Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten von Linchan (Erstes Buch) ================================================================================ Kapitel 19: In die Schatten --------------------------- Die Welt erfüllte ein tiefes, melancholisches Grollen. Neisa hob den Kopf und starrte aus dem Fenster in den fallenden Schnee, während sie die leichte, kaum wahrnehmbare Erschütterung der Mutter Erde unter ihren Füßen spürte, so tief in der Dunkelheit, dass es mehr ein Instinkt sein musste, den sie wahrnahm, als das Beben selbst. Es beunruhigte sie und verschaffte ihr Kopfschmerzen, daran zu denken. „Tharr... wird in den Schatten fallen... das weißt du. Und du weißt es schon lange... das Zeitalter... ist quasi vorüber, Neisa.“ So sprachen die Geister der Erde zu ihr und sie schwieg, während sie weiter aus dem Fenster der Wohnstube in den Schnee starrte. Dass der Schnee früh fiel in Dokahsan war nicht ungewöhnlich; ungewöhnlich für dieses Jahr war aber die Menge, in der er jetzt schon fiel. Der Holzmond war noch nicht mal ganz vorüber... Die Erdgeister waren unruhig. Neisa war Heilerin; normalerweise nahmen die Heiler viel seltener und weniger wahr, was die Geister flüsterten, es war eher das Metier der Schwarzmagier, wie ihr Vater und ihr Bruder welche waren. Aber sie hatte sie schon als Kind manchmal gehört... sie sprachen irgendwo aus den tiefen Abgründen der Erdmutter, auf der sie alle lebten. Und sie waren besorgt, genau wie das junge Heilermädchen. Und was sollen wir tun, wenn unsere Welt... fällt? Die Antwort der Geister war auch mehr kryptisch. „Lernen, in der Finsternis keine Furcht zu haben. Vielleicht geht dann die Sonne wieder auf...“ Sie zischte grimmig, während sie sich an die schmale Fensterbank der Stube klammerte und den Kopf etwas senkte. Sie hatte keine Furcht... die hatte sie in diesem Punkt nie gehabt. Die Erdmutter war auch finster, und sie war trotzdem gut zu den Menschen. Neisa war an die Dunkelheit gewöhnt... das war für Heiler auch eher ungewöhnlich. Man sagte, die Heiler als Experten für lebende, wachsende Pflanzen und Kräuter wären selbst wie Blumen, die in der Sonne am besten blühen konnten. Sie war dann wohl eher ein Nachtschattengewächs... Als der Himmel draußen düster vor sich hin grollte, fuhr sie zusammen. Gewitter? Nein, um diese Jahreszeit wäre das wirklich unnatürlich, erst recht hier im Norden. Neisa schauderte bei dem Gedanken an Gewitter, die sie immer gleichzeitig gefürchtet und doch faszinierend gefunden hatte. Gewitter, hatte sie gelernt, war nicht mehr als eine Vereinigung von Vater Himmel und Mutter Erde. Und wenn Vater Himmel mit seinem Blitz in seine Frau eindrang, gebar sie manchmal die Flammenkinder... die Gedanken ließen das Mädchen plötzlich erröten, ohne dass sie einen wirklichen Grund dafür hätte nenne können. Es sind doch nur die Mächte der Schöpfung. Das... hat nichts mit uns Menschen zu tun... „Neisa?“ Sie fuhr herum, als sie plötzlich hörte, wie man sie ansprach, und sie fürchtete schon, es wäre irgendjemand, der ihr ihre unartigen Gedanken ansähe, aber zu ihrer Erleichterung war es bloß Asta, die scheu durch die Stubentür lugte. Asta war keine Magierin, die hatte keine Ahnung von Gedankenlesen. Die Heilerin räusperte sich. „Was ist?“ „Darf ich... darf ich herein kommen? Oder störe ich dich? Du bist ganz allein... w-wo... sind denn die anderen?“ Die Blonde seufzte, lehnte sich gegen die Fensterbank und winkte Lorons dümmliche, hässliche Schwester zu sich herüber. „Klar, komm rein. Keine Ahnung, meine Mutter ist mit Tantchen und sonst wem in der Küche, glaube ich. Warum, suchst du jemanden?“ Die wenig Ältere senkte nur verlegen den Kopf, als sie sich auf den Boden neben die Sitzkissen um den Stubentisch setzte. Neisa beschloss, das Grollen der unruhigen Erde und die Gedanken an Gewitter zu verdrängen und sich mit der anderen abzulenken, so setzte sich sich Asta gegenüber auf eines der Kissen. „Nimm dir doch auch eins.“, bot sie ihr an, „Wieso sitzt du auf dem nackten Boden?“ „I-ich möchte... ich möchte doch die guten Kissen nicht mit... meiner Abscheulichkeit beschmutzen. Mein Vater hätte mich erschlagen, hätte ich mich auf ein Kissen gesetzt.“ Neisa verdrehte die Augen. „Bist du vielleicht ein Opfer, hör dich mal reden. Du bist nicht weniger wert als wir anderen, merk dir das. Du bist ja noch schlimmer als Eneela!“ Asta murmelte eine schüchterne Entschuldigung und Neisa schenkte ihr einen mitleidigen Blick. Es war kein Wunder, dass die Arme so war... bei dem, was ihr Vater und ihr Bruder wohl jeden Tag in Holia mit ihr angestellt hatten. Früher, in der Schule, hatte Neisa mit ihren Freundinnen manchmal über Asta gelacht, weil sie so für Karana geschwärmt hatte... und jeder in der Schule hatte doch gewusst, dass Asta sicher die Letzte war, die bei ihm je eine Chance bekommen hätte. Jetzt schämte sie sich für ihr Verhalten... das hatte Asta nicht verdient. „Vergib mir...“, sagte sie so dumpf und die Rosahaarige sah verwirrt auf. „Was?“ „Dass ich über dich gelacht habe, als wir klein waren. Ich weiß, es ist verjährt, aber jetzt gerade... kommt es mir unrecht vor. Tut mir leid.“ Asta lächelte noch verwirrter. „Aber nicht doch, ich hatte es doch... verdient. Ich... das ehrt mich, was du sagst, Neisa.“ „Ich meine...“, murmelte die Heilerin, „Du bist ein guter Mensch. Du hast nichts getan, was es rechtfertigt, über dich zu lachen... aber wenn man mit dem Wissen aufwächst, dass jeder, der aus Holia kommt, dumm wie Brot und abartig ist, denkt man... eben nicht weit. Dabei bin ich doch nicht... weniger abartig.