So Eden Sank To Grief von Arianrhod- (OneShots - 1o. [NaLu]) ================================================================================ without thought of love or God ------------------------------ Der Bildschirm flimmerte schon vor Levys Augen und die langen Reihen der Programmiercodes verschwammen. Sie blinzelte heftig, aber das Bild klärte sich nicht auf. Außerdem stellte sie fest, dass die Mattscheibe keine zwanzig Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt war. Langsam entfernte sie ihren Kopf vom Monitor und richtete sich auf. Sie verzog das Gesicht, als sie die verspannten Muskeln in ihrem Rücken und ihren Schultern zwang, die Position zu verändern, die sie während der letzten Stunden inne gehabt hatten. Wenn sie arbeitete, vergaß sie die Zeit und sie versank in ihrer eigenen Welt, in der nichts mehr existierte als sie und ihre Programmierungen. Jedes Mal, wenn sie aus diesem Zustand erwachte, nahm sie sich vor, das nicht mehr zuzulassen, aber bis jetzt war das nur ein gut gemeinter Vorsatz geblieben, den sie ebenso wenig umsetzen konnte, wie sie aufhören konnte zu atmen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte sich. Irgendetwas knackte in ihren Schultern und sie schnitt eine weitere Grimasse. Neben ihrer Tastatur stand eine beinahe volle Kaffeetasse, deren Inhalt schon längst kalt geworden war. Die Apfelschnitze auf dem Teller daneben sahen braun und ungenießbar aus. Nach und nach kehrten die anderen Eindrücke der Umgebung zurück, die Geräusche, die in ihr kleines Büro filterten, das Licht, das durch die Scheibe fiel, die es von der Werkstatt trennte, die abgestandene, schale Luft, die den Raum erfüllte. Außerdem hatte sie die Art Kopfschmerzen, die man nur bekam, wenn man zu lange auf einen Bildschirm starrte, ihr Magen knurrte und sie musste dringend aufs Klo. Zuerst erledigte sie die drängendste Sache und überlegte beim Händewaschen, ob sie in die Kantine gehen und eine Pause machen sollte. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie sowieso bald Schluss machen konnte, es würde sicher nicht ins Gewicht fallen. Sie mochte hier noch nicht sehr lange arbeiten, erst ein paar Monate, aber niemand konnte ihr befehlen, den ganzen Tag durchzuarbeiten. Auf der anderen Seite war das hier eine Militäreinrichtung. Wer wusste schon, wie die auf verschobene Pausen reagierten? „Technikerin McGarden!“, ertönte eine männliche Stimme und sie drehte sich um, um dem jungen Mann entgegenzusehen, der eilig auf sie zukam. Er war einer der führenden Physiker hier und hieß Warren Rocko. Verwirrt runzelte sie die Stirn, denn obwohl sie ihn erkannte, hatten sie eigentlich keine Berührungspunkte. Völlig unterschiedliche Spezialgebiete, keine gemeinsamen Projekte und zu guter Letzt war er ein Purus. Nicht viele der Pura, der Reinen, gaben sich freiwillig mit Vitiosi, wie sie eine war, ab. Was wollte er also von ihr? „Wie schön, dass ich dich hier zufällig erwische“, begann er. „Wie geht es dir?“ Er war ein schlanker, schwarzhaariger Mann mit einem kantigen Gesicht und Lippen, die Levy immer ein wenig an eine Kröte erinnerten. „Äh… gut.“, antwortete sie überrumpelt, aber um Höflichkeit bemüht. Zwar galt er als freundlich gegenüber allen, auch der niederen Klasse, doch es würde nicht schaden, wenn sie ihn zuvorkommend behandelte. „Und selbst?“ „Oh gut.“ Er schenkte ihr ein erfreutes Lächeln und fuhr fort: „Also, ich habe mich gefragt…“ Er wurde unterbrochen, als jemand quer durch den hellen Flur ihren Namen rief. „Levy! Da bist du ja!“ Sie drehten sich um; es war Jet, einer ihrer Assistenten, die ihr zugeteilt worden waren, als sie hier angefangen hatte. Er war groß und dünn und hatte das halblange orangerote Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Natürlich war auch er ein Vitioso, denn niemand würde einem Purus zumuten, für jemanden von niederem Rang zu arbeiten. Über der legeren Kleidung trug er einen weißen Laborkittel, den Levy immer vergaß. „Wo warst du?“ Er nickte Warren grüßend zu, achtete aber nicht weiter auf ihn. „Äh… Auf der Toilette?“ Sie deutete auf die Tür, durch die sie getreten war, ehe der Physiker sie überfallen hatte. Jets Hast jedoch war besorgniserregend. „Ist etwas passiert?“ „Ja, komm. Die oben wollen dich sehen, es geht um einen Top Secret Auftrag.“ Jet packte sie am Oberarm und zerrte sie hinter sich her. „Aber…“, begann sie verwirrt und verstummte dann. Es spielte keine Rolle, ob sie protestierte. Sie war nur eine niedere Vitiosa, wenn eine der ranghöheren Personen etwas sagte, dann hatte sie zu springen. Also winkte sie Warren, der ihnen verdattert hinterherstarrte, nur kurz zu, und wandte sich wieder an Jet: „Weißt du, worum es geht?“ Aber er warf ihr nur einen entschuldigenden Blick zu und schüttelte den Kopf. „Es gibt ein paar seltsame Gerüchte, aber du weißt ja, wie viel Wahrheit da drin steckt. Es soll allerdings ein außergewöhnlicher Job sein.“ „Naja, sie haben mich nicht ohne Grund hergeholt.“, sagte sie und seufzte. Manchmal wünschte sie sich, dümmer geboren worden zu sein. Dabei sollte sie dankbar um ihre Intelligenz sein und ihr Talent mit Computern, Codes und Programmierungen. Es war das einzige, was sie von anderen Vitiosi abhob, was sie auf eine gewisse Weise sogar über die Pura stellte, zumindest auf ihrem Fachgebiet. Es war das einzige, was sie wirklich hatte. Es war allerdings auch das, das ihr die ungewollte Aufmerksamkeit einbrachte. Darum war sie jetzt hier, in einer sevenischen Militäreinrichtung, anstatt in dem liebgewonnenen kleinen Büro, kaum mehr als eine Kammer, das man ihr in ihrer vorherigen Firma zur Verfügung gestellt hatte. Kurz darauf liefen sie über den weichen Teppichboden, der auf den obersten Stockwerken ausgelegt war und jegliches Geräusch ihrer Schritte schluckte. Michello Gato, der sich von allen Mitarbeitern der Institution gern beim Vornamen nennen ließ, obwohl er weit weniger kollegial war, als er sich gab, erwartete sie in einem der Besprechungszimmer, wo er am Kopfende des langen Tisches Platz genommen hatte. Er war der Direktor der Einrichtung, direkt eingesetzt vom Kardinal ihres Distrikts, und ein winziger, alter Mann mit erstaunlich braunem, sauber geschnittenem Haar und einem Schnauzbart. Sein Gehstock lehnte neben ihm am Stuhl und er blickte ihnen missbilligend entgegen. Drei Soldaten in voller Montur – Kampfanzug, schwere Stiefel, Helm mit verspiegeltem Visier, mehrere Waffen, darunter ein vollautomatisches Gewehr – standen an strategischen Punkten im Raum verteilt. Ansonsten waren noch Droy, Levys zweiter Assistent, Kommandantin Scarlet, die Offizierin der Truppe, sowie eine weitere Wissenschaftlerin, eine junge Frau mit langem, grünem Haar, Dr. Bisca Connell, anwesend. Das waren sehr wenig Leute, was bedeuten musste, dass dieses neue Projekt auf der einen Seite sehr wichtig und auf der anderen höchst vertraulich sein musste. Vermutlich würde Levy dafür mit der Ärztin zusammenarbeiten und Jet und Droy ihnen als Gehilfen dienen. Dagegen hatte sie nichts; mit ‚ihren‘ Jungs kam sie von Anfang an klar und sie mochte Bisca, die auf ihrem Gebiet, der medizinischen Cybermechanik, ebenfalls eine Koryphäe war. Vor der Kommandantin dagegen hatte Levy Angst und, wenn sie den Geschichten, die über sie in der Einrichtung kreisten, Glauben schenken durfte, nicht ganz zu unrecht. Droy war ebenfalls Vitiosi wie sie, aber die anderen drei Pura und standen damit im Rang über ihr. „Da sind Sie ja endlich, McGarden.“, muffelte Michello und wedelte ungeduldig mit der Hand. Als sie sich entschuldigen wollte, schnitt er ihr einfach das Wort ab: „Setzen Sie sich. Wir haben jetzt keine Zeit für Ihr Gebrabbel. Kommandantin, bitte fangen Sie an.“ Die rothaarige Offizierin richtete sich noch gerader auf, als sie sich sowieso schon hielt, und räusperte sich: „Auf einer Razzia vor ein paar Monaten geriet eine unserer Einheiten in Bedrängnis. Die Mission wurde erfolgreich abgeschlossen, allerdings wurden zwei Cyborgs dabei beschädigt, als sie einen schweren Elektroschock versetzt bekommen haben. Dies hat die Programmierung gestört, so dass sich Funktionsfehler eingeschlichen haben. Den Technikern vor Ort ist es nicht gelungen, diese zu beheben, also wird der Cyborg zu uns geschafft, da wir die besten Leute auf den Gebieten Programmierung und Cybermechanik haben. Da ihr…“ „Der Cyborg?“, entfuhr es Levy verwirrt. Hatte sie eben nicht noch von zw… Sie schrumpfte in sich zusammen und hätte sich vor Angst beinahe in die Hosen gemacht, als Scarlet ihr einen bitterbösen Blick zuwarf. „Ver…Verzeihung.“, stotterte sie. „Aber Sie haben eben noch von zwei Leuten gesprochen und dann…“ „Es ist nur noch eine Einheit. Die zweite scheint bei einem Folgeeinsatz zerstört worden zu sein.“, beendete die Kommandantin das Thema knapp und fuhr mit ihrer Rede fort, als sei nichts geschehen. Zum Glück! Das hätte Levy richtig Ärger einbrocken können… Sie war einfach noch nicht daran gewohnt, mit so vielen Pura zu arbeiten. „Da ihr die besten Leute seid, werdet ihr beide dieses Projekt leiten. Versagen kann nicht geduldet werden, da wir durch nicht funktionierenden Cyborgs eine unberechenbare und überaus fatale Gefährdung riskieren. Diesem Problem muss auf den Grund gegangen werden. Darum werden euch so viel Zeit und Ressourcen, wie ihr benötigt, zur Verfügung gestellt.“ Levy blinzelte überrascht. Den Oberen musste es ja wirklich viel bedeuten, wenn sie überhaupt keine Einschränkungen machten. Allerdings – die einfachen Soldaten mochten das Rückgrat der Armee von Seven sein, doch die Cyborgs waren die Arme und die Hände, die die Waffe hielten, oder noch besser, die Waffe selbst – der Stoßtrupp. Ein Einheit, die die Angst in den Herzen ihrer Feinde wach rief. Sie waren die stärksten Soldaten der Welt, selbst die fiorianischen Supersoldaten und Minstrels Kampfandroiden standen hinter ihnen zurück. Sie waren legendär und absolut – absolut stark, absolut unbesiegbar und absolut gehorsam. Ein Cyborg, der durch das Raster fiel und plötzlich Befehle missachtete, konnte nicht geduldet werden. Hier stand mehr auf dem Spiel als ein einzelner Soldat, der aus der Reihe tanzte, ein einzelner Computer, der nicht mehr funktionierte. Am Glauben an das Absolute durfte in Seven nicht gerüttelt werden, weil es das gesamte System in Frage stellte. Kein Wunder, dass die Obersten dieses Problem behoben haben wollten. „Bekommen wir Informationen über die Fortschritte der Militärtechniker?“, fragte Bisca in einem bemüht neutralen Tonfall. Anscheinend wollte selbst sie den Ärger der Kommandantin nicht auf sich ziehen, nachdem Levy ihn so unvorsichtig geweckt hatte. Scarlet nickte und nahm die beiden Tablets hoch, die vor ihr auf dem Tisch gelegen hatten, um eines davon Dr. Connell zu übergeben und das andere Levy. „Hier befinden sich alle Informationen, die Sie benötigen. Benutzen Sie keine anderen Computer im Zusammenhang für dieses Projekt und verbinden sie diesen nicht mit dem Netzwerk. Ich muss nicht erwähnen, dass dieses Projekt der höchsten Geheimhaltung unterliegt und außer den Anwesenden hier niemand etwas darüber erfahren darf. Wir können nicht verhindern, dass die Anwesenheit der Cyborgeinheit in dieser Einrichtung bekannt wird, aber über alles darüber hinaus wird Stillschweigen bewahrt.“ Natürlich. Sevens Cyborgs waren eines der am besten gehüteten Geheimnisse des Landes und sein größter Stolz. Die Nachricht, dass einer von ihnen nicht mehr richtig funktionierte, würde unvorhergesehene und vermutlich gefährliche Folgen haben, bei ihren Feinden und auch unter der eigenen Bevölkerung. Levy nahm den Blick von dem kleinen, flachen Gerät und fragte: „Wann werden wir damit beginnen?“ „Sofort. Wir war…“ In diesem Moment wurde scharf an die Tür geklopft, eine winzige Vorwarnung, ehe sie aufgestoßen wurde. Eine schlanke Frau mit langem, schwarzem Haar kam herein. Sie trug die Uniform einer Kommandantin und war voll bewaffnet. Ihr folgten ihre Adjutantin, eine jüngere Frau mit buschigem braunem Haar, und zwei Soldaten in voller Montur, die rechts und links neben dem Cyborg gingen. Levys Blick heftete sich sofort auf diesen und sie schluckte. An dem soll ich arbeiten? Der Cyborg wirkte mindestens doppelt so groß und breit wie sie selbst. Wie alle seiner Art war er in körperlicher Bestform, mit den ausgeprägten Muskeln eines Kämpfers, flacher und kompakter als die eines Bodybuilders. Sein Oberarm schien dennoch dicker als ihre Hüfte; vermutlich könnte er sie auch ohne all die verbessernde Vercyberung in seinem Körper zerbrechen wie einen Zahnstocher. Sein schwarzes Haar war wild und ungepflegt und fiel ihm über den Rücken bis zur Hüfte hinab. Dieser Part war seltsam – Cyborgs wurden regelmäßig durchgecheckt und in Stand gehalten, was auch eine vollständige Rasur des Haupthaares beinhaltete. Ein Anzeichen des Systemfehlers? Er trug die Standartuniform Sevens, Cargohosen und eine geschlossene Jacke aus schwarzem Kevlar, dazu schwere, geschnürte Militärstiefel. Seine Handgelenke waren mit schwarzen Handschellen eng zusammengekettet und seine Augen wurden von einer vollkommen blickdichten Augenbinde verdeckt, die an der Seite verschlossen war. Einer der Soldaten packte ihn an der Schulter, so dass er stehen blieb, und Michello rutschte aus seinem Stuhl. „Kommandantin Mikazuchi.“, begrüßte er die hochgewachsene Befehlshaberin, die knapp salutierte. „Direktor Gato, wie besprochen, liefere ich den Cyborg PL-347 ab. Kommandantin Scarlet, ich übergebe ihn in Ihre Hände.“ Scarlet war von ihrem Platz aufgesprungen und ging nun um den Tisch herum. „Mikazuchi. Auf die Minute genau. Wir haben gerade unsere Mitarbeiter eingewiesen. Wie lange werden Sie bleiben?“ „Ein paar Tage, höchstens zwei Wochen. Solange bis wir sicher sein können, dass Ihre Leute wissen, wie sie mit einem Cyborg umzugehen haben. Ich nehme an, es wurde eine Zelle für ihn vorbereitet?“ „Wie abgesprochen.“, erklärte Scarlet. „Wo sind die Dokumente?“ Mikazuchi winkte ihre Adjutantin nach vorne, die eine Aktentasche auf dem Tisch ablegte und diese öffnete, um einen ganzen Stapel Papiere herauszuholen. Sie übergab sie Michello, der sie mit einer heftigen Bewegung an sich nahm, als wäre er beleidigt, dass die beiden Kommandantinnen ihn so einfach übergangen hatten und die Sache unter sich ausmachten. Levy ignorierte die offizielle Übergabe der ‚Fracht‘ sowie Jet und Droys leises Wispern im Hintergrund und stand auf, um sich dem Cyborg zu nähern. Je näher sie ihm kam, desto größer, breiter und bedrohlicher erschien er ihr. Der würde doch niemals auf sie hören, wenn sie ihm Anweisungen gab. Vielleicht sollte sie einfach sagen, dass sie sich unwohl fühlte, mit diesem Mann zu arbeiten. Außerdem arbeitete sie besser allein; Jet und Droy hatten das während der letzten Wochen gelernt. Aber sie wusste, dass das nichts bringen würde. Wenn Michello ihr befahl zu springen, hatte sie zu fragen wie hoch. Außerdem würden ihre eigene Neugierde und ihr Ehrgeiz es nicht zulassen. Schon als Kind hatte sie sich gefragt, wie Cyborgs überhaupt möglich waren, was hinter ihnen steckte, was das Geheimnis war, das sie wirklich machte. Dies war vermutlich die einzige Chance, die sie je bekam, an einem von ihnen zu arbeiten. So eine Gelegenheit würde sich ihr nie wieder bieten. Andere Programmierer und alle Cybermechaniker auf dem Planeten würden einen Arm und ein Bein hergeben, um auch nur einen Blick in die komplexe Struktur und den komplizierten Aufbau dieser faszinierenden Verbindung von Mensch und Maschine zu werfen und den Mechanismus dahinter. Sie selbst hatte sich immer gefragt, ob Cyborgs noch ein schlagendes Herz hatten oder ob es ersetzt worden war mit einem Triebwerk… Sie blinzelte. Ihre Fingerspitzen waren nur noch Zentimeter von der Brust des gigantischen Mannes entfernt und sie hatte nicht einmal bemerkt, wie sie die Hand gehoben hatte. Hinter ihr waren die Kommandantinnen mit Michello in eine hitzige Diskussion vertieft; vermutlich ließ der Direktor wieder einmal den Boss raushängen. Alle anderen waren auf den Streit konzentriert. Der Cyborg hatte lauschend den Kopf schief gelegt, die Stirn gerunzelt, die Lippen zu einer harten Linie zusammengepresst. Levy konnte nicht anders, sie musste es wissen, die Frage beantwortet haben, und legte ihm die flache Hand auf die Brust. Es war dumm. Sie hätte wissen sollen, dass es eine dumme Idee war. Er war in einer fremden Umgebung, offensichtlich nicht freiwillig hier und er konnte nicht sehen. Kein Wunder, dass er gewalttätig reagierte. In einem Moment spürte sie noch das Kevlar unter ihren Fingern und der kräftige Schlag eines Herzens und im nächsten explodierte Schmerz in ihrem Arm und starke, eisenharte Finger quetschten ihren Unterarm. Sie hörte, wie ihre Knochen aufeinander rieben, und schrie auf. Tränen schossen ihr in die Augen; sie stolperte zurück und versuchte, sich aus dem stählernen Griff zu befreien. Plötzlicher Lärm drang wie von Ferne an ihre Ohren und Chaos brach aus. Ihr Blick lag wie hypnotisiert auf dem verzerrten Gesicht des Cyborgs, eine Fratze aus Wut und Feindseligkeit und etwas anderem, das darunterlag. Ein entsetzliches Knacken, das ihr durch Mark und Bein ging, ertönte und dann war sie plötzlich frei, als die Soldaten den Cyborg zu Boden rangen. Dabei mussten alle fünf ihn niederhalten und doch gelang es ihm, sich zwei Mal freizukämpfen, gefesselt wie er war. Es war doch Kommandantin Mikazuchi, die ruhig eine Betäubungspistole aus dem Halfter zog und ihn einfach niederschoss, so dass er nach einigen Sekunden nutzloser Anstrengung zusammensackte. Levy starrte die Szene mit weit aufgerissenen Augen an und sie brauchte einen Moment um zu bemerken, dass der Schmerz in ihrem Arm nicht nachgelassen hatte. Als sie den Blick senkte, um dem auf den Grund zu gehen, wurde ihr beinahe schlecht. Ihr Unterarm hatte einen seltsamen Knick… „Das ist der Grund, warum wir noch etwas hier bleiben, Direktor Gato.“, erklärte Kommandantin Mikazuchi in kühlem Tonfall. „Ihre Leute haben keine Ahnung, wie sie mit einem Cyborg zu verfahren haben. Ich hoffe, das kleine Mädchen ist jetzt immer noch fähig, die Arbeit zu erledigen, die von ihr gefordert wird, wenn sie tatsächlich das Beste ist, was ihr zu bieten habt. Und bringt sie endlich jemand auf die Krankenstation!“ Wenn sie sich nicht so miserabel fühlen würde, würde Levy jetzt lautstark gegen diese Bezeichnung protestieren, ungeachtet ihres Status‘. Wenn es etwas gab, das sie hasste, dann war es, wenn man wegen ihrer Körpergröße auf sie hinabblickte und sie als ein Kind sah. Und wenn Mikazuchi fünfmal eine höhergestellte Purus war. Aber dieser ganze Zwischenfall war ihre Schuld, ihr gebrochener Arm war ihre Schuld und auch die eingeschlagene Nase eines der Soldaten, aus der Blut lief, und alle weiteren Verletzungen, die die anderen eventuell davongetragen hatten. Außerdem schienen die Schmerzen immer stärker zu werden und sie drückte den misshandelten Körperteil eng an ihre Brust. Ihr Blick war dabei starr auf den schlaffen Körper des Cyborgs gerichtet, der noch am Boden lag. Er hatte sie nur festgehalten. Und ihr Arm war gebrochen wie ein trockener Zweig. Kein Wunder, dass sie ihn gefesselt und geblendet hereingebracht hatten. „Komm, Levy, ich helfe dir.“ Es war Bisca, die ihr vorsichtig beim Aufstehen half und sie aus dem Raum führte. „Das kriegen wir schon wieder hin.“ ~~*~~✿~~*~~ Die Arrestzellen waren über einen der langen, generisch grauen Gänge zu erreichen, die den Großteil der Räume in der Forschungseinrichtung verband. Sie lagen etwas abseits und unter der Erde, nur erreichbar über eine einzelne Treppe in einem gut zu verteidigenden Raum, der als Wachposition diente und stets besetzt war, wenn es Gefangene gab. Es waren kleine Räume, gesichert mit einer Front aus Panzerglas, die einen guten Blick ins Innere boten, und gleich zwei Sicherheitstüren. Jede von ihnen sah exakt gleich aus und im Moment war nur eine belegt. Die Einrichtung war spärlich, zwei Pritschen, zwei Stühle, ein Tisch. Eine grelle Deckenlampe vervollständigte das triste Bild. Der Cyborg, Gajeel Redfox, wie seine Akte ihn nannte, saß auf dem Bett, das weiter von der Tür entfernt war, die Wand im Rücken, die Handgelenke noch immer gefesselt, und fixierte die im hinteren Teil der Zelle untergebrachte Tür mit rot glühenden Cyberaugen. Wachen gab es hier unten keine, aber Levy wusste um die Kamera, die das Geschehen in der Zelle aufzeichnete. Der Cyborg wandte ihr den Kopf zu, als sie in sein Blickfeld trat, wirkte aber keinesfalls überrascht. Vielleicht hatte er sie gehört. Er legte den Kopf schief, als sie vor seiner Zellentür stehen blieb, und sein Gesichtsausdruck wirkte fragend-verwirrt, wenn auch auf eine seltsam steife Art, als wüsste er nicht, wie genau er diese Gefühle übermitteln sollte. Als wäre sein Gesicht nicht gewohnt, etwas anderes zu tun als finster dreinzublicken. Dann fiel sein Blick auf ihren Arm, den sie in einer Schlinge an den Körper gepresst trug, und er runzelte unwillkürlich die Stirn, eine winzige Geste. Levy schaffte es im Moment noch ganz gut, den gebrochenen Arm zu ignorieren; zum Glück war es der linke gewesen. Der brennende Schmerz war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen, unterdrückt von den Schmerztabletten, die der Arzt ihr gegeben hatte. Sie schaltete die Kommunikationseinheit ein, die neben der Glasscheibe angebracht war und eine Verständigung zwischen dem Insassen und eventuellen Besuchern ermöglichte. „Ich wollte mich entschuldigen.“, erklärte sie. „Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken. Und jetzt hast du die Folgen zu tragen. Das tut mir leid.