Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde von Linchan ================================================================================ Kapitel 17: Der Groll des Himmels --------------------------------- Das Wetterleuchten hielt immer noch an. Tabari regte sich nicht auf, er war nur völlig verwirrt. Wie konnte dieses Dorfkind Ulan heißen, wie dieser Idiot unter seinen Vorfahren, der vor sechshundert Jahren erst seine Schwester geschwängert und dann eine Nichtmagierin geheiratet hatte, dessen Namen niemand benutzen durfte? War das nur ein dummer Zufall oder gab es da eine Geschichte hinter diesem Namen? Er wusste e nicht und er hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn just in dem Moment tauchte Salihah wieder im Anwesen auf. Zuvor kam ein Diener wild gestikulierend in den Hof gerannt und schrie nach Kiuk, dass er seine Mutter gefunden hätte, aber ehe Kiuk ihn fragen konnte, wo, war Salihah selbst schon im Hof angekommen. Kurze Zeit später stand die versammelte Familie im Innenhof, als es zu regnen begann. Nalani hatte Puran dem Küchenjungen überlassen, damit er nicht in den Regen musste. „Wo bist du gewesen?!“ fragte Tabari seine Mutter ungewohnt heftig, „Du hast einiges verpasst, meine Gute! Vater ist tot, falls es dich interessiert, oder bist du dafür zu beschäftigt?“ „Ich weiß,“ war Salihahs prompte Antwort, und ihr Ältester wollte gerade mit seiner Predigt fortfahren, dann aber hielt er inne und starrte sie an. „Wie, du weißt?! Ich lasse dich den ganzen, verfluchten Tag suchen und frage mich, wo du stecken magst, und du sagst Ich weiß?!“ „Tabari, ich bin die Seherin,“ sagte sie verwundert über seine Wut, „Es sollte dich wenig überraschen, dass die Geister mir bereits erzählt haben, was geschehen ist. Deshalb bin ich ja gekommen.“ „Wir haben so einiges zu regeln,“ entgegnete der Blonde und fuhr sich durch die nassen Haare, „Sein Tod mag den Zorn der Geister besänftigt haben, aber wir haben einen riesenhaften Haufen Probleme am Hals! Und du bequemst dich Stunden nach dem Tod deines Mannes auch mal heim, na, das nenne ich ja Loyalität.“ „Wage es ja nicht, so mit mir zu sprechen, Tabari!“ zischte sie zurück und die anderen sahen verblüfft zu den beiden herüber. „Ich warne dich nur einmal, Sohn,“ fuhr die schwarzhaarige Frau erbost fort, „Loyalität! Sollte ich Loyalität zu einem Monster haben, das dieses Land beinahe zu Grunde gerichtet hätte?!“ „Loyalität gegenüber deiner Familie, das betrifft auch Kiuk und mich und nicht nur Vater! Du hättest hier sein müssen, statt durch das Land zu tigern, Monster hin oder her!“ „Ich besitze Loyalität allein den Geistern des Himmels und der Erde gegenüber!“ Salihah reckte herrisch den Kopf in die Höhe und Tabari schrumpfte tatsächlich etwas zusammen, als ihn der Blick aus ihren böse funkelnden Augen traf. Ihre Augen waren vernebelt und er wusste plötzlich, dass das verdammte Laudanum ihre Zunge dämlich machte und sie Worte sagen ließ, die sie nicht so meinte. Er verfluchte die Droge innerlich und überlegte sich, ob er seine neu errungene Macht als König von Lyrien nutzen sollte, um das Laudanum zu verbieten; aber vermutlich würde seine Mutter ihn dafür töten. Es war Nalani, die sich einmischte. „Hört auf, seid ihr verrückt geworden?!“ empörte sie sich, „Wir haben wichtigere Probleme! Was machen wir mit Kelar? Wir können ihn schlecht da vergammeln lassen, das zieht Ungeziefer und Krankheiten an.“ „Wir können ihn wo anders vergammeln lassen,“ grummelte Tabari, „Weit weg von hier am besten.“ „Wir verbrennen ihn mit Haut und Haar, damit nichts von ihm übrig bleibt,“ sagte Kiuk perplex, und Tabari keuchte. „Nein, nur nicht! Verbrennen ist eine ehrwürdige Bestattung, die die Seele ins Geisterreich bringt! Vater war ein Monster, das keine Ehre verdient hat!“ Ausnahmsweise mal stimmte seine Frau ihm zu. „Tabari hat recht, egal, was wir tun, wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sein Geist zurück in diese Welt kehrt.“ „Und wie wollen wir das machen?“ fragte Kiuk planlos und sah herüber zu dem Holzwagen, auf dem der in Leinentücher eingewickelte Körper des Vaters lag. „Außerdem würde mich interessieren, woran er gestorben ist… es… können doch nicht die Wunden gewesen sein, die Tabari ihm zugefügt hat…“ Jetzt erntete er stumme Blicke von allen, selbst von seiner Mutter, die das alles extrem kalt zu lassen schien, was ihn verwunderte. Kiuk hatte nie einen Draht zu seinem Vater gehabt, weil Kelar ihn als nutzlos bezeichnet hatte. Aber dennoch war es sein Vater, der tot war, der Mann, der ihn einst vor vielen Jahren gezeugt hatte, der irgendwann auch mal ein Mensch gewesen war. Und auch seine Mutter hatte diesen Mann einmal geliebt, das wusste es… offenbar wusste sie es nicht mehr, oder ihre Medizin hatte die Erinnerung in ihrem Kopf pulverisiert. „Willst du das wirklich wissen?“ murmelte seine Mutter in dem Moment langsam, und alle drehten sich zu ihr um. Tabari schnaubte. „Weißt du das auch?“ fragte er unverblümt, „Und hältst es nicht für nötig, es uns einfach zu sagen, damit wir fröhliche Rätselrunden machen können?