwei Kinder zu bekommen, so, wie sie sich jetzt angifteten. „Ich… hasse dich,“ sagte Salihah dann, als sie aufgegessen hatte, erhob sich schweigend und verließ den Raum, worauf ihr alle verunsichert nachsahen, ausgenommen Kelar, der seelenruhig weiter aß und sich insgeheim diebisch darüber freute, dass sie klein beigab… sie ging, weil sie seine Gegenwart nicht ertrug, der Gedanken gefiel ihm. Und wenn sie gedacht hatte, sein grausames Spiel mit dem Laudanum wäre alles, was er ihr antun könnte, dann hatte sie sich getäuscht. Oh nein… ihm würde noch viel mehr einfallen, um sie auf die Knie zu zwingen. Als Tabari an dem Abend zu seiner Frau ins Schlafzimmer kam, lief Nalani aufgewühlt auf und ab und schimpfte murmelnd vor sich hin. Er schloss die Tür. „Du bist wütend wegen der Lehre, hmm?“ fragte er dann perplex, und sie fuhr herum und fauchte: „Sprich nicht mit mir, wenn ich verärgert bin!“ Er zog eine Braue hoch. „Du liebe Güte. Ich kann nichts dafür, dass mein Vater das nicht will.“ „Du bist mein Mann, du bestimmst darüber, ob ich gehen darf oder nicht,“ bemerkte sie und blieb stehen, bevor sie tief ein und aus atmete. Das war nicht gut. Das bewegte sich in eine falsche Richtung, die sie verabscheute… Langsam dachte sie genauso pragmatisch wie der Rest dieser Familie. Und das widerte sie an… und dennoch konnte sie nichts dagegen tun, dass sie auf ihren Mann zutrat und eine Hand nach seiner Brust ausstreckte. Verwirrt von dieser völlig fremden Geste ihrerseits fuhr er zurück. „W-was…?“ „Lass mich die Lehre machen,“ murmelte sie und sah ihn nicht an, „Wenn du versprichst… dass ich es tun darf… dann schlafe ich mit dir. Vielleicht entsteht dabei ja dein toller Erbe, auf den du und dein Vater so vergeblich wartet…“ Tabari starrte sie an. „Das ist dein Ernst?“ machte er verblüfft, und sie linste ihn an. „Würde ich es sonst sagen? Warst du nicht derjenige, der gesagt hat, manchmal muss man mit dem Feind kooperieren, um ans Ziel zu kommen?“ Er errötete. Ja, das hatte er einmal zu ihr gesagt… jetzt kam es ihm dumm vor, denn sie war seine Frau und kein Soldat, dem er etwas beizubringen hatte. „Ich versuche, mit meinem Vater zu reden!“ machte er prompt, und sie zuckte kurz mit den Mundwinkeln. Verdammt – sein Vater würde schon einsehen, dass die Chance darauf, dass sie schwanger wurde, wichtiger war als sie von ihrer Lehre abzuhalten… sollte sie doch eine machen, wenn sie es sich so sehr wünschte, ihm war das gleich. Und tatsächlich… er war ihr Mann, er konnte über ihren Verbleib bestimmen. Er ging zu ihr herüber und fasste bereits nach ihren Hüften, um ihr Angebot anzunehmen, da schob sie ihn zurück und schüttelte den Kopf. „Ah, ah, ah, nicht so hastig, mein Guter,“ kam es kalt von ihr, „Ich sagte nicht, dass ich jetzt mit dir schlafe. Wer sagt mir dann, ob du dich an unsere Abmachung hältst?“ Tabari schnaubte und ließ sie wieder los. „Wer sagt mir, dass du es tust?!“ konterte er empört, „Das war kein faires Angebot, Nalani! Du hättest sofort das Kleingedruckte auf den Tisch legen müssen.“ „Wenn du einfach Ja sagst, bevor ich es tue…“ seufzte sie, „Du hast mein Wort, ich halte mein Versprechen. Ich verlange, dass du deines auch hältst. Ist mir völlig egal, wie du es anstellst, aber ich will diese Lehre. Und wenn du nur so dazu beiträgst, dass du dich mir nicht in den Weg stellen wirst.“ „Du nimmst dir ganz schön viel heraus,“ knurrte er verbiestert, „Meine Barmherzigkeit kennt Grenzen, Weib.“ Sie kehrte ihm den Rücken. „Ja,“ machte sie unverblümt, „Meine auch, Tabari.“ Kelar Lyra war sehr zufrieden mit seinem Erfolg bei seiner Frau. Er drückte sie zu Boden, jeden Tag ein Stückchen weiter, und sei es nur dadurch, dass er ihr ihre Unfähigkeit mit einem tadelnden Blick vor die Nase hielt, dass er sie nur ansah voller Verachtung und sie genau spüren ließ, jeden Moment, den sie gemeinsam im selben Raum waren, dass er sie strafen würde für alles, was sie tat… und getan hatte. Nein… er würde das Land beherrschen, er würde den Senat auflösen und keine Frau würde das verhindern, weder Salihah noch Nalani, deren Entwicklung ihm gar nicht in den Kram passte. Er wusste nicht, was es war, aber ein instinktives Gefühl der Warnung kam in ihm auf, als er an sie dachte… und an Tabaris Worte vor Monden, als er sie hatte heiraten sollen. „Sie ist ein Unglücksbringer, Vater! S-sie will den Clan vernichten, sie ist eine Dämonenbraut!“ Und wenn es doch stimmte? Wenn, wie Salihah einst prophezeit hatte, der Clan fallen würde… würde es dann Nalanis Schuld sein? Er musste um jeden Preis verhindern, dass aus ihr eine Magierin wurde, sie durfte die Lehre nicht bekommen. Wenn sie nicht lernte, mit den Geistern und ihren Mächten umzugehen, wäre sie keine Gefahr. Wer wusste, ob sie es nach der Lehre wäre? Ihr Vater war immerhin ein Geisterjäger gewesen und der Kandaya-Clan hatte einen ansehnlichen Ruf und viel Ehrerbietung genossen, ehe er, Kelar, dem ein Ende bereitet hatte. Er grinste gehässig. „Oh ja… ihr seht jetzt zu, Thono und Haki, und ihr versucht, eure dumme, dreiste Wachteltochter zu beschützen, die ich zur Waise gemacht habe… aber ihr jagt mir keine Angst ein! Ihr nicht… ihr seid tot. Über die Toten herrsche ich als Herr der Geister, hah! Besser als ihr, Kandayas, Schattenherrscher, besser als Kohdars, die Zähmer des Feuers, besser als Emos, die unsichtbaren Krieger, und besser als die Bastarde des Chimalis-Clans, die den Pakt mit den Todesvögeln schlossen und zwischen den Welten wandeln! Hah!“ Er sah zum Fenster und starrte grimmig hinaus in die Dunkelheit der Nacht. „Ihr Geister!“ rief er dann wütend, „Seht mich an! Ich bin Kelar, Beksems Sohn, Erbe und Herr des Lyra-Clans, des mächtigsten aller Clans! Ihr werdet knien vor meinem Angesicht, ihr werdet knien und stolz sein, meine Diener sein zu dürfen! Ihr… und Vater Himmel und Mutter Erde! Und wehe denen, die es wagen sollten, sich mir in de Weg zu stellen, mir, dem diese Herrschaft zusteht, nach allem, was meine Vorfahren für dieses Land getan haben! Bluten werden sie, und kriechen… in kleinen Stücken!“ Und er breitete die Arme aus und fing lauthals an zu lachen, ungeachtet der Tatsache, dass er im Flur stand und jeden hätte wecken können mit seinem Gebrüll. Er war der Herr des Landes… der Herr der Geister, des Himmels und der Erde! Fallen? Warum sollte sein Clan fallen? Er würde nicht fallen, dafür würde Kelar sorgen. Ihn ergriff eine plötzliche Wut auf seine Frau, die so viel Unglück prophezeit hatte, und er stürmte ins Schlafzimmer, wo sie wach lag und zusammenfuhr, als er die Tür aufriss und hereinplatzte. „Salihah!“ bellte er sie an, „Sieh für mich unsichtbare Dinge! Du hast gelogen, als du gesagt hast, der Clan würde fallen! Sieh es jetzt und sag mir, ob ich meine Herrschaft bekommen werde! Und wehe, du wagst es, mich anzulügen, dann reiße ich dir mit bloßen Händen deine gespaltene Zunge heraus!