“ Der Cyborg bewegte sich nicht, auch wenn sein Gesicht sich wieder geglättet hatte und nun ausdruckslos war. Seine Augen waren hart und so künstlich wie keine anderen, die sie zuvor gesehen hatte. Aber bei einem Mann, der sowieso halb Maschine war, kam es sicher nicht darauf an, ob man erkennen konnte, dass auch die Augen ersetzt worden waren. Schönheitsfaktoren spielten für ihn absolut keine Rolle. Als er nach zwei Minuten noch immer nichts sagte, fragte sie sich, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht lag der Fehler, den sie korrigieren sollte, in seinem Sprachzentrum? Aber wäre das nicht etwas einfach? Die Techniker, die sich um die Cyborgs kümmerten, waren sicher keine Stümper und würden solche Offensichtlichkeiten nicht übersehen. Sie fragte sich sowieso, was ausgerechnet sie tun konnte, wenn dafür ausgebildete, erfahrene Leute an der Aufgabe scheiterten. Neue Augen taten manchmal ganz gut, aber völlig unerfahrene? Das klang nicht sehr erfolgversprechend. Sie räusperte sich verlegen. „Also… Ich werde versuchen, in Zukunft aufmerksamer zu sein und es nicht mehr so weit kommen zu lassen. Nur eine kleine Vorwarnung: ich verliere mich gerne in meiner Arbeit und da du … nun ja, direkt involviert bist, kann ich für nichts garantieren.“ Tatsächlich war er die Arbeit, aber es schien ihr unhöflich, das auf diese Art auszudrücken. Sie wurde rot unter dem intensiven Blick, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. „Du kannst mir dann einfach Bescheid sagen, wenn du dich unwohl fühlst oder wenn ich dir zu nahe trete.“, endete sie, aber der Cyborg gab noch immer keine Reaktion. Vielleicht verstand er sie wirklich nicht. Vielleicht interessierte es ihn auch einfach nicht, was sie ihm erzählte. Vielleicht sollte sie jetzt einfach gehen. Sie schenkte ihm noch ein freundliches, wenn auch etwas unsicheres Lächeln und tat genau das. „Warum?“ Die Stimme war tief und rau, als würde sie nicht oft genutzt werden, wie Kiesel oder rostiges Eisen. Sie fuhr bei dem Klang zusammen, denn mit einer Antwort hatte sie nicht mehr gerechnet. Als sie sich umdrehte, stand der Cyborg an der Scheibe, einen Mundwinkel zu einem beinahe gehässigen Grinsen hochgezogen. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie groß dieser Mann war, und wie viel größer als sie selbst und sie musste sich halten, nicht zurückzuweichen. Denn auch wenn sie hier heruntergekommen war, um sich zu entschuldigen, so hatte sie nicht vergessen, dass er ihr mit einem einzigen Griff den Arm gebrochen hatte – und das vermutlich, ohne es wirklich zu wollen. Etwas von ihrer Ängstlichkeit musste auf ihrem Gesicht abzulesen sein, denn das Halbgrinsen wurde deutlicher. Aber, erinnerte sie sich, sie hatte nichts zu befürchten. Zwischen ihnen befand sich zehn Zentimeter dickes Panzerglas, das er nicht würde einschlagen können, es war unzerstörbar. Selbst Raketen waren daran gescheitert. Ansonsten hätten sie ihn wohl kaum hier allein gelassen. Verspätet fiel ihr ein, dass er noch auf eine Antwort wartete, und sie riss sich zusammen. „Warum was?“, fragte sie zurück, verwirrt. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was er meinte. Warum war sie hier? Warum sprach sie mit ihm? Warum entschuldigte sie sich? Warum nicht? Es war nur anständig, das zu tun und dabei spielte es keine Rolle, wer ihr Gegenüber war. Ihre Mutter hatte sie gut erzogen. „Das erschien mir nur höflich und wir müssen ja für unbestimmte Zeit zusammenarbeiten, oder? Wir sollten besser miteinander auskommen.“ Sie lächelte verlegen und hob leicht den gebrochenen Arm. „Wir hatten ja nicht so einen sonderlich tollen Start.“ Für einen Augenblick war es still, dann gab er ein kratziges Geräusch von sich, das wie Gihihi klang. Sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass er lachte. Es war ein seltsamer, befremdender Laut, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Der Cyborg brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Unruhig trat Levy von einem Fuß auf den anderen und wartete auf das Verstummen seines Gelächters, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sollten Cyborgs nicht eigentlich emotionslose Monster sein? Zumindest war es das, was sie immer über sie gehört hatte… Aber Levy wusste, wie es war, nicht wie ein vollwertiger Mensch behandelt zu werden. Sie war nur eine Vitiosa, eine Fehlerhafte. Es war nur ein winziger Defekt in ihren Genen, der sie von den Pura abgrenzte, der ihr gesamtes Leben bestimmte und ihren Weg vorgab. Sie würde arbeiten auf dem Gebiet, das man ihr vorschrieb, sie würde dorthin gehen, wo man sie hinschickte, sie würde tun, was man ihr auftrug. Sie würde nicht heiraten, keine Kinder bekommen und ihren Pura-Eltern und -Geschwistern nicht weiter zur Last fallen, als sie es sowieso schon durch ihre bloße Existenz tat. Sie war nicht unbedingt glücklich damit, aber dies war die Art, wie ihre Welt funktionierte. Sie konnte wohl von Glück reden, dass sie keine der Unreinen und damit in den Arbeiterghettos oder gar den Slums vor der Stadt untergebracht war, doch oft fühlte es sich nicht so an. Wenigstens war sie keine Waffe. „Ich bin ein Cyborg.“, erklärte er, nachdem er sich wieder unter Kontrolle gebracht hatte, als wolle er ihre Gedanken bestätigen. „Wir sind Waffen. Man arbeitet an uns, nicht mit uns.“ Levy blinzelte verdutzt. Natürlich wusste sie das – auf einer theoretischen Ebene. Auf der praktischen sah er aus wie ein Mensch, handelte wie ein Mensch, wenn auch ein emotional zurückgebliebener, und hatte einen Namen wie ein Mensch. Er war geboren worden wie ein Mensch, ehe man ihn genommen, durch ein höllisches, um wahrsten Sinne des Wortes mörderisches Training gejagt und ein paar seiner Körperteile durch synthetische Glieder aus Metall ersetzt hatte. „Aber…“, begann sie zögernd und hilflos, unfähig ihre Gedanken in die passenden Worte zu kleiden. „Du … du hast einen Namen.“, stotterte sie schließlich, nur um überhaupt etwas zu sagen. Einen Namen, den sie selbst auch in Gedanken nicht benutzte. Er war immer nur der Cyborg gewesen, nicht die Person, die sich dahinter verbarg. Er antwortete mit einem Blick aus roten Augen, den sie nicht deuten konnte. Sein Gesicht war undurchdringlich und Levy schluckte. „A…also gut.“, erklärte sie entschlossen. „Ich denke, wir sehen uns dann morgen, Soldat Redfox. Ich hoffe, du hast eine gute erste Nacht hier.“ Sie warf einen zweifelnden Blick auf die karge, ungemütlich aussehende Zelle. Wie man hier gut schlafen sollte, war ihr ein Rätsel. Aber vermutlich war ein erholsamer Schlaf auch nicht der Sinn dieser Räume. Also winkte sie noch einmal unbeholfen und kehrte zum Fahrstuhl zurück, der sie zur Eingangshalle bringen würde. Redfox antwortete nicht, aber sie konnte seinen Blick im Nacken spüren, schwer und abweisend. ~~*~~✿~~*~~ Jet und Droy hatten die Werkstatt aufgeräumt, während sie in der medizinischen Abteilung war, das erkannte sie schon, als sie die Tür zu dem großen Raum aufstieß. Die Werkbänke und stählernen Regale waren in der Regel übersäht mit durcheinandergeworfenen, halbbeendeten Cyberteilen, an denen sie arbeitete, wenn sie runterkommen musste, und Auftragsarbeiten, die aus allen Richtungen der Institution zugeschickt wurden, sei es um sie neu zu entwickeln oder um Kaputtes zu reparieren. Jetzt aber waren die verschiedenen Einzelteile, Kabel und Projekte fein säuberlich in Kisten und beschrifteten Boxen untergebracht und die Möbel zurecht gerückt worden. Der größte Teil der Monitore und Verbindungscomputer war vom Netzwerk entfernt worden, da das Tablet ihr allein nicht reichen würde, weil es zu wenig Arbeitsspeicher hatte. In der Mitte hatte man Platz gemacht für etwas, das sie unangenehm an einen Operationsstuhl erinnerte, umgeben von mindestens einem Dutzend an Monitoren, Messgeräten und anderen Maschinen, mit denen sie sich gar nicht auskannte. Vermutlich hatten ihre beiden Assistenten die halbe Nacht dafür gebraucht und sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Immerhin war es ihr Saustall, den die beiden hier entfernt hatten, weil ihre eigenen Arbeitsplätze, weiter hinten im Raum, waren stets gut erkennbar durch die weniger große Unordnung, die darauf und drumherum herrschte. Ihre eigene Arbeitsstation, die sich in der Nähe ihres Büros befand, ging stets unter in einem Chaos, von dem jetzt nichts mehr zu sehen war. Statt herzukommen hatte Levy, nachdem der Arzt ihren Arm versorgt und sie mit ein paar Tabletten, die ihr Knochenwachstum unterstützen würden, nach Hause geschickt hatte, sofort zu den Zellen gegangen um mit dem Cybo- Redfox zu sprechen. Danach, müde und ausgelaugt vom Tag und den Ereignissen, war sie zu ihrer winzigen, aber gemütlichen Wohnung gefahren um sich hinzulegen. Aber Jet und Droy schienen ihr die Faulheit nicht übel zu nehmen, denn sie begrüßten sie begeistert wie immer und erkundigten sich besorgt nach ihrem Arm. Die beiden waren schon länger hier und kannten daher die Abläufe und sie beide waren in sie verknallt. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit war ihr dies unangenehm gewesen, doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Beide ließen sich nichts anmerken, nachdem sie ihnen postwendend einen Korb gegeben hatte, und ihrer eigenen Freundschaft schienen dieselben Gefühle für dieselbe Frau keinen Abbruch zu tun. „Wir haben alles schon vorbereitet für unseren besonderen Gast.“, erklärte Droy und wuchtete seinen massigen Körper aus dem Drehstuhl. Sein dunkles, spärliches Haar war sauber frisiert und aus der Brusttasche seines Laborkittels ragten mehrere Stifte und zwei Müsliriegel. Jet überragte ihn um eine Haupteslänge, aber Levy wirkte neben ihnen beiden winzig und zierlich. Neben Redfox, fiel ihr auf, würden sie jedoch alle klein und unbedeutend und sehr zerbrechlich aussehen. „Dr. Connell hat gemeldet, dass sie gleich da sein wird.“, fügte Jet hinzu. „Sie bringen den Cyborg in etwa einer Stunde. Wir sollen uns schon einmal vorbereiten.“ Levy nickte und nach ein wenig Smalltalk und dem obligatorischen Kaffeegang nahm sie das Tablet auf, das sie am letzten Tag zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Blaupausen, Programmcodes und Anleitungen in Verbindung mit Cyborgtechnologie befanden sich fein säuberlich und übersichtlich geordnet darauf, gemeinsam mit der persönlichen Akte von Redfox, in die sie am letzten Tag schon einen Blick geworfen hatte. Allen Anscheins nach war sein Leben normal verlaufen, zumindest für jemanden in seiner Situation. Er stammte wie die meisten Soldaten aus einer Operarius-Familie und wurde mit sieben bei der allgemeinen Musterung als tauglich erklärt. Danach folgte das Standarttraining, das alle Kadetten durchliefen, bis zur zweiten Musterung, bei der geeignete Kandidaten für die scherzhaft benannte ‚Metamorphose‘ zum Maschinenmenschen ausgewählt wurden, bei der er ebenfalls für geeignet befunden wurde. Danach folgte intensiveres Training und dann die genauen Aufzeichnungen der Vercyberung, der er während der nächsten Jahre unterzogen worden war. Schließlich die Erklärung, dass sein Training abgeschlossen war, kurz nach dem achtzehnten Geburtstag, zu der Zeit, in der junge Pura ihren Schulabschluss feierten und erst einmal die Sau rausließen oder lange Reisen machten. Er dagegen war in den Kriegseinsatz geschickt worden. Die Akte war offensichtlich gekürzt worden, denn es fehlten jegliche Auskünfte über die folgenden Missionen, die sich über die nächsten zwölf Jahre hingezogen hatten. Levy wurden darüber nur zwei Dinge mitgeteilt. Erstens, dass er sie alle erfolgreich und mit zu viel Brutalität durchgeführt hatte, aber letzteres schien dabei niemanden zu stören. Und zweitens, dass er in einem Team mit einer bestimmten anderen Einheit gewesen war, die nicht genauer benannt wurde. Aber die beiden hatten wohl bereits während des Trainings die hohe Synchronisation von 86 Prozent aufgewiesen, was anscheinend außerordentlich viel war. Ob das der andere Cyborg war, von der Scarlet gesprochen hatte, der, der zerstört worden war? Ob Redfox ihn vermisste? Konnten Cyborgs überhaupt vermissen? Levy nahm sich vor, ihn danach zu fragen, wenn sie einmal die Gelegenheit dazu hatte, und widmete sich den für sie interessanten Unterlagen. Es dauerte nicht lange, da war sie so vertieft in die faszinierenden Aufzeichnungen einer Technologie, die so geheim war, dass die Weitergabe einer einzigen Gleichung eine Hinrichtung rechtfertigte, dass sie erschrocken zusammenfuhr und beinahe ihre Tasse vom Tisch fegte, als Bisca sie leicht an der Schulter berührte. Entschuldigend hob die junge Ärztin ihre Hände. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“, erklärte sie und schüttelte ihr türkisgrünes Pony aus der Stirn. Die junge Cyberspezialistin war eine der wenigen, die Levy mit größter Selbstverständlichkeit wie einen gleichwertigen Menschen behandelte. Vielleicht lag es daran, dass der größte Teil ihrer engsten Kollegen Vitiosi waren und es die Arbeitsatmosphäre vergiftete, wenn man jeden um sich herum wie einen minderwertigen Idioten behandelte. „Aber sie kommen gleich und du willst sicher nicht so erwischt werden.“ Levy schüttelte den Kopf. Nein, das wollte sie sicher nicht! Nicht nur, dass der Cybor- Redfox ihr immer noch einen Schauer über den Rücken jagte, auch die Kommandantinnen würden dabei sein und die urplötzlich vor sich stehen zu sehen, wäre der reinste Alptraum. „Sind sie-“ Die Tür wurde heftig aufgestoßen und schnitt ihr die müßig gewordene Frage ab. Mikazuchi und Scarlet stolzierten herein, als würde ihnen der Raum gehören. Ihnen folgte, gefesselt und mit verbundenen Augen, der Cyborg in Begleitung seiner beiden Wachen, von denen einer ihn am Oberarm gepackt hielt. Levy war sich nicht sicher, ob ihn das vorm Weglaufen hindern oder ihn leiten sollte. Zuletzt folgte Adjutantin Chatte mit einem weiteren Tablet in den Händen. Jet und Droy wichen vor ihm zurück, aber sie selbst blieb standhaft stehen, auch wenn ihr Arm plötzlich stärker zu schmerzen schien. Bisca neben ihr trat nur unruhig von einem Fuß auf den anderen, auch wenn sie sich beherrscht gab. Aber dieses Projekt machte sie alle nervös und die genaue Prüfung, der jeder ihrer Schritte von oben beobachtet werden würde, half nicht der Beruhigung. Scarlet blickte sich zufrieden um, offensichtlich erfreut darüber, dass alle Beteiligten anwesend waren. Hinter ihnen wurde die Tür verschlossen und Mikazuchis strenge Stimme schnitt durch die abwartende Stille wie ein scharfes Messer: „Sie haben ja gestern alle gesehen, zu was er fähig ist, und werden hoffentlich mit angebrachter Vorsicht mit ihm umgehen.“ Ihr Blick huschte dabei zu Levy hinüber, die schuldbewusst den Kopf senkte. Sie wusste schon, dass sie dumm gehandelt hatte und war der gebrochene Arm nicht Strafe genug? Aber sie sagte nichts, sondern hörte weiter zu. „Die Soldaten Fernandez und Gryder werden hier bleiben, wenn ich in ein paar Tagen wieder abreise und Sie unterstützen.“ Sie deutete dabei nacheinander auf die beiden genannten Männer, aber sie waren so identitätslos wie alle anderen Soldaten, denen Levy je begegnet war – die Gesichter hinter Helmen und deren verspiegelten schwarzen Visieren verborgen, so dass kaum mehr als das untere Drittel zu sehen war. Die Körper unter den Uniformen waren durchtrainiert und vermutlich hart wie Stahl. Unter Gryders Visier blitzte der Anfang einer Narbe hervor, aber Fernandez hatte absolut nichts an sich, was ihn von den Männern unterschied, die hier bereits stationiert waren. Außer natürlich dem obligatorischen Namensschild auf der linken Brusttasche und den Dienstgradabzeichen, die ihn als Sergeant auszeichneten, den höchsten Rang, den jemand erlangen konnte, der kein Purus war. „Nun, können wir mit der ersten Fehleranalyse beginnen?“, schaltete Scarlet sich ein und trat zur Seite, damit die beiden Soldaten den Cyborg zum Untersuchungsstuhl bringen konnten. Sie halfen ihm, sich darauf niederzulassen und einmal stieß er sein Knie an, so heftig, dass Levy bei dem Geräusch zusammenfuhr. Redfox jedoch ließ sich davon nichts anmerken, seine Miene blieb unbewegt. Fernandez nutzte schwere Metallschellen, um ihn am Stuhl festzubinden, nachdem er die Handfesseln gelöst hatte. „Wird die Augenbinde die Ergebnisse nicht verfälschen?“, wollte Levy wissen und schluckte. Es war unfair, Redfox noch länger mit Blindheit zu quälen. Es war nicht so, als ob er jetzt noch eine Gefahr darstellte. Diese Fesseln, die ihn an den Stuhl banden, waren aus edelstem Tharidiumstahl und damit nicht einmal für einen Cyborg zerstörbar. Mikazuchi zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sich die Mühe machen wollen.“ Sie trat vor und löste das Schloss, das die Augenbinde an Ort und Stelle hielt. Redfox blinzelte in das plötzliche helle Licht und seine Mundwinkel zogen sich nach unten, aber auf Levy wirkte es eher wie Verwirrung als Wut. „Schließen Sie ihn an ihren Computer an.“, befahl Mikazuchi ihr von der Seite, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf Levys verwirrten Blick hin rollte sie mit den Augen. „Sie sind die Technikerin hier, oder?“ Zögerlich und sich ihres gebrochenen Armes wieder voll bewusst, trat sie näher und nahm die Verbindungskabel hoch. Sie war nur froh, dass sie sich vorhin so genau die Pläne angesehen hatte, sonst würde sie jetzt nicht wissen, welcher Stecker in welche Buchse gehörte und wo letztere zu finden waren. Trotzdem trat die Adjutantin zu ihr und musste sie mehrmals korrigieren. Redfox beobachtete sie aus den Augenwinkeln und seine roten Cyberaugen schienen zu glühen. Levy hielt diesem Blick für einen Moment stand, dann senkte sie beschämt die Lider und machte sich wieder an die Arbeit. Sie behandelten ihn wie ein Ding. Das war einfach nicht richtig. Aber Levy schwieg. ~~*~~✿~~*~~ Diese erste Untersuchung war nicht gerade ein Erfolg gewesen. Levy hatte allerdings auch nicht viel erwartet, eigentlich hatte sie nur dafür gedient, dass sie und Bisca sich mit dem Cyborg hatten vertraut machen können, dass sie den Umgang mit dem gefährlichen Mann lernten und einen Blick auf die faszinierende, verstörende Technik werfen konnten. Levy hatte eine Kopie seiner Festplatte erstellt und nun saß sie mal wieder an ihrer Arbeitsstation mit den zahlreichen Bildschirmen und ließ die langen Reihen der Programmierungscodes darüber flimmern. Allerdings konnte sie sich nicht so recht auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie saß im Stuhl zurückgelehnt, nippte hin und wieder an ihrem Kaffee und hörte mit halbem Ohr zu, wie Droy und Jet sich unterhielten, während sie einen Miniroboter untersuchten, der ständig gegen Wände lief. Sie schnappte nicht das ganze Gespräch auf, aber ein paar Fetzen, genug dass sie wusste, dass sie nicht bei der Sache war. „… weiß so genau, woher sie ihre Informationen…“ „Ich dachte, … und hocken in dunklen Kellerlöchern.“ „…. viel höher in der Gesellschaft, als bisher angenommen. … einige Pura…“ „Warum sollten…“ Levy versuchte, das leise Gespräch auszublenden und sich stattdessen auf ihre geliebten Programmcodes zu konzentrieren. Sie hatte doch sonst nie Probleme damit! Warum gerade jetzt und hiermit? Doch sie wusste, woran es lag, denn ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Cyborg selbst anstatt um seine Codes, mit denen sie sich eigentlich beschäftigen sollte. Aber dieser abschätzende Blick aus den völlig künstlichen Augen, die niemals so viel Ausdruck halten dürften, wie er ihn gezeigt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. War es Vorwurf, den sie darin entdeckt hatte, oder gar Anklage? Doch sie hatte nur weggesehen und sich den Regeln gebeugt und Chattes Erklärungen gelauscht, stumm und mit einem schweren Gefühl. Dabei … dabei hatte sie wohl kaum eine Wahl, sie war nur eine Vitiosa – was hatte sie schon zu sagen? Zumindest mehr als er, fuhr es ihr durch Kopf, schuldbewusst. Ihm war nicht einmal eine Meinung gegönnt, geschweige denn die Gelegenheit, diese zu äußern. Die Rüstungen der Cyborgs, die jemand wie sie vor allem in den Nachrichten zu Gesicht bekam, beinhalteten Vollgesichtsmasken – Helme, verspiegelte Visiere und etwas, das wie ein Maulkorb für Menschen aussah und die untere Gesichtshälfte komplett verdeckte. Es war ihr vorher nie aufgefallen, aber jetzt ging es ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ihre Phantasie hatte keine Probleme damit, ihr Gajeel in dieser Ausstattung zu präsentieren, die roten Augen hinter dem verspiegeltem Visier verborgen, die wilden Haare abrasiert und ihr drehte sich der Magen um. Wie kam es, dass sie sich nie darüber Gedanken gemacht hatte, dass sich hinter dieser Aufmachung Menschen verbargen? Immer hatte sie nur die Technik gesehen, die modernste Vercyberung, hinter der sich ein faszinierendes Geheimnis verbarg, denn niemand wusste, wie Cyborgs tatsächlich gemacht wurden. Alle Versuche sie außerhalb des Militärzentrums von Seven zu replizieren, endeten in Katastrophen, die die Versuchspersonen nicht selten verkrüppelt oder tot zurückließen. Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken und rief gleichzeitig ihren Forschungsdrang wach. Aber nie hatte sie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass ein Cyborg ein Mensch war. Ein Mensch mit Familie, mit Freunden, Träumen und einem eigenen Leben, denen er schon so früh entrissen worden war. Eine Person. Sie legte ihr Tablett auf dem Schreibtisch ab und ihr Blick wanderte zu dem Fernseher hinüber, der in einer Ecke an der Decke hing. Nachrichten flimmerten darüber, aber der Ton war auf lautlos gestellt, so dass sie nicht erkannte, worum es ging. Es schien irgendeine offizielle Versammlung zu sein, bei der hochrangige Mitglieder der Kirche teilnahmen und… Fand da nicht eine Eröffnung von einer alten Kathedrale statt, die renoviert worden war? Das musste die Berichterstattung sein… Ob ein Kardinal anwesend war, begleitet von seiner Leibwache, die stets mindestens einen Cyborg beinhaltete? Ob jemand diesen Cyborg anblicken und sich überlegen würde, was er wohl fühlte? Vermutlich nicht. Cyborgs waren Maschinen, Waffen und niemand brachte Aufmerksamkeit darauf, dass man einen Menschen brauchte, um sie zu schaffen, ansonsten wären sie bloße Roboter, nicht anders als die Kampfandroiden von Minstrel. Die Kirche brachte absichtlich keine Aufmerksamkeit auf dieses Thema. Ansonsten würden die Kontroversen um diese mächtigste Waffe im Arsenal Sevens steigen, die zur Perfektion programmiert und kalibriert war, wie ein Computer, bei der alle Unberechenbarkeiten ausgeschaltet waren und die genauso funktionierte, wie sie sollte. Levy fuhr sich durch die Haare und dachte wieder an Redfox, dessen fehlerhafte Programmierung ihn hervorhob und gleichzeitig zu einer Gefahr machte. Der Fehler in seinem System hatte zumindest ihr gezeigt, dass er nicht wirklich eine Maschine war, sondern ein Mensch. Levy warf Jet und Droy einen Blick zu, doch sie waren noch immer über ihre Aufgabe gebeugt und achteten nicht auf sie. Sie nahm ihr Tablet wieder auf, rutschte vom Stuhl und schlich sich zum Ausgang hinüber. Ihre beiden Assistenten bemerkten sie nicht, auch nicht, als sie die Tür öffnete und lautlos hinausschlüpfte. Sie sah sich um, doch niemand befand sich in dem Gang und sie begegnete auch niemandem, als sie losmarschierte, leise und vorsichtig. Sie kam sich vor, als würde sie etwas Verbotenes tun, auch wenn es eigentlich nicht so war. Freilich – ihre Idee war ziemlich dumm, wenn man sich ihre Erfolgsgeschichte mit Redfox ansah, der ihr sowie allen anderen mit Feindseligkeit und Abneigung begegnet war und ihr auch noch den Arm gebrochen hatte. Aber sie konnte sich einfach nicht davon abbringen. Ihre Schritte führten sie den Weg zu den Zellen hinunter, den sie erst einmal gegangen war. Sie zog die Schultern hoch, als sie zwischen den beiden Wachen vorbeiging, die am einzigen Eingang in diesen Bereich stationiert waren, und sah ihnen nicht in die verdeckten Gesichter. Eine davon war Sergeant Fernanzes, fiel ihr auf. Doch Levy war eine der Personen, die tatsächlich befugt waren, den Cyborg persönlich zu besuchen, also hielt sie niemand auf. Trotzdem atmete sie erleichtert auf, als die schwere Sicherheitstür hinter ihr ins Schloss fiel. Bald darauf näherte sie sich erneut der Zelle, in der Redfox untergebracht war. Der kleine Raum hatte sich in keiner Weise verändert, einzig sein Bewohner selbst saß heute auf einem der Stühle anstatt auf der Pritsche. Er wandte sich um, als sie vor der Glasscheibe stehen blieb, und starrte sie aus emotionslosen Augen an. Sie versuchte, ihm ein Lächeln zu schenken, auch wenn es eher wie eine Grimasse wirkte. „Hallo.“, begrüßte sie ihn, aber er antwortete nicht. Einen Moment senkte sich unangenehmes Schweigen über sie. Warum war sie überhaupt hierhergekommen? Es war nicht so, als ob er Antworten auf das Problem hatte oder willens war, sie ihr zu geben. „Wenn ich zu dir hereinkomme, wirst du mich dann umbringen?“, wollte sie schließlich von ihm wissen. Er legte den Kopf schief. „Mir ist es verboten, Menschen aus Seven zu töten ohne einen direkten Befehl einer befugten Person.“ „Aber du bist hier, weil du nicht mehr die Regeln befolgst.“, zeigte sie auf und der Cyborg starrte sie für einen Moment an. Vermutlich würde er sie umbringen, wenn sie jetzt zu ihm hineinging, wie ein Tiger im Zoo… „Gihihihi.“, lachte er stattdessen, die Stimme rau und rostig. „Du wirst es wohl darauf ankommen lassen müssen.“ Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, er zog sie auf. Trotzdem brachte etwas in seiner Tonlage sie dazu, sich einen Ruck zu geben und an die Tür zu treten. Der Scanner nahm ihre ID-Karte ohne Probleme an und mit einem leisen Piepsen öffnete sich die Tür, so dass sie in den kurzen Flur dahinter treten konnte. Auch die zweite Tür öffnete sich ohne Probleme, jedoch erst, nachdem die erste wieder geschlossen war. Redfox‘ folgte ihren Bewegungen, ohne sie aus den Augen zu lassen, als sei sie die Bedrohung, und seine Augenbrauen waren zusammengezogen, so dass sie sich beinahe berührten. Sein gesamter Körper war angespannt und Levy konnte ihm nicht verdenken. „Ich…“, begann Levy, als die Tür sich wieder hinter ihr schloss. „Darf ich mich setzen?“ Sie deutete auf den Stuhl ihm gegenüber und er nickte nach einem Moment, kurz und abgehackt. Bedächtig glitt sie auf den Stuhl und legte ihr Tablet auf dem Tisch ab. Seine roten Augen reflektierten das grelle Licht der Deckenlampe und seine Züge waren unleserlich. „Was willst du hier?“, wollte er schließlich wissen. „Hast du nichts Besseres zu tun?“ Sie hob die Schultern. „Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, wo der Fehler in deiner Programmierung liegt.“, erklärte sie. „Ich kann das nicht tun, wenn ich nicht direkt mit dir interagieren kann. Wenn ich nicht weiß, wie sich die Mängel auswirken und mir niemand das sagen kann, weiß ich auch nicht, wo ich anfangen muss zu suchen.“ Sie machte eine Bewegung zu ihrem Tablet hin, auf das sie seine gesamte Festplatte kopiert hatte. „Das ist ein ganzer Haufen Programme. Das ist, als würde ich eine Stecknadel in einem Haufen voll Stecknadeln suchen.“ Er legte den Kopf schief. „Und was willst du hier?“ Sie blinzelte verwirrt. Hatte sie ihm das nicht eben erklärt? „Warum hast du mich nicht einfach holen lassen?“ „Oh.“ Auf die Idee war sie gar nicht gekommen. Wer kam schon zu ihr, wenn sie fragte? „Das … ist nicht meine Art. Ich bin hier nicht wirklich ein großes Licht, weißt du? Ich bin nicht einmal eine Purus.“ „Und sie lassen dich trotzdem an mir arbeiten?“ Diesmal klang ihre Stimme stolz. „Ich bin nun mal die Beste auf diesem Gebiet.“ Und sie hatte dafür gearbeitet, bis ihr die Augen im Stehen zugefallen waren und sie von Zahlenkolonnen und Verdrahtung geträumt hatte. Redfox schien diese Erklärung zu akzeptieren ohne sie zu hinterfragen, denn er sagte nichts mehr, sondern lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust. Vermutlich lag es an ihr, das Gespräch am Laufen zu halten. Immerhin war sie es, die etwas wollte und sie konnte ihm nicht verdenken, dass er ihr mit Misstrauen gegenübertrat. „Also gut.“ Sie holte tief Luft. „Ich werde dir ein paar Fragen stellen und ich hoffe, du beantwortest sie alle wahrheitsgemäß. Ich werde das aufzeichnen, okay?“ Er senkte einmal den Kopf, aber die Geste schien eher eine Bestätigung ihrer Worte zu sein als eine Zustimmung. „Nicht okay?“ Diesmal zuckte er mit den Schultern und sie erkannte, dass das das Höchste war, das sie als Einverständnis bekam. Er sah sich nicht in der Position, ihr zu widersprechen. Vielleicht stimmte das auch. Vielleicht war tatsächlich sie die Bedrohung. Sie schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln und schaltete den Rekorder des Tablets an. Ihre Idee war eine Eingebung und sie hoffte, dass sie überhaupt etwas mit den Antworten anfangen konnte. Doch irgendwo musste sie beginnen. Erneut holte sie tief Luft und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Hoffentlich riss er ihr nicht den Kopf ab. Am besten, sie fing ganz vorne an. Zukünftige Soldaten wurden mit sieben ausgewählt, also- „Erinnerst du dich an deine Eltern?“ Etwas zuckte über sein Gesicht, ein schmerzlicher Ausdruck, der zu schnell wieder weg war, als dass sie ihn tatsächlich deuten konnte. Hatte er selbst bemerkt, dass er da gewesen war? Dann zuckte er mit den Schultern. „Bitte antworte verbal.“ Es dauerte einen Moment, dann kam er der Aufforderung nach. „Nur wenig. Meine Mutter.“ Als er weiter nichts sagte, machte Levy eine Geste. Und? Sonst nichts? „Sie roch immer nach Eisen, von ihrer Arbeit, und Lavendel.“ Das war ein seltsames Detail und er schien nicht mehr antworten zu wollen. „Und dein Vater?“ „Hab ich nie gekannt. Er war auf der Durchreise.“ Das war seltsam, aber er schien tatsächlich nicht mehr zu wissen. Nicht einmal, wie seltsam das tatsächlich war. Operarii verließen ihre Viertel niemals. Vielleicht war es ein Purus gewesen, auf der Suche nach etwas Spaß ohne Konsequenzen. „Aber er hieß Metalicana. Sagte sie.“ Damit meinte er wohl seine Mutter und das war ein seltsames, kleines Detail. Vielleicht sollte sie das Bürgerverzeichnis von Seven nach ihm absuchen. So viele Metalicana Redfoxes konnte es da draußen gar nicht geben. Falls dessen Nachname tatsächlich Redfox war. „An was erinnerst du dich noch an deine Zeit vor der Musterung?“ Er runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. „Jetzt bin ich dran.“ Überrascht blinzelte sie und fühlte, wie ein Lächeln ihren rechten Mundwinkel nach oben zog. Das war nicht das, was sie erwartet hatte, aber sie konnte damit arbeiten. „In Ordnung.“ „Sind deine Eltern wie du?“ „Was meinst du? Sie sind keine Programmierer, falls du davon sprichst.“ „Nein. Wie du – keine Pura, sondern…“ „Vitiosi.“, half sie ihm aus. „Fehlerhaft. Nein, sie sind beide Pura.“ Sie senkte den Blick und bemühte sich, ihre Stimme so gleichgültig wie möglich klingen zu lassen. „Vitiosi haben keine Kinder, wir werden in der Pubertät sterilisiert.“ Er nickte und beantwortete ihre Frage von vorhin: „Ich bin in die Schule gegangen und hatte ein paar Freunde. Wir haben immer in den Straßen gespielt.“ Er runzelte wieder die Stirn, diesmal jedoch um sich zu erinnern. „Es war meistens sehr staubig und über uns hingen Wäscheleinen. Manchmal bekamen wir einen Anschiss, wenn der Ball die sauberen Kleider getroffen hat.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die sie erst nach einem Moment als ein wehmütiges Lächeln identifizierte. Hatte er nicht nur seine Kindheitsfreunde vergessen, sondern auch, wie man lächelte? „Wir hatten diese langen Schläger, mit einer abgeknickten Schlagfläche und einen Ball, der in ein Ziel musste…“ Er zeigte mit den Händen, was er meinte. „Ihr habt Hockey gespielt?“, fragte sie belustigt, ungläubig beinahe. Sie selbst erinnerte sich daran, mit einem Schläger in der Hand einem Puck hinterherzujagen und zum gegnerischen Tor zu treiben. Natürlich nicht in der staubigen Straße, sondern einer anständigen Turnhalle in der Schule… Er zuckte mit den Schultern, vermutlich erinnerte er sich nicht mehr an den Namen. „Hassen dich deine Eltern, weil du nicht wie sie bist?“ „Nein.“ Ihre Geschwister auf der anderen Seite… Darüber wollte sie lieber nicht sprechen. „Meine Eltern lieben mich. Sie haben mich immer unterstützt.“ Sie runzelte die Stirn und suchte nach einer weiteren Frage. Sie könnte nach mehr Erinnerungen aus der Zeit vor der Ausbildung sprechen, aber das Thema schien ihm nicht zu gefallen. Also wandte sie sich einem anderen zu. „Die Akte erwähnt einen zweiten Cyborg, der gemeinsam mit dir diesen Elektroschock abgekriegt hat. Was ist aus ihm passiert?“ Sein Gesicht verlor von einem Moment auf den anderen den duldsamen Ausdruck und wirkte mit einem mal noch härter als vorher. Seine Haltung, die sich während des Gesprächs entspannt hatte, versteifte sich wieder. Die großen Hände ballten sich zu Fäusten und Levy schrumpfte in sich zusammen. Urplötzlich war aus ihm ein gefährliches Raubtier geworden, das sie innerhalb von sekundenschnelle umbringen konnte. Wer auch immer dieser zweite Cyborg war, er musste ihm etwas bedeutet haben. Plötzlich hatte sie Angst. Jetzt war eindeutig er die Bedrohung und sie erinnerte sich wieder daran, dass er ihren Arm mit einem einzigen Handgriff gebrochen hatte. Sie wich zurück und ihre Hände zitterten, als sie das Tablet hochnahm und den Rekorder ausschaltete. „Ich … werde jetzt gehen.“, informierte sie ihn mit bebender Stimme. „Wir sehen uns.“ Damit floh sie aus der Zelle. Sie konnte seinen Blick im Nacken spüren, bis sie die Treppe hinaufhetzte und aus seiner Sicht verschwand. ~~*~~✿~~*~~ „Diese Werte sind ein wenig hoch, aber nichts Besorgniserregendes.“, erklärte Bisca und zeigte mit dem Finger auf eine Tabelle. „Hier und hier, ich werde veranlassen, dass sie seine Ernährung umstellen.“ Levy hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Die andere Hälfte lag auf ihrem Bildschirm, über den Zahlenkolonnen huschten. Ihrem Scanprogramm war bis jetzt nichts Seltsames aufgefallen. „Und diese Diagramme?“, erkundigt sie sich und wies auf die Graphen unter den relevanten Daten. Sie wirkten ungleich komplizierter. „Oh. Das hat nichts mit unserem eigentlichen Auftrag zu tun. Aber sie haben mir gestern gesagt, dass ich ihn upgraden soll. Ein paar neue Reflexbooster, eine Verstärkung der Knochen und vor allem neue Augenimplantate. Das sind die ersten Werte dafür. Michello ließ durchblicken, dass das eine beinahe ebenso große Priorität hat wie die Lösung des Codeproblems.“ „Sie gehen also davon aus, dass wir das hinkriegen?“, wollte Levy erstaunt wissen. Na danke, als ob sie noch mehr Druck brauchen könnte! Nervös rieb sie sich die Hände. Wenigstens hatte man ihr vor zwei Tagen die Schienen abgenommen und sie wieder für gesund erklärt. Ihr linker Arm war noch etwas schwach, aber sie konnte ihn wieder vollständig bewegen. Bisca warf einen Blick über die Schulter und sah sich kurz um. Jet und Droy standen an einem anderen Bildschirm und diskutierten leise über Kämpfe in der Nähe der Stadt Sigma und … Widerstandkämpfer? Was? Sie achteten dabei nicht auf die beiden Frauen, trotzdem senkte die Cyberärztin ihre Stimme: „Michello deutete auch an, dass, falls wir es nicht hinkriegen, sein ganzes System gelöscht und dann neu gebootet wird.“ Entsetzt starrte Levy sie an, alle anderen Gedanken weggefegt. Inzwischen wusste sie genau, dass eine solche Handlung nicht nur Redfox‘ Codes, ob nun fehlerhaft oder nicht, entfernen würde. Sie würde ihm ebenfalls alle Erinnerungen, das Training, das Erlebte nehmen und dann würden sie neue Codes aufspielen, die seine Persönlichkeit unterdrückten und ihn wieder zu einer Maschine machten. Es würde einem Mord gleichkommen. Außerdem würde es Jahre dauern, bis er wieder auf dem Stand war, in dem er einsatzfähig war. Darum war diese Lösung die allerletzte Option, auf die man zurückgreifen würde. Allerdings schienen die Obersten einverstanden damit zu sein, dass sie eingesetzt wurde, wenn es sein musste. Levy blickte zur Seite und starrte auf ihre Codekolonnen. Dann lag es wohl an ihr. Redfox war inzwischen über zwei Wochen in ihrer Einrichtung und sie waren noch kein Stück weiter. Kommandantin Mikazuchi und ihre Truppe war vor drei Tagen wieder abgereist, wobei Sergeant Fernandez und sein Untergebener wie versprochen zurückgeblieben waren und noch immer das Kommando über die Wachen des Cyborg hatte. Levy hatte inzwischen ein viel tieferes Verständnis für die Komplexität der Codes, mit denen sie arbeitete, einen Überblick über die vielschichtige Struktur des Betriebssystems, das ihn funktionieren ließ, und den wahnsinnigen Aufwand, der hinter einem Cyborg steckte. Sie hatte sich nicht getraut, Redfox noch einmal direkt gegenüberzusitzen und Fragen zu stellen. Allerdings hieß das nicht, dass sie es nicht noch einmal tun wollte. Sie hatte bis jetzt nur keine Idee, wie sie sich ihm noch einmal nähern konnte, ohne dass er ihr sofort feindselig gegenüberstand. Vielleicht sollte sie sich einfach entschuldigen, vielleicht war das ein Begriff, den er sogar verstand. Aber bis jetzt war sie ein zu großer Feigling gewesen, dies zu wagen. Doch Biscas Worte zeigten ihr, dass sie keine Zeit zum Trödeln hatte und die Obersten irgendwann ungeduldig werden würden. Und dann wäre es zu spät. Sie schluckte und wechselte das Thema. „Was isst er?“ „Huh?“ Die Ärztin blickte verwirrt von ihren Diagrammen auf. „Oh… Auf der Basis werden Cyborgs intravenös ernährt.“, erklärte sie und ihr Gesicht war undurchdringlich. Levy dagegen öffnete entsetzt den Mund, doch ihr fiel nichts ein, was sie darauf sagen konnte. Objektiv gesehen machte das sogar Sinn, aber… „Auf Missionen bekommen sie spezielle Rationen, die in Riegel gepresst werden und alle erforderlichen Nährwerte enthalten. Hier bei uns auch.“, erklärte Bisca und tippte sich nachdenklich mit dem Stift gegen die Lippen. „Ich frage mich…“ Damit beugte sie sich über ihr Tablet und tippte in rasender Geschwindigkeit darauf herum. Währenddessen erklärte sie abwesend: „Während des Trainings bekommen sie zuerst normale Nahrung, wie alle anderen Soldaten, die langsam umgestellt wird. Lass mich das kurz mal berechnen… Und ich denke wir brauchen eine leichte Suppe…“ „Für was das?“, fragte Levy, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel. „Nun, etwas anderes wird er aufs erste nicht bei sich behalten können.“, erklärte die Cyberärztin. „Es wird eine Zeit dauern, bis er sich an festes Essen gewöhnt… Jemand muss die Suppe zu ihm bringen.“ „Ich mache das.“, erklärte Levy rasch. Zu rasch, wie Biscas Blick ihr zeigte. Aber jetzt war es zu spät, die Worte zurückzunehmen und sie wollte es wirklich tun. Vielleicht bot ihr das auch eine Gelegenheit, noch einmal mit Redfox zu sprechen. Doch die Ärztin sagte nichts darüber, sondern nickte nur. „Tu das. Falls jemand fragen sollte, sag ihnen, ich hätte es angeordnet, weil ich denke, dass sein Körper vielleicht negativ auf die Nahrung reagiert.“ Levy runzelte die Stirn. „Kann das sein?“ „Natürlich. Und die Akte sagt nichts darüber aus, dass das schon versucht wurde. Wir müssen es mit jedem Strohhalm versuchen, den wir erwischen können, und warum nicht auch diesem?“ Die Programmiererin nickte. Sie bezweifelte zwar, dass das der Grund für die Fehlfunktionen war und dieser in den Codes zu finden war, aber sie würde der Ärztin sicher nicht widersprechen, wenn dies bedeutete, dass Redfox etwas humaner behandelt wurde. Mehr wie ein Mensch, anstatt einer Maschine. Sie beugte sich über ihr Tablet und bestellte eine Suppe in der Kantine. Eine Stunde später machte sie sich mit dem selbstbetriebenen Servierwagen auf den Weg zu den Zellen. Erneut reagierten die Soldaten an der Tür kaum, als sie vorbeikam, doch Fernandez nickte ihr zu, als er ihr die Tür öffnete. Levy erwiderte die Geste nervös, von einem Fuß auf den anderen tretend, während sie auf den Fahrstuhl wartete. Gleich würde sie erneut dem Cyborg gegenüberstehen, der bei ihrem letzten Besuch ausgesehen hatte, als würde er ihr am liebsten den Kopf abreißen. Seitdem hatte sie ihn nicht gesehen und auch Bisca hatte sich mit ihm persönlich nur drei oder viermal beschäftigt, um ihre Daten zu sammeln, aber ansonsten störte ihn niemand. Seine Zelle hatte sich nicht verändert und diesmal saß er erneut auf die Pritsche und starrte an die Wand. Er reagierte nicht, als sie näher kam, und sein Gesicht wirkte irgendwie … leer. Sie fragte sich, was wohl passiert war, während sie vor die Glasscheibe trat. Doch noch immer kam keine Reaktion von ihm. Sie räusperte sich. „Ähm…Soldat Redfox.“, begann sie zögerlich und endlich wandte er ihr den bohrenden Blick aus kalten, roten Augen zu. Dann wechselte sein Blick von steinern und abweisend zu verwirrt, als er des Servierwagens gewahr wurde, der neben ihr hergerollt kam. „Was soll das?“, wollte er dann wissen und Misstrauen schwang in seiner Stimme mit. Levy fummelte nervös mit ihrer ID-Karte herum. „Dr. Connell denkt, dass deine Ernährung vielleicht etwas damit zu tun hat.“, erklärte sie. „Darum wird deine Nahrung umgestellt. Das ist Suppe. Du sollst dich langsam an echte Nahrung gewöhnen.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und wirkte noch finsterer als je zuvor. „Soll das ein Witz sein?“ Sie schluckte und schüttelte dann hastig den Kopf. „Nein… Ich bringe es jetzt zu dir herein, okay? Bitte bring mich nicht um.“ Er schnaubte, aber er rührte sich nicht, als sie die ID-Karte durch den Scanner zog und dann die Türen öffnete, damit der Servierwagen hineinrollen konnte. Sie dirigierte ihn zum Tisch und nahm dann das Tablett darauf auf, um es auf der Tischplatte abzustellen. „Hier…“ Doch er rührte sich nicht und sie wusste, wann sie unerwünscht war. „Ich… ich lasse dich jetzt allein.“, erklärte sie ihm darum. „Ich komme später noch einmal vorbei und … hole das wieder ab.“ Sie ging zur Tür zurück und der Wagen folgte ihr und glitt dann an ihr vorbei nach draußen. Doch sie drehte sich noch einmal um und blickte zu Redfox zurück. „Es tut mir leid, dass ich dich mit meiner Frage letztes Mal aufgewühlt habe. Ich … ich hoffe, dass wir noch einmal ein solches Gespräch führen können. Ich verspreche auch, dass ich dieses Thema nicht erneut anschneiden werde. Wenn das okay ist für dich?“ Er starrte sie aus harten Augen an, dann grunzte er kurz, aber sie nahm es trotzdem als Zustimmung. Also schenkte sie ihm ein kleines Lächeln und verließ die Zelle, um erstmal in ihr Büro zurückzukehren. Allerdings freute sie sich auf die nächste Gelegenheit für ein Gespräch. ~~*~~✿~~*~~ Es war ruhig im Raum, nur das Klackern der Tastatur unterbrach die Stille, wann immer Levy etwas in ihren Computer eingab. Die Atmosphäre im Raum war friedlich und entspannt und sie hatte sich schon lange nicht mehr so … zufrieden gefühlt, nicht einmal bei ihrer Arbeit. Eigentlich nicht mehr, seit sie den Job gewechselt und hier her gekommen war. Erst jetzt, da alle Anspannung von ihr abfiel, bemerkte sie, wie sehr die Veränderung sie tatsächlich aufgeregt hatte. Aber irgendwie war all dieser Stress während der letzten Stunden einfach aus ihr herausgeflossen. Jet und Droy waren schon längst nach Hause gegangen und Bisca hatte sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Die Cyberärztin arbeitete an den neuen Augen für Redfox. Dafür war Scarlet am Morgen vorbeigekommen und hatte sich nach Fortschritten erkundigt. Das war eine Erfahrung gewesen, die Levy nicht so bald wiederholen wollte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass solche Besuche in Zukunft noch öfter auf sie zukommen würden. Der Cyborg selbst saß auf dem Untersuchungsstuhl, doch Levy hatte sich nicht darum bemüht, die Fesseln anzulegen. Sie hatte schon lange keine Angst mehr davor, dass er sie anfallen könnte. Momentan wirkte er zudem völlig fasziniert von einem Kinderspielzeug, das Levy für Biscas Tochter reparieren hatte – ein Wirbel aus Edelstahl, der aus mehreren dünnen, flachen Stangen bestand, die wirkten, als kräuselten sie sich, wenn man sie in Bewegung setzte und um die Achse in der Mitte drehte. Es war … seltsam niedlich. Liebenswert, würde sie es bezeichnen, und so ganz im Gegensatz zu allen anderen Interaktionen, die sie bis jetzt mit ihm gehabt hatte. „Das gehört Asuka.“, erklärte sie ihm, während sie ein paar Zahlen auf ihren Schreibblock schrieb. Die meisten Leute benutzten kein Papier mehr, aber Levy hatte schon immer eine mehr oder weniger geheime Liebe für alte, gedruckte Bücher gehabt und echte Stifte, mit denen sie auf echten Blöcken herumschreiben konnte. Das machte ihre Arbeit irgendwie handfester. „Du kannst das nicht mitnehmen.