“ „Tabari!“ herrschte seine Frau ihn an, weil er sich seiner Mutter gegenüber gerade so respektlos benahm, aber er brummte bloß und sah den Tadel gar nicht ein. „Nein,“ war Salihahs Antwort, „Das weiß ich nicht. Aber ich möchte es auch nicht wissen und Keisha nicht zumuten, seinen Körper zu untersuchen, woran er gestorben sein mag. Ihr habt ihn doch gefunden, hatte er keine Waffe dabei?“ „Ach, das ist dir ja auch entgangen,“ machte der Blonde schnippisch, „Ich habe ihm seinen Speer abgenommen, den wird er kaum benutzt haben.“ „Ich spreche auch mehr von etwas Kleinerem wie einem Messer, das er vielleicht in der Tasche hatte, abgesehen davon konnte der Mann zaubern.“ „Moment, worauf läuft das hinaus?“ rief Sukutai erschrocken, „D-du denkst doch nicht, er hätte sich… selbst getötet?!“ „Also, so verzweifelt sah er aber nicht aus, als wir gingen,“ räumte Tabari unschlüssig ein. „Wir sollten doch nachsehen, und was, wenn der kleine Junge ihn umgebracht hat?“ Wenn der schon Ulan hieß, addierte er in Gedanken, aber Nalani schnaubte bereits. „Klar, sicherlich. Der Herr der Geister, der Schrecken von Dokahsan, wird von einem zehnjährigen Dorfjungen ermordet.“ „Mit dem toten Reh aus dem Wald erschlagen!“ versuchte er es weiter und erntete von Nalani eine Kopfnuss. „Hör auf, mich zu veräppeln, du Karottenkopf!“ „Ich habe keine Ahnung, wie er gestorben ist, und es soll mir gleich sein,“ schnarrte Salihah, die an den anderen vorbei schritt in Richtung Schloss. Ihre Kopfschmerzen hatten entgegen ihrer Erwartungen mit Kelars Tod nicht aufgehört. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte… „Moment!“ rief ihr älterer Sohn entrüstet, „Wo willst du hin?! Dir obliegt die Entscheidung über seinen Verbleib als seine Witwe, oder nicht?“ „Nicht ganz,“ war ihre Antwort und Tabari verschluckte sich vor Entsetzen, „Du bist sein erstgeborener Sohn und Erbe dieser Familie, Tabari. Und nicht nur das, du bist dank der glorreichen Taten deines Vaters Herr von Lyrien. Du… hast diese Entscheidung zu fällen, nicht ich.“ Damit ging sie, ehe Tabari etwas erwidern konnte, und einen Moment war er sprachlos wegen ihrer Unverschämtheit. Da war sie den ganzen Tag weg, dann war sie endlich da und überließ ihm die ganze Drecksarbeit? Was war bloß in sie gefahren in der letzten Zeit…? Langsam wurde es ihm wirklich zu bunt, wieso musste er den ganzen Mist aufgabeln, während die anderen gemütlich am Kamin sitzen konnten? Er würde diesen Drogen ein Ende setzen, egal wie, so konnte es nicht weitergehen. „Wie auch immer,“ unterbrach Nalani genervt die Stille, „Es ist egal, wie er gestorben ist, er ist tot. Da deine Mutter dir die Entscheidung überlassen hat, was machen wir jetzt mit ihm?“ Tabari schwieg eine Weile verbittert und sie alle warteten ruhig im Regen auf seine Antwort. Sie kam nach langer Pause. „Wir werfen ihn in den Fluss,“ lautete seine Entscheidung und alle drei sahen ihn groß an. „Das ist unehrenhaft genug, Wasserleichen sind nicht sehr ansehnlich.“ „Dann wird er irgendwo angespült und die, die ihn finden, müssen sich mit seinem Geist herumplagen?“ fragte Nalani skeptisch, und ihr Mann seufzte. „Wir beschweren ihn mit Steinen, damit er nicht wegtreibt und für immer im Flussbett begraben bleibt.“ „Das ist nicht genug!“ zischte sie grimmig und er verengte die Augen. „Wie bitte?“ kam es kalt von ihm und sie hob den Kopf. „Reißt ihn in Stücke!“ verlangte sie, „Wenn wir seinen Körper und seine Seele zerreißen, kann er auch nicht wiederkehren!“ „Was erwartest du von mir?“ murmelte Tabari und senkte den Kopf, „Verlangst du das wirklich, Nalani?“ Betretenes Schweigen. Kiuk schien auch nicht ganz überzeugt von Nalanis radikaler Methode, die Leiche loszuwerden. Er schlug einen Kompromiss vor. „Wenn wir ihn in den Fluss werfen, müssen wir alle seiner Körperöffnungen mit Sand verstopfen, dann kommt die Seele nicht hinaus,“ erklärte er, „Dann wird sein bösartiger Geist auf ewig im Fluss gefangen sein. Ich denke, das reicht.“ „Wie könnt ihr euch mit halben Sachen zufrieden geben?!“ keuchte Nalani entsetzt, „Wir müssen ihn zerreißen, Tabari! Tu es, verdammt! Deine Mutter würde es auch tun, ich kenne sie.“ „Vielleicht,“ schnaubte Tabari, „Aber meine Mutter überlässt mir die Entscheidung, Weib.“ Sie erstarrte, als er sie so herablassend ansprach. Er duldete ihre Art, zu handeln, ganz offensichtlich nicht, und sie trat geplättet von seiner Kälte ihr gegenüber einen Schritt zurück, ohne es zu wollen. Dann senkte sie den Kopf. „Entschuldige,“ sagte sie dumpf, „Ich wollte dich nicht erzürnen, Tabari. Bitte denk nach, ich meine es ernst… es ist der einzige Weg, den Geist zu hundertprozentiger Sicherheit los zu werden! Hör auf deinen Geist… du weißt, dass ich recht habe!“ Tabari sagte nichts. Er stand lange schweigend da, bis er der Gruppe letztlich den Rücken kehrte. Kiuk drehte das Gesicht zu ihm, um auf die Antwort zu warten, als Nalani den Kopf auch wieder hob. „Was sagst du, Bruder?