“ Sie setzte sich stöhnend im Bett auf. Die Kopfschmerzen kamen zurück bei seinem Geschrei, und sie erzitterte. „Sprich nicht so mit mir…“ keuchte sie verärgert, „Und wie willst du sagen, ich würde lügen? Nur, weil ich dir nicht das gesagt habe, was du gern gehört hättest? Ich sehe, was ich sehe.“ „Dann sieh für mich!“ verlangte er und baute sich direkt vor ihr und dem Bett auf, „Jetzt sofort, sag es mir! Was sagen dir die Geister über die Zukunft von Lyrien?“ „Ich werde dir gar nichts mehr sagen,“ erklärte sie, „Mit welchem Recht verlangst du, dass ich dir jetzt noch diene, Kelar?“ „Ganz einfach, du bist eine Frau und ich dein Mann. Du hast zu tun, was ich dir sage.“ Er sah sie an, wie sie erzitterte und wie ihre Augen unruhig hin und her wanderten, als wüsste sie nicht, wohin sie sehen sollte. Er grinste wissend, ging herum zum kleinen Schränkchen neben ihrem Bett und griff nach einem Glas und der Flasche Laudanum, um ihr einzuschenken und die Medizin mit dem Wasserzauber Alara zu verdünnen. „Aah, ich weiß schon, du hast wieder Schmerzen, hm?“ machte er heuchlerisch und hielt ihr das Glas unter die Nase, „Trink schon, es wird dir gut tun…“ Sie drehte stöhnend das Gesicht weg. „Nimm es weg!“ zischte sie, „Ich werde kein Laudanum mehr nehmen, das Zeug macht mich krank!“ „Ach, Medizin muss bitter schmecken… nimm schon…“ Er grinste diabolisch und hielt ihr weiterhin das Glas vor die Nase, beobachtend, wie sie zuckte und wie sie mit sich kämpfte, es nicht anzunehmen. Er wusste, dass sie danach verlangte und sich zu sträuben versuchte… er würde so lange energisch bleiben, bis sie aufgab. Er wollte sie in die Knie zwingen, seine schöne, stolze Frau, die er inzwischen so sehr hasste für ihren unverhohlenen Widerstand gegen ihn. „Die Schmerzgeister verwirren deinen Geist, Salihah…“ raunte er, „Sie machen dich aufmüpfig und störrisch und dumm, nicht auf mich zu hören. Du weißt, dass es gut sein wird, wenn das Land uns gehört. Uns, nicht allein mir, ist das nicht ein Angebot?“ „Angebot?“ zischte sie, „Bleib mir fern, wir sind geschiedene Leute, das weißt du. Ich werde nicht dein Orakel sein, nicht mehr jetzt. Nicht nach dem, was du alles getan hast, Mörder.“ Er blieb energisch. „Aah, Mörder… wie ungezügelt von dir…“ machte er leise mit lauernder Stimme, und sie stöhnte leise, als die Schmerzen in ihrem Kopf wieder zunahmen. „Und hast du etwa niemals jemanden getötet, Salihah? Du bist eine grausame Frau und eine schreckliche Lügnerin, die Geister strafen so etwas, weißt du?... Du versuchst, dich gegen mich zu wehren, weil du denkst, damit könntest du vertuschen, wie grausam du bist… aber du bist es… eine grausame, gestörte Sadistin bist du, und du weißt es…“ „Hör auf!“ verlangte sie energisch und verärgert, „Wer ist gestört von uns beiden? Wer ist sadistisch, mir dieses… abscheuliche Zeug vor die Nase zu halten und auf mich einzureden, mich selbst damit zu vergiften?!“ „Verlierst du deine kühle Hülle, Salihah…?“ grinste er amüsiert und sehr zufrieden mit sich, und sie fuhr zu ihm herum und starrte ihn funkelnd an aus Augen voller Hass und Abscheu, voller Schmerz und Erniedrigung. Ihre Stimme bebte, als sie sprach. „Du bist eine grausame, verabscheuungswürdige Kreatur, Kelar! Du ernährst dich von der Demütigung anderer Menschen, und mich nennst du grausam! Ja, ich habe auch Menschen getötet im Krieg gegen Anthurien, und ich habe Verräter ermordet, die versucht haben, Anthurien Informationen zu bringen, ja, ich bin grausam und ein schlechter Mensch…“ „Nicht nur die Verräter…“ grinste er gehässig und sein Grinsen wurde breiter, als er triumphierend mit ansah, wie sie zusammenfuhr und ihn anstarrte, als er weitersprach. „Du hast sie nicht nur getötet, die Überläufer, die dachten, in Anthurien hätten sie bessere Chancen, du hast dir ihre Frauen und Kinder geschnappt und den Männern gedroht, sie zu schlachten, wenn sie es wagen sollten, uns zu verraten…“ „Hör auf!“ schrie sie jetzt lauter und starrte ihn an, und er badete in seinem Triumph. „Und du hast sie getötet… du hast Frauen und Kinder getötet, obwohl die Männer um Gnade gefleht haben… oh, wie kaltblütig, grausam und gnadenlos bist du, Seherin… hier, trink deine Medizin. Vielleicht lässt sie dich vergessen…“ Das war der Moment, in dem ihr Widerstand brach. Sie riss ihm das Glas aus der Hand und kippte sich den Inhalt in den Hals, und sie keuchte benebelt, als das Gift ihren Hals hinunter rann und sie bereits spürte, wie die Schmerzen dumpfer wurden und sich zurückzogen. Kelar lachte zufrieden und nahm ihr behutsam das leere Glas ab, während sie stöhnend ins Bett zurück sank und sich heftig atmend im Kopfkissen vergrub. „Ich hasse dich…!“ wimmerte sie, „Du bist garstig, Kelar! D-du bist wahnsinnig…“ Und sie war unfähig, ihn weiter zu kontrollieren, das wusste sie. Und es schmerzte mehr als alles andere, einzusehen, dass sie zu schwach war, um es weiter mit seinen Wahnsinnsgeistern aufnehmen zu können. Sie war schwach… die Geister straften sie mit dieser grauenhaften Schwäche für jeden, den sie je getötet hatte im Krieg… sie konnte ihn nicht länger beherrschen. Die Schmerzen flauten ab und die Mauer der Medizin baute sich in ihr auf, während sie noch immer heftig keuchend da lag und Kelar auf sie herab sah. Ihm gefiel er Anblick seiner Frau am Ende ihres geistigen Verstandes, am Ende ihrer Kräfte, Und ganz gleich, was sie getan hatte, der Anblick erregte ihn. Er schnaubte, ehe er sich über sie kniete und sie sich stöhnend auf den Rücken drehte, als er nach ihren Hüften fasste und sie herumzerrte, sodass sie ihn benebelt von der Droge ansehen musste. „Du furchtbarer Dämon…“ wisperte sie, „Lass mich bitte in Frieden, Kelar…“ „Nicht, bevor du mir Befriedigung verschafft hast, du dreckige Hure!“ knurrte er sie an, und sie schnappte unwillkürlich nach Luft, als er sich über sie beugte und ihr in den Hals biss, während seine Hände unter ihr leichtes, dünnes Nachthemd glitten, um sie zu berühren. Sie stöhnte, als sie seine Hände spüren konnte, und mit flammendem Blick starrte sie zu ihm hoch. Er hatte erwartet, sie würde sich wehren, aber was sie sagte, war etwas völlig anderes. „Ich werde dich umbringen…!“ schwor sie düster und ihr Blick wurde zu einer grauenhaften Grimasse, einer Fratze, die er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte, und er hob interessiert den Kopf, als sie die Hände hob und sie auf seine Schultern legte. „Ich töte dich, Dämon, und wenn es das letzte ist, das ich tue… weder werde ich mich dem Schmerz, noch dir, noch deinem Dämon des Wahnsinns unterwerfen, denn das bin ich denen schuldig, die ich ermordet habe!“ „Du sprichst unter Drogen,“ sagte Kelar unbeeindruckt und legte sich auf sie, als sie überraschenderweise freiwillig die Beine spreizte, „Morgen wirst du wieder Schmerzen haben und dich nicht mehr erinnern.