“ Sie errötete und sah verlegen zur Seite. Asta sprach. „Ja... in Holia... gibt es nicht wirklich viele Menschen, die... nicht widerlich sind. Zu mir waren sie alle widerlich... eigentlich sind immer nur Derrans nett zu mir gewesen.“ Neisa verkrampfte sich, als sie den Namen hörte und sie an Zoras denken musste, den Mistkerl, der ihr Heimatdorf angezündet hatte. Mit einem Gewitter... das er gerufen hatte, und die Flammenkinder von Vater Himmel hatten dann Lorana gefressen. Sie errötete heftiger und schalt sich innerlich eine dumme Gans. Warum wurde sie rot? „Ich fürchte mich... vor dem Feuer. Es hat meine Heimat verbrannt... und es verbrennt meine Seele, wenn ich... wenn ich...“, hatte sie versucht, Ryanne zu beichten, aber sie hatte es nicht über sich gebracht... die Gedanken schmerzten auf unnatürlich befriedigende Art und Weise. Sie dachte an die Worte der Seherin und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. „Männer... sind mühsam, nicht wahr? Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt.“ „Zoras... hat Lorana verbrannt!“, zischte sie und kämpfte gegen den Drang, in Tränen auszubrechen, als ihr Kopf plötzlich heftig zu pochen begann und sie das Gefühl hatte, die Schmerzen würden sie umbringen. „Zoras... ist ein Schattenmonster, ich fürchte... mich vor ihm!“ Zu ihrer Verblüffung widersprach ihr das Mädchen aus Holia quasi. „Zoras ist doch nur das, was die perversen Bastarde aus ihm machen... ich glaube, die Geister haben ihn genug gestraft.“ „Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich die Strafe verschlimmern...“, versprach Neisa erbost, „Dann wird er sich wünschen, mich nicht aus dem Feuer gerettet zu haben.“ „Ich glaube nicht, dass er ein böser Mensch ist. Er... stürzt sich doch nur selbst in den Schatten und die anderen in Holia schubsen ihn. Hast du... mal seinen Rücken gesehen?“ Neisa schauderte. Ja... sie erinnerte sich an das bizarre, tätowierte Muster auf seiner Haut, das von solcher Abscheulichkeit und gleichzeitig so faszinierend war... als sie nickte, betrachtete sie Asta verblüfft. „Du weißt davon?“ „Natürlich, jeder in Holia, wenn nicht in halb Kamien, weiß davon, dafür hat Loron gesorgt, nachdem er es zum ersten Mal gesehen hat. Sie waren scheußlich zu ihm damals... wie das passiert ist, war egal, es zu sehen war für Loron genug, dafür zu sorgen, dass alle in der Provinz mit dem Finger auf Zoras zeigen und ihn Missgeburt nennen, das war sicher nicht schön.“ „Sicher nicht.“, stammelte Neisa, „Aber wenn sie so gemein waren, wieso hat Zoras dann noch so lange Lorons Kammerdiener gespielt?!“ „Weil sie sonst Pakuna die Kehle aufgeschnitten hätten... weil... es die einzige Möglichkeit war, dafür zu sorgen, dass... seiner Mutter nicht mehr unnötiges Leid angetan wird als ohnehin schon. Glaub mir... zu mir waren alle Menschen scheußlich und für mich sollten alle bösartig wirken... ich glaube nicht, dass Zoras ein böser Mensch ist. Ich... fürchte mich nur vor seinem Zauber... ich habe Angst davor... dass er irgendwann... doch in den Schatten fällt und dann die Welt vernichtet...“ Neisa starrte sie noch ungläubig über ihre Worte an, da öffnete sich die Tür und Tayson kam herein geschneit. „Na, sowas!“, flötete er bester Laune, „Neisa, dich habe ich aber lange nicht gesehen. Und Rosi ist auch da, habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze, Mädels?“ Die Heilerin zischte und erhob sich abrupt. „Du kommst etwas unpassend gerade.“, versetzte sie kaltblütig und schielte den größeren Mann an, der sich darauf am Kopf kratzte. „Häh?“ Sie brummte. Idiot... sie wusste gar nicht mit Sicherheit, warum genau es ihr widerstrebte, in seiner Gegenwart über Zoras zu sprechen. Die Gedanken an den Zerstörer ihres Heimatdorfes verschafften ihr plötzlich eine ungeahnte Übelkeit, gemischt mit dem Zorn und den flammenden Kopfschmerzen ließ es sie straucheln. Tayson machte ein beunruhigtes Gesicht. „Geht es dir nicht gut? Du wirst plötzlich ganz bleich... du siehst ja fast wie Eneela aus.“ Neisa zischte, bewahrte mühsam ihr Gleichgewicht und taumelte an ihm vorbei zur Tür. „M-mir geht es gut!“, keuchte sie, „Es... es sind nur Kopfschmerzen. Bitte entschuldige mich, Tayson.“ Damit verschwand sie aus dem Raum, ohne ihm zu offenbaren, dass es nicht nur ihr Kopf war, der schmerzte, sondern auch das Feuer in ihrem Inneren, das sie zu verbrennen drohte. „Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt...“ In dem Zimmer, in dem Neisa zusammen mit den anderen Frauen (abgesehen von ihrer Tante und ihrer Mutter) übernachtete, war keiner, als sie eintrat. Asta war schließlich noch in der Stube, wo Eneela und die Seherin waren, wusste sie nicht, und eigentlich war es ihr auch einerlei. Sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte, alle ihre Zimmergenossinnen waren dafür komplett ungeeignet. Eneela sprach ja kaum überhaupt einmal – und wenn, dann offenbar nur mit Simu, an dem sie zu hängen schien. Simu schien tatsächlich der Einzige zu sein, der Zugang hatte zu dem schüchternen, verstörten Lianermädchen. Und Ryanne war geistesgestört, das war auch keine Hilfe. Sie sprach entweder in Rätseln oder erzählte Mist, wenn sie gerade mal wieder ihr Gedächtnis verloren hatte. Vielleicht würde sie mit Simu sprechen... aber der war ja bei Eneela. Vermutlich. Und mit Karana konnte man nicht objektiv über Zoras Derran sprechen; man musste nur wagen, seinen Namen zu nennen, und ihr Bruder ging garantiert an die Decke. Neisa seufzte, rieb sich die Schläfen und setzte sich lustlos auf ihr Schlaflager, während sie darüber nachdachte, ob das schwarzhaarige Mädchen wohl wirklich Karanas Liebhaberin war. Zumindest machten sie Nachts Dinge, die dafür sprächen... und abgesehen davon hatte Tante Alona eigenartige Dinge gesagt vor einigen Tagen. „Sie sagt, Karana nennt sie Saidah. Fand ich eigenartig, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich auch geglaubt, sie würde mich an jemanden erinnern. Auf Saidah bin ich bis dahin allerdings gar nicht gekommen. Aber jetzt, wo sie es selbst gesagt hat...