“ fragte er dumpf, Tabari ansehend, und der Ältere drehte den Kopf zu ihm und den Frauen zurück. Als er nichts sagte, wiederholte Nalani Kiuks Worte. „Was sagst du?“ Auch wenn Kelar kein ehrenhafter Mann gewesen war und nur Chaos gebracht hatte, kam die ganze Familie mit hinunter zum großen Fluss, um ihn zu bestatten; oder etwas Ähnliches zu tun. So trug Nalani ihr Kind auf dem Arm und sogar Salihah war anwesend, als Tabari und Kiuk die mit Sand und Steinen präparierte Leiche in den Fluss warfen. Alona hatten sie bei den Dienern im Schloss gelassen wegen der Krankheit; im Hungermond war es eiskalt draußen und das Kind würde vielleicht sogar sterben, wenn es zu lange draußen war. Puran war gut eingepackt worden. „Verschone uns mit deinem Zorn, böser Geist!“ sagte Tabari zum Flusswasser, das dahin rauschte und in dem die Leiche mit einem Plumps unterging, beschwert von den Steinen. „Möge dein Zorn eingesperrt bleiben im Schatten des Flusses Undim! Und niemals mehr zurückkehren ans Tageslicht.“ Sie standen schweigend da und während Nalani behutsam ihr Kind an sich drückte, das nur schweigend auf den kalten, dahin fließenden Fluss blickte, senkten die übrigen die Köpfe. Sukutai nahm Kiuk an der Hand. Sie hatte keinen Schimmer, wie er und Tabari sich fühlen mussten, ihren eigenen Vater so zu bestatten. Kelar war eine Bestie gewesen und sie war froh, dass er weg war, gab sie innerlich zu… aber sie vermochte sich nicht vorzustellen, was sie fühlen würde, wäre es um ihren Vater gegangen. „Gehen wir,“ meinte der Blonde dann dumpf und kehrte dem Fluss und seinem Vater für immer den Rücken. Der Undim war ein großer und ehrenwerter Fluss, der sich durch das ganze Land Kisara zog und bei der Stadt Etrak im Norden ins Meer westlich von Dokahsan mündete. Er entschuldigte sich im Stillen bei den Flussgeistern, dass sie diese Bürde tragen mussten, auf den Körper und Geist seines Vaters zu achten. Er hoffte, der Fluss würde ihm und seiner Familie vergeben. „Wir haben viel zu klären,“ fuhr er nach einer Pause fort. „Als erstes müssen wir den Rat der Geisterjäger einberufen. Der Herr der Geister ist gestorben und wir haben keinen Anführer. Als nächstes muss ich nach Yiara gehen und die Politik regeln… bevor dieses Land gänzlich im Chaos versinkt.“ „Wenn es dafür nicht schon zu spät ist,“ murmelte Nalani vor sich hin, ohne jemanden anzusprechen, und Tabari warf ihr einen stummen Blick zu, sagte aber nichts. Sie alle wandten sich vom Ufer ab, um zurückzukehren, nur Salihah blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Fluss. Von Kelar war nichts mehr zu sehen; die Gewässer des Undim waren hier im Norden sehr tief. Erinnerst du dich, Kelar, was ich dir einst prophezeite? fragte sie den Fluss in Gedanken, und ein grausames, wissendes Lächeln schlich auf ihre Lippen. Du wirst fallen, Kelar, und hart aufschlagen, sodass dein Schädel zerplatzt und Mutter Erde von deinem abscheulichen Blut beschmutzt wird. Wenn es soweit ist… werde ich neben den Splittern deiner Knochen stehen und lachen. Und genau das… tue ich… mein geliebter und zugleich verhasster Mann. Ihr Lächeln wurde breiter und sie lachte leise. „Hört mich an, ihr Flussgeister!“ zischte sie dann, als sie wusste, dass die anderen in einiger Entfernung verwirrt zu ihr herüber sahen, weil sie ihnen nicht folgte. „Fesselt die bösartige Seele dieses Mannes bis in alle Ewigkeit! Ich bin Salihah, die Seherin, Gemahlin des Herrn der Geister, Kelar Lyra! Ich habe ein Recht, so zu euch zu sprechen, und ihr werdet meine Worte dulden, ebenso wie meine Anwesenheit. Ihr werdet den verschandelten, verwirrten Geist meines Mannes behalten bis zum Ende allen Lichts und aller Dunkelheit, bis hin zu dem Tag, an dem Vater Himmel und Mutter Erde verblassen! Und wenn ihr es wagen solltet, es nicht zu tun, werdet ihr es bitter bezahlen. Ihr solltet wissen, dass man mich nicht ungestraft verraten kann… sprecht!“ Und die Flussgeister schwiegen sie an. In diesem Moment war es, dass ihr klar wurde, dass etwas nicht so lief, wie es sollte. Sie wusste nicht, was es war, aber etwas war absolut falsch. Die Frau hob argwöhnisch den Kopf und versuchte in dem Chaos in ihrem Hirn die Antwort auf diese Verwirrung zu finden. Was war hier verkehrt? „Mutter?“ Sie fuhr herum und starrte zunächst wie ein zorniges Raubtier in Kiuks Gesicht, während er zu ihr gekommen war. Dann vermilderte sich ihr Ausdruck und sie seufzte. Die Kopfschmerzen… sie waren immer noch da. Es war verkehrt… es sollte nicht so sein. „Wir wollen heim, was ist mit dir?“ fragte Kiuk sie dumpf. Salihah schloss kurz die Augen. „Gar nichts,“ brummte sie dann, „Ich habe Migräne, das ist alles. Entschuldigt, dass ich euch warten ließ. Wir können los.