“ Als sie von ihrer Arbeit aufblickte, waren die roten Augen starr auf sie gerichtet. Sein Gesichtsausdruck wirkte so enttäuscht, dass sie beinahe lachte. Aber sie beherrschte sich – er würde so eine Geste sicher nicht begrüßen. Außerdem war dieser Gedanke auch eher traurig. Was für ein Leben hatte er bis jetzt gehabt, dass so ein dummer Metallwirbel ihn derartig beeindruckte? Sie hatte versucht, etwas drüber herauszubekommen, wie Cyborgs lebten, doch die Aufzeichnungen waren verdächtig verschwiegen und einsilbig. Sowieso gab es nur sehr wenig Literatur über Cyborgs in jeglicher Form. Mindestens 8o Prozent davon war für die breite Öffentlichkeit nicht zugänglich und Levy konnte sie nur einsehen, weil sie in einer militärischen Einrichtung lebte. „Warum?“ Redfox‘ Stimme riss sie aus den müßigen Gedanken und sie blinzelte überrascht. Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, geschweige denn mit einer solchen Frage. „Weil es Asuka gehört.“, wiederholte sie. „Sie möchte es zurückhaben.“ Redfox runzelte die Stirn. „Wer ist Asuka? Warum hast du es, wenn es ihr gehört?“ „Es war kaputt und ich habe es repariert.“ Sie stand auf, um zu ihm hinüberzugehen und setzte sich auf den Hocker, der neben ihm stand. „Du kannst nicht einfach nehmen, was jemand anderem gehört. Du würdest ja auch nicht wollen, dass dir jemand etwas wegnimmt, oder?“ Redfox nickte langsam – war das seine erste Lektion über Diebstahl? Sie erinnerte sich daran, was er ihr über seine Mutter erzählt hatte. Trotzdem… Er war als normaler Junge aufgewachsen, ehe er bei der Musterung ausgewählt worden war. Selbst Operarikinder wurden nach moralischen Grundsätzen aufgezogen und niemand brachte seinem Kind bei, dass Diebstahl in Ordnung war. Er schien sich daran zu erinnern, denn er nickte wieder, langsam und bedächtig. Trotzdem sah er nicht so aus, als würde die Idee ihm gefallen. Levy ließ das Thema fallen. Sie würde später daran denken müssen, darauf zu achten, ob der Wirbel noch da war und er nicht versuchte, ihn zurück in seine Zelle zu schmuggeln. „Ich habe aber etwas für dich mitgebracht.“, erklärte sie ihm, als ihr plötzlich noch etwas einfiel. Das brachte ihr seine volle Aufmerksamkeit ein und er wirkte plötzlich sehr interessiert. „Oder für uns.“, schränkte sie ein. Sie nahm ihm das Mobile aus der Hand und legte es auf ihren Arbeitstisch, ehe sie in der Schulbade herumwühlte. Kurz darauf fand sie, was sie suchte. „Aha!“, rief sie aus und hielt triumphierend zwei Schokoriegel in die Höhe. „Hier.“, sie reichte ihm einen davon und er nahm ihn mit gerunzelter Stirn entgegen. „Das wird dir schmecken.“ Sie riss das Papier ihres eigenen auf. Inzwischen war er gut an normale Nahrung gewöhnt, weswegen sie keine Sorgen darum machte, dass die Süßigkeit ihm vielleicht nicht bekommen würde. Nachtisch hatte man ihm jedoch noch nie gebracht – eher das generische Essen, das es in der Kantine gab, meistens fade und geschmacklos, oft genug ein undefinierbares Gemisch oder eine gräulich-braune Pampe, die nicht sehr appetitlich war. Redfox jedoch schlang es in sich hinein, als wäre es ein Gourmetmenü. Vielleicht kam das daher, dass er ansonsten nur hin und wieder etwas aß, etwas, das sie sich nicht einmal vorstellen konnte oder auch nur wollte. Sie hatte ihm allerdings zeigen müssen, wie man sich die Zähne putzte. Zum Glück erinnerte er sich daran, wie das mit dem Klo funktionierte; ansonsten wäre das sehr peinlich geworden. Aber selbst Cyborgs bekamen normales Essen, bis sie etwa sechzehn waren und das war noch gar nicht so lange her. Zumindest behauptete das Bisca und wenn es jemand wusste, dann war es sie. Trotzdem hatte Levy sich etwas unwohl gefühlt, als sie am Morgen am Kiosk vorbeigegangen war, um sich die Schokoriegel zu holen. Redfox an Essen zu gewöhnen war eine Sache – ihm Luxusartikel wie Süßigkeiten zu geben eine ganz andere. Sie sollte ihn reparieren, ihm seine Menschlichkeit nehmen und ihn wieder zu der Maschine machen, die er vorher gewesen war. Nicht alles schlimmer machen. Vielleicht sollte sie seine Gehirnwellen messen oder so etwas, um zumindest eine Ausrede zu haben, falls jemand sie danach fragen würde. Das war der Plan gewesen, als sie mit den Riegeln zur Kasse gegangen war. Doch jetzt war es schon so spät und sie hatte keine Lust auf die Mühe… Vielleicht würde es auch einfach niemand mitkriegen. Sie hoffte es jedenfalls. Jeder verdiente mindestens einmal Schokolade in seinem Leben. Der Ausdruck von glückseligem Erstaunen auf seinem Gesicht, als er den ersten Bissen nahm, allerdings sagte ihr, dass sie zumindest nichts bereuen würde. ~~*~~✿~~*~~ Die Maschinen piepsten laut und stetig, ein hoher, durchdringender Ton, der ihr durch Mark und Bein fuhr. „Was ist das?“, wollte Levy bereits halb panisch wissen. Warum taten sie das? Sie sollten das nicht tun! „Jet, schau dir das Interface an!“ Wo hatte sie falsche Berechnungen angestellt? Eigentlich sollte alles glatt laufen. Hastig tippte sie auf ihrem Tablett herum, während ihr Assistent durch den Raum stürzte und ihrem Befehl nachging. „Droy, hast du etwas bemerkt?“, wandte sie sich an den anderen Assistenten, der schon den ganzen Morgen angestrengt auf sieben verschiedene Bildschirme starrte und versuchte, alle laufenden Programme gleichzeitig im Blick zu behalten. Das war natürlich ein unmögliches Unterfangen. Doch Levy hatte eingeschränkt, was sie nur konnte, und einzig das aufgerufen, was sie als relevant erachtete. So komplex war die Struktur eines Cyborgs. Hatte sie zu viel missachtet? Nervös ließ sie die Bilder, Buchstaben, Zahlen und Diagramme über ihren eigenen Bildschirm huschen, doch sie entdeckte nichts. Der Einzige, den die aufgewühlte Stimmung anscheinend nichts anging, war Redfox, der zurückgelehnt in seinem Stuhl saß und gelangweilt aussah. Dabei war er es, um den es hier ging, seine Programme, sein System – sein Hirn, sozusagen. „Hier, ich hab was!“, rief Jet plötzlich aus und Levy stützte zu ihm. „Da, siehst du?“ Er deutete auf einen Code in einem Gewirr von weiteren Zahlen und Buchstaben und sie erkannte rasch, worum es sich handelte. Das Scanprogramm, mit dem er arbeitete, hatte sie selbst geschrieben und sollte jede noch so kleine Unregelmäßigkeit in den Codes erkennen. „Ist das ein Virus?“, wollte sie ungläubig wissen. „Redfox, hast du dich mit einem Virus infiziert?“ Wie hatte er das denn geschafft? Cyborgs wurden regelmäßig gewartet, sie hatten natürlich eine eigene Abwehr gegen solche Angriffe und außerdem war es eher unwahrscheinlich, dass er sich mit einem Computersystem verband, das nicht für ihn authentifiziert war. Konnte darauf…? Nein. Es gab keinen Server, der besser geschützt war als jener, der für die Wartung der Cyborgs zuständig war, nicht einmal der des Hierophanten selbst. Sie warf einen Blick über die Schulter zu Redfox hinüber, der ihn aus roten Augen ungerührt erwiderte und antwortete: „Cyborgs werden nicht krank.“ „Ein Computervirus.“, stellte sie klar und wandte sich wieder ab. Es war deutlich, dass er nichts wusste. „Isolieren, aber nicht löschen.“, wies sie Jet an. Vielleicht war es doch kein Virus? „Schick mir eine Kopie.“ Einen Moment später verstummte das Piepsen und sie atmeten erleichtert auf. Das verdächtige Programm musste der Grund gewesen sein. „Also gut…“, murmelte Levy und warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb Zwei und keiner von ihnen hatte zu Mittag gegessen. „Krise fürs Erste überwunden. Lasst uns Pause machen.“ Jet und Droy traten zögerlich von ihren Plätzen zurück und bewegten sich langsam auf die Tür zu. Meistens war Redfox zu diesem Zeitpunkt in seiner Zelle, doch hin und wieder arbeiteten sie den ganzen Tag mit ihm zusammen. Inzwischen machte Levy sich nicht mehr die Mühe, ihn wieder zurückzubringen, nur um ihn nach einer Stunde wieder zu holen. Ihre Assistenten jedoch sahen das nicht gerne und sie trauten dem Cyborg nicht, schon gar nicht mit ihrer Sicherheit. Selbst Bisca hielt das für keine gute Idee, aber Levy wusste, dass er ihr nichts tun würde. Das tat er auch nicht, wenn sie Abend für Abend in seiner Zelle saß, mit ihm sprach, Karten spielte oder ihm Schach beibrachte. Hin und wieder las sie ihm sogar vor, aus ihren wissenschaftlichen Zeitschriften oder aus einem ihrer Lieblingsbücher. Was Redfox selbst davon hielt, konnte sie allerdings nicht sagen. Er gab ihr zwar jedes Mal seine Erlaubnis, ihm Gesellschaft leisten zu dürfen, aber vielleicht dachte er, dass er bestraft werden würde, wenn er dies nicht tat. Sein Gesichtsausdruck blieb meistens gleichgültig und wie in Stein geschlagen. Einen Gefühlsausbruch wie bei ihrem ersten Gespräch hatte es nicht wieder gegeben – doch sie hatte auch nicht mehr nach dem anderen Cyborg gefragt, der ihm offensichtlich viel bedeutete. Genug, dass es sogar die Programmierung gebrochen hatte. Vielleicht lag dort der Schlüssel für ihr Problem. Aber wie sollte sie danach fragen, ohne ihr Versprechen zu brechen, genau das nicht zu tun? „Bringt uns ein paar Sandwiches vorbei, ehe ihr esst, wäre das möglich?“, fragte sie ihre Assistenten, gerade als Jet den Mund öffnen wollte. Vermutlich wäre es ein Protest, dass sie alleine mit dem Cyborg hier blieb. Die beiden wechselten einen Blick. „Ich muss hier noch ein paar Sachen beenden.“, erklärte sie ihnen, was nur die halbe Wahrheit war. Aber sie genoss Redfox‘ Gesellschaft. Sie nahm ihr Haarband ab, um ihre Frisur zu richten, und tat, als würde sie die Ablehnung auf ihren Gesichtern nicht sehen. Der Breitere der beiden seufzte. „Also gut.“ Während sie darauf wartete, dass ihre Mahlzeit gebracht wurde, beschäftigte sie sich mit ein paar nebensächlichen Dingen. Doch sobald Jet wieder aus der Tür verschwunden war, schob sie einen der niedrigen Metallwagen sowie ihren Hocker neben Redfox‘ Stuhl und ließ sich darauf nieder. Die Sandwiches wirkten sehr generisch, doch sie sah das Grün von Salat und Gurkenscheiben sowie rote Tomaten zwischen den labbrigen Brotscheiben hervorblitzen. Jedes Mal, wenn sie etwas dergleichen sah, sehnte sie sich wieder in ihre alte Firma zurück, die hochklassiges Kantinenessen geliefert bekommen hatten. Redfox wartete gar nicht darauf, bis sie es sich bequem gemacht hatte, sondern langte sofort zu. Aber dass es mit seinen Manieren nicht weit her war, wusste sie ja. Sie griff sich ein eigenes Sandwich und biss hinein. Wenigstens schmeckte es nicht so schlimm, wie es aussah. Obwohl sie natürlich nicht an ein selbstgemachtes Vesper heranreichen würden. „Bist du gar nicht beunruhigt?“, wollte sie wissen, nachdem sie den Bissen heruntergeschluckt hatte. „Über was?“, wollte der Cyborg mit vollem Mund wissen und verlor dabei ein paar Krümel. Levy verbiss sich eine scharfe Bemerkung – das war zwar nicht sehr appetitlich, aber tatsächlich würde sie eher mit einer anderen Lektion beginnen als mit Tischetikette. „Wegen dem Virus. Und…“ Sie machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste, und hoffte, dass er sie verstand. „Nein.“ Sie kaute ihr Sandwich und fragte sich, ob sie noch einmal nachhaken wollte. Oft genug musste sie ihrem Gegenüber jede Kleinigkeit aus der Nase ziehen. Aber er überraschte sie, indem er weitersprach: „Du wirst dich darum kümmern, McGarden.“ Das … schmeichelte ihr. Trotzdem war sie nicht sicher, ob sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. Was, wenn sie es nicht schaffte? Dann würden sie ein komplettes Reboot durchführen. Oder besser, Levy selbst würde es wahrscheinlich tun müssen. Aber das wollte sie ihm nicht sagen. Stattdessen nahm sie lieber einen weiteren Bissen und schwieg. „Warum nennst du mich so?“ Überrascht blickte sie auf – nicht nur, dass er eine Frage von sich aus gestellt hatte, sondern auch über ihren Inhalt. „Wie?“ „Redfox.“ „Deine Akte sagt, das ist dein Name.“, antwortete sie mit einem Stirnrunzeln. Wurde er nicht so genannt? Wie unterschieden seine Handler ihn von den anderen Cyborgs, wenn nicht mit seinem Namen? „Ich weiß. Aber wir haben keine Namen mehr, nachdem wir für das Cyborgprogramm ausgewählt wurden.“ „Oh.“, machte sie. „Das wusste ich nicht.“ Sie runzelte die Stirn. „Wie nennt man euch dann?“ „Wir bekommen Nummern.“, erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ich bin PL-347.“ Vage erinnerte Levy sich daran, diese Nummer bereits vorher gesehen zu haben – in Redfox‘ Akte, Bisca hatte ihn am Anfang genutzt, ehe sie wie alle anderen einfach zu ‚Cyborg‘ gewechselt war, Kommandantin Mikazuchi und ihre Leute natürlich… Aber wirklich hatte Levy nie realisiert, wie … wie entmenschlichend es war. Namen waren etwas wichtiges, eng verknüpft mit der Person selbst und wie konnte sich jemand definieren, der noch nicht einmal einen Namen hatte?! Sondern nur eine Nummer, eine Seriennummer, wie eine echte Maschine und kein Mensch. „Stört es dich?“, platzte es aus ihr heraus und sie wusste nicht einmal selbst genau, was sie damit meinte. Störte es ihn, dass sie ihn Redfox nannte? Störte es ihn, dass sie ihm den Namen und die Identität genommen hatten? Störte es ihn, nur eine Nummer zu haben, generisch, austauschbar? Aber der Cyborg schien keine solchen moralischen Probleme zu haben, denn er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und schien sein Essen viel interessanter zu finden als das Gespräch. „Nein.“ Dann: „Gajeel.“ „Was?“ „Das ist mein Name. Gajeel Redfox.“ In seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton, den er vermutlich selbst nicht einmal bemerkte, doch sie konnte ihn nicht genau zuordnen – ängstlich, sehnsüchtig, erwartungsvoll, hoffend? Sie runzelte leicht die Stirn und fragte vorsichtig: „Du willst, dass ich dich Gajeel nenne?“ Er nickte kurz und abgehakt und stopfte sich den Rest des Sandwiches in den Mund, so dass er beim besten Willen nicht mehr antworten konnte, selbst wenn er es versuchen würde. „Okay. Gajeel.“ Dann lächelte sie verschmitzt. „Aber nur, wenn du mich Levy nennst.“ ~~*~~✿~~*~~ Ihre Schritte hallten in dem langen Gang wieder, dessen kahle Wände von den grellen Deckenlampen beleuchtet wurden. Farbige Linien auf dem Boden führten in bestimmte Flügel der Einrichtung – weiß für die Krankenzimmer, schwarz die Führungsetage, rot die Trainingsgelände und so weiter. Blau war die Farbe der Werkstätten, in denen sich Levy Büro befand. Oh Gott, war es jetzt schon so weit gekommen, dass sie sich auf die Wegweiser konzentrierte, nur um nicht zuhören zu müssen? Den Blick angestrengt auf den Boden gerichtet und sich weit wegwünschend, konnte sie fast nur die in teuren Halbschuhen steckenden Füße ihres Begleiters sehen. Dazu trug er eine Jeans, die Art, wie sie gerade modern war, aber sie blickte nicht auf, um ihn nicht auch noch zu ermutigen. Nicht mehr lange und sie hatte die heilige Sicherheit ihres Büros erreicht, in der ihre Computer auf sie warteten, ihre geliebten Codes und nicht zuletzt auch Gajeel. Vielleicht wären sogar Jet und Droy da und sie würden Warren freundlich, aber bestimmt, wieder in den Flur hinauskomplimentieren. Immerhin hatten sie eine besondere Arbeit zu tun und das wusste jeder hier. Oder vielleicht hatte sie ausnahmsweise mal Glück und Scarlet hatte den Zeitpunkt gerade jetzt gewählt, um sich nach dem Fortschritt des Projekts zu erkundigen. Die Anwesenheit eines Cyborgs, der rund um die Uhr bewacht wurde und zwischen seiner Zelle und Levys Werkstatt hin und her pendelte, war einfach nicht zu leugnen. Jeder wusste, dass Bisca und Levy an ihm arbeiteten. Niemand wusste, dass es sich bei dieser Arbeit um einen Defekt handelte, den sie beheben sollten. „Hast du schon gehört, dass sie Jupiterraketen hier lagern wollen?“ Das brachte ihm ihre Aufmerksamkeit ein. „Huh?“, fragte sie verdutzt. Jupiterraketen waren die mächtigsten Bomben, die Seven in seinem Arsenal hatte. Wollte der Hierophant eine Stadt dem Erdboden gleichgemacht anstatt erobert haben, dann waren es sie, die abgeschossen wurden. Die Jupiter waren im Vergleich zu normalen Raketen das, was die Cyborgs für einfache Soldaten waren. „Im Ernst?“ Er nickte. „Sie bringen auch noch andere Waffen heran und beginnen schon damit, die Einheit hier zu verstärken. Verdoppeln wollen sie sie, habe ich gehört.“ Dabei fuhr er sich durch das kurze Haar und richtete sich gerader auf. Sie wusste inzwischen genau, was er von ihr wollte, und sie hatte kein Interesse daran, es ihm zu geben. Warren hatte einen gewissen Ruf weg unter den Vitiosi in der Einrichtung, vor allem den Frauen, die er langsam ‚durcharbeitete‘. Dass das nirgendwohin führen würde, wussten sie alle, trotzdem hörte er nicht auf und die meisten der Frauen, die sein Interesse auf sich zogen, hatten auch kein Problem damit. Für sie konnte es nur Vorteile haben, wenn ein Purus seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Aber Levy hatte kein Interesse daran und gehofft, durch ihre unscheinbare Statur seinem Blick zu entgehen. Das hatte so lange funktioniert, bis es das nun mal nicht mehr tat. Und jetzt war sie hier und fragte sich, warum er alle ihre Hints, dass sie kein Interesse hatte, ignorierte. Vielleicht sah er sie einfach nicht. Vielleicht war sie zu subtil. Oder vielleicht ignorierte er sie einfach nur oder glaubte, sie würde ‚schwer zu haben‘ spielen. Aber wie sollte sie ihm klar und deutlich ‚Nein‘ sagen, ohne dass er es in den falschen Hals bekam? Er war immer noch ein Purus und stand damit im Rang so weit über ihr, dass sie ihm nur zuwinken konnte. Es sei denn natürlich, er ließ sich dazu herab, sie mit seiner Aufmerksamkeit zu beehren. Aber sie wollte es einfach nicht und sie wusste nicht, wie sie das in seinen Schädel bekommen konnte. Im Moment stand ihr einfach der Sinn nach etwas anderem, etwas, das sie niemals haben konnte – einer echten Partnerschaft. Aber Levy war eine Vitiosa. Sie durfte nicht heiraten. Sie war steril und konnte keine Kinder bekommen. Sie sollte ganz ihrer Arbeit verschrieben sein. Letzten Endes war sie nicht das Happy End eines Purus, ganz egal, wie sehr dieser Purus sich um sie bemühte und sich selbst belog. Es war nicht einmal so, dass Warren ihr viel geben konnte, dass er ihren Stand verbessern oder ihr einen neuen, tolleren Job besorgen konnte. Sie war an einer Stelle, an der es für sie nicht weiter nach oben ging und sie hatte es ganz allein dahin geschafft. Das einzige, was sie aus einer solchen Beziehung ziehen konnte, war Sex ohne Bindungen, ohne Konsequenzen, und so angenehm der auch sein konnte, im Moment stand ihr einfach nicht der Sinn danach. Sie sehnte sich nach mehr, nach Intimität auf mehr als nur der körperlichen Ebene und Zweisamkeit und Vertrauen, das so tief ging, dass sie es in der Seele spüren konnte. Und wenn ihre Gedanken dabei manchmal abschweiften zu einem harten Profil, einer langen, schwarzen Mähne und glühend roten Augen, dann brauchte das niemand zu wissen. Sie wusste selbst, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Undenkbar gar. Vermutlich würde man sie als pervers bezeichnen, wenn jemand das wüsste. Vermutlich gab es eine Untergrundbewegung, deren Mitglieder davon träumten, mit Cyborgs Sex zu haben, eine Anomalie, über die man nur in gleichgesinnten Kreisen sprach. Hatten Cyborgs überhaupt Sex? Aber ihr ging es nicht um ‚einen Cyborg‘. Ihr ging es um Gajeel. In Gedanken versunken wäre sie beinahe an ihrem Büro vorbeigelaufen. Warren war es, der sie aufhielt, indem er sie an der Schulter griff. „Wo willst du hin?“, wollte er belustigt wissen. „Oh… Äh… Ich war etwas in Gedanken. Danke. Ich denke, wir sehen uns dann…“ Ihre Worte verstummten, als er die Tür für sie öffnete und hinter ihr in die Werkstatt trat. Der große Raum war beleuchtet, er war sogar beinahe aufgeräumt und über ihre Bildschirme flimmerten Codes und die Aktivitäten ihrer Scanner. Natürlich war Scarlet nicht da. Von Jet und Droy war ebenfalls nichts zu sehen. Verdammt! Gajeel saß allerdings auf seinem Stuhl und spielte mit Asukas Wirbel, den sie immer noch nicht zurückgegeben hatte. Er sah auf, als sie eintraten, und sein Blick glitt über sie hinweg, um sich auf Warren zu heften. Der starrte zurück, offene Faszination und Bewunderung im Gesicht, wie wenn man ein neues Auto ansah. Vielleicht war Warren gar nicht hinter ihr her, sondern wollte nur einen Blick auf den Cyborg werfen, über den alle sprachen und den doch nur eine Handvoll Leute zu Gesicht bekommen hatte? Das wäre natürlich Glück für sie… Gajeel rührte sich nicht, und Warren tat nichts Dummes, wie zu ihm zu gehen und ihn zu berühren. Stattdessen wandte er sich wieder ihr zu und sagte: „So… was ich eigentlich fragen wollte… Du, ich, eine gute Flasche Wein… Ich kenne dieses tolle Restaurant, das macht das leckerste Essen und sie liefern auch. Was sagst du?“ Sie konnte sich gut vorstellen, warum er einen Lieferdienst bestellen wollte, anstatt sie auszuführen und das hatte nichts mit ihrem Stand als Vitiosa zu tun und wie das für andere Pura aussehen würde… Mit Mühe unterdrückte sie ein Schauern und ging mit festen Schritten zu ihrem Schreibtisch hinüber, um das Tablet und ihren Block abzulegen, die sie mit sich herumgetragen hatte. „Also… Ich stecke hier echt bis zum Hals in Arbeit.“, erklärte sie ihm. „Momentan komme ich spät nach Hause, ess‘ kurz was und falle gleich ins Bett. Wenn ich überhaupt nach Hause gehe.“ Das war die Wahrheit. Die Couch in der Ecke der Werkstatt sah in letzter Zeit sehr viel Benutzung. Aber wie konnte sie nach Hause gehen, wenn sie stattdessen bis tief in die Nacht mit Gajeel sprechen konnte? „Ich glaube nicht, dass das so bald nachlässt.“ Sie machte eine leichte Bewegung zu ihrem ‚Arbeitsobjekt‘ hinüber, der die Szene mit schiefgelegtem Kopf beobachtete, die Brauen zusammengezogen. Wenn Warren das nicht verstand, war ihm auch nicht zu helfen. Sie schwenkte hier keinen Zaunpfahl mehr in seine Richtung, sondern gleich einen kompletten Zaun! Doch anscheinend hatte Warren beschlossen, dass er ein so vages Nein nicht akzeptieren würde, denn er folgte ihr nach und rückte ihr so auf die Pelle, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. Er roch nach treuem Aftershave, das über einer leichten Note von Schweiß lag. „Komm schon. Du wirst doch wohl einen Abend freischaufeln können. Ich verspreche dir, eine Nacht mit mir ist sehr entspannend.“ Er zwinkerte ihr zu und Levy unterdrückte ein angewidertes Schauern. Sie wusste nicht, ob sie es geschafft hatte, aber er schien es nicht bemerkt zu haben. Sie blickte zur Seite. War das die Art, wie er die anderen Vitiosi alle rumgekriegt hatte? Durch Penetranz bis sie schließlich alle aus lauter Genervtheit nachgegeben hatten? „Ehrlich. Dieses Projekt hat höchste Priorität und die Obersten haben sicher kein Verständnis dafür, dass ich einen Abend für ein Stelldichein freinehme.