“ Neisa wusste nicht, was genau Tante Alona daran beschäftigte – es konnte ihr vermutlich egal sein. Die kleine Heilerin jedenfalls, die das gehört hatte, hatte die Sache plötzlich ganz anders betrachtet. Sie erinnerte sich nicht daran, wie Saidah Chimalis aussah, aber wenn Iana ihr ähnelte, war es kein Wunder, dass ihr Bruder so scharf auf sie war. Sie fragte sich, ob die arme Iana wusste, wer Saidah eigentlich war... oder eher, was genau Karana eigentlich mit der Geisterjägerin verband. Karana war sicher nicht dumm genug, ihr ins Gesicht zu sagen, dass seine Lehrmeisterin seine größte Flamme war und er sich selbst jetzt, wo seine Lehre bei ihr seit über einem Jahr vorbei war, noch immer nach ihr verzehrte... alle anderen Mädchen, die er seitdem so beglückt hatte, waren doch nicht mehr gewesen als Ablenkung und ein vergeblicher Versuch, die Frau zu vergessen, die für ihn die erste gewesen war, die er genommen hatte. Neisa fand die Vernarrtheit ihres Bruders in die Frau merkwürdig. Saidah jedenfalls schien nicht so zu fühlen wie er, denn ihr Bruder ließ ihren Vater jedes Mal, wenn Geisterjägerrat anstand, ausrichten, dass er sie vermisste oder andere derartige Sprüche, und Senator Lyra hatte zumindest nie einen Gruß zurück übermittelt, wenn er heim gekommen war. „Hat sie was zu dir gesagt, Vati?“, hatte Karana dann in seinem verliebten Eifer gefragt, jedes Mal, und der Vater hatte nur etwas wehleidig gestöhnt und nichts weiter gesagt, außer manchmal: „Sie ist gesund, sorge dich nicht.“ Neisa überlegte sich, dass das schwarzhaarige Mädchen hier echt bemitleidenswert war, wenn sie jetzt so etwas wie Karanas Saidah-Ersatz wurde, nur, weil sie zufällig so aussah. Sie war schon eine sehr hübsche junge Frau... aber sie war nicht Saidah, und sie dann so zu nennen war irgendwie verräterisch. Die Heilerin seufzte und lehnte sich auf dem Lager sitzend gegen die Wand, die Knie anziehend. Die Gedanken lenkten sie ab... das war gut. Just in dem Moment, in dem sie das dachte, klopfte es vorsichtig an der Tür. Sie überlegte noch, ob sie sich schlafend stellen sollte, hatte aber keine Zeit mehr, sich hinzulegen und so zu tun, denn da öffnete sich die Tür schon und Tayson kam wieder zu ihr. „Du verfolgst mich ja, ich werde noch paranoid.“, stöhnte sie bei seinem Anblick und er strahlte sie mit der Naivität eines Kindes an. „Deine Mutter hat dir Tee gemacht für deine Migräne, ich habe ihn dir mitgebracht. Tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe...“ „Ja, tust du.“, stöhnte sie, war aber insgeheim dankbar für den Tee, als er herein kam, und frohen Mutes setzte er sich neben sie – für ihren Geschmack etwas zu dicht, sodass sie sich räusperte und weg rückte. „Setz dich nicht gleich auf meinen Schoß!“ „Ich habe mir einfach gedacht, dich zu nerven hat mehr Erfolg als es sein zu lassen, so vergisst du mich wenigstens nicht. Und da Karana gerade nur Augen für sein Mädchen hat, dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, in der er mich nicht von dir weg zerrt als eifersüchtiger großer Bruder, um vielleicht einmal dazu zu kommen, dir zu beweisen, dass ich nicht so ein Arsch bin, wie du vielleicht denkst!“ Sie hustete, den Teebecher nehmend, und linste ihn an. „Ich habe nie geglaubt, du seist ein Arsch. Ich glaube nur, du bist ein Vollidiot... wenn du jetzt gehofft hast, mich umgarnen zu können, so ist dies ein schlechter Zeitpunkt. Mir ist gerade nicht so danach, ich fühle mich unwohl und ich habe gelernt, dass Männer mir nur Kummer bereiten.“ Tayson sah verdutzt aus. „Was, wieso das? Wer hat dir wehgetan, Neisa?!“ Sie sah ihn erschrocken an, als er plötzlich unwahrscheinlich ernst wurde. „Wer? Ich ziehe ihm die Haut ab, wenn es sein muss, dass er es wagt...“ Ungläubig bemerkte sie, dass er es völlig ernst meinte und es nicht etwa nur daher sagte, um sie eventuell zu beeindrucken. Dass er es ernst meinte, beeindruckte sie mehr als die Worte an sich, und sie stellte die Teetasse auf ihren Schoß und senkte keuchend das Gesicht. „Nein... so... ist es auch nicht. Niemand hat mir wirklich wehgetan, Tayson. Ich... wusste nicht, dass dich das ernsthaft kümmert. Ich meine... du bist ein Schürzenjäger wie mein Bruder... dass du was von mir willst, weiß ich ja, aber ich... wusste nicht, dass dir dabei etwas an meinem Wohlergehen liegt...“ „N-natürlich tut es das!