“ Das erste, was Tabari Kraft seines Amtes als Erbe von Kelar am nächsten Tag tat, war die Versammlung der Geisterjäger in Tuhuli einzuberufen. Tuhuli lag zentral in Dokahsan und war daher gut zu erreichen für alle Beteiligten. Kohdars kamen aus Yiara und Minar Emo aus Emdyn. Den Tod des Mannes hatten alle schon durch Visionen der Geister mitbekommen. Aus Höflichkeit wurde Tabari Beileid ausgesprochen, aber der Blonde winkte nur ab, weil es kein echtes Beileid war; um Kelar musste niemand trauern und keiner tat es wirklich. Das Hausmädchen brachte Tee (für Zoras und Nalani Kaffee). Salihah war auch mitgekommen, wie fast immer, und Keisha und Meoran waren auch dabei, obwohl sie nicht zum rat gehörten. Meoran, jetzt neunzehn Jahre alt, würde aber schon sehr bald ebenfalls die Prüfung machen und vielleicht auch bald als Geisterjäger Mitglied des Rates sein. Sein Vater war immens beschäftigt damit, ihn einzuweisen in die Kunst des Lehrens, damit Meoran nach Nombohs Tod einmal seinen Posten als Lehrer der Schwarzmagie übernehmen könnte. Meoran dachte nicht gerne daran, dass sein Vater nicht ewig lebte, die Vorstellung war furchtbar; aber der Tod von Kelar führte allen einmal wieder vor Augen, dass das Leben nicht ewig war. Eines Tages würden sie alle tot sein. Und wer würde dann ihre Mühen und Sitzungen bezeugen außer alter Annalen des Landes? Überdies hatte Meoran seit neuestem eine Verlobte. Das Mädchen war elf Jahre alt und hieß Ruja, sie stammte aus dem Telepathen-Clan Thala. Natürlich war Ruja noch zu jung, um wirklich seine Frau zu sein, das würde sie in ein paar Jahren sein, wenn sie reif genug war. Die Verlobung war eine blitzartige Entscheidung der Eltern gewesen. Das Mädchen versuchte gerade sehr fleißig, ihre zukünftigen Schwiegereltern zu beeindrucken, indem sie dem Hausmädchen äußerst höflich und wohlerzogen beim Tisch decken half. „Ihr müsst das nicht tun, junge Herrin, Ihr seid doch die Verlobte von Herrn Meoran,“ versuchte die Dienerin immer wieder, das Mädchen zu entlasten. „Ich helfe aber gerne, keine Sorge!“ war die Antwort, „Lass mich das tragen, nicht alles zugleich, bevor etwas zerbricht…“ „Ein sehr… umsichtiges Mädchen,“ bemerkte Tabari bedröppelt und beobachtete Ruja und das Hausmädchen, „Glückwunsch, Meoran. Wurde ja auch mal Zeit für dich, hm? Wobei, ist sie nicht etwas sehr jung?“ Meoran wurde rot und Nomboh gluckste verhalten. „Ach was, neun Jahre, na und? Zugegeben war das nicht lange geplant, es hat sich, sagen wir, kurzfristig ergeben.“ „Und ist nicht Thema dieses Rates,“ warf Zoras ausgesprochen angespannt ein, worauf sich alle Blicke auf ihn wendeten. „Wir sprechen über den Verbleib des Rates der Geisterjäger nach dem Tode von Kelar, der Herr der Geister war. Wir brauchen einen neuen Anführer. Wie ihr alle wisst, entscheidet normalerweise ein alle fünf Jahre stattfindender Zweikampf mit dem amtierenden Herrn der Geister, ob es einen neuen gibt; wer den Ratsführer besiegen kann, wird neuer Ratsführer. Wenn der Führer – wie in unserem Fall – verstorben ist, wird die Ausscheidung umgehend vollstreckt, das wisst ihr ebenfalls, denke ich.“ Er erntete einstimmiges Nicken von allen Seiten. „Die letzten Kämpfe um den Titel des Ratsoberhauptes hätten vor einem halben Jahr sein sollen,“ sagte Zoras weiterhin, „Aber unser Oberhaupt, Kelar, hielt es offenbar nicht für nötig, sich an die Regeln zu halten, und hat es ausfallen lassen. Nun; da Kelar tot ist, bedeutet das normalerweise, dass wir jetzt jeder gegen jeden einmal kämpfen müssten. Und wer die meisten besiegt hat, hat gewonnen. Aber,“ Er wurde lauter, als schon einige zu murmeln begannen, wie anstrengend das doch wäre. „Ich halte das in unserem Fall für überflüssig.“ „Wie bitte?“ machte Nalani, „Überflüssig?“ „Das heißt, wir verletzten die Regeln?“ fragte Meoran verdutzt. Sein Onkel brummte. „Du bist nicht Mitglied des Rates, dich tangiert das nicht.“ „Na, ihr verstoßt gegen die Regeln…?“ korrigierte der junge Mann sich immer noch verblüfft. „Ich möchte erklären, wieso,“ seufzte Zoras Chimalis, „Ich denke, wir wissen schon, wer der Gewinner ist, und daher können wir uns die Kämpfe sparen.“ „Na, das ist aber großkotzig von dir,“ machte Tabari prompt, „Mal so in die Runde zu werfen, dass du der Größte bist, denkst du echt, die Geister befürworten das?“ „Wer redet denn von mir?!“ entrüstete sich der Schwarzhaarige, „Dich meine ich, du Vollpfosten!“ Tabari klappte die Kinnlade quasi auf den Tisch und er erbleichte, während alle anderen erst ihn, dann Zoras, dann wieder ihn ansahen. „Du denkst, Tabari hätte gegen uns alle gewonnen?“ fragte Barak Kohdar, der nebenbei in einem Buch las, das er auf dem Schoß hatte, „Ich meine, gegen Nalani hat er verloren…“ „Genau…“ zog Tabari sich selbst in den Dreck und weitete die Augen. „Dann kämpfen die beiden eben gegeneinander, wir anderen sind eh‘ raus,“ sagte Tare Kohdar, „Barak, leg dein dämliches Buch weg, das ist unhöflich!“ „Nein, darum geht es nicht,“ mischte Zoras Chimalis sich ein, „Tabari hat gegen Kelar gewonnen. Kelar war Herr der Geister und Tabari hat ihn geschlagen. Das sollte reichen, oder hat jemand etwas einzuwenden?“ Niemand sprach, Tabari hustete nur vor sich hin, wurde aber ignoriert. Tare nahm seinem Bruder das Buch weg. „Wie ungerecht, es war gerade so spannend…“ „Lies daheim, Himmel und Erde!“ „Also,“ erhob Zoras erneut die Stimme, „Dann nehme ich das als einstimmiges Akzeptiert an.