“ Sie antwortete nicht und schlang die Beine um seinen Rumpf, um ihn gegen sich zu drücken. Durch die Mauer aus Stille und Dunkelheit spürte sie dumpf die Hitze und die Schmerzen wieder aufflammen. „Was… machst du da?“ fragte Tabari das Dienstmädchen verwirrt, das durch das Schloss lief und eilig braune Fläschchen von überall her brachte und in einen Eimer warf, der in der Halle stand. Das ging schon eine ganze Zeit so und der Blonde fragte sich, was hier los war – Frühjahrsputz? Etwas spät, es war schon Kirschmond. Er bückte sich und hob eines der halb vollen Fläschchen aus dem Eimer. „Laudanum?!“ machte er, „Wieso… schmeißt du das in den Eimer?!“ „Die Herrin hat befohlen, ich soll alle Vorräte an Laudanum vernichten, ich sammele die Flaschen und werde sie entsorgen.“ Tabari runzelte die Stirn. „Meine Mutter? Aber sie braucht das doch für ihre Schmerzen?“ „Sie hat es befohlen, und sie ist sehr wütend, glaube ich,“ murmelte das Dienstmädchen verschüchtert, „Seht lieber nicht nach ihr, junger Herr, als ich aus dem Schlafgemach ging, fluchte und schimpfte sie in einem fort.“ Tabari war immer verwirrter. Er wollte gerade etwas sagen, da unterbrach ihn die Erscheinung seiner Mutter, die gerade die Treppe herunter kam. Sie trug ein aufwendiges Kleid und ihren Mantel. „M-Mutter!“ machte der Sohn perplex, „Du, ähm… gehst weg?“ „Ja, ich muss mich mit dem Rat der Seelenmagier treffen, es ist wichtig. Dein Vater ist außer Haus, bitte sorge bis zu seiner oder meiner Rückkehr für deinen Bruder und deine Frau.“ Tabari sah zu dem Eimer mit Laudanum-Flaschen. „Ähm… hast du keine Schmerzen mehr?“ wunderte er sich, und sie zischte. „Doch, bis zum Anschlag, aber ich werde damit leben müssen, dieses Laudanum macht mich krank und vernebelt meine Sicht, mir entgehen wichtige Visionen. Außerdem macht es einen abscheulichen Menschen aus einem, wenn man es zu viel trinkt.“ „Abscheulich, warum?“ fragte er entsetzt. „Das geht dich nichts an, Sohn. Bitte tu, was ich verlangt habe, in Ordnung?“ Sie ging an ihm vorbei und würdigte das Laudanum keines Blickes. Tabari sah ihr nach. Als sie bei der Tür war, rang er sich dazu durch, etwas Sinnvolles zu sagen. „Mutter… ich wollte noch… ähm, ich wollte sagen… wenn Nalani wirklich eine Lehre machen soll… hast du mein Einverständnis.“ Salihah sah ihn jetzt doch an und zog eine Braue hoch. Was denn, Sinneswandel? Frontenwechsel? Sie wollte sich keine weiteren Gedanken darüber machen – noch nicht jetzt. So nickte sie nur mit dem Kopf. „Wenigstens das, ich danke dir für deine Einsicht, Tabari. Hör auf deinen Geist, du weißt genau wie ich – und auch dein Vater – dass es nötig ist. Die Geister verlangen diese Lehre und Nalani wird sie bekommen. Sprich mit Klar nicht darüber… ich werde sie schon zu ihrer Lehre bringen, mit oder ohne seiner Zustimmung.“ Dann ging sie aus dem Haus. Die Existenz des Senats in Yiara stand auf Messers Schneide. Hakopa Kohdar, der mit seiner Familie in Yiara lebte und daher den besten Überblick über die dortigen Geschehnisse hatte, brachte schlechte Nachrichten mit nach Tuhuli, als sich die vier Geisterjäger und Salihah ein weiteres Mal im Anwesen der Chimalis‘ trafen. „Sie haben schon mitbekommen, dass sie Kelar nicht trauen können,“ erzählte der Mann, „Und sie haben angefangen, ohne seine Zustimmung Politik zu betreiben, was durchaus sinnvoll sein mag, aber Kelar hat das offenbar gar nicht so komisch gefunden… und jetzt fängt er wieder an, das Volk aufzuhetzen und herumzuerzählen, die Senatoren wollten nur ihre eigene Regierung aufbauen und die Schamanen unterdrücken, weil sie sich ja nicht mit dem Herrn der Geister besprechen…“ „Das heißt, egal, was der Senat tut, irgendwer ist immer dagegen,“ murmelte Minar Emo, „Das ist ja großartig. Dabei ist der Senat dafür da, um vor der Regierung des Landes – letztlich ist Dokahsan, oder Lyrien, oder Schießmichtot, nur eine Provinz des Landes Kisara – für unser Volk zu sprechen, das heißt, wir sind nur ein Stück des großen Kuchens.“ „Und ein Krümel namens Kelar macht einen Riesenaufstand,“ addierte Nomboh Chimalis stirnrunzelnd. „Der Senat kann nicht vernünftig für das Volk sprechen, weil das Volk gespalten ist und sich von Kelars wahnwitzigen Reden beeindrucken lässt!“ schnaubte sein Bruder missgelaunt und verschränkte die Arme, „Den einen mag er mehr Land und Größe versprechen, den anderen weniger Nichtmagier oder weiß der Geier. Was ist denn aus unserem tollen Plan geworden, die Räte zu vereinen? Salihahchen?“ Er sah zu der Frau, die vor ihm auf dem Sessel saß und sich die Schläfen rieb. Ihre zunehmenden Kopfschmerzen beunruhigten ihn… irgendwas war mit ihr nicht in Ordnung. Ob daran auch Kelar Schuld war…? Er hütete sich, es zu direkt zu denken, denn Salihah las seine Gedanken, wie er wusste, aber dass dieser Mann seine Frau und ihre Würde derartig mit Füßen trat war einfach abscheulich. Salihah war eine wunderbare, starke Frau, sie hatte besseres verdient als das… früher einmal war ihr Mann ein ansehnlicher Mensch gewesen. Kelar hatte Zoras im Kampf um den Titel des Herrn der Geister geschlagen und der Jüngere hatte sich gerne gebeugt und die größere Macht des Lyras anerkannt, weil er ihn für einen guten Herrn der Geister gehalten hatte; die Geister hatten letztlich entschieden, dass Kelar sie vertreten sollte, da würde er schon geeignet sein. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob die Geister tatsächlich unfehlbar waren. Warum sollten sie zulassen, dass so ein Monster so viel Macht erlangte, damit er seine Frau schänden und demütigen und das ganze Volk unterjochen konnte? Salihah seufzte leise. „Ich habe mich mit dem TO getroffen, ich denke, ich könnte euch mal zusammen bringen, sie sind bereit, zuzuhören und sie wissen ja, das ich Bescheid weiß, weil ich die Frau eines Geisterjägers bin. Die Heiler stellen sich quer und wollten nicht mit mir reden. Der Sprecher des Rates hat mich eine Lügnerin mit gespaltener Zunge genannt und meinte, man könne mir nicht vertrauen und es sei ihm egal, was mit den Schwarzmagiern wäre, sie wären letztlich alles nur Mörder und Hexer.“ Sie wurde groß angestarrt und Zoras hinter ihr schnaubte ungehalten. „Welcher Dämon hat es gewagt, so mit dir zu sprechen, sind die noch ganz gar im Kopf?! Mörder, tss, ja, wir alle haben im Krieg Menschen aus Anthurien getötet, aber nur, wenn es nötig war, sie haben uns schließlich angegriffen!“ „Die Heiler sind Pazifisten, gewöhn dich daran,“ machte Minar Emo, „Heiler und Schwarzmagier waren sich noch nie grün.“ „Ich habe eine Heilerin geheiratet,“ protestierte Nomboh, der an seinem Daumen herumpulte wie ein gelangweiltes Kind. „Keisha ist ja auch kein Mitglied des Heilerrates,“ meinte Salihah, „Die Leute da drin sind allesamt bockig und konservativ.“ „Wir lassen Nomboh mit ihnen reden,“ seufzte Zoras Chimalis hinter ihr und stützte sich an ihrer Sessellehne ab, und sein Bruder hob den Kopf. „Was?