“ Aber Warren wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite, als würde er nicht zählen. „Nun komm schon. Hab dich nicht so. Ich verspreche dir, das wird zu unserem gegenseitigen Vergnügen sein.“ Er legte ihr locker eine Hand auf den Arm, eine Geste, die sie bei Bisca oder Jet oder Droy hätte durchgehen lassen, die aber für jemanden, den sie kaum kannte, viel zu vertraut war. Konnte sie es wagen, sie wegzuschlagen? War solche Dreistigkeit Grund genug? Aber Warren schien nicht einmal zu bemerken, dass sie sich von ihm wegbeugte, er sprach einfach weiter: „Dafür habe ich viele Zeu…ARG!“ In einem Moment spürte sie seine Finger auf ihrer Haut, im nächsten Moment waren sie verschwunden und ihr Blickfeld war von einer schwarzen Fläche erfüllt. Sie konnte ihn japsen hören, laut und verzweifelt. Einen Moment brauchte sie um zu realisieren, was geschehen war, und riss dann entsetzt den Mund auf. Gajeel stand vor ihr wie eine schützende Mauer. Und er war genauso fest und hart und unbeweglich. Er hielt Warren mit einer Hand am Hals fest, so dass dessen Füße mindestens dreißig Zentimeter über dem Boden zappelten, und sein Arm zitterte nicht einmal unter der Anstrengung. Aus seiner Kehle drang ein bedrohliches Geräusch, ein tiefes, wütendes Grollen, während sich Warrens Hände nutzlos um sein Handgelenk krallten und versuchten, den eisenharten Griff zu öffnen oder zumindest zu lockern. Warrens Gesicht färbte sich langsam blau. „Oh mein- Gajeel!“, rief Levy aus und griff nach dessen Hemd, um daran zu zerren. „Lass ihn runter! Du bringst ihn ja um!“ Sie hatte sich ja gewünscht, dass Warren weggehen würde, aber … aber … das war viel zu übertrieben! Warren war vielleicht etwas aufdringlich, aber doch keine echte Bedrohung! Gajeel reagierte überhaupt nicht auf ihre Bemühungen und Warrens verzweifelte Bewegungen wurden langsamer. „Gajeel! GAJEEL!“ Verzweifelt bemühte sie sich, seine Aufmerksamkeit auf sich zu bringen und zerrte an seinem Arm, der sich nicht einen Millimeter bewegte. „Lass ihn sofort runter! Er kriegt keine Luft mehr! Gajeel! Hör mir zu! REDFOX!“ Jetzt wandte er ihr den Kopf zu, sein sonst so starres Gesicht eindeutig verblüfft. „Lass ihn runter!“, fauchte sie ihn an. „Aber…“, begann Gajeel. „Kein Aber!“, unterbrach sie ihn scharf. „Sofort!“ Zögerlich kam er dem Befehl nach und er stellte Warrens Füße auf den Boden, ehe er losließ. Der Purus sackte sofort in sich zusammen und Levy drängte sich an Gajeel vorbei, um nach ihm zu sehen. „Warren? Warren. Alles okay? Geht es dir gut. Atme.“, brabbelte sie vor sich hin und rieb ihm den Rücken. Er hustete und schnappte nach Luft, aber nach einigen Augenblicken glich sich sein Atemrhythmus aus. „Der ist ja irre.“, keuchte der Physiker schließlich und rutschte auf Händen und Knien von Gajeel weg, der ihn aus mitleidslosen, roten Augen anstarrte, seine Haltung unnahbar und unnachgiebig. Levy warf dem Cyborg einen bösen Blick zu und stand auf, um dem anderen Wissenschaftler ebenfalls auf die Beine zu helfen. „Hier. Komm. Willst du einen Schluck Wasser?“ Doch Warren schüttelte nur den Kopf und entfernte sich rückwärts zur Tür. Levy folgte ihm. Was, wenn er jetzt schnurstracks zu Scarlet lief oder noch schlimmer, Michello? Was, wenn er ihnen erzählte, dass Gajeel gefärhlich war oder so etwas? „Ich sollte das melden.“, erklärte er, ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigend. „Der ist ja völlig außer Kontrolle!“ „Nein, er ist nur etwas … verwirrt.“, erklärte Levy und ihr fiel plötzlich noch etwas ein. „Und du dürftest eigentlich gar nicht hier sein.“ Das mochte vielleicht etwas hinterhältig ein, aber sie würde alles tun, um Gajeel zu schützen. Würde jemand hiervon erfahren, würden sie das Reboot sofort starten, egal, was sie sagte. Warum hatte sie eigentlich nicht schon früher daran gedacht? Dann hätten sie diese ganze Szene vermeiden können… „Und … ich gehe mit dir aus, wenn wir das unter den Tisch fallen lassen können.“, erklärte sie kurzerhand, darauf hoffend, dass seine Libido über seinen gesunden Menschenverstand gewinnen würde. „Ich verspreche, er ist eigentlich nicht so. Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist.“ Was tatsächlich die Wahrheit war. Aber dieses Rätsel würde sie später lösen. Sie starrte Warren mit ihren besten, unschuldigsten Rehaugen an und ließ ihre Unterlippe etwas zittern. Schade, dass sie kein nennenswertes Dekolleté hatte… Er starrte sie zweifelnd an, die Hand noch immer an ihrem Hals, der sich bereits rot verfärbte, der Abdruck von Gajeels gigantischer Pranke auf der gebräunten Haut. „Also… also gut.“, antwortete Warren schließlich. „Aber wenn er so etwas nochmal tut, versprich mir, es sofort Kommandantin Scarlet zu melden.“ Sie schenkte ihm ihr bestes Lächeln. „Natürlich. Du hast mein Wort.“ „Ich schicke dir den Termin.“ Er machte eine Bewegung zu ihrem Tablet hinüber und sie nickte. „Bis dann.“ Damit verschwand er aus dem Büro. Sie winkte ihm kurz nach, bis die Tür ins Schloss gefallen war und ließ die liebenswürdige Fassade fallen. Erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus und sackte in sich zusammen. Da schienen sie haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschifft zu sein. Sie wandte sich um und blickte den Cyborg mit strengem Blick an, doch der starrte ungerührt zurück. Er schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Warum hast du das getan?!“, fuhr sie ihn an. „Er hat dich bedroht.“, erklärte er, als sei es die selbstverständlichste Sache auf der Welt. „Nein, hat er nicht!“, widersprach sie energisch. „Oder zumindest nicht sehr. Er hätte mir nichts getan!“ „Du sahst nicht sehr glücklich aus.“, hielt Gajeel entgegen und runzelte die Stirn. „War ich auch nicht. Aber du kannst deswegen nicht einfach Leute angreifen! Schon gar keine Pura! Du hättest ihn beinahe getötet!“ „Das tut man mit Bedrohungen.“, war die schlichte Antwort. „Man beseitigt sie.“ „Aber… aber…!“ Sie fuhr sich durch die Haare und war sich bewusst, dass sie viel zu aufgeregt war, um das Thema jetzt ruhig und deutlich zu erklären. „Levy…?“, begann er und trat einen Schritt auf sie zu, doch sie hob die flache Hand, um ihn aufzuhalten. Tatsächlich stoppte er mitten in der Bewegung, als hätte er nicht gerade eben demonstriert, dass sie eigentlich gar nichts gegen ihn ausrichten konnte. „Nein, ich…“ Gajeel hätte Warren beinahe umgebracht. Weil er … weil Levy dumm gewesen war. Weil Levy nicht nachgedacht hatte. Weil Levy gedacht hatte, sie könnte aus einer Maschine einen Menschen machen, ohne ihr einen moralischen Kompass geben. „Warte hier.“, sagte sie und fühlte sich auf einmal unendlich müde. Sie wollte jetzt einfach nur nach Hause, nach Hause und schlafen und nichts mehr von dieser schrecklichen, grausamen Welt wissen. „Jet und Droy werden dich in deine Zelle zurückbringen.“ Sie nahm ihr Tablet und ihren Block auf und ging. ~~*~~✿~~*~~ Konzentriert starrte Levy auf ihren Bildschirm und ging Stück für Stück die Ergebnisse ihres neuesten Scans durch. Sie fragte sich, wie oft sie dergleichen noch durchführen wollte, nur um immer auf das gleiche Ergebnis zu kommen und nicht zu erfahren. Es gab keine Störung, die von einem Scanner erfasst werden könnte. Wenn es so leicht wäre, wäre das Problem wohl auch schon gelöst. Allerdings hatte sie immer noch nicht herausgefunden, was es mit dem ‚Virus‘ auf sich hatte. Es war ein fremdes Programm, das eindeutig nicht auf die Festplatte gehörte. Auf der anderen Seite war es keine Malware, so viel wusste sie immerhin schon. Also hatte sie es gelassen, wo es war, sogar die Isolierung wieder gelöst und behielt es über ihren Computer im Blick. Bis jetzt war aus dieser Richtung noch nichts Außergewöhnliches gekommen. Sie schaute über ihre Schulter zu Gajeel hinüber. Er, Jet und Droy saßen in einer Ecke der Werkstatt und spielten Poker. Der Cyborg schien ihre beiden Assistenten nach Strich und Faden abzuziehen, obwohl er das Spiel erst vorhin gelernt hatte. Aber ihm schien jeder noch so kleine Tell aufzufallen, während er selbst keinen eigenen hatte. Zumindest keinen, der genug auffiel. So gut musste seine Programmierung noch sein… Jet und Droy nahmen es mit Humor, da sie nur um Süßigkeiten spielten. Gajeel schien sowieso eine kleine Naschkatze zu sein. Schokoriegel wirkten besonders gut als Bestechungsmittel. Kurz nach dem Zwischenfall mit Warren hatte sie ihn hingesetzt und mit ihm darüber gesprochen, über Richtig und Falsch, über Regeln der Gesellschaft und des Miteinanders und über Gewalt – nutzlose und gerechtfertigte. Er hatte aufmerksam zugehört und einige Fragen gestellt, was sie als einen Punkt für sich verbuchte. Sie hoffte nur, ihre Worte waren durch seinen dicken Schädel gedrungen, aber mehr konnte sie nicht tun. Aber es half ihr natürlich nicht bei ihrem jetzigen Problem, also ließ sie den Gedankengang fallen. Vor einiger Zeit war ihre seine … Loyalität zu dem anderen Cyborg aufgefallen, der, über den er immer noch nicht sprach. Laut seinen Programmen sollte er solche Gefühle eigentlich nicht entwickeln. Und doch… Lag vielleicht darin der Schlüssel? Sollte sie es noch einmal wagen, ihn danach zu fragen? Würde er ihr diesmal davon erzählen, jetzt, da sie sich so viel näher standen? Wie viel begriff er tatsächlich von all dem? Er war nicht dumm, nur gefühlsmäßig zurückgeblieben oder besser noch, verkrüppelt und gewaltsam verbogen. War es ihn überhaupt möglich, eine normale Beziehung aufzubauen, wenn man ihn lassen würde? Dass Levys eigene Träumereien zu nichts führen würden, wusste sie selbst. Damit hatte sie ihren Frieden gemacht, aber… Ein leises Ping! riss sie aus den Gedanken und sie schreckte auf, um die Nachricht zu lesen, die auf ihrem Tablet erschienen war. Dann stand sie mit einem Seufzen auf und ging zu den Pokerspielern hinüber. „Sorry, Jungs, aber Bisca möchte uns einen Augenblick sehen.“ Dann wandte sie sich an Gajeel. „Kommst du einen Moment allein zurecht?“ Der Cyborg nickte gleichgültig und strich mit einem Grinsen seine Gewinne ein. Das Labor der Ärztin war nicht weit entfernt und Bisca erwartete sie schon vor ihrer Computerstation, auf der Diagramme, Graphen und viele, viele Zahlen zu sehen waren. „Ich weiß, es ist kurz vor der Mittagspause.“, begrüßte die Ärztin sie. „Das tut mir leid. Ich verspreche, mich kurz zu halten.“ Levy winkte ab – sie selbst hatte gar nicht bemerkt, wie spät es schon war, und ihre Assistenten hatten sich den ganzen Morgen mit Süßigkeiten vollgestopft. „Wir können auch später etwas essen. Worum geht’s?“ Bisca machte eine Bewegung zu den Diagrammen. „Wann kannst du den Cyborg und am besten noch deine Assistenten entbehren? Ich würde gern demnächst mit den Operationen beginnen.“ Levy nickte. Jet und Droy würden Bisca zur Hand gehen. Diese hatte zwar eigentlich ihre eigenen Helfer, doch Michello bestand darauf, so wenig Leute wie möglich mit Gajeel in Kontakt zu bringen. Da sowohl Jet als auch Droy absolut in der Lage waren, der Ärztin während der Operationen beizustehen, war es nicht vonnöten, noch mehr Personen in das Projekt einzuführen. „Wann immer du Zeit hast. Ich werde es so einrichten, dass ich genug zu tun habe. Diese Woche noch?“ Die Ärztin nickte. „Am Mittwoch wäre der früheste Termin.“ Sie zeigte auf den Planungskalender für die Krankenstation, in der für einen der Operationssäle ein kompletter Block rot markiert war. „Ich habe mit einen der OP-säle durchgängig über zwei Wochen gebucht. Wenn jemand damit Probleme hat, soll er sich an Michello wenden. Ich will mich nicht hetzen müssen. Der Cyborg bekommt komplett neue Augen“ mit einer Kopfbewegung wies sie auf einen Glasschrank, in der Levy besagte Sinnesorgane erkennen konnte, und „eine neue Legierung, die seine Knochen weiter verstärken soll, sowie eine neue Verdrahtung seiner Reflexbooster.“ Die letzten Worte hatte sie an die beiden Assistenten gerichtet, die konzentriert auf die Bildschirme starrten. Levy selbst verstand von dem Ganzen nicht viel. Sie war Programmiererin, die sich dazu noch mit Cybermechanik und Technik auskannte, keine Medizinerin. Stattdessen fragte sie sich, wie lange all das tatsächlich gehen würde. Ob Gajeel hinterher Schmerzen haben würde? Würden sie ihm Tabletten dagegen geben? Gerade wollte sie danach fragen, als die Tür aufgestoßen wurde. Es war Alzack, ein junger Mann mit rabenschwarzem Haar und freundlichen Augen, und Bisca blickte ihn böse an. „Was ist?“, wollte sie wissen. „Ich bin mitten in einer Besprechung!“ Alzack war Biscas Ehemann, wie sie selbst natürlich ebenfalls ein Purus. Auch er behandelte Levy und die anderen Vitiosi stets wie Ebenbürtige und nicht wie Untergebene, was sie ihm hoch anrechnete. Außerdem kannte sie kein Paar, das so verliebt ineinander war als diese beiden, außer vielleicht ihre eigenen Eltern. „Hast du Asuka gesehen?“, wollte er wissen, statt ihr zu antworten. „Sie sollte im Kindergarten sein.“, antwortete Bisca, doch in ihrer Stimme klang bereits ein besorgter Unterton mit. „Dort ist sie nicht.“, erklärte er. „Sie hat die Erzieherin anscheinend den ganzen Morgen nach dir gefragt und war dann irgendwann verschwunden. Es ist ihnen erst aufgefallen, als ich sie eben zum Essen holen wollte!“ Bisca wurde kalkweiß und Levy verstand ihre plötzliche Angst. Asuka war die Tochter der beiden, ein aufgewecktes, fünfjähriges Mädchen, das zu den niedlichsten, fröhlichsten Kindern gehörte, die Levy kannte. Ihre Eltern jetzt so aufgelöst zu sehen, tat ihr weh. „Jetzt beruhigt euch.“, sagte sie in vernünftigem Tonfall. „Sie kann nicht weit gekommen sein, an den Türwächtern kommt sie nicht vorbei. Vermutlich wandert sie in der Anlage herum und sucht nach euch. Alle gefährlichen Dinge sind weggeschlossen. Vermutlich hat jemand sie bereits gefunden und sie sind auf dem Weg hierher.“ Ein lautes Pingen unterbrach die kurze Stille. Überrascht hob sie ihr Tablet hoch und las die darauf erschiene Info. „Da ist etwas mit Gaj…dem Cyborg.“, erklärte sie auf die verdutzten Blicke. „Ich… ich muss mich darum kümmern.“ „Wir helfen euch derweil beim Suchen! Levy kann nachkommen, wenn sie das Problem behoben hat.“, bot Jet dem Paar an und die nickten dankbar. Levy nickte kurz und verschwand aus der Tür. Im Laufschritt stürmte sie zu ihrem eigenen Büro zurück. Dort erwartete sie ein überraschender Anblick. Was war wohl geschehen, dass der Alarm anschlug? Gajeel stand in der Mitte des Raumes, die Arme vor der Brust verschränkt und nur den Kopf gesenkt, um sein Gegenüber direkt anzusehen. Asuka stand vor ihm, den Kopf in den Nacken gelegt um seinen finsteren Blick zu erwidern. Sie trug das schwarze Haar in einem Zopf, ähnlich der Frisur ihrer Mutter, und ihre großen, grauen Augen hatten einen nachdenklichen und zugleich taxierenden Ausdruck. Ganz offensichtlich hatte sie keinerlei Angst vor ihm und es fehlte ebenfalls alle Faszination, die ihn objektivierte. Für sie, erkannte Levy, war er nur ein Mensch. Plötzlich kicherte Asuka. „Du bist lustig.“, erklärte sie dem Cyborg und trat vor, um die Arme um ihn zu werfen. Da sie so klein und Gajeel so groß war, konnte sie nur ein einzelnes Bein umarmen, doch das schien sie nicht zu stören. Dass sie ihn damit völlig aus dem Konzept brachte, kümmerte sie ebenfalls nicht. Seine verschränkten Arme, die stets einen Wall zwischen ihm und dem Rest der Welt bildeten, wenn er sich bedroht fühlte, ohne eine Idee, wie er reagieren sollte, oder wann immer er sich in die Defensive gedrängt sah, lockerten sich und ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er brauchte eine Weile, um seine Züge wieder unter Kontrolle zu bringen, und schaffte es gerade, als ihre Aufmerksamkeit von etwas Neuem eingefangen wurde. „Wow, hast du große Hände!“ Schon fasste sie nach besagtem Glied, noch ehe Levy eingreifen oder sich auch nur rühren konnte. Doch sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn dem Cyborg schien bewusst, mit was für einer wertvollen Person er hier sprach, und entsprechend sanft waren seine eigenen Bewegungen. Gegen ihre eigenen kleinen Fingerchen wirkten Gajeels Pranken noch größer und er selbst schien das ebenfalls zu bemerken, denn er ging in die Hocke und spreizte die Finger auseinander. Asuka kicherte wieder und legte ihre Hand dagegen. Es war ein superniedlicher Anblick und gleichzeitig ein sehr überraschender. Wer hatte gedacht, dass er so … sanft sein konnte? Levy beschloss einzugreifen, ehe doch noch etwas geschah, und machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. Beide fuhren erschrocken auf und Gajeel stand auf und stolperte zurück wie ein Kind, das sie verbotenerweise mit der Hand in der Keksschachtel erwischt hatte. Asuka schien es nicht so zu gehen. Sie stieß einen Freudenschrei aus und warf sich ihr entgegen, um sie mit einer enthusiastischen Umarmung zu begrüßen. „Levy!“ Dieser erwiderte die Umarmung mit einem Lächeln. Sie liebte Kinder, doch sie hatte nur wenig Kontakt mit ihnen. Ihre Arbeit hatte nichts mit ihnen zu tun und die meisten Pura wollten keine unbefugten Vitiosi in der Nähe ihres Nachwuchses sehen. Das war auch der Grund, warum Levy ihre Nichten und Neffen so selten zu Gesicht bekam. „Hey, Asuka! Weißt du, dass deine Eltern sich große Sorgen um dich machen? Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“ Das Gesicht des Mädchens wurde lang und plötzlich wirkte sie schuldbewusst. „Ich wollte nur Mama besuchen!“ „Und jetzt sucht deine Mama nach dir. Du darfst so etwas nicht nochmal machen, in Ordnung?“ Asuka nickte und wollte an ihr vorbeiflitzen. „Ich gehe jetzt zu ihr!“, erklärte sie laut, aber Levy erwischte sie gerade noch am Kragen. „Ich sage deiner Mama Bescheid. Du gehst nirgendwo mehr hin. Setz dich auf einen Stuhl.“ Sie wandte sich an Gajeel. „Du auch.“ Es war beinahe lustig zu sehen, wie sie beide ihrer Aufforderung nachkamen. Der Cyborg ging zu seinem altbekannten Platz, dem Untersuchungsstuhl, während Asuka sich einen Drehhocker aussuchte, mit dem sie sich erst einmal einen Drehwurm holte, während Levy ihre Nachricht in das Tablet eingab und an Asukas Eltern und ihre Assistenten schickte. Dabei behielt sie die beiden unauffällig im Blick. Plötzlich hellte Asukas Gesicht sich auf, als sie ihr Mobile entdeckte. Sie sprang vom Stuhl und holte es sich vom Tisch. „Du hast es wieder ganz gemacht!“, erklärte sie und hob es hoch, so dass der Wirbel sich drehte. Das brachte ihr wieder Gajeels Aufmerksamkeit ein, der sie aus zu Schlitzen verengten beobachtete. „Deine Mutter hat mich darum gebeten. Ich wollte es dir schon lange zurückbringen, aber ich habe leider noch keine Zeit dafür gefunden.“ In Wahrheit hatte sie es noch nicht herausgeben wollen, weil Gajeel es so faszinierend fand. Levy hatte seltsamerweise kein schlechtes Gewissen dabei. „Er fand es auch ganz toll.“ Damit deutete sie mit dem Kopf zu dem Cyborg hinüber und Asuka blickte ihn an und strahlte. Sie trug das Mobile zu ihm hinüber, doch ehe sie ihn erreichte, wurde die Tür etwas zu heftig aufgestoßen und Bisca stürmte herein. „Asuka!“, donnerte sie und das Mädchen zog schuldbewusst die Schultern hoch. Trotzdem versuchte sie es: „Schau mal, Mama, was Levy ganz gemacht hat!“ „Das ist mir bekannt, aber darum geht es jetzt nicht, junge Dame!“ Streng stützte sie die Fäuste in die Hüften. „Du weißt genau, dass du nicht einfach aus dem Kinderhort weglaufen darfst! Du hast deinem Vater und mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“ „Aber…“, versuchte die Kleine sich zu verteidigen, doch ihre Mutter wollte nichts davon hören. Sie ging in die Hocke und redete leise und scharf auf Asuka ein, die bald niedergeschlagen den Kopf hängen ließ. Gajeel neben Levy versteifte sich und ihr wurde eiskalt. Würde er jetzt auch losspringen und sich auf Bisca stürzen, nur weil sie ihrer Tochter eine durchaus verdiente Strafpredigt gab? Sie griff nach seinem Handgelenk und drückte es. „Bleib sitzen.“, erklärte sie streng. „Was habe ich dir letztes Mal gesagt?!“ Sie war ihm immer noch böse deswegen, trotz der Strafpredigt, die sie ihm gehalten hatte, und bis sie dieses Date mit Warren gehabt hatte, würde sich das auch nicht ändern. „Dass nicht alles so bedrohlich ist, wie es manchmal aussieht?“, wollte Gajeel wissen und Levy seufzte. Anscheinend war doch nicht alles, was sie ihm gesagt hatte, zu ihm durchgedrungen, doch wenigstens hatte er genug verstanden, so bald keine Leute mehr für Kleinigkeiten die Luft abzudrücken. „So in etwa.“, erklärte sie ihm. „Bisca jedenfalls tut gut daran, Asuka auszuschimpfen. Asuka muss lernen, dass sie solche Dinge nicht einfach machen darf.“ Gajeel runzelte die Stirn und nickte nach einem Moment. Sie blickten beide auf, als die Ärztin zu ihnen trat, nun mit ihrer Tochter auf dem Arm. Das kleine Mädchen sah schon wieder fröhlich aus, was den Cyborg zu beruhigen schien. „Sie möchte sich verabschieden.“, erklärte Bisca und blickte zu Gajeel. „Und sie hat etwas für dich.“ In ihrer Stimme klang ein misstrauischer Unterton mit und auch Gajeel schien die Sache nicht geheuer zu sein, denn sein Gesicht verfinsterte sich. Doch Asuka bemerkte die seltsame Stimmung nicht einmal, sondern streckte dem Cyborg den sich noch immer drehenden Wirbel entgegen. „Du kannst ihn haben.“, erklärte sie ihm ernsthaft und lächelte breit. „Ich hab noch einen.“ Vorsichtig nahm Gajeel das Spielzeug entgegen, das in seiner Hand viel kleiner wirkte. Er blinzelte verwirrt, als Asuka ihn abwartend anstarrte. Levy stieß ihm in die Seite. „Sag danke. Das gehört sich so.“ Er runzelte die Stirn. „Danke?