“ Jetzt hob er den Kopf zur Zimmerdecke und brüllte unverhofft laut durch die Stube, sodass das Hausmädchen vor Schreck schrie und die Teekanne fallen ließ. Es klirrte. „Ihr Geister von Himmel und Erde! Habt ihr zugehört? Wenn ihr nicht einverstanden seid mit dieser Ausnahmeregelung, dann sprecht jetzt! Und ich werde mich eurem Willen beugen und mich unterwerfen, wie es meine Pflicht ist!“ Alle hielten gespannt die Luft an und warteten auf ein Zeichen. Einen Blitz oder Donner, irgendetwas… Aber nichts geschah. Der Schwarzhaarige seufzte, ehe er die Arme sinken ließ und zu Tabari sah, der stocksteif auf seinem Platz saß und dumm schaute. „Dann ist es beschlossen,“ verkündete er, „Dann bist du ab heute unser neues Ratsoberhaupt, Tabari, und von jetzt an Herr der Geister an Stelle deines verstorbenen Vaters. Die Geister haben entschieden, dass es deine Bestimmung ist… also nimm sie an. Was sagst du?“ Der Blonde seufzte tief. „Dass ich neuerdings zu viel nach meiner Meinung gefragt werde, das ist mir zu anstrengend.“ Neben ihm schnaubte Nalani. „Ja, mein Lieber!“ spottete sie mit einem wohlwollenden Grinsen, „Das wird noch häufiger auf dich zukommen jetzt!“ Das war wohl wahr. Der Tod seines Vaters machte Tabari nicht nur zum neuen Oberhaupt des Geisterjägerrates, sondern automatisch auch zum nachfolgenden König von Lyrien… und das war ein großes Problem. „Lyrien!“ schnaubte Tabari, als er einige Tage nach dem Tod seines Vaters im Schlafzimmer im Schloss auf und ab marschierte, „Das Land heißt Dokahsan, es gibt kein Lyrien und es dürfte es nie gegeben haben! Vater hat dem ganzen Volk nur Unrecht angetan und es zu Sklaven gemacht, die Leute sind gestorben, verhungert, erfroren oder wurden hingerichtet wegen jedem kleinsten Mist!“ „Dieses Land gehört jetzt dir, Tabari,“ war Nalanis Antwort, „Du musst dafür sorgen, dass das aufhört. Das Volk muss sein Land zurückbekommen und ein neuer Senat muss eingesetzt werden, der die Politik regelt. Der König von Kisara in Vialla unten muss besänftigt werden; dass Kelar sich nicht an alte Pakts und Abmachungen gehalten hat, hat ihn erzürnt, wenn wir Pech haben, ist schon die Streitmacht aus Vialla im Anmarsch, um uns mit Gewalt niederzureißen. Du weißt, dieser König ist ein alter Kauz und auf Magier nicht gut zu sprechen. Aber das ist nicht unser Problem, sondern seins, und für uns kein Grund, mit ihm Krieg anzufangen! Es besteht ein Pakt, der uns an das Land Kisara bindet, der muss eingehalten werden.“ „Das weiß ich,“ stöhnte ihr Mann, marschierte weiter auf und ab und raufte sich die Haare, „Ich hatte auch nichts anderes vor! Dachtest du, ich mache weiter wie mein Vater und versuche, aus Dokahsan ein unabhängiges Land voller Schamanen und ohne Nichtmagier zu machen? Das ist doch Wahnsinn, Schamanen gibt es überdies überall auf ganz Tharr, nur nirgends so viele wie hier im Norden Kisaras, wo die Wiege unserer Kultur liegt, wie es heißt. Das ist dennoch kein Grund, das Land uns zu Eigen zu machen. Vater hat die Mächte der Schöpfung zutiefst erzürnt, ich muss… nicht nur sie, sondern das ganze Volk irgendwie besänftigen. Ich muss nach Yiara und… das öffentlich verkünden. Und mir graust davor, ich bin kein Politiker, ich kann keine öffentlichen Reden halten…“ Er warf ihr einen verzweifelten Blick zu und Nalani hob den Kopf. „Dann besprich es mit deiner Mutter,“ verlangte sie, „Salihah kann sowas, sie kann dir helfen. Reden musst du allein, Tabari… ich denke nicht, dass sie die Rede einer Frau akzeptieren werden.“ Ihr Mann seufzte tief. „Nur Ärger hat man!“ jammerte er, „Plötzlich bin ich der Depp, der alles regeln muss, dabei habe ich nicht die leiseste Ahnung, was ich zu tun habe!“ Sie tat etwas Erstaunliches; sie ging zu ihm herüber und streichelte ihm zärtlich über die Haare und seine Wange. Als er sie verdutzt über die ungeahnte Zärtlichkeit ansah, lächelte sie für einen Moment. „Du bist sehr tapfer, mein Liebster…“ Während Tabari mit seiner inzwischen wieder etwas kooperativeren Mutter die Rede ausarbeitete, die er vor dem Senatsgebäude in Yiara würde halten müssen, hatte jeder in der Familie seine Aufgabe zu erledigen. Da es der kleinen Alona wieder besser zu gehen schien, wurden Kiuk und Sukutai damit betraut, einen neuen Senat zusammenzusuchen. In Yiara gab es genug Politiker, die dafür zu gebrauchen wären. Nalani war indessen damit beschäftigt, den Jungen namens Ulan gesund zu pflegen und sich zugleich um ihren eigenen Sohn und ihre Nichte Alona zu kümmern. Sogar die Chimalis-Brüder bekamen von ihrem neuen Ratsoberhaupt einen Auftrag; sie konnten mit Hilfe ihrer Späher, Krähen und Kondoren, die Grenzen überwachen und darauf aufpassen, dass im Süden kein Unglück geschah; von einer Streitmacht des Königs oder sonstigen Unruhen war nichts zu erkennen, aber sie alle fürchteten jeden Tag, dass der Zorn, den Kelar heraufbeschworen hatte im ganzen Land, sie noch bitter treffen könnte, an einer Stelle, die sie nicht erwarteten, an der es grausam wehtun würde. Aber nichts geschah… die Geister hüllten sich in seltsames Schweigen. „Kannst du dich bewegen und gehen, Junge?