“, japste er, und sie war verwirrt, weil er sie nicht, wie es seine Art gewesen wäre, einfach stürmisch umarmte oder ihr sonst welche Zärtlichkeiten aufzwang; er saß vollkommen seriös und untypisch neben ihr und schien wahrlich ergrimmt darüber, dass sie Kummer hatte. Was war denn mit dem los? „Was ist passiert, Neisa? Nachdem... du in Lorana verschollen warst... hatte ich Angst, Loron oder so jemand hätte dich in die Finger gekriegt... und... als Simu dich endlich zu uns zurück gebracht hat, warst du wütend und unglücklich. Ich habe gesehen, wie du aus dem Fenster nach Süden gestarrt hast, Tag für Tag, und wie du über deine Kopfschmerzen geklagt hast. Simu hat zwar... gesagt, es wäre der Verlust von Lorana gewesen, der dich so fertig gemacht hätte, aber das kann es doch nicht allein sein... also sag mir, was ist mit dir geschehen? Und ich verspreche dir, ich werde... es wegmachen. Und wenn ich dafür töten muss, ich werde... wegmachen, was dich unglücklich macht.“ Sie war verwirrt und errötete. Was redete er denn da? Du kannst... Zoras Derran nicht 'weg machen'. Er ist ein Dämon... ein Herrscher über Blitz und Schatten. Du bist... doch nur ein Mensch... Sie konnte und wollte ihm das nicht sagen. Und der Gedanke, Tayson würde versuchen, Zoras zu töten, weil er sie erzürnt hatte, ließ sich in ihrem Inneren ihren Magen zusammenziehen, sodass es schmerzte. War es wirklich der Gedanke daran, Zoras zu töten, oder der Gedanke an den Kerl überhaupt... der ihr Schmerzen bereitete? Sie dachte flüchtig an die Tage, die sie mit Karanas Rivalen alleine verbracht hatte, an alles, was sie von ihm erfahren hatte, an seine aufgesetzte, kalte Fassade, hinter der ein wirklich bemitleidenswerter Mensch steckte, der grauenhafte Dinge erlebt hatte. Sie dachte an die fürchterliche Tätowierung auf seinem Rücken und die Vorstellung, wie sehr das geschmerzt haben musste, war so grauenhaft, als wäre es ihr ebenso widerfahren. „Zoras ist ein guter Mensch...“, hatte Asta gesagt, und Neisa wusste es doch selbst. Er hatte sie vor Loron gerettet, der ihr wirklich Schlimmes angetan hätte. Er hatte sie zu ihrer Familie bringen wollen mit dem Wissen, dass er dort auch Karana hätte begegnen können, der bei dem Anblick seiner Schwester ausgerechnet bei ihm vermutlich ausgerastet wäre, er hatte ihr Schutz geboten... und er hatte verdammt noch mal Lorana angezündet. Und die anderen Dörfer... Sie wurde immer verwirrter, weil sie nicht mehr wusste, ob sie wirklich deswegen wütend auf ihn war. Ob sie überhaupt wirklich wütend war... oder es nur vorgab, um verzweifelt zu versuchen, die Brandwunden zu löschen, die in ihrem Inneren bluteten... Sie merkte erst, dass sie weinte, als Tayson ihr behutsam die Teetasse abnahm und ihr ganz vorsichtig über die blonden Haare streichelte. „Weine nicht...“, murmelte er, „Du musst... es mir nicht sagen, wenn es dich zu sehr mitnimmt. Ich... habe mir nur Sorgen gemacht, das ist alles. Vergib mir, Neisa, ich hätte nicht fragen sollen. Vielleicht bin ich ja doch ein Idiot...“ Sie schauderte, als er ihre Haare so sanft berührte, und zum ersten mal, seit sie den Trottel kannte, spürte sie, dass hinter all seinen dämlichen Annäherungsversuchen eine wirkliche, ernsthafte Absicht steckte, sie zu beschützen und sie zu lieben. Es ging nicht darum, eine hübsche Freundin zu haben, oder die verwöhnte Tochter eines Politikers, es ging ihm tatsächlich nur um sie. Er hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen oder ihr wehzutun... oder sie zu verunsichern, wie es andere taten. Er war einfach nur da, und die Erkenntnis, dass er es wirklich ernst meinte, tröstete sie und spendete ihr eine heilende Wärme, als sie daran dachte. Und sie schluchzte, ehe sie sich zur Seite gegen seine Brust kippen ließ und sich dem Verlangen hingab, einfach zu weinen. „Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt...“ Sie zitterte, als sie plötzlich feststellte, dass dies hier die beste Heilung war. Es war nicht verunsichernd, es tat gut, als er sie einfach im Arm hielt, ohne sich aufzudrängen oder irgendetwas zu sagen. Er war einfach nur da, er hielt sie fest und dämpfte damit das schmerzende Feuer in ihrem Inneren, das sich so unwohl anfühlte... plötzlich tat es ihr leid, die ganzen Jahre immer so gemein zu ihm gewesen zu sein. Sie hatte ihn definitiv falsch eingeschätzt... „Es ist... eben eine Dummheit... meines Geistes!“, keuchte sie in seinen Armen, indem sie sich an ihn klammerte und seinen Nacken mit den Armen umschlang, während seine Hände über ihre Haare und ihren Rücken fuhren. „Ich habe Angst vor dem Gewitter... aber gleichzeitig reizt es mich und zieht mich einfach an, ohne dass ich es verhindern kann... und es ist... ist so heftig, dass ich möglichst so dicht... dran sein will, wie es geht, zugleich möchte ich wegrennen! Und... und... dann komme ich einfach zu nah dran und... die Blitze verbrennen mich... es ist nur, weil ich so dumm bin! Und dann wundere ich mich, dass ich mich verbrenne... vergib mir, Tayson...“ Sie spürte, wie er sich vorsichtig fester an sich zog und wie er etwas davon murmelte, dass es schon gut wäre. Dass sie sich nicht fürchten müsste, dass er sie vor dem Gewitter beschützte. Und sie wusste mit Gewissheit, dass er in seinem naiven Geist eines Nichtmagiers nicht darauf kommen würde, dass sie in Wahrheit gar nicht von einem Gewitter sprach... es war gut so. Sie wollte nur in seinen Armen hängen und spüren können, wie die Verbrennungen heilten... sie wollte nicht mehr an Zoras denken. Als Puran Lyra seiner Cousine eine Antwort auf ihre Botschaft schickte, war der Mond der Stürme längst angebrochen, der vorletzte Mondeszyklus des Jahres. Die Botschaft kam mit dem Wind in Form einer schwarzen Kondorfeder, und sie kam zum Fenster herein und landete in der Suppe, die Alona gerade hatte kochen wollen. Die Frau fing an zu fluchen und Karana hörte seine Mutter vor Erleichterung jauchzen, dass sein Vater endlich einmal etwas von sich hören ließ. „Saidah kann mit ihren verdammten Federn nicht zielen!