“ Es war eher eine Frage, die an Levy gerichtet war, doch Asuka schien es zu genügen, denn sie winkte ihm zu und ließ sich von ihrer Mutter davontragen. Gajeel starrte ihr hinterher und schwieg den Rest des Tages. Levy nahm es ihm nicht übel und widmete sich ihrer Arbeit um einen Plan auszuarbeiten, wie sie die Stunden, die er im OP verbringen würde, füllen konnte. Als sie Gajeel das nächste Mal in seiner Zelle besuchte, hing das Mobile an der Lampe und drehte sich in ihrem Licht. ~~*~~✿~~*~~ Es war schon nach Mitternacht, doch Levy war noch immer hellwach. Der Abend war eine seltsame Mischung aus reiner Anspannung und purer Langeweile gewesen. Heute hatte sie pünktlich ihren Arbeitsplatz verlassen und war nach Hause gegangen um sich fertig zu machen. Levy war nie sonderlich eitel gewesen und weder ihre Statur noch ihr Gesicht – eher als niedlich denn als schön zu bezeichnen – waren auch nie ein Grund dafür gewesen. Doch geschminkt und gestylt und in einem kurzen, schwarzen Cocktailkleid machte selbst sie etwas her. Sie fragte sich, was Gajeel gesagt hätte, wenn er sie so sehen könnte. Ob er ihr einen ebenso bewundernden Blick geschenkt hätte wie Warren, als er sie abgeholt hatte? Der Physiker war mit ihr in ein gehobenes Restaurant gefahren, der Grund, warum sie so lange auf ihr Date hatte warten müssen. Als Gnadenfrist hätte sie es eher bezeichnet, hätte sie jemand gefragt. Danach waren sie noch spazieren gegangen, doch Levy hatte sich losgeeist, sobald es ihr angemessen erschien. Warren hatte sein Date gehabt und wenn er gehofft hatte, sie zu noch mehr bewegen zu können, dann hatte er sich geschnitten. Nicht nur, dass er nicht ihr Typ war, er war auch noch äußerst langweilig und einschläfernd. Sie hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, während er über Kindheitsabenteuer, seine Arbeit und seine Familie gesprochen hatte. Die andere Hälfte ihrer Aufmerksamkeit hatte dem Programmproblem gegolten, das sie jetzt schon seit Wochen verfolgte. Weder Jet und Droy konnten verstehen, warum sie überhaupt mit Warren ausging und wenn sie ehrlich war, würde sie lieber mit einem von ihnen oder gar beiden ausgehen. Wenigstens kannte sie ihre Jungs und sie hatten immer etwas Lustiges zu erzählen. Doch sie verriet nichts von dem Zwischenfall und ihren Beweggründen, sondern vertröstete die beiden nur auf den nächsten Tag. Seltsamerweise war sie noch überhaupt nicht müde, als Warren sie enttäuscht bei ihrer Wohnung absetzte. Vielleicht war es der Alkohol, der sie immer aufgekratzt machte. Also hatte sie ein Taxi gerufen und war zur Arbeit gefahren, nachdem sie kurz in bequemere Sachen geschlüpft war. Die Torhüter am Eingang grüßten sie unbeeindruckt, gewohnt daran, dass die Wissenschaftler zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten kamen und gingen wie sie wollten. Levy brauchte nur einen Moment, um sich zu vergewissern, dass Gajeel noch nicht schlief und schlug den Weg zu seiner Zelle ein statt zu ihrem Büro. Sergeant Fernandez hatte Wachdienst und nickte ihr freundlich zu, als er ihr die Tür öffnete. Schlief er denn nie? Sie erwiderte den Gruß und hüpfte beinahe die Treppen hinunter. An Gajeels Zelle angekommen klopfte sie an die Glaswand. Er blickte von der Stelle auf, wo er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seiner Pritsche lag und sein Mobile anstarrte. „Guten Abend!“, begrüßte sie ihn mit einem kleinen Winken. „Oder eher, gute Nacht.“ Sie ließ den Arm wieder sinken. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. „Wenn du jetzt lieber schlafen willst, kann ich das verstehen.“, erklärte sie ihm. „Dann gehe ich nach oben.“ Einen Moment rührte sich nichts, dann richtete er sich auf. „Du kannst reinkommen, du Zwerg.“ Sie blinzelte überrascht und blies dann ärgerlich die Backen auf. Wo kam diese neue Beleidung denn bitte her?! Und wann hatte er überhaupt gelernt, zu beleidigen? Wer hatte ihm das denn beigebracht? Sie sicher nicht! Er kicherte auf seine seltsame Art, offensichtlich ehrlich amüsiert über ihre Reaktion, also ließ sie es fallen und öffnete die Tür um einzutreten. „Hattest du einen schönen Abend? Ich habe mich nämlich zu Tode gelangweilt.“, erklärte sie ihm, ungeachtet der Tatsache, dass er sich vermutlich jede Sekunde langweilte, die er allein in dieser trostlosen Zelle verbrachte. Immerhin gab es hier nichts Interessanteres als das Mobile, das erstens auf Dauer sicher auch eintönig wurde und zweitens sowieso eine sehr neue Addition darstellte. Trotzdem fuhr sie fort: „Das war das ödeste Date, das ich je hatte, und es ist alles deine Schuld!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Das hatte leider nicht den gewünschten Effekt, denn er überragte sie um über eine Haupteslänge. „Du lebst offensichtlich noch.“ Er tätschelte ihr den Kopf, was ihrer Würde nicht gerade half. „Es war knapp.“, erklärte sie ihm und zeigte mit Daumen und Zeigefinger, wie knapp genau. „Du jedenfalls kommst mir nicht so leicht davon. Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt, aber ich befürchte nicht. Naja, egal, jedenfalls habe ich mir auch ein paar Gedanken über unser Problem gemacht, ehrlich gesagt tue ich das schon seit ein paar Tagen und ich glaube, dass dieser seltsame Virus damit zu tun hat, auch wenn er eigentlich etwas ganz anderes tut. Jedenfalls bin ich noch wach und da du es auch bist, dachte ich, wir könnten vielleicht ein paar Test durchführen und so. Ich meine, da du ja eh gerade so von Bisca in Beschlag genommen bist und tut das eigentlich weh? Ich hoffe, diese letzte Operatio…“ „Es tut mir leid.“, sagte er plötzlich in ihren Redeschwall und sie hielt verdutzt inne. Er war ihr noch nie ins Wort gefallen. Tatsächlich konnte er ihr gar nicht ins Wort fallen, denn es gab ein Programm in seinem Hirn, das dies verhinderte. Außer, wenn es wichtig war. Wirklich, wirklich, lebensgefährlich wichtig. Und entweder hatte er das Programm von selbst ausgeschaltet – eher unwahrscheinlich – oder für ihn war diese Sache extrem bedeutend. Außerdem… Hatte er sich gerade entschuldigt?! „Was?“, machte sie, ihr Verstand leer. „Ich sag das nicht noch einmal!“, murrte er. Aha, kaum entwickelte man Gefühle, entwickelte man auch noch Stolz und eine Aversion gegen Entschuldigungen. Typisch Mann! Oder war es mehr von seinem eigentlichen Charakter, der hier durchsickerte, mehr und mehr? „Aber… warum? Wofür?“ „Wegen dem… du weißt schon… Date. Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“ „Oh.“ Für einen Moment wusste sie nicht, was sie fühlen oder gar sagen sollte. Dann beschloss sie, einfach nur glücklich zu sein und die Aussage so zu nehmen, wie sie vor ihr stand. Sie lächelte zu ihm hoch. „Schwamm drüber. Ist ja nichts weiter passiert.“ Zögerlich zogen sich seine eigenen Mundwinkel nach oben, ein schüchternes, ungeübtes, aber ehrliches Lächeln, das auf mehr als eine Art atemberaubend war. Für einen Moment schien ihr sogar das Herz stehen zu bleiben. Es veränderte sein völlig Gesicht, von harten Zügen hin zu etwas … weicherem, nachgiebigerem, etwas zugänglichem. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und wandte sich rasch ab. „Ja, also, du … ich… du scheinst nichts dagegen zu haben, dass ich hier bliebe, also setze ich mich mal da hin.“, brabbelte sie. In einer solchen Situation war sie auch noch nie gewesen. Alle ihre Liebelein waren eher flüchtig und oberflächlich gewesen, das wusste sie jetzt, und das hier ging so viel tiefer und sie hatten sich noch nicht einmal geküsst! Nicht, dass es je dazu kommen würde… Sie schluckte und blinzelte die plötzlichen Tränen weg. Warum wurde sie so emotional? Hatte sie nicht längst gewusst, dass das von vorne herein zum Scheitern verurteilt war? Hatte sie diese Tatsache nicht schon längst akzeptiert? Gajeel setzte sich neben sie und wippte unruhig mit dem Knie. Er schien ihr nicht ganz zu glauben, und wenn sie ihre schwache Antwort ansah, dann verstand sie, warum. „Ich meine es ernst.“, bekräftigte sie. „Ich bin dir nicht mehr böse. Lass es uns einfach vergessen, okay?“ Sie sah sich in der kahlen Zelle nach einem neuen Thema um und fand es in dem Wirbel, der an der Lampe hing. „Asuka ist echt süß, nicht wahr?“ Er gab ein Geräusch von sich, das fast wie ein Grunzen klang und sie deutete einfach als Zustimmung. „Wenn man etwas geschenkt bekommt, bedankt man sich, erst recht, wenn einem dieses Geschenk gefällt.“, erklärte sie ihm, sich an sein Mangel an Reaktion erinnernd. „Das ist nur höflich.“ Er grunzte wieder zustimmend und sie verfiel in Schweigen. Eigentlich war sie zum Arbeiten hergekommen und eigentlich hatte sie gar keine Lust dazu. Es war nicht so, als ob sie nicht schon so viele Überstunden angehäuft hatte, dass sie sich davon einen ganzen Monat freinehmen könnte. „Ich wollte auch immer Kinder.“, bot sie ihm an und das schien seine Aufmerksamkeit zu wecken, denn er blickte sie überrascht an. „Schon als kleines Mädchen. Heiraten, eine Familie gründen. Aber… Nun ja.“ Sie machte eine Bewegung, die ihre ganze Existenz einschließen wollte und nur ein schwaches Handwedeln war. Gajeel vollendete den Satz nach einem Moment: „Vitiosi dürfen keine Kinder bekommen.“ Und wurden schlichtweg sterilisiert, kaum dass sie alt genug dafür waren, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. „Hmhm.“, machte sie zustimmend und zuckte mit den Schultern. „Und meine Geschwister… ich habe zwei niedliche Nichten und drei ebenso niedliche Neffen, aber meine Geschwister denken irgendwie, der Genfehler wäre durch Berührung übertragbar oder so.“ Sie zog die Nase hoch. Wo war nur ihre gute Laune hin? Dieser Abend war wirklich eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Natürlich dachten ihre Geschwister nicht, dass ein Fehler in den Genen übertragbar wäre und es ging um etwas ganz anderes. Aber es tat deswegen nicht weniger weh. Doch sie hatte sich schon ihr ganzes Leben von ihnen unterschieden, war weniger als sie – weniger rein, weniger schön, weniger angesehen. Weniger wert. Warum sich jetzt auf einmal darüber aufregen? Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Lassen wir das. Das interessiert dich sowieso nicht.“ Wieder grunzte er nur und diesmal deutete sie das Geräusch nicht. Sie verfielen erneut in Schweigen. Diesmal verspürte sie nicht das Bedürfnis, es zu durchbrechen. „Ich habe auch eine Schwester.“, sagte er dann plötzlich und sie schreckte auf und blickte ihn an. Erzählte er gerade etwas von sich und das ohne, dass sie ihn danach fragen musste? „Sie ist nicht wie deine Geschwister, wir haben nicht die gleichen Eltern. Aber wir waren füreinander da, seit sie uns aus den Reihen der normalen Kadetten geholt haben. Wir waren immer füreinander da. Schwester ist das richtige Wort. Richtig?“ Nur jetzt war er allein und da wusste Levy es. Der andere Cyborg. Der, der nicht mehr da war. Hatte sie nicht mit ihm darüber sprechen wollen? Doch jetzt, da er es tat und seine Stimme so … hoffnungslos war, auch wenn er versuchte, gleichgültig zu klingen… Scheinbar wollten sie beide heute die großen Geständnisse loswerden. Doch Gajeel sprach nicht mehr weiter und Levy fasste sich ein Herz. „Wie hieß sie?“, wollte sie so sanft wie möglich wissen. „PL-348.“ „Nein, ihr richtiger Name. Du kennst ihn bestimmt.“ Wie konnte er nicht? Sie war seine Schwester. Er hatte seinen eigenen Namen nicht vergessen, vielleicht wegen ihr. Vielleicht wurde ihre Verbindung mit in ihre Codes eingebettet, als man sie erschuf, als sie als Cyborgs wiedergeboren wurden und darum war sie noch immer da…? „Juvia Lockser.“, beantwortete Gajeel ihre Frage, doch sie hörte schon gar nicht mehr richtig zu, denn ihr Verstand lief auf Hochtouren. In die Codes eingebettet. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht! Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf und rannte zu ihrer Tasche hinüber, in der ihr Tablet lag. Gajeel blickte ihr verwirrt nach und ihr tat es plötzlich leid. Hier war er und schüttete ihr sein Herz aus und sie dachte nur an ihre Codes. „Sorry. Aber mir fiel gerade etwas ein.“ Hastig wischte sie mit den Fingern über den Bildschirm, bis sie fand, was sie suchte. Plötzlich machten all die Zahlen und Zeichen und Buchstaben einen Sinn. Plötzlich wusste sie, was sich hinter diesem seltsamen ‚Virus‘ verbarg und sie hob das Tablet hoch, damit er es sehen konnte. „Erinnerst du dich noch, das ist ein Teil deines Systems.“ Sie deutete auf die Zeilen und er nickte langsam. „Und wir wussten nicht, wo es herkommt. Aber jetzt denke ich, dass ich es weiß. Du hast es geschrieben. Es ist dein Code für … für Juvia.“ Allerdings konnte das nicht Gajeels ganzes Problem sein. Ansonsten wären sicher noch mehr Cyborgs ausgefallen, er konnte nicht der einzige sein. Der andere Cyborg – Juvia erwiderte seine Gefühle bestimmt, ansonsten wäre es bei ihm nicht so weit gekommen, dass sie einen eigenen Code besaß. Levy runzelte die Stirn. Dann stopfte sie ihr Tablet in die Tasche zurück und sprang auf. Inzwischen stand er direkt neben ihr und starrte auf sie herunter, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. „Tut mir leid. Ich muss mir das genauer ansehen. Du bist ein Genie!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zerrte ihn am Kragen den restlichen Weg zu sich herunter und küsste ihn überschwänglich auf die Wange. „Ich komme morgen wieder vorbei, sobald ich was gefunden habe! Bis später!“ Damit stürzte sie aus der Zelle, ehe er überhaupt reagieren konnte. Beschwingt durch das Erfolgsgefühl rannte sie die Treppen hinauf. Es war kein Virus. Es war keines der Programme, die man ihm als Cyborg mitgegeben hatte. Aber anscheinend ließ sich die Menschlichkeit doch nicht so einfach unterdrücken, wie sie bis jetzt gedacht hatte. Anscheinend fand diese immer einen Weg. Sie fragte sich, wie viele Cyborgs dort draußen wohl herumliefen mit kleinen Subroutinen und winzigen Codefragmenten, die aus ihren stärksten Gefühlen gewachsen und von ihrem Unterbewusstsein selbst geschrieben worden waren. Sie fragte sich, ob Gajeel auch eines für sie selbst geschrieben hatte. ~~*~~✿~~*~~ Tatsächlich sah sie Gajeel am nächsten Tag nicht. Auch nicht am übernächsten oder denen danach. Sie sah kaum das Sonnenlicht. Ihr Blick war starr auf ihre Bildschirme gerichtet und sie nahm ihn selbst zum Essen nicht weg, während ihre Hände über das Tablet und die Tastatur huschten. Wenn sie überhaupt aß, was nur geschah, wenn Droy ihr etwas brachte und sie dazu zwang, indem er sie beinahe fütterte. Aber das war ihr egal, sie bemerkte es kaum. Wenn sie schlief, dann auf der Couch in der Werkstatt, eingerollt in eine dünne Decke, nur um nach ein paar Stunden weiterzuarbeiten wie in einem Fieber. Sie hatte gerade einen Lauf. Die Entdeckung des selbstgeschriebenen und so perfekt eingefügten Codes, den sie nur mit der Hilfe eines einzig aus diesem Grund geschriebenen Programms gefunden hatte, hatte sie beflügelt und auf Hochtouren gebracht. Weggefegt waren all ihre Zweifel, ihre Überlegungen, ihre Bedenken, einzig und allein das Streben nach Wissen zählte, völlig ohne Hinblick auf die Konsequenzen und das, was folgen würde. Nach fünf Tagen hielt sie die Lösung ihres Problems in ihren Händen. Sie hatte damit angefangen, ein Programm zu schreiben, alle von Gajeels Codes zu untersuchen und die herauszufiltern, die nicht in die ursprüngliche Matrix gehörte. Nebenbei untersuchte es die anderen auf Ungereimtheiten und Auffälligkeiten, nach Veränderungen der Grundstruktur. Und Junge, Junge, wurde sie da nicht fündig! Ein Programm nach dem anderen reihte sich auf ihrer Liste für ‚Auffälligkeiten‘ auf. Sie fand nur sehr wenige, eigene Programme, vermutlich war ihre Theorie richtig, dass es sehr viel Input brauchte, damit es zustande kam. Da Cyborgs in der Regel isoliert wurden und sich anständige Beziehungen gar nicht aufbauen konnten, hatten nur wenige eine Chance, sich so weit zu entwickeln. Aber hin und wieder geschah es doch und Gajeel hatte Juvia als Beispiel und stummer Zeuge. Doch die anderen Programme, die ihren Scannern auffielen… Es waren Originalcodes aus dem eigentlichen System und sie waren alle offline. Nicht defekt oder beschädigt. Sie waren einfach nur inaktiv. Während all ihrer vorherigen Scans hatte sie nach kaputten Codes gesucht, nach Lücken in den Programmen, nach einem Fehler im System. Einem Fehler, den es nicht gab, denn Gajeels Leistungsprobleme stammten daher, dass einige seiner Programme auf Stand-by geschaltet waren. Wenn sie all diese Programme wieder online setzte und aktivierte, dann wäre das Problem behoben, das Gajeel zu ihr geführt hatte. Dann würde er wieder zu dem emotionslosen Cyborg werden, der Maschine, deren Gefühle so tief begraben wurden, dass sie kaum sichtbar waren und sich nur in wenige Zeilen Code ausprägten, kaum auffindbar unter den tausenden und abertausenden Zeilen, aus denen sein System bestand. Dann würden sie ihn nehmen und zurück auf die Basis bringen und Levy würde ihn nie wieder sehen. Dann würden sie ihn zurück in den Kampf schicken, auf Missionen und Schlachtfelder und irgendwann würde er dort sterben, einsam und allein. Und dieser Gedanke ließ Levy innehalten in ihrer Begeisterung. Plötzlich war ihr schlecht. Sie schaltete das Tablet und alle Bildschirme aus und stand mit wackeligen Beinen auf. Auf einmal fühlte sie sich ausgelaugt und müde und ihr war hundeelend zu mute. Ihre Zeit mit Gajeel neigte sich dem Ende zu und sie wollte einfach nicht, dass er aus ihrem Leben verschwand. Er war zu einem Teil davon geworden, so wie Jet und Droy, wie ihre Eltern. Mehr noch, er war ihr wichtig und sie wollte nicht, dass er ging. Außerdem wollte sie ihm nicht den Hunden zum Fraß vorwerfen, auch wenn er ihr es krummnehmen würde, dass sie versuchte, ihn zu beschützen. Sie wollte nicht, dass er ging, und sie wollte noch weniger, dass er starb. Aber anscheinend führte kein Weg daran vorbei, die Obrigkeit zu benachrichtigten. Die hatte schon begonnen zu Murren, nach Updates und einer baldigen Lösung gefragt. Was sollte sie tun? Eine Weile starrte sie blicklos ins Leere und es war so still, dass sie rein gar nichts hörte als ihren eigenen Atem. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es schon fast halb drei Uhr in der Nacht war und genauso fühlte sie sich. Also gut. Sie würde das mit Gajeel besprechen. Fragen, was er wollte. Ihm vielleicht seine letzte und einzige Wahl geben. Zumindest so viel wollte sie für ihn tun. Mit diesem beruhigenden Gedanken kroch sie unter die verkrumpelten Decken auf ihrem Sofa, wickelte sie um sich wie einen Kokon und schlief keine Minute später ein. Am nächsten Morgen wachte sie erst spät auf zu den Geräuschen von Jet und Droy, die in ihrer Ecke leise einen Roboter reparierten, der nur noch in Fäkalsprache redete – vermutlich der ‚witzige‘ Streich eines Teenagers, aber erstaunlich schwer zu beheben. „…hier gefährlich werden?“, sagte Droy gerade. „Keine Ahnung. Ich denke nicht. Sonst würden sie uns warnen, nicht wahr?“, antwortete Jet. „Außerdem, was gibt es hier schon zu holen?“ „Du meinst, außer Jupiterraketen?“ „Sei kein Dummkopf. Was wollen sie damit tun? Sie unter dem Arm klemmen und hinaustragen?“ Für einen Moment war es still. „Du hast sicher Recht.“, stimmte Droy dann zu. „Trotzdem, der Widerstand… Ich weiß ja nicht…“ „Ich verstehe auch nicht, was sie erreichen wollen. Sie haben keine Chance gegen die Armee.“ Sie blickten beide zu ihr herüber, als sie sich aufsetzte und ihre Augen rieb. „Wie spät ist es?“, wollte sie wissen. „Halb zwölf.“, erwiderte Droy. „Gleich ist Zeit fürs Mittagessen.“ „Ein Kaffee würde mir schon reichen.“, murmelte sie und schwang ihre Beine vom Sofa. Sie streckte sich ausgiebig, seltsamerweise fühlte sie sich vollkommen ausgeruht, als hätte sie nicht einen mehrere Tage dauernden Programmierungs-und-Such-Marathon hinter sich. „Du hast das Problem geknackt.“, stellte Jet fest. „Hm. Ja. Aber behaltet das bitte noch für euch, ja? Ich…“ Sie verstummte, da sie eine plötzliche Eingebung hatte. „Da wir gerade vom Essen reden, Droy, kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Klar!“ „Ich brauche ein Abendessen. Ein anständiges Abendessen. Für zwei. Am besten heute noch.“ Er runzelte die Stirn. „Nicht, wenn du schon wieder mit Warren ausgehen willst.“ „Wa…?“ Erschrocken blickte sie auf. „Nein! Ganz sicher nicht! Das ist für Gajeel. Eine Art … Henkersmahlzeit. Bitte?“ Sie versuchte es mit ihrem schönsten Lächeln, während ihr gleichzeitig durch den Kopf ging, wie sehr sie es mit dieser Metapher auf den Punkt traf. Egal, wie Gajeel sich entschied, beides würde nicht gut ausgehen – entweder er wurde wieder zu der gehorsamen Maschine oder er bekam sein Reboot und wurde trotzdem wieder zur gehorsamen Maschine. Er konnte einfach nicht gewinnen. In diesem Leben hatte er nie eine Chance gehabt. Droy sah nicht begeistert aus, doch er nickte langsam. „Also gut… Irgendwelche besonderen Wünsche?“ „Nein. Mach einfach, was du für am besten hältst. Du weißt ja, was mir schmeckt, und Gajeel isst alles.“ „Also gut… Ich werde mich sofort darum kümmern und gebe dir Bescheid, wenn es fertig ist.“ Damit verließ er den Raum. Jet blickte ihm nach und sah dann Levy an. Er öffnete den Mund, aber sie hob die Hand und schüttelte den Kopf. Jetzt wollte sie nicht darüber sprechen. Sie stand auf und machte sich fertig für den Tag. Tatsächlich wollte sie gar nicht darüber sprechen. Der schlich nur langsam vorbei und sie hatte Mühe, sich zu beschäftigen. Sie wagte nicht, zu Gajeel zu gehen, um ihnen beiden nicht den Abend zu verderben, und wartete ungeduldig auf Droys Nachricht. Am Nachmittag fuhr sie noch einmal nach Hause, um sich frisch zu machen. Einen Moment überlegte sie, ob sie sich schick machen und vielleicht wieder das kurze Schwarze anziehen sollte, doch den Gedanken verwarf sie schnell wieder. Erstens kam es ihr übertrieben vor, zweites wäre es schwer zu erklären gewesen, warum sie aufgebrezelt bei der Arbeit auftauchte, und drittens war es kein Date, so sehr es sich auch in diesem Moment danach anfühlte. Also schlüpfte sie in eine einfache, schwarze Jeans und den orangeroten Pullover, der ihre schmale Taille betonte. Danach trug sie einen Hauch von Make-up auf, der kaum bemerkbar war, aber ihre Augen noch größer erscheinen ließ. „Das ist kein Date.“, sagte sie streng zu ihrem Spiegelbild. „Das ist seine Henkersmahlzeit.