“ Nalani beobachtete den verwundeten Jungen prüfend, als er sich von seinem Krankenbett erhob und ein paar Schritte durch das Zimmer ging. „Ja, es geht schon wieder gut, Herrin,“ sagte er höflich, „Ich bin Euch lange genug zur Last gefallen und kann jetzt zurück zu meiner Familie nach Canulo kehren, wenn Ihr erlaubt…“ Er fasste plötzlich nach seinem Kopf und zuckte, worauf Nalani ihn skeptisch anblickte. Auf dem Boden des Zimmers saß Puran und bohrte mit seinem Holzschwert ein Loch in den Teppich. Jetzt sah er auch neugierig zu dem älteren Jungen hinauf, der vor ihm stand. „Alles in Ordnung, sicher?“ fragte Nalani. Das Kind namens Ulan drehte etwas verblüfft den Kopf zu ihr. „Ich… habe nur noch Kopfweh, das ist alles…“ gestand es kleinlaut, „Das wird schon, denke ich…“ Er zuckte wieder zusammen und Nalani erhob sich, während Puran vor sich hin redete: „Meine Großmutter hat auch immer Kopfweh, vielleicht seid ihr verwandt.“ „Rede keinen Schmarrn,“ tadelte Nalani ihr Kind, „Und mach den Teppich nicht kaputt! – Ulan, hör mir zu. Vielleicht ist es besser, wenn ich dich selbst nach Canulo bringe, du solltest dich daheim noch weiter ausruhen… habt ihr Heiler in der Familie?“ „Wir sind alle Schwarzmagier,“ entgegnete der Junge benommen und sah zum kleinen Puran hinab, der immer noch am Boden saß. Als der Ältere wieder einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf fahren spürte und kurz zischte, sah der Kleine am Boden auch die ungewöhnlich Raubtierartigen Eckzähne, die auch Kelar schon bemerkt hatte, ohne dass es irgendjemand Lebendes wusste. Puran wusste selbst nicht, was es war, aber der Anblick jagte ihm plötzlich einen unwohlen Schauer über den Rücken, als hätte sich der kranke Junge vor ihm plötzlich in einen Tiger verwandelt, bereit, ihn anzuspringen. Er kroch rückwärts über den Boden und erbleichte, was aber niemand bemerkte, da seine Mutter jetzt Ulan am Arm zur Tür zog. „Dann gebe ich dir Kräutertee mit, der wird die Schmerzen lindern. Komm mit.“ „Wohin gehst du, Mutti?!“ fragte Puran plötzlich hysterisch; etwas an dem Gedanken, sie mit dem seltsamen Jungen alleine zu lassen, gefiel ihm gar nicht, und er rappelte sich auf und hustete. „Ich bringe Ulan zurück in sein Dorf. Es wird nicht lange dauern, du bleibst bitte hier. Vati und Großmutter sind daheim, du bist ja nicht alleine hier, Puranchen.“ „Aber… ich mag doch nicht…“ nölte der Kleine unsicher, protestierte aber lieber nicht weiter, als Nalani ihm den Rücken kehrte und mit dem anderen Jungen zur Treppe ging. Wenn er doch nur wüsste, wieso er sich so komisch fühlte, wenn er den anderen ansah… wenn er das hätte erklären können, wäre sie vielleicht nicht gegangen! Er ohrfeigte sich innerlich für sein Unvermögen, sich in Worte zu fassen. Reden war nicht unbedingt etwas, was er gern tat, und Dinge erklären schon gar nicht. „Bleib artig daheim,“ sagte seine Mutter noch zu ihm, als sie ging, „Ich bin doch bald zurück. Du bist alt genug, um eine Weile ohne mich zurecht zu kommen. Wenn du im Sommer in die Schule kommst, wirst du das auch müssen, gewöhne dich bitte daran, mein Sohn.“ „Ja, Mutti,“ war die dumpfe Antwort, ehe sie weg war. Puran ahnte nicht, dass seinem Vater der kleine Junge aus Canulo ebenfalls im Kopf herum spukte. Während er versuchte, sich auf seine Rede zu konzentrieren, und seine Mutter hinter ihm auf und ab ging und ihm diktierte, was er zu sagen hätte, kamen seine Gedanken immer wieder auf den Jungen zurück, der einen so verhängnisvollen Namen trug. Ob der rein zufällig Ulan hieß? Aber wenn nicht, wer nennt sein Kind denn freiwillig nach jemandem, der nur Unglück gebracht hat? Das ist doch Humbug… vielleicht wussten die Eltern gar nicht, dass es bei uns mal einen Ulan gab, sie sind ja nur einfache Bauern-… wie sollten sie davon wissen? Außerdem ist das über ein halbes Jahrtausend her, wer außer solchen Stammbaum-Fanatikern wie Mutter und Kiuk weiß überhaupt davon? „Hörst du mir zu?!“ Die empörte Stimme seiner Mutter ließ den Mann hochfahren und er hustete. „V-verzeih, ich war… in Gedanken,“ gestand er kleinlaut, „Ich höre.“ „Das hoffe ich für dich!“ schnaubte Salihah und rieb sich die Schläfen, „Es ist von äußerster Dringlichkeit, dass wir das erledigen, Tabari. Und wir können uns keine Fehler leisten, derer hat dein Vater schon genug gemacht.“ Der Sohn nickte dumpf. Ja, das wusste er. „Dann machen wir weiter…“ schlug er vor, „Je eher wir es beenden, desto besser.