“, fluchte Tante Alona, als sie mit dem nassen Ding aus der Küche in die Stube stampfte, wo ihr Neffe mit Iana auf der Couch saß, am Tisch hockten der komische Söldner und die Seherin, die seit dessen Ankunft gar nicht von seiner Seite hatte weichen wollen. Karana fand sie beide komisch, aber sie gaben in der tat ein lustiges Paar ab – vor allem der Kerl, der nicht den Eindruck machte, als interessierte er sich auch nur einen Hauch für die arme Ryanne. „Saidah?“, fragte Iana neben Karana ungläubig und er räusperte sich. „Ja, sie ist Herrin über die Geister von Kondoren und Krähen. Sie kann Federn als Botschaften benutzen, das heißt, eigentlich verwandelt sie Briefe in Federn und schickt diese dann, sie sind viel schneller als jeder Bote und jede Taube. Dummerweise landen ihre Federn immer irgendwo, wo sie sicher nicht landen sollten, oder kommen zu Zeiten, die unpassend sind...“ Er verdrängte es, weiter an seine Meisterin zu denken, während Iana neben ihm saß; das wäre nicht gut. Aber er konnte einfach nicht vermeiden, das leichte Kribbeln der Nervosität in sich zu spüren, wenn er jetzt die Feder sah, die seine Tante mit einer grimmigen Handbewegung zurück in ein Pergament verwandelte. Und es war ein ganz schön langes Pergament. „Der gute Herr hat wohl viel zu erzählen.“, grinste Ryanne am Tisch, und neben Tante Alona kam Karanas Mutter zum Stehen, die ganz aus dem Häuschen war wie ein kleines Kind. „Hibbel hier nicht herum, Leyya, mach dich nützlich und rufe die anderen, damit ich nicht dreimal vorlesen muss.“ Karana setzte sich aufrecht hin, während seine Mutter artig hinaus rannte, um die anderen zu holen. Was es wohl zu berichten gab, und dann so viel? Er hoffte, seinem Vater ging es gut... „Vielleicht kriege ich ja jetzt meinen Lohn.“, sagte Iana neben ihm und er linste sie schmollend an. „Du willst doch gar nicht mehr wirklich weg?“ „Wer weiß. Wenn du dich mal nicht benimmst, kann ich wenigstens damit drohen, damit du mir dann wie ein Hund hinterher krabbelst und mich anflehst, zu bleiben.“ Zu Karanas Verblüffung grinste der komische Yarek darauf verhalten, sagte aber nichts weiter. Kurz darauf kamen auch schon alle übrigen in die Stube, während Tante Alona für sich über das natürlich auch feuchte Pergament meckerte und sich beklagte, dass die Schrift verwischte. „Sind jetzt alle da?“, fragte sie dann, als sich Neisa, Tayson, Simu, Eneela und Asta um den Tisch herum gesetzt hatten, „Die meisten tangiert das ja gar nicht, aber vielleicht interessiert euch ja, was in Vialla vorgeht. Also, mein offenbar sehr emsiger Cousin schreibt mir: Du hast eine grauenhafte Schrift, Alona, aber Neron konnte sie in betrunkenem Zustand lesen, ein Hoch auf ihn, du solltest ihn loben. Gut, das... wollten jetzt alle wissen... weiter. Die Dinge stehen grauenhaft. Wirklich grauenhaft, die Bestien aus dem Osten haben Dobanjan überrollt und sind vermutlich auf dem Weg nach Vialla. Der König hat uns gebeten, sie aufzuhalten, wir wissen alle, was das bedeutet. Sie sind wahnsinnig viele und zu großer Wahrscheinlichkeit den unsrigen Leuten überlegen. Man hat schon Truppen aus allen Provinzen angefordert, Sagal war in Janami und Intario und man verhandelt mit Senjo, soweit das funktioniert. Die Trottel aus Kamien sind fort aus Thalurien, da aber als nächstes vermutlich die Leute aus Ela-Ri dort einmarschieren, ist das einerlei. Was immer passiert, bitte bleibt einfach da oben, selbst, wenn Vialla fallen sollte, habt ihr von Yiara aus genug Möglichkeiten, zu fliehen. Ich bete zu den Geistern von Himmel und Erde für eure Gesundheit, Alona. Wir hatten die kluge Idee, dich nach Alymja zu schicken, ins Nordreich. Ich dachte, du hättest mal erwähnt, dass du da irgendwen kennst, der was zu melden hat, bitte korrigiere mich, wenn ich mich irre – dann aber bitte schnell, wer weiß, wer mir den Kopf abhaut. Jedenfalls brauchen wir jede Unterstützung, die wir kriegen können und der Heerführer hat gesagt, die Flotte von Alymja könnte die massigen Schiffe aus dem Osten quasi von hinten durchschlagen. Bitte tu mir den Gefallen, Cousine, vielleicht ist es der Letzte, den du mir erweisen wirst. Ach ja, was sollte das mit irgendeiner Belohnung? Entschuldige, wir sterben hier vielleicht, aber wenn wir das überleben, zahle ich dem Mädchen gerne, was es verlangt, das muss jetzt aber warten. Dann verbleibe ich (hoffentlich noch eine Weile) mit freundlichen Grüßen an die Familie und besonders natürlich meine Kinder.“ An dieser Stelle pausierte die Tante und die anderen schwiegen ungläubig über das, was sie hörten. „War das alles?“, fragte Yarek und sah das ellenlange Pergament an, „So ein langes Pergament für den Text?“ „Hier folgt ein Absatz.“, sagte Alona und räusperte sich, „Der Teil hinter dem Absatz ist nur für Leyyas Augen bestimmt, wird mir hier angekündigt.“ Karana musste lachen, als seine Tante errötete und den Brief seiner Mutter reichte, die eher erbleichte. „Lies das bitte für dich alleine im Schlafzimmer, Leyya.“ Die anderen hüstelten teilweise und die Heilerin erzitterte. „Meint der das ernst oder albert er herum damit, dass sie sterben?“, fragte Iana dann in die peinliche Stille hinein, und darauf sahen sie alle an. Karana schnaufte. „Mein Vater ist Herr der Geister, der stirbt nicht einfach so.“ „Aber es ist Ela-Ri, das uns angreift.