“ machte er perplex. „Ja, du hast so etwas an dir, das alle dir zuhören, du kannst die Leute einfach überzeugen. Zumindest besser als wir, vor uns haben sie Angst.“ „Du bist aber auch furchteinflößend,“ grinste Hakopa Kohdar ihn an, und der Schwarzhaarige brummte. „Nomboh redet mit dem Heilerrat und Hakopa behält den Senat im Auge. Vielleicht schaffen wir es ja, alle Räte in Tuhuli zu versammeln, und das noch vor dem Sommer, wenn es geht.“ „Hier in Tuhuli?“ machte Nomboh, „Denkst du nicht, dass Kelar das leichter mitkriegt? Das Anwesen der Lyra-Familie ist nicht weit von unserem.“ „Aber er meidet uns, als hätten wir Pestbeulen,“ meinte der ältere Bruder, „Es wird gut sein hier in Tuhuli.“ Nomboh erhob sich. „Von mir aus, dann gehe ich besser gleich mal los und schicke ein paar Federn, damit die Damen und Herren des Rates Bescheid wissen…“ Er wurde von Salihah aufgehalten, die auch aufstand und erst ihn, dann Zoras kurz ansah. „Ich muss mit euch beiden noch kurz alleine sprechen,“ sagte sie dumpf, „Würdet ihr zwei,“ sie meinte Hakopa und Minar, „Uns kurz entschuldigen?“ „Selbstverständlich, es ist sowieso am besten, wenn ich umgehend nach Yiara zurückkehre, ich lasse dann den Wagen draußen vorbereiten.“ Die beiden Geisterjäger verließen den Raum und die drei übrigen sahen sich kurz an, als die Tür zugeschoben war. „Nun, Salihahchen?“ „Es geht um Nalani,“ machte die Frau dumpf, „Sie wird am Himmelstag vierzehn und sie ist bereit für die Lehre. Es wird höchste Zeit.“ „Na, prima, schick sie her und ich tue, was ich kann,“ erwiderte Nomboh Chimalis grinsend, „Welche Ehre, die letzte Tochter des Kandaya-Clans unterweisen zu dürfen.“ „Ich bin diejenige, die sich geehrt fühlt, ihre Schwiegertochter zu dir schicken zu können,“ wehrte Salihah das höflich mit einer Verneigung ab. „Es gibt ein großes Problem bei der Sache, ich werde vermutlich eure Hilfe brauchen… Kelar ist nicht damit einverstanden, dass sie die Lehre bekommt. Wenn ich sie nach Tuhuli schaffe im Sommer, wird es heimlich geschehen müssen.“ „Pff…“ machte Zoras und linste sie unauffällig an, „Er fürchtet sich vor Nalanis Macht… sie ist ein Kind des Schattenclans, Kelar sollte sich auch fürchten. Ich habe das Mädchen einst in meinen Träumen gesehen. Sie hat unglaubliches Potential, die Geister sind sehr gnädig zu ihr.“ „Ich weiß,“ sagte die Frau, „Es wäre eine Beleidigung der Geister, Nalani die Lehre zu verwehren. Sie ist eine geborene Geisterjägerin, das sage ich euch.“ „Tatsache?“ staunte Nomboh, „Na, dann bringen wir sie heimlich her, ich kann dir entgegen kommen, Salihah, und dir das Mädchen abnehmen. Wenn sie erst mal hier in Tuhuli ist, wird Kelar es nicht wagen, unser Anwesen anzugreifen oder sowas. Das würde zumindest seinem Ruf als großer Herrscher enorm schaden und das will seine Majestät bestimmt nicht…“ Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören und Salihah musste lächeln. Diese Leute waren wirklich ausgefuchst und kamen um jedes Hindernis herum. „Ich kümmere mich schon um Kelar,“ versprach Zoras dann auch dumpf und beobachtete Salihah, die sich zu ihm umdrehte, aber seinem Blick auswich. „Mach dir keine Sorgen. Nalani wird ihre Lehre bekommen, dafür sorge ich, und wenn es das Letzte ist, das ich tue.“ Auf seine bitterernsten Worte folgte eisernes Schweigen. Dann ging Nomboh zuerst zur Tür. „Ich beeile mich dann mal mit den Federn – oh, jemine, und Hakopa und Minar verabschieden werde ich!“ Weg war er und ließ die Tür offen. Salihah wollte ihm nach einer höflichen Verneigung vor dem Clanführer der Chimalis‘ folgen, doch Zoras stellte sich ihr in den Weg und schloss die Tür vor ihrer Nase wieder. „Einen Augenblick,“ machte er, „Du weißt, ich habe immer gemerkt, wenn du mir ausweichst, Salihahchen. Was ist los mit dir? Du bist krank, das sehe ich dir an, es ist nicht gut, wie sich das bei euch entwickelt.“ „Bitte lass das meine Sorge sein,“ versuchte sich, ihn abzuwimmeln, „Ich kann nicht mit dir über meine Sorgen reden, Zoras. Nicht mehr jetzt. Es geht mir gut… ich bin nur müde und habe Kopfschmerzen.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbei zu drängeln, aber er blieb energisch stehen, bis sie verärgert an seinem schwarzen Umhang zerrte. „Willst du mich hier einsperren, Narr?!“ fauchte sie, „Lass mich raus!“ „Nicht, bevor du mir Rede und Antwort gestanden hast!“ schnaubte er zurück, „Ich will dich doch nicht ärgern… ich will dir nur helfen. Du weißt das, Salihahchen… sieh mich an. Du weichst mir aus, und mir mehr als jedem anderen.“ „Nenn mich nicht mehr so…“ murmelte sie benommen und drehte das Gesicht weg, um ihm ja nicht in die Augen sehen zu müssen. „Und du weißt ganz genau, warum ich dir ausweiche. Das zwischen uns damals im Neujahrsmond hätte nicht passieren dürfen, Zoras.“ Er runzelte die Stirn. „Es war bloß ein Kuss, davon geht die Welt nicht unter. Und wenn die Geister jemanden bestrafen wollen, dann sollen sie mich nehmen, denn es war meine Schuld, ich habe es Hals über Kopf getan und du konntest nichts dafür.“ „Beim ersten Kuss,“ erinnerte sie ihn grimmig, „Den zweiten gab ich dir.“ „Du warst betrunken.“ „Zoras!“ fuhr sie auf und ließ endlich seinen Umhang los, ehe sie vor ihm einmal im Kreis ging, „Du… verdammt, du kannst mich nicht immer verteidigen! Egal, was ich tue, dir fällt bestimmt etwas ein, um mein Tun zu rechtfertigen! Ich bin nicht unschuldig, Zoras, ich bin grausam, kaltblütig und unbarmherzig! Und du weißt es… du weißt, dass manche Dinge, die ich getan habe, unverzeihlich sind.“ „Ja, das sind sie,“ entgegnete er, ohne sie zu rechtfertigen, und sein Ausdruck wurde jetzt auch ernster. „Das sind sie und es gibt nichts, was das rechtfertigen oder wieder gut machen kann. Aber du hältst deinen Kopf immer zu tief ins verseuchte Wasser, meine Liebe. Bin ich denn etwa nicht grausam und unbarmherzig gewesen? Bin ich denn nicht grausam genug, jemanden wie dich zu lieben, Salihahchen?“ Sie sah zu ihm hoch und ihr Gesicht ging unwillkürlich in Flammen auf, ein leises Keuchen entrann ihrer Kehle. „Sag sowas nicht…“ flüsterte sie bebend, „Bitte nicht. Du hast Tehya… und deine Tochter, Enola. Sie verdienen es nicht, dass du so grausam bist…“ Er nahm ihre Handgelenke und hielt sie fest, als sie sich wieder abwenden wollte. „Sprich mit mir,“ verlangte er leise. „Was tut Kelar dir an…? Du siehst grauenhaft aus, ausgemergelt wie eine Sterbenskranke. Das… bist nicht du, Salihah… sag es mir.