“ Und während sie die Arbeit fortsetzten, verdrängte er die Gedanken an den kleinen Ulan bis auf weiteres. Und so geriet in Vergessenheit, was nicht hätte verloren gehen dürfen… An dem Tag am Ende des Hungermondes, an dem sie nach Yiara fuhren, begann es zu tauen. Die Straßen waren schlammig und der Wagen kam nicht gut voran, deswegen kamen sie erst nach der vereinbarten Mittagsstunde vor dem Senatsgebäude an, vor dem sich ganz Yiara versammelt haben musste. Aus jedem Kreis waren die Statthalter, die Verwalter der Kreise, gekommen, und ganz vorne an standen die zu neuen Senatoren auserkorenen Männer, in die traditionellen Gewänder des Senats gehüllt, wie es vor Kelar Lyras Machtübernahme gewesen war. Als Tabari sich ans obere Ende der breiten Steintreppe vor dem Gebäude stellte und plötzlich auf das versammelte Volk herab starrte, das zu ihm hinaufsah, wurde ihm fast übel. Er wäre am liebsten umgekehrt und hätte sich in einem Erdloch vergraben, er wünschte sich, irgendjemand könnte diesen Teil für ihn übernehmen… aber das war nicht möglich. Er war Kelars Erbe. Es war seine Pflicht, das zu tun… und der einzige Weg, den Groll des grauen Himmels zu besänftigen. Der Blonde blickte hinauf in die Wolken, die sich leise im grummelnden Himmel zusammen zogen. Es würde bald Regen geben. Vorne bei den Senatoren stand der Rest des Geisterjägerrates, ebenso hatte man den Telepathen-Orden und den obersten Heilerrat versammelt. Tabari räusperte sich, und nach und nach hörten die Menschenmassen vor ihm auf zu murmeln und blickten geschlossen und erwartungsvoll zu ihm hinauf, nicht wenige mit finsteren oder furchtsamen Blicken. Diese Menschen mussten seinen Vater wie die Pest gehasst und gefürchtet haben. „Volk von Dokahsan,“ begann er dann kleinlaut, und hinten reckten sich einige, die es nicht gehört hatten. Nalani in der ersten Reihe machte verstohlene Handbewegungen und er wiederholte sich lauter: „Volk von Dokahsan!“ Jetzt hatten ihn alle gehört und er bekam jetzt ungeteilte Aufmerksamkeit. „Ich habe wichtige Nachrichten und Änderungen zu verkünden, deswegen habe ich euch heute hier versammelt! Für die, die mich hier heute zum ersten Mal sehen, mein Name ist Tabari Lyra, ich bin Oberhaupt des Rates der Geisterjäger. Mein Vater, der Tyrann Kelar, ist vor wenigen Wochen verstorben, wie sich schon verbreitet haben wird.“ Die Leute murmelten, manche nickten. „Ich komme zu euch in größter Demut,“ fuhr Tabari fort und senkte den Kopf, „Mein Vater hat euch viel Leid und Unheil gebracht, Menschen gemordet und versklavt. Das hätte nicht passieren dürfen. Wir, die Hinterbliebenen der Lyra-Familie, können das nicht rückgängig machen, so sehr wir es auch wünschen. Aber wir können verhindern, dass es so weiter geht, und das Desaster beenden. Darum bin ich hier und spreche zu euch. Dieses Land ist eine Provinz des Landes Kisara, was mein Vater offenbar ignoriert hat! Ich werde es nicht tun und ich werde am heutigen Tage diese Provinz Dokahsan seinem Volk zurück geben!“ Das Gemurmel wurde lauter, einige riefen und Tabari schnappte kurz nach Luft. „Ich übergebe die Politik dieses Landes in die Hände des wieder erstellten Senats, der für das Volk von Dokahsan sprechen wird. Dokahsan wird nicht länger Lyrien heißen, sondern seinen altehrwürdigen Namen zurück bekommen! Und Dokahsan… braucht keinen König! Der König, dem wir alle unterstellt sind, ist der König von Kisara!“ Die Rufe wurden lauter, einige blieben skeptisch, andere waren schon begeistert. Er hob die Hände, um das Volk wieder zum Schweigen zu bringen. „In Dokahsan leben sowohl Menschen als auch Schamanen, sie alle zusammen gehören zum Volk und sollen gleichermaßen daran beteiligt sein, aus diesem Land wieder ein Land des Friedens zu machen. Der Senat erhält die volle Entscheidungsmacht, er wird Reformen aber nur durchsetzen können in Übereinstimmung mit Abgeordneten aus den drei Räten der Magier – die da wäre der Rat der Heiler, der Rat der Seelenmagier und der Rat der Geisterjäger.“ Jetzt herrschte Schweigen und alle sahen ihn gebannt an. Tabari seufzte. „Jeder der drei Räte wird einen Abgeordneten stellen, der Besprechungen innerhalb der Räte an den Senat weitergibt und für den jeweiligen versammelten Rat spricht. Auf diese Weise beteiligen sich Nichtmagier und Magier gleichermaßen an der Politik, und nicht nur die Schwarzmagier, wie es früher war, da Seelenmagier und Weißmagier ebenso ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind!“ „Ist ja klasse, wer wird unser Vertreter?“ freute sich Tare Kohdar aufgeregt, Nalani blinzelte. „Das entscheiden wir vermutlich auf der nächsten Sitzung.“ „Hört mich an,“ lenkte Tabari die Aufmerksamkeit erneut auf sich, worauf langsam alles Gemurmel wieder erstarb. „Meine Familie, die Lyra-Familie, war einst eine ehrwürdige Familie der Schamanen, hat aber in den letzten Jahren viel Unrecht getan. In großer Demut über die Schande, die meine Familie angerichtet hat, werfe ich mich dem Volk von Dokahsan zu Füßen als Zeichen dafür, dass ich euch um Vergebung anflehe, die meine Familie nicht mal verdient hätte. Ich erhebe keinerlei Anspruch… für meine Familie und meine Nachfahren als Entschädigung für die Schande und den Geisterzorn, für den mein Vater verantwortlich ist.