“, meinte Yarek, „Und dein Vater ist auch nur ein Mann, letzten Endes.“ „Das... das ist ja grauenhaft!“, japste Simu und Karana drehte verwirrt den Kopf in Richtung seiner Schwester, die mit einem mal hysterisch zu weinen anfing. „Vati darf nicht sterben! Vati k-kann nicht sterben, das geht nicht! Ich habe Angst... ich will das nicht!“ Und sie fing panisch an zu heulen, worauf Simu und Tayson versuchten, sie zu beruhigen. Karana sah bestürzt zu seiner Tante, die benommen zu Boden blickte und dann unmerklich ebenfalls zitternd eine Hand hob, um sich eine Strähne hinter das Ohr zu streichen. „Ich... breche sofort auf nach Alymja. Ich überlasse euch... solange die Obhut über mein Haus. Wehe es ist beschädigt, wenn ich zurück komme, Karana, hörst du?“ Karana konnte nicht antworten. Er hörte nur seine Schwester wimmern, Tayson irgendetwas murmeln, das sie beruhigen sollte und wie Iana neben ihm komplett erstarrt die Luft einzog. Was sie in Dobanjan gesehen hatten, war nur der Anfang gewesen. Es kam wirklich ein fürchterlicher Krieg auf sie zu... nein, sie waren schon mittendrin. Der Gedanke, er könnte seinen Vater und auch Saidah vielleicht niemals mehr wiedersehen, verschaffte ihm eine solche Übelkeit, dass er das Gefühl hatte, er würde ohnmächtig. Der Himmel grollte und das Dach des Hauses ächzte unter dem Gewicht der Schneemassen, die bereits gefallen waren. Draußen heulte der Wind in der heraufziehenden Finsternis und die Geister der Erde wisperten vom Ende der Welt. Wie konnten sie davon sprechen und den Menschen so schadenfroh vorhalten, dass sie alle untergehen würden? Leyya Lyra war verzweifelt. Unter anderen Umständen hätte sie sich wie ein kleines Kind über den Brief ihres Mannes gefreut, sie hätte kichernd auf dem Bett seiner Cousine gelegen, in deren Zimmer sie auf einem extra aufgebauten Gästelager schlief, mit den Beinen gestrampelt und sich nach ihm gesehnt, wie sie es immer tat. Aber nach den Worten, die Alona vorgelesen hatte, konnten die Zeilen, die Puran allein für sie geschrieben hatte und die nur sie etwas angingen, sie nicht aufmuntern. Normalerweise wäre sie errötet über die so dezenten und doch intimen, liebevollen Worte, aber die Farbe wollte einfach nicht mehr in ihr Gesicht zurückkehren bei dem bloßen Gedanken daran, sie könnte ihn niemals wiedersehen. Eigentlich war es auch mehr das, was er schrieb, oder es lag an ihrer Panik, dass sie seine Worte als ein durch die Blumen übermitteltes, allerletztes Lebewohl auffasste. Sie wollte nicht, dass er starb... wenn er starb, würde sie mit ihm sterben, und nicht etwa, weil sie sich selbstlos das Leben nehmen würde, es würde von allein passieren. Sie gehörten zusammen, sie hatte es schon als Kind gespürt, als sie ihn getroffen hatte im Krieg... sie hatte von Anfang an gewusst, dass er der einzige Mann auf der Welt für sie sein würde, für immer und ewig. Sie war so unverschämt jung und verliebt gewesen damals, und als sie mit ihren zarten vierzehn Sommern ihren Sohn Karana geboren hatte, hatte sie sich für erwachsen gehalten. Jetzt war sie älter... aber sie empfand immer noch dieselbe, brennende Liebe für ihren Gemahl, und sie wusste, dass es nichts zur Sache tat, wie alt sie oder er werden würde, sie würde es immer so empfinden, sie würde auch als alte Frau noch das Feuer eines jungen Mädchens spüren, wenn sie mit ihm das Bett teilte... die Gedanken, dass ihr gemeinsames Leben auf so eine Art enden sollte, schmerzten sie nicht nur, sie brachten sie um. Sie musste weinen... sie wollte gar nicht weinen. Sie wollte stark und tapfer sein, um ihrem Mann eine gute Frau zu sein, für deren Nutzlosigkeit und Schwäche er sich nicht zu schämen bräuchte... aber sie konnte einfach nicht, als sie am Boden des Schlafzimmers hockte, in ihren Händen das Pergament, und bitterlich weinte. Als Alona zu ihr kam, zuckte sie kurz zusammen, dann spürte sie, wie die ältere Frau sie schweigend in die Arme schloss. Sie lehnte ihre Stirn an die Schulter ihrer gefühlten Cousine und konnte die Tränen einfach nicht bändigen, die ihr über das Gesicht rannen. „Shhht...“, wisperte Alona ihr zu, „Beruhige dich. Niemand sagt, dass sie wirklich sterben.“ „Ich habe... solche Angst...“, schluchzte die kleinere Heilerin aufgelöst, „Ich... vermisse ihn so sehr... mir hilft kein Brief, mir helfen keine Gedanken... i-ich kann nicht leben ohne ihn... d-du weißt das!“ Sie umarmte die Frau verzweifelt und vergrub das Gesicht in ihrer Schulter, und Alona seufzte leise. „Ich werde gleich nach Alymja aufbrechen. Der Mann, den ich kenne, war einst hier im Land Mitglied des obersten Rates der Telepathen, dem auch ich angehöre. Seine Frau stammte aus Alymja und sie sind deswegen zurück in ihre Heimat gekehrt vor vielen Jahren. Er ist dort aber ein Mann von Rang und Ehre, er könnte sicher mit dem König des Nordreiches sprechen. Wir haben gute Beziehungen zu Alymja, die Chance ist groß, dass sie bereit sind, uns zu helfen.“ Sie machte eine Pause und Leyya bebte in ihren Armen, als sie langsam darum kämpfte, die Tränen zu bezwingen. „Wenn sie mit der Flotte nach Süden aufbrechen... werde ich mit ihnen fahren. Wenn sie die Armee aus dem Osten von hinten überrumpeln, komme ich vielleicht nach Vialla. Ich bin Telepathin, ich kann Barrieren bauen. Ich... werde schon nicht zulassen, dass deinem Mann etwas geschieht, soweit ich es vermag. Das ist alles, was ich tun kann... Puran ist ein Genie, er ist ein wahnsinnig mächtiger Schamane und Herr der Geister. Gib nicht gleich die Hoffnung auf.