“ Sie erzitterte in seinem Griff und senkte keuchend den Kopf zu Boden. „Er bringt mich um…“ stöhnte sie, und er starrte sie an. Sie war so verzweifelt, sie war am Ende… und dieser Bastard von ihrem Mann war schuld daran. „Ich sterbe… jeden Tag, den ich ihn länger ertragen muss, stirbt mein Geist weiter… ich komme mir vor wie eine leere Hülle… ein Körper ohne Seele… er muss mich nur ansehen und saugt damit meinen Geist aus mir heraus… er ist so voller Hass, so voller Grausamkeit…“ Zoras sagte nichts und sie erzitterte abermals. „Ich bin schwach geworden, Zoras… ich habe… nicht mehr die Kraft, ihn festzuhalten, und ich habe Angst, dass sein Wahnsinn mich eines Tages auch beherrscht… ich weiß nicht, was ich tun soll…“ Jetzt hob sie zitternd den Kopf wieder und sah ihm doch ins Gesicht, und lange standen sie so einander gegenüber und starrten sich nur an. „Sag es mir…“ keuchte sie, und er sprach nicht, sondern sah sie nur weiterhin an. Dann sagte er doch etwas. „Du bist… nicht schwach, Salihah… niemand von uns hätte ihn so lange zu bändigen vermocht wie du es hast. Ich… möchte nicht zulassen, dass deine Seele seinetwegen stirbt.“ Salihah konnte nicht sagen, wessen Schuld es dieses Mal war… sie wollte gar nicht darüber nachdenken. Sie wollte gar nicht mehr denken und ihre Kopfschmerzen vergessen. Ihre Schwäche, ihre Unfähigkeit. Und sie überwanden den Abstand zwischen ihren Gesichtern mit überraschender Plötzlichkeit, bis sie ihre Lippen wieder aufeinander pressten und sich küssten. Wenn die Welt vorher dunkel gewesen war, war sein inniger Kuss das Licht. Sie drückte sich mit einem leisen Seufzen gegen seine Brust, während sie den Mund öffnete und zuließ, dass er sie mit seiner Zunge berührte. Es war nostalgisch und beschämend, als sie daran dachte, wie oft sie früher, vor vielen Jahren einmal, solche Küsse geteilt hatten… und obwohl es falsch war, es wieder zu tun, fühlte es sich gut und richtig an. Sie legte stöhnend die Arme um seinen Hals und intensivierte den Kuss, als seine Hände um ihre schlanke Taille fassten und sie dichter an sich heranzogen. Als sie spürte, wie er herunter glitt und auf ihren Hintern fasste, löste sie sich aus dem Kuss und presste den Kopf gegen seine Brust. „Nicht!“ keuchte sie, „Nicht, wir sollten das nicht…“ „Ich weiß…“ seufzte er und senkte ebenfalls verlegen den Kopf, „Ich weiß, aber… es bringt dich wieder zum Leben…“ Sie sah wieder auf und erstarrte entsetzt, als er sie wieder ansah, ehe er sich herunterbeugte und sie abermals küsste. Als sie rückwärts trat, stieß sie mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür und lehnte sich seufzend dagegen beim wohligen Gefühl seiner Lippen auf ihren. Es war falsch… und nicht um ihretwillen… „Tu es nicht für mich!“ keuchte sie heftig, als sie einen weiteren Kuss beendeten, und er hob seine Hände wieder höher, zog sie nach vorn und legte sie auf ihre Hüften, um daran auf und ab zu fahren. Er zitterte. „Tu es nicht für mich, Liebster… du hast eine Frau, ich verdiene diese Ehre nicht! Ich bin zu grausam gewesen und zu egoistisch…“ „Dann lass mich auch einmal in meinem Leben egoistisch sein,“ entgegnete er und hielt weiterhin ihre Hüften fest, als sie den Kopf zu seinem Gesicht hob, sich dabei heftig atmend gegen die Tür drückend. „Dann tue ich es nicht für dich, sondern für mich.“ Sie sah ihn an. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie gehen sollte. Sie sollte gehen, ihm den Rücken kehren, ehe sie dem Verlangen in sich verfiel, wieder seine Geliebte zu sein wie früher, ehe sie ihn zu lange ansah… sie hatte keine Schuldgefühl wegen ihres Mannes, der sie verachtete und der sie umbringen wollte, aber wegen seiner Frau, die sich vermutlich hintergangen fühlen würde, würde sie das je erfahren. Tehya war eine gutmütige Seele und eine wundervolle Mutter, besser als Keisha und besser als sie selbst, Salihah, es je gewesen war. Sie dachte zu lange nach. In dem Moment hatte sie ihn bereits zu lange angesehen… und in dem Moment war es, in dem sie ihre Gedanken bei Seite schob, sich von der Tür löste und die Arme heftig um seinen Nacken schlang, um ihn ihrerseits zu küssen. Es war ein intensiver, tiefer Kuss, und ihr entrann ein verlangendes Stöhnen, als seine Hände über ihren Bauch fuhren und weiter hinauf, bis sie ihre Brüste erfassten. Zu lange war es her, dass er dass getan hatte… als Kelar sie vor einigen Tagen genommen hatte, war es anders gewesen, es war gewaltsam und schmerzhaft gewesen, als er nach ihren Brüsten gefasst hatte; früher hatte er sie anders berührt… wie Zoras es jetzt tat war wie eine Erinnerung an alte, längst verflossene Zeiten. Sie umschlang fest seinen Nacken mit beiden Armen und erzitterte, als er sie berührte und von ihren Lippen abließ, um ihren Hals zu küssen. Was immer er sagte, er hatte recht… es gab ihr Leben, wenn er sie liebte. Er gab ihr Leben… und es tat gut, zu spüren, dass sie noch lebte und noch keine geistlose Hülle geworden war. „Mehr…“ stöhnte sie unwillkürlich und er hob den Kopf perplex von dem feuerroten Fleck auf ihrem Hals, den er verursacht hatte, um sie anzusehen, während ihre Hände hastig über seinen Rücken und auf seine Seiten fuhren, „Ich will mehr… es… ist angenehm…“ „Shhh…“ beruhigte er sie, zog ihr Kinn herum, sodass sie ihn ansehen musste, und sie errötete, ehe sie einen weiteren, heftigen Kuss teilten. Sie wurden schnell wieder inniger miteinander und als er begann, an den Schnüren ihres Kleides auf der Brust zu nesteln, und ihre Hände unter sein Hemd glitten, lösten sie sich plötzlich wie auf Knopfdruck voneinander und keuchten heftig, ehe sie die Blicke voneinander abwandten und Zoras ihr Kleid losließ. „Entschuldige…“ keuchte sie erhitzt und wagte nicht, ihn anzusehen, „Das war schlampig von mir, ich hätte nicht danach verlangen dürfen, niemals.“ „Vielleicht… ist es besser, wenn du gehst,“ murmelte er auch und rückte sein Hemd zurecht, als sie die Hände darunter hervorzog. „Ich weiß nicht, ob ich lange an mich halten kann, wenn du länger bleibst.“ Sie drehte ihm jetzt beschämt den Rücken zu und räusperte sich nach einer Weile des betretenen Schweigens, in dem sie nur ihrer beschleunigten Atmung gelauscht hatten. „Laufen wir jetzt wieder drei Monde lang aneinander vorbei und sehen uns nicht an…?“ murmelte sie dann benommen, und er senkte den Kopf. „Nein… ich will nicht zulassen, dass aus dir eine seelenlose Hülle wird, Salihahchen…“ Es war Kiuk, der etwa eine Woche später am Tor des Anwesens eine kuriose Bekanntschaft machte. Er war auf dem Weg hinaus, weil er trainieren wollte – ohne Nalani, denn der Gefahr, wieder so zusammenzubrechen wie zuvor, wollte er sie nicht aussetzen – da stand vor dem Tor, als er es mit Hilfe von Telekinese, was er inzwischen ganz gut beherrschte, geöffnet hatte, ein junges Mädchen mit braunen Locken in einem schicken rosa Sommerkleidchen, weißen Söckchen und schwarzen Schuhen. Um den Kopf trug sie ein violettes Haarband. Sie war offenbar erschrocken, als sich das Tor öffnete, und fuhr entsetzt zurück bei Kiuks Anblick. „Ach du liebe Zeit!“ rief sie, und das dreimal hintereinander, und Kiuk fuhr ebenfalls entsetzt zurück, weil er nicht erwartet hatte, vor dem Tor könnte jemand stehen. „Huch!