“ Mit diesen Worten tat er etwas Verblüffendes, als er seine Ankündigung tatsächlich wörtlich nahm. Er ließ sich vor dem versammelten Volk, allen Senatoren und Statthaltern und allen drei Räten auf die Knie sinken und warf sich demütig auf den steinernen Boden, die Stirn auf die Erde gepresst. Das Volk murmelte, wurde nach einer Weile, die er da regungslos lag, aber totenstill. Kein Laut war zu hören und alle starrten hinauf zur Treppe und zum Senatsgebäude. Nalani war ebenfalls verblüfft über diese Geste, von der er sie nicht unterrichtet hatte, obwohl sie an sich in etwa mit ihm durchgesprochen hatte, was er sagen würde. Selbst Salihah schien das zu überraschen, aber sie lächelte hinauf zu ihrem Sohn voller Stolz und Zufriedenheit, als hätte er gerade die Welt gerettet. Vielleicht hatte er das… denn allein seine Demut würde den Groll des Himmels gegenüber dem Lyra-Clan besänftigen, weil er offen vor der halben Welt zeigte, dass sie im Unrecht gewesen waren und für die Taten des Vaters den Rest ihres Lebens lang büßen würden, wenn es sein musste. „Tabari ist ein guter Mensch,“ murmelte Zoras Chimalis, der neben ihr stand und ebenfalls hinauf sah, „So viel Demut würde kein Geist jemals von ihm verlangen… es ist nicht seine Schuld, dass Kelar verrückt war. Du kannst stolz auf ihn sein, Salihah.“ „Das bin ich,“ entgegnete sie fast lautlos. „Das bin ich mit meiner ganzen Seele, Liebster.“ Und sie nahm zärtlich seine Hand in ihre, ohne dass sie einander anblickten. Tabari erhob sich langsam wieder, hielt aber den Oberkörper vorgebeugt und den Kopf gesenkt. „Ich werde nicht wagen, euch in die Augen zu sehen, das bin ich nicht wert,“ sprach er, „Der Senat soll entscheiden, was mit den Nachfahren des Tyrannen Kelar Lyra geschehen soll… dies liegt nicht in meinen Händen, dazu hätte ich kein Recht. Die Geister werden für Recht sorgen.“ Er sah jetzt kurz zu den Senatoren und wartete auf deren Entscheidung. Eigentlich gehörte die ganze Familie nach diesem scheußlichen Desaster in Verbannung, des Landes auf ewig verwiesen. Der Adelsstatus müsste ihnen entzogen werden und sämtliche Rechte, die sie bis dahin gehabt hatten. Einer der Senatoren trat vor. „Du verlangst harte Strafen für dich und deine Angehörigen, die nicht notwendig sind, wie der Senat, für den ich jetzt spreche, denkt,“ sagte der Mann, und alle sahen wieder erstaunt zu ihm hin, abgesehen von Tabari, der immer noch mit geneigtem Oberkörper stehen blieb. „Die Schuld, die auf deiner Familie lastet, ist nicht deine oder die deiner Söhne und einstigen Enkel, Tabari Lyra. Der Senat würde von den Strafen absehen, im Sinne eines… Neuanfangs, sozusagen. Eure Familie hatte diesem Land zu Zeiten des Krieges gegen Anthurien treue Dienste erwiesen und viel Gutes getan. Das soll nicht vergessen sein. Und ihr selbst wart es, die den Tyrannen losgeworden seid, und du hast dich aufrichtig und ehrlich vor dem versammelten Volk gedemütigt. Wir denken, das reicht.“ Tabari musste jetzt doch hochsehen und machte ein verdutztes Gesicht. „D-das ist zu viel der Barmherzigkeit!“ keuchte er tonlos, „Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann.“ „Du willst dir selbst keine Rechte mehr geben, daher geben wir dir jetzt kein Recht, zu widersprechen,“ feixte der Senator ernst und wandte sich an das Volk: „Wer etwas einzuwenden hat, der möge jetzt vortreten und sprechen!“ Die Menschen blieben still; manche murmelten und tuschelten untereinander, aber niemand trat vor oder erhob laut die Stimme. Tabari war verblüfft… er hatte sehr viel mehr Feindseligkeit und Zorn erwartet. Natürlich war er nicht Schuld an den Taten seines Vaters, aber normalerweise wurde die ganze Sippe des Täters gleich in Mitleidenschaft gezogen und verurteilt. Er fragte sich, ob sie wirklich so barmherzig waren oder ob sie sich nur nicht trauten, als erste zu protestieren. Die Männer des Senats sahen sich in der Masse um und auch die Geisterjäger und anderen Räte drehten die Köpfe, um nur murmelnde und tuschelnde Menschen hinter sich stehen zu sehen. Schließlich war es Zoras Chimalis, der das Wort ergriff, indem er ein paar Stufen der Treppe hinauf und neben den Senator stieg. „Flüstern ist nicht sprechen!“ verkündete er laut, „Sprecht, wenn ihr Einwände habt, oder schweigt, wenn nicht, von halben Sachen haben wir genug gehabt! Lasst mich eines klar stellen, ehe ihr euch entscheidet.“ Er hob die Arme und wirkte dank seines schwarzen Umhangs beeindruckender denn je, sodass die Menschen tatsächlich geschlossen verstummten und zu ihm hinauf sahen. Tabari blinzelte. „Ich kenne die Lyra-Familie schon eine ganze Weile, ich kannte Kelar, das Monster, das einst ein Mensch war, den ich sogar einmal respektiert habe, und ich kenne seine Familie. Keiner von ihnen, weder Kelars Frau noch seine Söhne, haben je die Machenschaften des Monsters unterstützt, der Senat hat recht, wenn er sagt, sie trifft keine Schuld, wir vom Rat der Geisterjäger sind derselben Meinung. Tabari gab uns das Land zurück, das sein Vater gewaltsam für sich beansprucht hat, und ich denke diese Rede hier heute und die Gestik sind der Demut genug! Wenn ihr etwas anderes denkt, dann sprecht jetzt!“ Niemand sprach. _______________________ Hier endet part eins^^ wenig passiert in dem kapi ^^' aber naja, gelaber halt... wir haben jetzt rein storymäßig etwa ein viertel der Geschichte hinter uns XD Und um mal wieder eine Zeitleiste zu machen, wir haben Ende Januar 965^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)