“ Leyya ließ sie bestürzt los und sah sie aus großen, braunen Augen fassungslos an. „Du... du willst hinunter in den Krieg?“ Die Ältere seufzte und tat genervt. „Familienbande und so, du weißt schon. Puran ist mir wie ein älterer Bruder und wir sind die einzigen, die von unserem Clan übrig sind... ich käme mir pietätlos vor, mich rauszuhalten.“ Sie lächelte leicht und die Heilerin keuchte, als Alona sich erhob. „Nimm mich mit!“, japste sie, „Bitte... wenn du gehst, dann werde ich auch gehen! Ich werde nicht... hier sitzen und darauf warten, dass mich eine Nachricht erreicht von eurem Tod... ich möchte mit dir kommen!“ Alona blinzelte. „Dein Mann würde mich häuten, wenn ich das zuließe, das weißt du. Puran würde nie wollen, dass du da hin gehst.“ Leyya erhob sich bebend und drückte den Brief zitternd an ihre flache Brust. „Puran hat einmal gesagt... dass das Wichtigste für ihn an einer Frau ist, dass sie ihren eigenen Geist hat und selbstständig denken kann, dass sie nicht immer blind das tut, was ihr Mann verlangt. Und wenn er mich schlagen sollte, wenn ich ihn sehe... dann nehme ich es hin, wenn ich ihn nur noch einmal sehen kann... bitte nimm mich mit.“ Die Telepathin senkte bedrückt den Kopf und Leyya spürte bereits, dass sie gewonnen hatte, ehe Alona dumpf fortfuhr. „Was wird aus euren Kindern? Wenn wir alle umkommen... sind deine Kinder Waisen.“ „Karana ist alt genug, um für seine Schwester zu sorgen, für Simu gilt dasselbe. Außerdem werden sie von diesem rothaarigen Spinner beschützt, das hat er gesagt... sie sind die Sieben. Vielleicht... helfen uns die Schicksalsgeister...“ Darauf hatte die Cousine offenbar keine Einwände. Sie wandte sich wortlos zur Tür und sprach erst, als sie schon draußen war. „Dann packe, was du brauchst, rasch. Ich werde nicht auf dich warten, Leyya, beeile dich also.“ Neisa sah mit gemischten Gefühlen zu, wie ihre Tante und ihre Mutter sich nach kurzer Verabschiedung auf den Weg machten, um nach Alymja zu gelangen. Das Inselreich lag ganz im Norden von Tharr und der Weg war weit; zum Glück war Tante Alona eine fähige Magierin und ihr Teleport wäre mächtig genug, sie beide schnell dorthin zu schaffen. Einerseits erfüllte es die kleine Heilerin mit Hoffnung, zu sehen, dass Leute handelten... dann aber fragte sie sich, wie hilfreich zwei Frauen im Nordreich sein würden... ob der König überhaupt helfen wollen würde? Und ob die Flotte von Alymja stark genug war, gegen Ela-Ri zu kämpfen? Immerhin war das Nordreich sehr klein und nicht sehr dicht besiedelt... wie viele Männer könnten die schon aufbringen? Sie zwang sich, nicht daran zu denken, als sie des Nachts hellwach auf ihrem Lager lag und die anderen bereits zu schlafen schienen. Man hatte sich nach dem Aufbruch der beiden Frauen zur Eile gedrängt und gemeinsam beschlossen, bald nach dem Mädchen Jamali zu suchen, von dem Yarek gesprochen hatte... die Zuyyanerin, die mit zu den Sieben gehörte. Vielleicht konnten sie zusammen etwas ausrichten...? Wozu sonst waren sie denn auserwählt? Aber Neisa konnte sich nicht vorstellen, wie sie zu siebt – oder eher sechst, sofern sie diese Zuyyanerin fanden, denn der siebte im Bunde war ja gänzlich unbekannt – etwas tun können sollten gegen die Horden aus dem finsteren Ostreich. Es hieß, sie zwangen wilden Bestien ihren Willen auf, ähnlich wie Karana seinen Hund kontrollierte, nur mit furchtbareren Monstern... es hieß, sie verspeisten ihre Opfer roh und badeten in ihrem Blut. All das konnten auch bloß Märchen sein... fest stand aber, dass so wenig über Ela-Ri bekannt war, weil kein Mensch jemals lebend von dort zurückgekehrt war. Neisa schauderte bei dem Gedanken daran und die Schatten, die über das reich herfielen, befielen auch ihren Geist und verpesteten ihn mit Angst und Verzweiflung. Draußen donnerte es und sie fuhr zusammen. Gewitter? Die Gedanken ließen sie schaudern, und dennoch rappelte sie sich rasch auf, um zum Fenster des Zimmers zu tapsen, den Vorhang ein Stück zur Seite zu ziehen und hinaus zu sehen. Draußen tobte ein brutaler Schneesturm, der vom Donnern aus dem Himmel untermalt wurde in seiner Grausamkeit. Es war eiskalt geworden in den vergangenen Tagen... das Wetter war ungewöhnlich hart. Sie fuhr erneut zusammen, als sie zwischen allem Schneegestöber am Himmel das Wetterleuchten sah. Als wäre das ein Zeichen spürte sie das Schmerzen des Feuers erneut, und sie dachte verwirrt an Tayson, der zu ihr gekommen war und sie getröstet hatte. Jetzt war sie allein... sie wünschte sich, er würde wieder kommen. Das Grollen des zornigen Himmels ließ das junge Mädchen zusammenfahren und sie umschlang bebend mit ihren Armen ihren schlanken Körper.Unter ihren Füßen spürte sie das Zittern der Erde... die Unruhe der Geister, die sie in ihrem Inneren genauso erschütterte wie Mutter Erde selbst. „Fürchtest du dich... Neisa?“, wisperten die Geister und sie trat strauchelnd vom Fenster weg, als sie eine unwohle Gänsehaut überkam. „Ja...“, stammelte sie atemlos, während sie weiter zurücktrat und beinahe über Eneela gestolpert wäre. „Du brauchst dich nicht zu fürchten...“, krächzten die Erdgeister und sie spürte, dass ihr schwindelig wurde, „Die Brandwunden... werden dich nicht töten. Der Instinkt, der dich zieht... ist ein Teil von dir, den du nicht ablegen kannst. Ein verborgener Teil deines Geistes... der sich danach sehnt...“ „Ich habe Angst! Hört auf, zu sprechen, Erdgeister!