“ machte er auch, „E-entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken…“ Er sah verwirrt auf die Kleine, die sich plötzlich am laufenden Band verneigte und dabei immer noch heftig atmete vor Schreck. „Nein, es tut mir leid, ich bin einfach so herein geplatzt! Und ich habe meinem Vater gesagt, er solle mich heraufbringen, weil es doch seltsam aussieht, wenn ich kleines, dummes Mädchen einfach so vor dem Tore stehe, aber er wollte ja nicht auf mich hören und hat gesagt, er müsse schnell weiter und hätte keine Zeit und es würde schon in Ordnung sein! Und, jemine, jetzt stand ich hier und fragte mich, ob ich rufen oder klopfen sollte oder ob die Herrin vielleicht einfach so herauskäme, und Bumms, da ging mit einem Male die Türe auf und heraus kamt Ihr! Ich bitte vielmals um Verzeihung für mein ungehorsames Auftreten!“ Kiuk war so geplättet von ihrer hochgestochenen Rede und vor allem von der Menge ihrer Worte, dass ihm zunächst gar nichts einfiel. „Ähm… aber… d-du bist doch gar nicht herein geplatzt, du bist doch noch draußen…“ war dann nach einer Weile, in der sein Hirn auf Hochtouren gearbeitet hatte, alles, was er hervorbrachte. „Ich bitte vielmals um Vergebung – oh, Himmel und Erde, ich ungezogenes, garstiges Mädchen, ich habe völlig vergessen vor lauter Aufregung, mich vorzustellen!“ Kiuk hielt entsetzt die Luft an, als sie wieder wie ein Wasserfall zu reden begann und gar nicht aufhören wollte, da verneigte sie sich sehr tief vor ihm und er errötete vor so viel Höflichkeit – vor ihm hatte sich noch nie jemand verneigt… warum auch, er war ja nur der dumme Telepathensohn des Herrn der Geister… „Mein Name ist Sukutai Dotai!“ stellte sich das Mädchen vor, „Ich bin zwölf Sommer alt und ich komme von meinem Vater, Herrn Dotai, weil ich bei der Herrin Salihah eine Lehre bekommen soll, und sie hätte gesagt – also, oh nein, jemine, jetzt habe ich mich vertüdelt…“ Sie wedelte aufgeregt mit den Händen. Kiuk witterte eine Chance, sie zu unterbrechen, und holte gerade Luft, da war die Chance schon vorbei und sie redete weiter: „Also, mein Herr Vater hat gesagt, die Herrin Salihah hätte gesagt, ich solle dann am Nachmittage vorbeikommen und mich unterweisen lassen, und es würde dafür gesorgt, dass ich mit dem Sonnenuntergang wieder heim käme in das Dorf Tasdyna, wo das Haus meiner Familie liegt. Es ist nicht weit von hier und mein Herr Vater hat gemeint, die Herrin hätte gesagt, wenn ich nur am Tage hier wäre, wäre es schon in Ordnung, aber sie hätte-…“ Jetzt wurde es dem Jungen langsam zu viel. „Halt, Moment mal, halt mal die Luft an!“ keuchte er, und sie gehorchte sofort und verneigte sich noch hundertmal mit ehrfürchtigen Entschuldigungen. „Verzeihung, äh, Sukutai, aber du redest ja ohne Punkt und Komma! – Atmest du zwischendurch auch?“ Er sah sie ungläubig an und sie schien zu überlegen. „Ab und zu, ja, aber ich kann ganz lange die Luft anhalten, darin habe ich immer meine Schwestern geschlagen, wenn-…“ Er unterbrach sie erneut. „Ist ja gut, ist ja gut, erzähl das später! – Also, ähm… mein Name ist Kiuk, Salihah ist meine Mutter. Du möchtest also zu ihr, nehme ich an? – Komm doch erst mal herein…“ Er trat zur Seite und ließ sie das Tor passieren, worauf sie sich abermals zu verneigen begann und es ihm langsam unangenehm war, so höflich behandelt zu werden – das war er definitiv nicht gewohnt. Kiuk schloss das Tor hinter sich wieder und musterte die Kleine vor sich wieder, die artig schwieg. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und stand ganz brav auf demselben Fleck, als wartete sie auf eine Einladung. Kiuk seufzte. „In Ordnung, ich… werde meine Mutter mal rufen und-… ah, da kommt sie ja schon.“ Sukutai drehte sich erstaunt um, als plötzlich die Tür des Schlosses aufging und Salihah bereits herauskam, gefolgt von Nalani, mit der sie gerade in der Küche dabei gewesen war, dem Küchenmädchen zu helfen. Sie hatten Früchte für einen Kuchen entkernt und Nalanis Hände waren noch blutrot vom Saft der Beeren. Salihah war so vorausahnend gewesen, die Hände vorher zu waschen. „Ah, entschuldige, dass ich nicht eher gekommen bin,“ machte sie mit einer Kopfneigung, „Sukutai, es freut mich, dass du heil angekommen bist. Und das ganz allein. Ich bin Salihah, Frau von Kelar Lyra und für die nächste Zeit deine Lehrmeisterin, aber das weißt du ja, wie ich sehe.“ Nalani lugte auch neugierig auf das fremde Mädchen und sah dann zu Kiuk, der immer noch verwirrt daneben stand. „Ja, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Eure Schülerin sein zu dürfen!“ meldete Sukutai mit weiteren hundert Verneigungen, „Mein Herr Vater hat daheim immer viel erzählt, Ihr wärt die größte Seherin Tharrs und Ihr wärt die beste Seelenmagierin, und er hat mir gesagt, ich solle artig sein und Euch den allergrößten Respekt erweisen, weil Ihr Eure kostbare Zeit dafür opfert, mir nutzlosem Mädchen etwas Sinnvolles beizubringen!“ „Nun mal langsam,“ bremste Salihah sie aus, „Und hör auf, dich zu verneigen, dir wird schwindelig werden.“ Tatsächlich taumelte die Kleine jetzt kurz, als sie sich aufrichtete. „Meinen jüngeren Sohn Kiuk hast du vermutlich kennengelernt,“ Sie zeigte auf Kiuk, „Und das hier ist meine Schwiegertochter, die Frau meines älteren Sohnes, Nalani.“ Nalani neigte höflich den Kopf und Sukutai tat es ihr gleich. Salihah wandte sich an Nalani und Kiuk: „Sukutai ist die Tochter eines… Kollegen von mir sozusagen, ihr Vater ist Mitglied des Rates der Telepathen und er bat mich, seine Tochter zu unterweisen. Deine Lehre ist auch noch nicht ganz fertig, Kiuk, aber ihr werdet dann ja hervorragend gemeinsam üben können, vor allem, wenn Nalani in Tuhuli sein wird.“ Sukutai strahlte. „Oh, was für eine Ehre!“ rief sie aus, und Kiuk räusperte sich perplex. Es war eine Ehre, mit ihm üben zu dürfen? Das waren wirklich ungewohnte Töne für ihn. „Und, Sukutai… nenn mich nicht mit so respektvollen Namen, ich habe an Macht verloren und bin garantiert nicht mehr die beste Telepathin Tharrs. Aber es wird wohl noch ausreichen, um dir und meinem Sohn alles beizubringen, was ihr wissen müsst, wenn ihr gute Seelenmagier sein wollt.“ Sukutai war ein sehr fleißiges, artiges Mädchen und lernte schnell. Kiuk bekam nach einigen Übungsstunden, die sie absolviert hatte, schon Angst, sie würde ihn einholen, obwohl er schon sehr viel länger lernte und außerdem ein Jahr älter war als sie. Unverschämtheit, und dabei konnte er der kleinen Sukutai nicht mal böse sein, weil sie so höflich und immer freundlich war. Kelar Lyra beobachtete die Lehre der Telepathenkinder mit Missgunst, unternahm aber nichts, letztlich war es ihm egal, ob Kiuk etwas lernte oder nicht. Dass dieses Mädchen, die Tochter des Ratsvorsitzenden Dotai, jetzt jeden Tag bei ihnen war, kostete ihn zwar Nerven, vor allem, da dieses Gör ununterbrochen quasselte und nie den Mund hielt, aber sie rauszuschmeißen wäre nicht sehr klug gewesen. Die Dotai-Familie war reich, sie besaßen Massen an Steinen, die als Zahlungsmittel herhielten auf Tharr, zu ihnen als Sponsoren einen guten Draht zu bewahren erschien ihm als äußerst praktisch. „Sie scheint sich ja wieder gefangen zu haben…“ murmelte der Mann düster, als er eines Tages auf dem kleinen Balkon am Hauptturm des Schlosses stand, von dem aus er beinahe den ganzen Landkreis überblicken konnte. In der Ferne unten auf der Wiese übten Kiuk und Sukutai Teleportieren unter Salihahs Beobachtung. Neben Kelar stand Tabari auf dem Balkon. „Wovon sprichst du, Vater?