“ Dann fuhr sie zurück und verbrachte den Rest des Tages damit, blicklos auf einen Bildschirm zu starren und mit halbem Ohr Jets Tratsch über Rebellen und Revolution und gebunkerte Waffen zu lauschen, bis ihr Tablet piepte. Droy war auf dem Rückweg. Jet half ihr, einen Tisch und ein Paar Stühle zu arrangieren, dann trug er mit seinem besten Freund die Kisten mit dem Essen herein. Schließlich verabschiedeten sie sich und Levy blickte ihnen nach, bis sie ums Eck verschwunden waren. Es war still – die reguläre Arbeitszeit war schon lange vorbei, darum befanden sich nur noch wenige Leute in der Einrichtung. Niemand begegnete ihr, als sie hinunter zu Gajeels Zelle ging. Fernandez ließ sie mit einem begrüßenden Nicken ein und Levy stand bald vor der Glasscheibe. Gajeel stand von seiner Pritsche auf, als er sie kommen hörte, und trat an das Fenster. „Du warst schon lange nicht mehr da.“, begrüßte er sie mürrisch und Levy schlug schuldbewusst die Augen nieder. „Tut mir leid. Ich habe zu viel gearbeitet. Ich … habe Essen vorbereitet. Beziehungsweise, Droy hat es getan, er kocht viel besser als ich. Aber ich meine…“, plapperte sie los und unterbrach sich dann. So wurde das nichts. „Willst du mit mir zu Abend essen?“ Er runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“ „Nichts!“, erklärte sie hastig, aber er glaubte ihr offensichtlich nicht, denn seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Sie hob die Hände. „Okay. Es ist etwas passiert. Und ich möchte mit dir darüber sprechen. Aber … lass uns erst etwas essen?“ Für einen Moment starrte er sie nur an und sie hoffte, dass sie keine Abfuhr bekam. Was sie dann tun sollte, wüsste sie auch nicht. „Also gut. Aber nur, weil ich Hunger habe.“, gab er schließlich verdrießlich nach. Sie unterdrückte ein Lächeln und öffnete die Türen, damit er hinaustreten konnte. Er streckte ihr die Handgelenke hin, damit sie ihm ohne Schwierigkeiten die Handschellen anlegen konnte. Sie wünschte, sie könnte diesen Schritt einfach übergehen, aber ihm war verboten, sich ohne Fesseln in der Anlage zu bewegen. Wenigstens musste sie ihm nicht auch noch die Augenbinde anlegen. Als sie in der Werkstatt ankamen, musterte Gajeel neugierig das Arrangement, den Tisch mit den abgedeckten Vorspeisetellern und der blütenweisen Tischdecke und sogar eine Kerze hatte Droy mitgebracht, die munter vor sich hin flackerte. Das Essen duftete köstlich und aus den Lautsprechern drang jazzige Musik. „Du hast herausgefunden, was kaputt ist an mir.“, stellte er dann fest. Sie legte die Handschellen zur Seite und wagte nicht, ihn anzusehen. „Ja. Ich… Lass uns essen, in Ordnung?“ Sie deutete auf einen der Stühle und setzte sich ihm gegenüber, als er zögerlich darauf Platz nahm. „Ich verspreche, Droy ist der beste Koch, den ich kenne.“ „Ist er darum so fett?“, wollte Gajeel wissen und Levy warf ihm einen bösen Blick zu. Sie bekam nur ein freches Grinsen als Antwort. Wenigstens bemühte er sich um eine leichtere Stimmung, auch wenn der Witz etwas danebengegangen war… Trotzdem war die Vorspeise – eine köstliche Maronisuppe – eine recht steife Angelegenheit. Sie wusste nicht, wie sie die düstere Stimmung vertreiben sollte, und Gajeel hatte seinen Kopf tief über den Teller gebeugt, und schaufelte das Essen in sich hinein. Vielleicht wollte er nicht reden. Vielleicht hätte sie das Ganze unauffälliger aufziehen sollen. „Das ist echt gut!“, erklärte er schließlich und begann, auch noch den Teller abzulecken. Sie kicherte, eher aus Erleichterung als aus Amüsement. „Wir haben noch mehr.“, erklärte sie ihm und deutete auf die Kisten, die in der richtigen Abfolge der Gänge aufeinandergestapelt waren. „Du musst den Teller nicht mitessen.“ Der Rest der Mahlzeit wurde zu einer lockereren Angelegenheit, bei der sie ihren gewohnten Gesprächsrhythmus wiederfanden. Droy hatte sich bei den Gerichten selbst übertroffen, eine Köstlichkeit kam nach der anderen, und Gajeel schlang alles in sich hinein, als wäre es das letzte, was er je essen würde. Als müsste er den Rest seines Lebens von Brot und Wasser leben. Levy verdrängte den Gedanken und bemühte sich, auf das Hier und Jetzt zu achten, im Moment zu leben. Gajeels Gegenwart zu genießen. Über die Gesichter zu schmunzeln, die er machte, wann immer ihm etwas besonders schmeckte. Über seine trockenen Witze zu lachen. Mit ihm zu scherzen über das, was ihnen gerade einfiel. Ihm etwas über die Musik beizubringen, die sie hörten und von der er so begeistert war, dass er manchmal sogar mit dem Essen aufhörte und mitsummte. Abscheulich, ohrenzusammenziehend falsch. Trotzdem ließ der verzückte Anblick allein sie bereuen, dass sie vorher nie daran gedacht hatte, ihn mit einer der größten Errungenschaften der Menschheit bekannt zu machen. Als sie schließlich beim Nachtisch angelangten – einer cremigen Schokoladentorte, von denen Levy gerade mal ein Stück schaffte, während Gajeel sie regelrecht inhalierte – war sie außer Atem von all dem Lachen und dem vielen Reden und den Versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen, wann immer er sich wieder auf die Musik konzentrierte. „Ich wünschte, ich hätte noch Zeit, dir Tanzen beizubringen.“, erklärte sie mit einem leichten Lachen. Die Koordination dafür hätte er auf jeden Fall und er könnte nicht mehr singen – zwei Fliegen mit einer Klappe. Doch Gajeel schien die Bemerkung auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, denn er wurde plötzlich ernst und schob sein fünftes Stück Kuchen halb gegessen zur Seite. „Was ist es?“, verlangte er zu wissen und Levy seufzte, genau wissend, was er meinte. Sie wusste, dass sie ihn nicht mehr von dem Thema abbringen könnte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie zumindest ein paar Stunden der Wirklichkeit hatten entfliehen können. Sie setzte sich aufrechter hin und schob das Geschirr beiseite. Doch ehe sie das Wort ergreifen konnte, sprach er schon weiter: „Und was hast du damit gemeint, mein Code für Juvia?“ „Es ist dieses Programm, das ich zuerst für einen Virus gehalten habe.“, begann sie und erklärte ihm, was sie darüber herausgefunden hatte. Dabei beobachtete sie ihn genau, doch er hatte seine Züge unter Kontrolle und sie verrieten nichts, was hinter dieser eisernen Maske vor sich ging, zu der sein Gesicht geworden sein schien. Als sie geendet hatte, nickte er und wandte den Blick von ihr ab, offensichtlich tief in Gedanken versunken. Schließlich blickte er sie wieder an. „Und das ist für meine Probleme verantwortlich?“ „Nein. Ganz und gar nicht. Ich denke sogar, dass die meisten Cyborgs selbst ähnliche Programme haben und nur regelmäßige Reboots dies verhindern könnten, was offensichtlich nicht umsetzbar ist. Es ist einfach so, dass ein paar deiner Programme deaktiviert wurden. Sie sind noch da und sie sind auch nicht kaputt oder dergleichen, sie sind einfach … offline. Darum hat niemand sie bemerkt.“ Er nickte. „Und wenn du sie wieder aktivierst, werde ich wieder … wie vorher?“ Erneut nickte sie. Dann griff sie kurzentschlossen nach seinen Händen, die regungslos auf dem Tisch lagen, und drückte sie. Seine Finger waren erstaunlich warm und er zuckte unter der Berührung zusammen, als hätte sie ihn verbrannt. Doch gerade, als sie sich wieder unsicher zurückziehen wollte, entspannte er sich und erwiderte den Händedruck. Also verstärkte sie ihren Griff wieder und blieb so sitzen, etwas ungelenk nach vorn gebeugt. „Ich kann es auch bleiben lassen.“, erklärte sie und schaute ihn dabei fest an. Sein Gesicht war noch immer unleserlich, doch seine Augen wirkten lebendig und voller Gefühl. „Aber dann werden sie dich einem Reboot unterziehen. Ein paar Tage hast du noch. Vielleicht zwei Wochen, aber sie werden schon ungeduldig. Ich … ich wollte das nicht entscheiden. Das ist allein deine Wahl.“ Sie senkte den Blick und hoffte, dass sie nicht gleich in Tränen ausbrechen würde. Hier ging es nicht um sie. „Es tut mir Leid, dass ich nicht mehr für dich tun kann.“ Er antwortete nicht und sie fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Was konnte sie noch sagen, um ihm zu helfen? Sie wünschte, sie könnte etwas tun, irgendetwas, um ihm die Sache etwas zu erleichtern, nur ein kleines bisschen, egal, was sie dafür tun musste. Aber es gab einfach nichts mehr, das sie tun konnte. Sie wusste keinen anderen Ausweg. Ihm zur Flucht verhelfen, mit ihm weg rennen? Und dann? Sie würden ohne erfahrene Hilfe kaum bis zum Stadtrand kommen, ehe man sie wieder einfing… Und sie wüsste nicht einmal, wo sie solche Hilfe herbekommen sollte. Wer wusste es, vielleicht hätte sie schon Arrangements gemacht, wenn. „Du hast genug getan.“ Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstand, und sein Tonfall so bedeutungsvoll, dass sie erstaunt aufblickte. Jetzt sprach er nicht mehr von dieser Entscheidung, die sie ihm gab, zumindest nicht nur. Er blickte sie offen an und auf seinem Gesicht lag ein so offener, warmer und verwundbarer Ausdruck, dass sie ihn einen Moment nur anstarren konnte. Ihr Herz schlug plötzlich doppelt so schnell und so stark, dass sie es in der Kehle spüren konnte. Dann brach er den Blickkontakt und drehte den Kopf zur Seite, während er gleichzeitig seine Hände zurückzog, Gesten, so unsicher, dass es ihr das Herz brach. Während all der Zeit, die er hier verbracht hatte, als Gefangener in einer öden Zelle oder als Testobjekt in einen Stuhl, in den er gefesselt werden konnte, hatte sie ihn niemals wirklich angreifbar oder auch nur einen Jota weniger als absolut selbstsicher gesehen, selbst, als er über Juvia gesprochen hatte. Gleichzeitig wusste sie, dass ihre Gefühle doch nicht so einseitig waren, wie sie bis jetzt gedacht hatte. Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm, aufzustehen, einen einzelnen, verrückten Gedanken im Kopf. Vielleicht war es der Mut des Verzweifelten, der Mut desjenigen, der seine letzte Chance schwinden sah, der Mut desjenigen, der mit absoluter Sicherheit wusste, wenn nicht jetzt, dann niemals. Was auch immer es war, es trug sie um den Tisch herum, bis sie direkt neben ihm stand. Als er Anstalten machte, sich ebenfalls zu erheben, drückte sie ihn an den Schultern auf den Stuhl zurück. „Bleib sitzen.“, bat sie ihn, ohne ihre Hände wieder wegzunehmen. Er starrte sie an, als würde er sie das erste Mal sehen, wie ein Wunder, sein Gesichtsausdruck noch immer so verletzlich, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte. Sie beugte sich vor und küsste ihn, langsam und leicht und zart wie Schmetterlingsflügel. Ihre Lider senkten sich und sie wandte den Kopf um den Kuss zu vertiefen und nach einigen Momenten reagierte er, unbeholfen und ungeschickt, aber mit vorsichtiger Begierde. Seine Lippen bewegten sich keusch gegen ihre und unter dem Schokoladenkuchen schmeckte er nach Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und Liebe. Sie hatte ihm nie erklärt, was Küsse waren oder mit ihm über Sexualität und menschliches Zusammensein gesprochen. Vielleicht erinnerte er sich noch aus seiner Kindheit daran, fahle Erinnerungen an ein besseres Leben, an Leute, die er gekannt und gesehen hatte, und Freunde und Erwachsene, die ähnlichen Tätigkeiten nachgegangen waren. Jedenfalls legten sich seine Hände auf ihre Hüften, zärtlich und vorsichtig als wäre sie aus Glas und würde bei einer falschen Bewegung zerbrechen, und zog sie näher. Trotzdem sandten die Berührungen Schauer durch ihren ganzen Körper, der sich seinem entgegendrängte, und sie ließ ihre Hände über seinen Nacken gleiten in seine wilden Haare. Seine Hände wanderten über ihren Rücken und er schloss sie enger in seine Arme, die sie mit einer einzigen Bewegung zerbrechen könnten und sie stattdessen hielten, als wäre sie das Wertvollste auf der Welt. Der Kuss blieb langsam und zärtlich und intim auf eine Art, wie sie es noch nie gespürt hatte. Er berührte sie im tiefsten Inneren, an Orten in ihrem Herzen, in ihrer Seele, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten, und sie fühlte sich der Göttlichkeit so nahe wie nie zuvor. War das der Himmel, von dem die Predigten immer sprachen? Das Paradis? Sie wollte hier bleiben für immer und nie wieder aufhören. Er war es, der den Kuss beendete, in dem er sie sanft von sich schob und ihren protestierenden Laut ignorierte. Mit einer Bewegung erhob er sich und trat von ihr zurück, ein, zwei Schritte. „Ich kann nicht.“, erklärte er und er senkte den Kopf, so dass seine Haare sein Gesicht verdeckten. Seine Stimme klang endgültig und gleichzeitig gänzlich geschlagen. Besiegt. „Ich kann diese Erinnerungen nicht behalten und gleichzeitig nichts mehr fühlen und vergessen, wer du für mich gewesen bist. Du darfst meine Programme nicht wieder aktivieren.“ Sie blickte zu ihm hoch und blinzelte ihre Tränen weg und fühlte sich auf einmal leer und hohl. Sie nickte. Wie konnte sie ihm diesen Wunsch abschlagen, egal, wie sehr es sie schmerzte. Wenigstens würde sie diesen einen Kuss haben. „Bitte bring mich zurück in meine Zelle.“ ~~*~~✿~~*~~ Sie sah während der nächsten Tage nicht viel von ihm, da sie selbst es nicht ertrug, in seine Nähe zu gehen. Die wenigen Male, die sie ihn zwangsweise traf, hatte er nicht viel zu sagen und behandelte sie so abweisend und kühl, dass sie nicht umhin kam zu denken, dass ihm ihr Fernbleiben ganz recht war. Wie versprochen sagte sie nichts darüber, den Ursprung seines Problems gefunden zu haben. Jet und Droy, auch wenn sie ihre Beweggründe nicht verstanden, schwiegen ebenfalls. Wenn jemandem auffiel, dass ihr plötzlicher Arbeitseifer deutlich nachgelassen hatte, fragte er nicht danach. Kommandantin Scarlet allerdings schneite immer öfter im Abstand von zwei bis drei Tagen vorbei, um sich nach Fortschritten zu erkundigen. Levy konnte den Tag, an dem sie auf der Matte stand und einen kompletten Reboot von Gajeels Festplatte verlangte, schon kommen sehen. Es würde nicht mehr lange dauern. Bisca mochte wohl die einzige sein, die etwas von Levy Gefühlschaos ahnte. Doch sie fragte nicht, sondern tätschelte der Technikerin nur mit einem traurigen Lächeln den Arm. War es so offensichtlich gewesen? Dabei hatte Levy gedacht, sie hätte es ganz gut versteckt und unter Kontrolle… Da sie offiziell noch immer an dem bereits gelösten Problem arbeitete, hatte sie nun sehr viel freie Zeit, die sie irgendwie füllen musste. Die meiste davon verbrachte sie dabei, blicklos auf ihre Bildschirme zu starren, über die immer noch endlos irgendwelche Codes liefen, die sie nicht aufnehmen konnte, und ihr Hirn nach einer weiteren Möglichkeit abzusuchen. Nach einem dritten Weg, einem der ihr und Gajeel oder zumindest ihm ein Happy End gewährte. Aber egal, was sie sich überlegte, welche verrückten und immer verrückter werdenden Ideen sie hatte, immer wieder landete sie bei einem Punkt, an dem sie nicht weiterkam. Eine Sache, die sie nicht überwinden konnte. In Seven gab es für Gajeel kein Leben außerhalb von dem, das er bis jetzt gelebt hatte, das ihm diktiert worden war. Sie würden ihn lieber tot sehen als frei. Die einzige Hoffnung für ihn bestand darin, sein Heimatland zu verlassen und anderswo sein Glück zu suchen. Für sie war es nicht anders, nicht, wenn sie für ihre Arbeit die Anerkennung wollte, die sie verdiente, und nicht, wenn sie mit ihm zusammen sein wollte. Nicht wenn sie mehr sein wollte als nur ein Mensch zweiter Klasse. Und Levy stellte mit Erschrecken fest, dass sie selbst keine Probleme damit hätte, dieses erbärmliche, verachtungswürdige Land hinter sich zu lassen. Natürlich, sie würde ihre Eltern vermissen, Jet und Droy, die ihr gute Freunde geworden waren, und Bisca, die sie nicht verraten hatte, Asuka und Alzack und … nicht viel mehr. Im Grunde war das eine sehr traurige Bilanz ihres Lebens, das sich mehr um ihre Arbeit drehte als um Menschen, um Liebe und Zufriedenheit, als um das Leben selbst. Sie war nicht glücklich hier. Wie konnte sie es sein in einer Gesellschaft, die ihr sagte, dass sie nichts wert war, nur weil ihre Gene einen winzigen Defekt aufwiesen, der nie zum Tragen kommen würde? Und Gajeel… Grausamkeit war ein Wort, das nur im Ansatz beschrieb, was sein Schicksal darstellte. Wenn sie ihn hier herausbringen könnte, wenn sie ihm folgen könnte, wenn sie nur zusammen sein könnten, dann würde sie eine solche Chance mit einem Handkuss begrüßen und mit beiden Händen fassen und nicht mehr loslassen. Doch sie sah keine Möglichkeit, dass eine solche Chance in ihren Schoß fallen würde, und auch keine, sich selbst eine zu schaffen. Dafür war es schon lange zu spät. Zum ersten Mal seit Jahren betete sie wieder, zu einem abweisenden, gefühlskalten Gott, den ihre Probleme nicht interessierten oder den es schlichtweg nicht gab. Für eine Nation, die auf dem Papier eine Theokratie war, die von einem Hierophanten beherrscht wurde, war Seven ein sehr gottloses Land, das nicht einmal mehr den Anschein machte, den Regeln einer längst obsoleten Religion zu folgen. Kein toter Gott würde ihnen helfen. Und selbst wenn sie wie durch ein Wunder Gajeel befreien, sich mit ihm erst aus der Stadt und schließlich auch noch aus dem Land schleichen könnte, würde man sie jagen, bis sie beide tote waren. Die Obersten mussten ihn wieder einfangen und disziplinieren, wenn sie ihre uneingeschränkte Macht behalten wollten, die eiserne Faust stark halten und den absoluten Gehorsam einfordern wollten. Ihr Doktrin ließ kein Versagen zu und ein Cyborg, der seinen metaphorischen Ketten entfloh, war ein derartiges Versagen. Wie man es auch drehte und wendete, Gajeel hatte keine Chance. „Hier.“ Ein Teller mit Cookies, der plötzlich in ihrem Blickfeld erschien, ließ sie mit einem erschrockenen Quietschen zurückweichen, so dass sie beinahe von ihrem Stuhl auf den Boden rutschte. „Tut mir Leid.“ Droy schnitt eine schuldbewusste Grimasse. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sie setzte sich wieder gerade hin. „Macht nichts. Ich sollte weniger unaufmerksam sein.“ Sie seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Süßigkeiten. „Für dich.“, erklärte Droy. „Eine kleine Aufmunterung.“ Mit einem, wie sie hoffte, dankbaren Lächeln nahm sie den Teller entgegen und wählte sich einen der dunklen Kekse aus, aus deren Oberfläche ganze Klumpen von Schokolade ragten. Sie dufteten verführerisch und waren offensichtlich selbst gemacht – die besten Cookies der Welt, wie sie aus Erfahrung wusste. Eine Wochen vorher hätte sie sich mit Begeisterung darüber hergemacht und ein paar aufbewahrt, um sie Gajeel zu geben. Jetzt konnte sie nur lustlos daran herumknabbern. Sie wollte nicht unhöflich sein oder andeuten, dass das Gebäck ihr nicht schmeckte. Ganz im Gegenteil, sie waren gut wie eh und je. Aber sie war einfach nicht in Stimmung dafür und erst recht nicht, da sie wusste, wie sehr ihr Cyborg diese Cookies geliebt hätte. „Wir könnten auch gar nichts machen, dir zu helfen, oder?“, meinte Jet von der anderen Seite und Levy hob entschuldigend die Schultern. Es war nicht so, dass sie traurig sein wollte, es war nur… Sie seufzte wieder. „Es ist nichts.“, sagte sie und Jet schnaubte ungläubig, während Droy nur den Kopf schüttelte. „Iss deine Kekse.“, befahl er ihr. „Schokolade macht glücklich.“ Wenn es doch nur so einfach wäre… „Ich denke nicht, dass i-“ Ein fürchterliches Bersten und Krachen schnitt ihr das Wort ab und die Erde bebte unter ihren Füßen. Erschrocken schrie sie auf, als mehrere Dinge aus den Regalen fielen. Einer der Bildschirme löste sich von seiner Halterung und kam splitternd und polternd auf dem Tisch auf, um von dort auf den Boden zu fallen. „Ein Erdbeben?“, rief Jet erstaunt aus, während er sich geschockt umsah. Einen Moment später setzte der Alarm ein, nur unterbrochen von einer gefassten, männlichen Stimme: „Unbekannte Individuen attackieren die Basis mit Drohnen. Wir gehen von einem zweiten Schlag am Boden aus. Alle Soldaten auf Gefechtsstation. Die Zivilisten begeben sich auf direktem Wege in den nächstgelegenen Bunker. Brechen Sie nicht in Panik aus. Dies ist keine Übung.“ Danach heulte die Sirene wieder los. Levy starrte ihre Assistenten mit weit aufgerissenen Augen an. Für einen Moment war sie wie erstarrt und konnte nicht begreifen, was geschah. Dann gab es eine weitere Explosion, nicht mehr so weit entfernt wie vorher, und erneut wurde alles erschüttert. Eines der Regale stürzte mit entsetzlichem Krach um. Der Alarm heulte immer noch, hin und wieder unterbrochen von der Durchsage: „Bitte begeben Sie sich zu den Bunkern. Brechen Sie nicht in Panik aus. Dies ist keine Übung.“ Levy schnellte herum und griff nach ihrem Tablet, während Droy bereits auf halbem Wege zur Tür war. „Levy, was tust du?!“, rief Jet und packte sie am Arm, um sie hinter sich herzuziehen. Beinahe wäre ihr das Gerät aus den Händen gefallen, aber sie hielt es im letzten Moment fest. „Ich brauche das!“, fauchte sie und drückte das Tablet an sich. Dort hatte sie alle ihre Geheimnisse drauf, ihre Daten über Gajeel und ihre erfolgreiche Jagd nach dem Programmfehler. Wenn das jemand fand und hineinsah… „Das ist doch jetzt auch egal!“, erklärte Jet heftig. „Komm jetzt!“ Gemeinsam stürmten sie den Korridor hinunter, während über ihnen der Alarm dröhnte und die roten Warnsignale blinkten. Sie waren keine drei Flure gekommen und wollten gerade in den nächsten einbiegen, als eine dritte Explosion das Gebäude erschütterte, diesmal so nah, dass es sie von den Füßen riss. Hart kam sie auf dem Boden auf und schlug sich das Kinn und die Knie an. Das Tablet wurde ihr aus den Händen geschleudert und schlitterte über den Boden. Putz und Brocken von Mörtel rieselten von oben auf sie herunter. Levy hustete und spukte aus, irgendwie war ihr schwindelig. Der Staub hing so dicht in der Luft, dass sie nicht bis zum Ende des Flures sehen konnte. Droy zog sie an den Armen wieder nach oben. „Geht es dir gut?!“ Sie nickte benommen und tastete nach der schmerzenden Stelle an ihrer Stirn. Als sie ihre Finger zurückzog, waren sie rot vor Blut. Hatte sie einer der Bruchstücke getroffen? Doch ihr Kopf klärte sich bereits wieder auf und sie sah sich suchend nach ihrem Tablet um. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Levy!“, ermahnte Jet sie und Droy zog sie hinter sich hier, weg von dem wertvollen Gerät. „Nein!