“, keuchte sie, stieß gegen die Zimmertür und öffnete sie apathisch, ehe sie hinaus auf den Flur stolperte, von einer Furcht und einem Verlangen ergriffen, das sie nicht verstand. Warum rannte sie mitten in der Nacht durch das Haus ihrer Tante? Die Geister zogen sie... es war, als würden sie sie an den Händen nehmen und zur Haustür ziehen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Als sie Tür aufstieß, blies ihr der heulende Schneesturm entgegen. „Die Schatten kommen... und sie kommen rasch, Neisa. Wenn du etwas tun willst... halte dich südwestlich. Die Zusammenkunft der Sieben... wird im Hochland sein. Eile dich, rasch... in die Finsternis, Tochter von Puran Lyra.“ Sie hatte Angst. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie mehr instinktiv, weil die Geister es ihr befahlen, ihre Stiefel und einen Wintermantel ihrer Tante anzog, der ihr zu groß war. Sie schlug sich die Kapuze über den Kopf, während der Schneesturm bereits um ihre Beine fegte und sie nicht begriff, was sie tat – warum ging sie fort? Die Zusammenkunft der Sieben wird im Hochland sein. Ja... dann musste sie dorthin. Dort würde sie die Zuyyanerin treffen! Sie musste sofort aufbrechen... auf der Stelle. Jetzt. Als sie schon wie in Trance nach der Türklinke griff, hörte sie hinter sich leise Schritte, und sie war erstaunt, als plötzlich Karanas großer Hund neben ihr in der Tür auftauchte. Das Tier sah sie forschend an und schien genau zu wissen, was sie vorhatte. Sie fragte sich, ob es sie aufzuhalten versuchte, aber Aar tat nichts, als sie aus der Tür strauchelte und die beißende Kälte trotz des Mantels spüren konnte. „Komm, Aar!“, keuchte sie und streckte die Hand nach ihm aus, „Karana nennt dich Bruder... dann bin ich deine Schwester. Wirst du deine Schwester beschützen, Aar... wenn sie alleine in den Sturm rennt? Wir müssen rasch sein, Hund... in die Finsternis. Dann wird alles gut... die Geister haben es gesagt!“ Der zottige Hund legte den Kopf schief, folgte ihr aber, als sie ihn noch einmal rief. Und er ließ das Heilermädchen nicht aus den Augen, als er zusammen mit ihm hinaus in den Schneesturm lief. Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt – aber nur der draußen, denn im Haus fing er erst an, als Karana erfuhr, dass seine Schwester und sein Hund verschwunden waren. „Was sagst du da, Seherin?!“, fuhr er die Blonde an und schüttelte sie energisch, „Sie sind gestern Nacht in den Sturm gelaufen?! Sind die noch ganz bei Trost?! Oder bist du es, du Schlampe, dass du sie hast gehen lassen?!“ „Hey...“, brummte Yarek hinter ihm, während Karana die Seherin schüttelte und das Verlangen spürte, sie einfach gegen die Wand zu schlagen und umzubringen für ihre Nutzlosigkeit. Da war sie schon Seherin und wusste alles und dann sowas! Und die Tür war sperrangelweit offen gewesen, jetzt war es eisig im Haus und der ganze Flur war voller Schnee. „Ich meine das ernst, hast du sie noch alle?! Warum, verdammt, rennt meine verblödete Schwester alleine mit einem Hund durch die Wildnis?! Vielleicht ist sie schlafgewandelt! Deinetwegen ist sie vielleicht erfroren oder sonst wie gestorben, Ryanne!“ Er schüttelte sie noch immer und Yarek räusperte sich hinter ihm. „Hey, sag ich...“ „Karana!“, empörte Simu sich, der gemeinsam mit Tayson auch dazu stieß, während Iana, Asta und Eneela etwas verwirrt am Rand standen. „Lass sie doch mal ausreden, bevor du sie zu Tode rüttelst, du Wahnsinniger!“ „Es wäre kontraproduktiv, sie umzubringen, auch, wenn sie dumm ist.“, addierte der rothaarige Söldner und zündete sich eine Kippe an, „Immerhin weiß sie mitunter Sachen. Wenn du sie umbringst, sagt dir gewiss keiner, was deine dumme Schwester geritten hat.“ Karana fluchte ungehalten und stieß die Seherin angewidert zu Boden, ehe er sich krampfhaft daran hinderte, ihr den Schädel einzutreten. Seine Schwester! Neisa war weg, das war ihre Schuld! Sie hatte es gewusst und sie hatte es nicht verhindert, diese Verräterin! „Es war Wille der Geister!“, schnaufte die Blonde am Boden und rückte ihre wenige Kleidung zurecht, „Sie haben gesprochen, ich habe es gehört. Sie haben sie nach Südwesten gezogen, ins Hochland.“ Als Karana schon wutentbrannt die Zähne fletschte und mehr denn je Lust hatte, sie wie ein Wolf zu reißen und ihr die Kehle zu zerfetzen, sah sie ihn mit ihrem apathischen Blick und dieser grauenhaften Überlegenheit an, dass er seinen Zorn augenblicklich hinunter schluckte und hustete. Ryanne lächelte dämonisch und ihre violetten, merkwürdigen Augen hatten einen seltsam fernen Ausdruck, als sie sprach. „Im Hochland... werden sie zusammen treffen. Alle Sieben. Neisa hat es gewusst und ist voraus gelaufen. Neisa ist eine gute Seherin, obwohl sie Heilerin ist. Aber ich sehe in ihr... die Macht der Seele... die über sie wacht, wenn sie unkonzentriert ist.“ Karana war verblüfft. „W-was meinst du damit?“, murmelte Simu, „Jemand... wacht über sie? Die Geister?“ „Hihi...“, kicherte Ryanne und erhob sich taumelnd, „Geister sind es in der Tat, und sie sind mächtig. Deine Schwester, Karana... braucht weniger Schutz, als du annehmen wirst.“ Sie wandte sich von ihm ab, während er nur starren konnte, und sah zu Yarek, dabei verführerisch mit den Lidern plinkernd. „Du weißt es auch, oder, Yarek Liaron? Wir müssen aufbrechen und ihr folgen... rasch, rasch. Damit wir rechtzeitig kommen... und sie nicht verpassen, unsere beiden letzten Mitstreiter.“ _________________ Hurra, drama XD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)