“ fragte er verwundert. „Deiner Mutter. Zumindest ist sie fit genug, um kleinen Kindern Seelenmagie beizubringen. Ich gebe dir einen Rat, Sohn. Höre nicht auf deine Mutter, sie ist wie eine Schlange und windet sich mal hierhin, mal dorthin, wie es ihr passt! Ihre Zunge verbreitet böse Worte und Lügen im Land, sie hat mich verraten, obwohl sie als meine Frau an meiner Rechten sein sollte. Traue niemals einer Frau zu sehr, Tabari, von Grund auf sind sie die dunkle Seite der Gesellschaft.“ „Die dunkle Seite?“ schnaubte Tabari, „Das klingt etwas sehr übertrieben.“ „Nein, es ist logisch und wahr!“ blaffte Kelar ihn an, „Es gibt Vater Himmel und Mutter Erde. Vater Himmel repräsentiert den Mann, das Oben, das Licht! Und Mutter Erde repräsentiert die Frau, das Unten und die Finsternis! Dummer Junge, du bist alt genug, um diese Lehre zu verstehen!“ „Ja, entschuldige, Vater…“ murmelte Tabari verlegen und wandte das Gesicht von seinem mürrischen Vater ab. Sein Vater war ihm unheimlich geworden. Früher hatte er ohne Zweifel und ohne darüber nachzudenken einfach aufgesehen zu ihm und seine Worte wie goldene Regeln befolgt. Er war schließlich sein Vater, jeder Vater wollte das Beste für seine Kinder und kein normales Kind würde eher die Regeln seines eigenen Vaters bezweifeln als die eines anderen Mannes. Aber sein Vater wurde immer griesgrämiger und verbitterter… und der üble Streit zwischen ihm und seiner Mutter schmerzte Tabari genau wie Kiuk, auch wenn er es besser zu verstecken wusste als der jüngere Bruder. Welche Kinder befürworteten schon einen Streit ihrer Eltern? In dem Moment wurde Tabari zum ersten Mal klar, dass der Streit seiner Eltern sehr viel tiefer ging und sehr viel grausamer war, als er angenommen hatte. Sie stritten sich nicht wegen Firlefanz, sie verabscheuten sich abgrundtief, demütigten sich gegenseitig und schlichen umeinander herum wie kämpfende Raubtiere, nur darauf lauernd, dass der Gegner eine Schwachstelle entblößen würde und sie zuschlagen könnten. Es war unheimlich, zu beobachten, wie sich die Gesichter seiner Eltern in furchteinflößende Grimassen verwandelten, sobald sie im selben Raum waren, wie ihre Augen vor Abscheu und Zorn funkelten und wie die Temperatur im Raum dann auch gleich merklich sank, so hatte der Blonde immer das Gefühl. Er fragte sich, ob er und Nalani auch einmal so ein Paar sein würden, das sich gegenseitig umschlich und auf einen Angriffspunkt lauerte. Aber was zwischen ihm und seiner Frau war, war anders… seine Eltern hatten sich einst gemocht, Nalani und er hatten sich nie gemocht. Irgendwie gefiel ihm die Beziehung überhaupt nicht. Seine Frau war ihm gleichgültig, alles, was er in ihr sah, war die perfekte Schwiegertochter seines Vaters, alles, was er über sie dachte, war pragmatisch und drehte sich nur um seine Stellung in des Vaters Rangliste. Würde er endlich einen Sohn mit Nalani zeugen, wäre sein Vater stolz und würde ihm große Ehre zukommen lassen. Aber irgendwie war das nicht die Art von Beziehung, die sich der Mann von einer Ehe versprochen hatte… irgendwie war es nicht das, was es sein sollte. In Dokahsan war es üblich, Kinder früh miteinander zu verloben, meistens ging es dabei um Bindungen bestimmter Familien, um Gute Partien. Seine Eltern waren auch auf diese Weise verheiratet worden, alle, die er kannte, waren so verheiratet worden, und bei manchen anderen, die er auf seiner Lehrreise getroffen hatte, war es nur rein körperlich; manche Männer kauften sich Frauen billig auf Viehmärkten, um eine Matratze und Putzmagd in einem zu haben. Solche schmutzigen Geschäfte gab es in höheren Kreisen wie dem, aus dem die Lyras kamen, nicht, aber ihm war auf der Reise aufgefallen, dass die niederen Bauern in den verkommensten Dörfern tatsächlich noch mit Menschen handelten und Frauen gegen Mehlsäcke oder Hühner tauschten. Manche hatten sogar mehrere Frauen. „Vor dem Gesetz in Kisara ist es erlaubt, so viele Frauen zu haben, wie man möchte,“ hatte seine Mutter ihm einmal erklärt, „Unter der Bedingung, dass man für alle gleichmäßig sorgen kann und sie nicht wie Sklavinnen oder Tiere gehalten werden. In den Städten gibt es tatsächlich Leute, deren Arbeit es ist, das zu kontrollieren und Statistiken aufzustellen, aber in den Dörfern geht das meistens so einher und niemand kontrolliert, wer da wie viele Frauen hat und ob auch alle gesund sind. In unseren Kreisen ist es eher unüblich, mehrere Frauen zu haben, zumindest heutzutage. Vor einigen hundert Jahren war es vor allem für die reichen Männer Gang und Gebe, neben ihrer Hauptfrau noch diverse Nebenfrauen zu haben, um am besten mit jeder ein Dutzend Erben zu zeugen, die den Clan erweitern. In der Zeit vor den Städten galt ein Kerl, der viele Frauen hatte, als ganz toller Hecht, heute wird man mit mehr als zwei Frauen schon seltsam angesehen…“ Aber Tabari fragte sich missgelaunt, wie sich das zwischen ihm und Nalani mal entwickeln sollte. Wenn sie zur Lehre ging, würde er sie ein Jahr nicht sehen… Sinn der Isolation war, für dieses Jahr von Familie und Heimat getrennt zu sein, wobei die Bedeutung dieses Wortes sich in den Jahrhunderten verändert hatte. Früher war der Schüler ein Jahr lang komplett alleine mit seinem Meister irgendwo in der Einöde gewesen, ein Jahr lang, und hatte keinen Menschen außer seinem Meister zu sehen bekommen, um zu lernen, eins mit den Geistern zu sein. Da es inzwischen so viele Menschen gab, war das schwer, daher hatte man das Wort zweckentfremdet. Ob sich seine Frau in dem einen Jahr in Tuhuli verändern würde? Es ärgerte ihn, dass ihnen so ein Jahr genommen wurde, in dem sie ihre Differenzen beheben könnten; sie würde ihn noch genauso hassen wie jetzt, wenn sie zurückkam. Und sie würde ihm noch genauso egal sein wie sie es jetzt war. Sein Vater riss ihn aus seinen Gedanken. „Was deine Wachtel angeht,“ schnarrte er ganz plötzlich, „Hast du sie inzwischen mal gezüchtigt und gehorcht sie dir jetzt?“ Tabari hustete vor Schreck und starrte ihn an, und Kelar Lyra hob bei der heftigen Reaktion die Brauen. Also offenbar nicht. Was war sein Sohn für ein Waschlappen? „Ich, wir… wir haben, ähm… diskutiert,“ machte der Blonde dann nervös – sein Vater durfte auf keinen Fall erfahren, dass er sich seit ihrem Blutritual kein einziges Mal das Bett mit ihr geteilt hatte… „Wir einigen uns schon, meine ich. Du kriegst noch deinen Erben, sei unbesorgt!“ Kelar Lyra verengte die Augen ungläubig zu Schlitzen. „Einigen?!“ schnaubte er fassungslos, und Tabari räumte hustend ein: „Also, wenn sie sich sträubt, schlage ich sie blutig und mache sie mir hörig, meine ich! Keine Sorge!“ Sein Vater spuckte ihm vor die Füße. „Jetzt sieh dich mal an, du Jammerlappen! Kein Wunder, dass dir die Wachtel auf der Nase herumtanzt! Du musst ihr zeigen, wer der Mann ist, verflucht, du sollst dich nicht einigen mit ihr! Es ist doch egal, was sie will, Hauptsache, sie spurt!“ Tabari senkte gehorsam den Kopf, vor allem deshalb, weil er den strengen Blick des Vaters inzwischen fürchten gelernt hatte. Er war nicht mehr das unfehlbare Musterkind, das immer gelobt wurde… inzwischen wurde er sogar mehr getadelt als Kiuk, hatte er das Gefühl. Es war wie bei seinem Vater, wie seine Mutter ihm einst erzählt hatte. Was aus Kelars Schwester Pet wurde, war allen egal gewesen, und auf Kelars Erziehung hatten sie streng geachtet. Genauso war es allen egal, was aus Kiuk wurde, der war ja kein Hoffnungsträger des Clans. Aber er, Tabari, war das… und er musste perfekt sein. Und das war etwas, das er nie gekonnt hatte und nie können würde. In dem Moment hatte Tabari das Gefühl, dass egal was er tat, seinem Vater nie ein perfekter Erbe sein würde, seiner Mutter sie ein liebevoller Sohn, Kiuk niemals ein vorbildlicher Bruder und am wenigsten Nalani ein guter Ehemann… Kiuk und Sukutai verstanden sich prächtig und konnten hervorragend gemeinsam trainieren, um ihre Fertigkeiten mit der Seelenmagie zu optimieren. Salihah sah mit Verwunderung, dass sich das Mädchen offenbar trotz der eisigen Stimmung wohl fühlte bei ihnen. Und sie redete in einem fort. „Ich bedanke mich sehr für Euer Lob wegen der Fortschritte, Herrin, es ist mir wahrlich eine Ehre, aus Eurem Mund Lob zu vernehmen. Und mein Vater lässt ausrichten, dass er Euch auch zu tiefstem Dank verpflichtet sei, weil Ihr Eure kostbare Zeit und Kraft für mich hergebt,“ plapperte sie, als sie zwischendurch Pause machten und gemeinsam mit Salihah auf einer Wolldecke im Gras saßen und kurz etwas tranken. Es war warm geworden, der Sommer kam. Der Sommer, in dem Nalani nach Tuhuli kommen würde, dachte Salihah bei sich, wusste ihre Gedanken aber vor den Kindern zu verschließen; Telepathen konnten Gedanken lesen, aber auch dafür sorgen, dass ihre eigenen nicht gelesen werden konnten, wenn sie es nicht wollten. Das Lesen konnten sie von Geburt an mehr oder minder gut, das Verschließen war eine langwierige Übungssache, die sie mit den beiden später angehen würde. „Du sollst aufhören, dich zu bedanken, Sukutai,“ seufzte die Frau dann kopfschüttelnd, „Bedanke dich am Ende, wenn du ausgebildet bist, bevor ich es mir anders überlege.“ „Entschuldigt bitte vielmals, ich war ungehorsam,“ machte das Mädchen kleinlaut und senkte den Kopf, worauf ihre braunen Zöpfe über ihre Schultern rutschten. „Mein Herr Vater beschwert sich auch immer, ich würde zu viel reden, ich komme mir scheußlich vor, ich falle bestimmt allen auf die Nerven!“ „So habe ich das nicht gemeint,“ meinte Salihah und musste kurz lächeln, „Mach dir keine Gedanken. Du bist sehr wohlerzogen. Deine Eltern können stolz auf dich sein.“ „Vielen Dank – äh, ich meine, entschuldigt, ich wollte ja nicht mehr…“ Kiuk musste kichern. „Statt deinen Hofknicks zu üben solltest du lieber lernen, dich anständig zu teleportieren!“ neckte er sie grinsend, „Sonst holst du mich ja nie ein!“ „Ach!“ Sie sprang auf und er tat es ihr gleich, und die Frau beobachtete die Kinder stirnrunzelnd, als sie anfingen, sich durch die Gegend zu teleportieren und sich zwischendurch wie kleine Kätzchen zu jagen, „Und ich dachte, du ärgerst dich, wenn ich dich einhole?“ „Schaffst du ja doch nicht.“ „Ach so, na warte, ich zeig’s dir!“ rief sie lachend, und die Jagd ging weiter. Salihah seufzte tief und rieb sich stöhnend die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren mal da und mal nicht, aber auch mit der Entsorgung sämtlichen Laudanums im Anwesen war nichts besser geworden. Weder waren die Schmerzen ganz weg noch war ihre Sehkraft wieder besser geworden. Sie wusste nicht, woran es lag… sie sollte dringend einen Heiler aufsuchen, das hatte selbst Nalani ihr geraten, aber bei den wirklich begabten Heilern hatte sie vorerst verspielt; die hatte sie sich mit ihrem Gerede im rat nicht gerade zu Freunden gemacht, zumindest war der Ratsvorsitzende davon überzeugt, sie wäre eine Schlange mit gespaltener Zunge und eine Lügnerin. Bevor diese Leute sie heilten, vergifteten sie sie eher, fürchtete sie. Sie würde also alleine zurecht kommen müssen… sie konnte sich nicht jedes Mal, wenn sie sich nicht wohl fühlte, in Zoras Chimalis‘ Arme werfen, nur, weil ihr der Kopf danach stand und ihr Geist es sogar noch mehr verlangte als ihr Körper. Es wird gut sein, wenn Nalani die Lehre bekommt… wenn sie zurückkehrt als Erwachsene, als ausgebildete Schwarzmagierin, wird sie eine bessere Fessel für Kelars Dämon sein als ich… sie ist mehr als nur eine geborene Geisterjägerin… sie ist die geborene Königin. Die Mächte der Schöpfung gingen mitunter seltsame Wege, um das Gleichgewicht der Welt zu erhalten. Sie dachte stirnrunzelnd an die Vision, die sie vor langer zeit gehabt hatte, vom Fall des Clans, die Schreckensnachricht, die sie Kelar gebracht hatte. Sie fragte sich, ob ihr Sehvermögen damals schon gefehlt hatte… ob sie sich tatsächlich damals schon zum ersten Mal geirrt hatte. Bisher waren alle ihre Prophezeiungen wahr geworden. Nur diese eine nicht. Es war ihr innerster Instinkt, der ihr sagte, dass auch Nalani ein Schlüssel zur Lösung dieses Traumes sein musste… in der Nacht, in der sie den Traum gehabt hatte, hatte sie Nalani gesehen, obwohl sie sie damals noch gar nicht gekannt hatte. Und dennoch hatte sie gewusst, wer die Frau in ihrem Traum gewesen war… sie war ein wichtiger Schlüssel. Ob ich mich geirrt habe oder nicht… der Clan wird fallen, egal durch wessen Hände. Wenn Kelar die Macht über ganz Dokahsan bekommt und mit seinem Dämon alle wahnsinnig macht… werden wir alle sterben. Mit allem, was ich bin, werde ich das verhindern… und wenn es das Letzte ist, das ich jemals tue. Mit diesen düsteren Gedanken hob sie den Kopf gen Himmel und beobachtete die kleinen, weißen Wolken in dem sanften Türkis. „Ihr Ahnen, ihr Geister… seid barmherzig mit dem Mädchen des Schattenclans…“ murmelte sie apathisch, „Sie ist zu weit Größerem bestimmt, als sie annehmen mag.“ ____________________ XD ja, wow, nichts tolles passiert... außer dass Sukutai endlich aufgetaucht ist (wie angenehm, mal was lustiges zu schreiben zwischen all dem Drama hier uû), Tabari zu denken lernt und Salihah immer böser wird. oô Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)