“, beschwerte sie sich und drängte in die andere Richtung. „Da sind alle meine Daten über Gaje…“ Sie verstummte. Oh Gott, Gajeel! Würden seine Bewacher ihn in Sicherheit bringen? Würden sie versuchen, ihn zum Kämpfen einzuspannen? Oder würden sie ihn einfach dort lassen, wo er war, eingesperrt in einer Zelle, aus der er nicht entkommen konnte? In der Zelle, die gut und gerne bei der nächsten oder der übernächsten Explosion einstürzen könnte? Sie sah es schon vor ihrem inneren Auge, das Dach über ihm, das nachgab und einfiel, die Betonplatten, die ihn unter sich begruben, mehr Geröll, das auf ihn fiel, bis selbst sein aufgebesserter, stärkerer Cyborgkörper unter dem Gewicht einfach nachgab. Diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Sie musste wissen, dass es ihm gut ging, dass er die Zelle verlassen konnte und er zumindest die gleich große Chance zum Überleben hatte wie alle anderen auch. Die Angst um ihn gab ihr die Kraft, sich aus Droys Griff zu winden. Sie rannte zurück, erst zu dem Tablet, das sie vom Boden auffischte, und dann weiter den Flur hinunter, der sie zu den Arrestzellen bringen würde. „LEVY!“, hörte sie ihre Assistenten hinter sich brüllen, geschockt und bestürzt. „Levy, der Bunker ist in die andere Richtung!“ Sie zögerte. „Geht schon mal vor, ich komme gleich nach!“, rief sie zurück. „Ich muss zu den Zellen!“ „Levy!“, rief Jet wieder und er machte Anstalten, ihr zu folgen. Der Ausdruck von Furcht auf seinem bleichen Gesicht war kaum zu ertragen und Droy wirkte, als würde er gleich ohnmächtig werden vor Angst. „Macht euch keine Sorgen um mich!“, rief sie ihnen zu, fuhr herum und rannte weiter. Sie hoffte, dass sie ihr nicht folgen würden, sie sollten in den Bunker, sich in Sicherheit bringen… „Levy!“ Droys Stimme echote durch den Gang, doch alle weiteren Worte wurden von dem fernen Stakkato von Maschinengewehrfeuer unterbrochen. Die Möglichkeit, dass dieser Richtungswechsel sie umbringen würde, war hoch, erkannte sie. Trotzdem trugen ihre Füße sie weiter, so schnell sie konnte. Es wäre weit schlimmer, Gajeel in seiner Zelle zurückzulassen, nachher seinen zerquetschten Körper zu finden und sich zu fragen, ob sie etwas hätte ändern können. Sie würde das nicht ertragen. Sie hoffte nur, dass ihre Assistenten sich in Sicherheit bringen konnten. Auf dem Weg zu den Arrestzellen begegnete sie niemandem, denn sie lagen etwas entfernt von allen anderen Bereichen und keiner der Bunker war in der Nähe. Inzwischen mussten die meisten Zivilisten evakuiert sein und die Soldaten im Gefecht. Alle Soldaten, stellte sie kurz darauf fest, denn der Wachposten vor der Tür zu den Zellen war nicht besetzt. Das gab ihr Hoffnung und gleichzeitig schalt sie sich für ihre Idiotie; Sergeant Fernandez war ein anständiger Kerl, er würde Gajeel bestimmt nicht zurücklassen… Aber sie musste absolut sicher sein, ehe sie an sich selbst denken konnte. Sie fummelte ihre ID-Karte aus ihrer Tasche und öffnete die Tür, um die Treppen hinunterzurennen, so schnell sie es wagte. Sie konnte das Licht in Gajeels Raum schon von weitem sehen und einen Schatten, der sich bewegte… Er war hier! Er war noch hier! Wie konnten sie es wagen?! Kurz darauf ertönte ein metallisches Krachen, das in kurzen Abständen erklang und durch den Flur hallte. „GAJEEL!“, brüllte sie, kaum dass ihre Erleichterung, ihn zu sehen, es zuließ. Der Lärm ertönte erneut und dann richtete der Schatten sich auf, kurz bevor sie die Scheibe erreichte. Gajeel hielt einen der Stühle an der Lehne und hatte ihn offensichtlich gegen die Glasscheibe geschmettert, denn sie hatte einen Riss und der Stuhl war krumm und verbogen. Auf der Seite lag der andere Sitzplatz, völlig verzogen und kaputt. Doch Gajeel ließ ihr keine Zeit, sich darüber zu wundern, wie er es geschafft hatte, einen Riss in eine angeblich unzerstörbare Scheibe zu machen. „Was tust du hier?!“, herrschte er sie an und sie zuckte zurück unter den harschen Worten. Sie hatte gehofft, er würde sich zumindest ein bisschen über ihr Auftauchen freuen… „Du solltest in einem der Bunker sein! In Sicherheit!“ Die Wärme, die sie aufgrund dieser Worte durchströmte, machte sie ganz schwindelig. „Nicht ohne dich.“, antwortete sie entschlossen, für diesen Moment so sicher darüber, dass sie hier beide lebend herauskommen würden, und zog ihre Karte durch den Schlitz, um seine äußere Zellentür zu öffnen und dann noch die zweite. „Komm jetzt!“ Er zögerte keinen Moment, warf den Stuhl weg und verließ die Zelle. „Der nächste Bunker ist ein paar Gänge entfernt.“, erklärte sie ihm und drückte ihr Tablet mit beiden Armen an sich. Sie eilten im Laufschritt auf die Treppe zu. „Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch heil an.“ „Du hättest nicht kommen dürfen!“, schimpfte er. „Ich wäre da schon allein rausgekommen!“ Sie warf ihm einen Blick zu und wollte ihm gerade widersprechen, als eine weitere Explosion das Gebäude erschütterte. Unter ihren Füßen gab der Boden mit einem entsetzlichen Bersten nach. Erschrocken schrie sie auf und ihr Magen drehte sich um bei dem Gefühl, plötzlich frei in der Luft zu hängen. Einen Moment später spürte sie starke Arme, die sie um die Mitte fassten. Dann kamen sie auf dem Boden auf, landeten hart zwischen Geröll und Schutt. Levy schüttelte benommen den Kopf und der Untergrund bewegte sich leicht und stöhnte. Sie rappelte sich hastig auf, als sie bemerkte, dass sie auf Gajeel lag, der ihren Sturz mit seinem Körper abgedämpft hatte. Hart landete sie auf einigen Steinbrocken, als sie von ihm herunterrollte, und sie sicherte ihr Tablet mit einer Hand. Die Dinger waren stabil gebaut, aber sie hoffte trotzdem, dass es dieses Abenteuer überstand. „Oh Gott, oh Gott!“, jammerte sie. „Bist du verletzt? Geht es dir gut?“ „Nach was sieht das denn aus, Zwerg?! Ich bin gerade ein Stockwerk tief gefallen und du auf mich drauf!“, maulte er und sie atmete erleichtert auf. Wenn er so quengeln konnte, ging es ihm gut, von ein paar blauen Flecke abgesehen. Aber er war ein Cyborg und sein Körper auf solche Misshandlung und Anstrengungen ausgelegt. Seine roten Augen glühten in der Dunkelheit, die um sie herum herrschte, und sie bemerkte, dass er sie genau musterte. „Mir geht es gut.“, versicherte sie ihm und stand auf. „Du blutest.“, stellte er trotzdem fest, während er sich mit einer geschmeidigen Bewegung erhob. Der Sturz musste ihm noch weniger ausgemacht haben, als sie gedacht hatte. „Das ist nur oberflächlich.“, winkte sie ab. „Von vorhin. Komm, wir müssen einen Weg hier raus finden.“ Sie blickte sich suchend um – sie hatte keine Ahnung, wo sie waren. Aber es war dunkel und das Licht, das durch das Loch in der Decke herunterfiel, war zu schwach, als das es mehr als ein paar Meter beleuchten würde. Sie konnte kaum mehr als ein paar eckige Silhouetten erkennen. „Scheint ein Lagerraum zu sein.“, meinte Gajeel. „Da hinten ist eine Tür.“ Er deutete in eine Richtung, doch Levy erkannte nichts als Schwärze. Trotzdem vertraute sie ihm, seine Cyberaugen mussten ihm ein scharfes Bild liefern, wenn es durch die Dunkelheit auch Schwarzweiß war. Er ging an ihr vorbei und Levy schrie erschrocken auf, als ihr Blick auf eine feucht glänzende Stelle auf seinem Shirt fiel. „Gajeel! Du bist verletzt!“ „Nur ein Kratzer.“, versicherte er ihr, aber sie war mit zwei Schritten bei ihm und zerrte sein Shirt hoch. Eine tiefe Schramme zog sich über seine Seite, direkt unter den Rippen. Blut rann aus der Wunde, wenn auch weniger, als sie befürchtet hatte. Ärgerlich schob Gajeel ihre Hände beiseite. „Das wird mich nicht umbringen. Und wir müssen hier weg. Komm jetzt.“ Kurzentschlossen packte er sie an der Hüfte und warf sie über die Schulter, was ihr ein erschrockenes Quietschen entlockte. „Wa… Was soll das! Lass mich runter!“ Sie konnte sehr wohl alleine laufen! „Damit du in der Dunkelheit über deine eigenen Füße fällst?“, war die ungerührte Antwort und er marschierte einfach los. Wenn die Lage nicht so drängend wäre, hätte sie weiter protestiert, aber jetzt beschloss sie, ihn einfach tun zu lassen. Kurz darauf erreichten sie die Tür, die sich einfach öffnen ließ, und kamen in einen langen Flur hinaus. Hier brannte wenigstens die Notbeleuchtung, die alles in ein graues Licht tauchte. Es war nicht gerade hell, aber genug um zu sehen, und Gajeel setzte sie ab. „Wo lang?“, wollte er wissen und sie konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. „Ich war hier noch nie.“, gab sie zu. „Ich glaube, das hier ist einer der eingeschränkten Bereiche.“ Sie blickte sich um, doch der kahle Gang und die paar Türen, die in die Wände eingelassen waren, gaben keinerlei Aufschluss, wohin sie mussten. Auch auf dem Boden fehlten die Richtungsfarben, die bei der Orientierung halfen, was ihren Verdacht noch einmal bestätigte. „Also… Meinem Gefühl nach würde ich sagen, in diese Richtung.“ Sie deutete nach rechts den Gang hinunter, wo sie die nächsten Treppen nach oben vermutete. Hier unten würden sie keinen Zugang zu einem Bunker finden. Im Laufschritt eilten sie den Flur entlang, der am hinteren Ende ums Eck führte. Es war beinahe unheimlich still hier unten, einzig ihre eigenen Schritte und Levys schwerer Atem waren zu hören. Durch die dicken Mauern drangen weder Schreie noch das Geräusch der Schüsse, von denen sie sicher war, dass sie durch das Gebäude hallten. Selbst der Alarm schwieg hier unten. Einzig eine weitere Explosion würde die Stille hier zerstören, aber Levy hoffte inständig, dass nicht noch eine folgen würde. Vielleicht sollten sie sich hier unten einfach einen Platz suchen und abwarten, bis alles vorbei war. Oder vielleicht würden sie hinter dieser Ecke gleich auf die Treppe stoßen, dann konnten sie sich vielleicht doch in einen der Bunker retten. Oder vielleicht konnten sie den Ausgang finden und unbemerkt hinausschlüpfen und in den Arbeitervierteln untertauchen oder in den Slums vor der Stadt, fuhr es ihr wild und euphorisch durch den Kopf. Vielleicht würden die Oberen denken, die Angreifer hätten sie und Gajeel mitgenommen… Vielleicht sollte sie mit Gajeel darüber reden, ihm diesen Vorschlag unterbreiten und hoffen… Sie bog als erstes um die Ecke und blieb so abrupt stehen, dass Gajeel sie ohne seine übermenschlichen Reflexe einfach über den Haufen gerannt hätte. Sie hatte gehofft, die Treppe zu sehen, die sie nach oben brachte. Stattdessen erstreckte sich vor ihnen eine hohe Halle, notdürftig beleuchtet und vollgestellt mit Kisten und Paletten und sogar ein paar gepanzerten Militärfahrzeugen. Unter einigen großen Planen, fein säuberlich an der Wand aufgereiht, ragten die Schnauzen von Raketen hervor. Doch das war nicht das, was sie erschreckte, sondern die Personen, die nicht weit entfernt von ihnen hinter einigen Behältern kauerten. Sie waren komplett angetan mit taktischer Kluft, Pistolen und Messern an den Beinen und schweren Militärstiefeln und ausgestattet mit Schnellfeuerwaffen, die sie in die Richtung von anderen Kisten hielten, hinter denen sich etwas bewegte. Es mochte etwa ein halbes Dutzend Kämpfer sein, vielleicht ein paar mehr. Levy konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch tatsächlich war es nicht schwer, das zu erraten. Diese Leute in Schwarz waren die Angreifer, ihre Gegner mussten daher Verteidiger sein, in die Ecke gedrängt und sicher bald tot. Jetzt fuhren die Feinde auf, als sie die Neuankömmlinge bemerkten und richteten ihre Waffen auf sie. Levy hatte nicht einmal mehr Zeit zum Schreien, als Gajeel sie mit einer Bewegung zur Seite stieß, so dass sie zu Boden fiel. Wenigstens behielt sie diesmal ihr Tablet fest in den Armen. Trotzdem braucht sie einen Moment, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen zu richten. Gajeel war bereits auf halbem Wege zu den Feinden, die erschrocken ihre Waffen auf ihn richteten. Schüsse krachten und sie hörte sie in Wände und Kisten einschlagen, doch die unerwarteten und unmenschlich schnellen Bewegungen des Cyborgs, ließen sie alle daneben gehen. Levy kroch weiter zu Seite und war das erste Mal froh um ihre geringe Körpergröße – weniger Fläche, sie zu treffen. Jemand schrie panisch auf und dann war er über ihnen wie ein Racheengel. Er bewegte sich so schnell, dass sie gar keine Chance hatten, zu reagieren. Dem ersten brach er beinahe beim Vorübergehen das Genick, dem zweiten riss er mit einer so heftigen Bewegung die Waffe aus der Hand, dass das Handgelenk brach. Selbst Levy konnte das trockene Knacken des Knochens hören, gefolgt von dem lauten Aufschrei. Dann ertönten wieder Schüsse, als die Männer sich verzweifelt wehrten, während Gajeel sie niederstreckte, als wären sie nichts als Übungsdummys. Levy starrte die Szene an, unfähig, wegzusehen wie bei einem Autounfall. Abgestoßen und fasziniert zugleich konnte sie einfach die Augen nicht abwenden, nicht von dem Kampf, nicht von Gajeel. Sie hatte noch niemals einen Cyborg kämpfen sehen. Nein, ‚kämpfen‘ war das falsche Wort, denn es implizierte, dass die Gegner sich wehren konnten. ‚Abschlachten‘ traf es besser, denn Gajeel ließ ihnen keine Chance und er benutzte noch nicht einmal das Gewehr auf die Art, für die es konzipiert worden war. Darum sah sie das Unheil, ehe es geschah, sah den Mann am Boden die Pistole heben und sie auf den Cyborg richten. Sie schrie auf, bereits halb auf den Füßen, noch ehe sie realisierte, was sie tat, doch sie war zu spät. Gajeel fuhr herum, ein Schuss krachte und er taumelte zurück, fiel… Nur um einen Moment später wieder auf die Füße zu springen und zurückzuschießen. Blut spritzte über den Hallenboden und dann war es so still, dass sie ihr eigenes Herz schlagen hören konnte. Sie presste sich die Hände vor den Mund, plötzlich war ihr schlecht. Es war das erste Mal, dass sie jemanden sterben sah, und dann waren es auch noch so viele und auf eine solch brutale Art… Heute war anscheinend ein guter Tag für erste Male und auf jedes davon hätte sie gut verzichten können. Gajeel tastete vorsichtig nach seinem Arm und starrte dann beinahe verwundert auf das Blut, das seine Hand rot färbte, als er sie wieder wegnahm. Diese Geste brachte Levy auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie hatte keine Zeit für einen hysterischen Ausbruch. Sie hatte keine Zeit für Abscheu, Entsetzen oder auch nur Widerwillen. Sie hatte nicht einmal Zeit zu kotzen. Automatisch trugen ihre Beine sie voran. „Du bist verletzt!“, wiederholte sie ihre Worte von vorher. „Lass mich sehen!“ „Nur ein Kratzer.“, knurrte er, aber diesmal ließ sie sich nicht so leicht abschütteln. Das war kein Kratzer, das war ein Schuss, der ihn getroffen hatte und sie musste die Wunde sehen. Sie schlug seine Arme weg und riss das Loch größer, das die Kugel in seinen Ärmel gerissen hatte. Zumindest versuchte sie es, doch der Stoff ließ nicht nach. Ungeduldig schob Gajeel sie davon und riss den gesamten Ärmel einfach ab. Blut lief seinen Arm in kleinen Rinnsalen hinunter, doch tatsächlich schien es nur ein Streifschuss zu sein. Sie versuchte, die rote Flüssigkeit mit dem abgerissenen Ärmel zu entfernen, doch es hatte keinen Sinn, da immer neue nachkam. Kurzentschlossen löste sie ihr Haarband und wickelte es vorsichtig um die Wunde, um es so fest zu binden, wie sie konnte. Während all dem gab Gajeel kein Geräusch von sich, nicht einen Schmerzenslaut, und hielt sich stocksteif. „Das sollte etwas reichen, bis wir dich richtig verarzten können.“, erklärte sie ihm und wollte gerade vorschlagen, von hier zu verschwinden, als ein weiteres Geräusch ertönte – ein leises Klicken, das unheilschwanger durch die Halle hallte. Sie beide fuhren herum und Levy hätte sich verfluchen können. Wie hatten sie nur die anderen Anwesenden vergessen können?! Es waren die beiden Männer, die hinter der anderen Kiste gesessen hatten, einer Übermacht gegenüberstehend und in die Ecke gedrängt. Sie trugen die Uniform von Sevens Soldaten, vermutlich ein Teil der hier stationierten Kräfte. Einer trug die Streifen eines Kommandanten, ein Pura also, der andere war ein Sergeant, der ihr bekannt vorkam. Beide hielten sie große Sturmfeuergewehre in den Händen, die sie auf das Paar gerichtet hatten. Langsam kamen sie weiter auf sie zu und der Sergeant löste sich von seinem Offizier und trat etwas zu Seite, um einen anderen Schusswinkel zu haben. Da erkannte Levy ihn – es war Fernandez und er richtete eine Waffe auf Gajeel und warum tat er das, sie hatte geglaubt, er wäre ein Freund… Oder nicht. Er war eine Wache hier, das bedeutete, dass er in den Trainingszentren von Seven trainiert worden war, wie Gajeel selbst. Nur mit dem Unterschied, dass er nie für das Cyborgprogramm ausgewählt worden war. Warum hatte sie je geglaubt, er wäre ein Freund? „Runter mit der Waffe, Cyborg.“, raunzte der Kommandant, das Sturmgewehr auf Gajeels Kopf gerichtet. Levy kannte sich nicht sehr gut mit Waffen aus, aber das Gebaren des Mannes ließ keinen Zweifel daran, dass sie großkalibrig genug war, um selbst einen Cyborg auszuschalten. „Ich sag es nicht zweimal. Tritt von ihm zurück, Zivilistin. Wie lange geht diese Fraternisierung schon? Ich werde dafür sorgen, dass ihr beide angemessen für euer Verhalten diszipliniert werdet.“ Gajeels gesamter Körper vibrierte vor Anspannung und Levy konnte sehen, dass er nach vorne stürzen und den Kampf einfach fortsetzen wollte. Doch sie wusste, falls er das tun würde, würde er sterben. Der Kommandant wusste offensichtlich, wie er mit einem Cyborg umgehen musste und er war nicht unvorbereitet wie diese anderen Männer. Der Lauf seines Gewehrs war bereits auf den Kopf des Cyborgs gerichtet. Levy griff nach Gajeels Hemd, um ihn festzuhalten, ihm zu bedeuten, dass er das nicht tun durfte… „Sofort!“, bellte der Kommandant und hob bereits seine Waffe zum Schuss. Gajeels Körper spannte sich an, wie eine Feder, bereit zum Angriff. „Nein, Gaj…!“, begann Levy und machte einen Schritt, stellte sich instinktiv vor ihn, doch der Rest ihrer Worte ging in einem ohrenbetäubenden Knall unter und sie kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Doch es folgte nichts, kein Schmerz, kein Laut, keine Leere. Vorsichtig öffnete sie wieder ihre Augen, genau zu dem Moment, um den Kommandanten fallen zu sehen. Er kippte um wie in Zeitlupe und fiel schwer und regungslos vornüber, um mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufzuschlagen. Sein Gewehr wurde unter seinem Körper begraben und langsam breitete sich eine Blutlache unter ihm aus. „W…was…?“, stotterte sie, den Blick ungläubig auf die Leiche des Soldaten gerichtet. Was war passiert? Es war nicht Gajeel gewesen, der wie durch ein Wunder doch schneller gewesen war, denn Gajeel stand immer noch hinter ihr, die eigene Waffe in der verletzten Hand, den Lauf auf den Boden gerichtet. Ihr Blick wanderte zu der einzigen anderen Person im Raum, Fernandez, dessen Waffe auf die Stelle gerichtet war, an der sein Vorgesetzter eben noch gestanden hatte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er den Schuss abgefeuert hatte. Aber … Warum? Das machte überhaupt keinen Sinn! Warum sollte er sich gegen seine eigenen Leute stellen, um sie zu beschützen? „Fuck.“, sagte er nachdrücklich und senkte die Waffe, um zu ihnen herüberzublicken. Levy quiekte erschrocken, als Gajeel sie abrupt packte und hinter sich schob. Gleichzeitig hob er sein Gewehr, doch Fernandez blaffte ihn an: „Richte das nicht auf Leute, die dir eben das Leben gerettet haben. Und deiner kleinen Freundin auch.“ Gajeel sagte nichts, bewegte sich aber auch nicht, und Levy spähte um ihn herum, um zumindest zu sehen, was vor sich ging. Fernandez ließ sein Gewehr los, so dass es nur noch an dem Halteriemen um seine Schultern hing, und hob langsam die Hände, die Flächen nach außen gedreht, um seine Friedlichkeit zu vermitteln. Er löste die Schnalle seines Helmes und nahm ihn ab. Streichholzkurzes, dunkelblaues Haar und ein markantes Gesicht mit schmalen, dunklen Augen kam darunter zum Vorschein. „Ich bin wirklich nicht euer Feind.“, erklärte er bestimmt. „Tatsächlich kann ich euch helfen.“ Etwas in einem Tonfall ließ Levy daran glauben, dass er die Wahrheit sagte. Vielleicht war es auch die Hoffnung, dass tatsächlich noch etwas Gutes aus dieser verfahrenen Situation kommen würde. Oder vielleicht war es die Tatsache, dass Fernandez eben einen Vorgesetzten erschossen hatte. Sie trat hinter Gajeel hervor, der offensichtlich keine Ahnung hatte, was er von all dem halten sollte, und griff nach seinem Handgelenk, um es leicht nach unten zu drücken. Gajeel folgte der Geste ohne Widerspruch, doch seine angespannte Haltung lockerte sich nicht. „Danke.“, sagte der Soldat und fuhr fort, ohne dass er sie zu Wort kommen ließ: „Verbessert mich, wenn ich das nicht korrekt lese, aber ihr scheint in einer hoffnungslosen Lage zu stecken.“ Sein vielsagender Blick zeigte deutlich, dass er nicht ihre momentane Situation meinte, den Angriff und sie völlig ohne Schutz im Freien. Das würden sie aussitzen können, vielleicht sogar hier in dieser Halle. „Was geht dich das an!“, raunzte Gajeel und es war keine Frage. „Ich kann euch vielleicht helfen.“, war die Antwort. „Die Stadt zu verlassen, das Land, ein Leben außerhalb dieser Gesellschaft aufbauen…“ Das klang etwas zu utopisch. Vor allem in dieser Situation – wie wahrscheinlich war es, dass sie gerade hier und jetzt, inmitten von all diesem Chaos, ein solches Angebot bekamen? Trotzdem war die Versuchung zu groß. „Fahre fort.“, wies Levy ihn an. Fernandez warf einen Blick auf Gajeel, der noch immer finster dreinschaute, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich gehöre zu einer Gruppe, die eine Veränderung in diesem Land bewirken und das Reinheitssystem abschaffen wollen. Wir sind es, die diesen Angriff initiierten. Es geht um die Raketen.“ Er machte eine Bewegung zu den Waffen, die an der Wand aufgereiht waren. „Und um Gajeel.“, unterbrach Levy, die sich dessen plötzlich völlig sicher war. Es wäre einen relativ leichter Weg, an einen eigenen Cyborg zu kommen, ohne die schwerst bewachten Militärzentren, in denen sie außerhalb von Missionen untergebracht waren, direkt anzugreifen oder zu infiltrieren – beides ein nahezu unmögliches Unterfangen. „Ein paar Leuten.“, gab Fernandez zu. „Obwohl ich ihnen von Anfang an gesagt habe, dass es eine dumme Idee ist. Ich habe euch im Auge behalten.“ „Aha.“, machte sie, ohne ihre Gedanken preiszugeben. Vermutlich gab es mehrere Fraktionen in der Rebellion, die nicht immer einer Meinung waren. Doch Fernandez‘ Tonfall hatte sich nicht geändert und sie glaubte ihm immer noch. Sie wollte ihm glauben. „Und ich denke, dass ihr nicht hier bleiben wollt.“, schloss er und fixierte sie. Levy konnte ihm aus vollem Herzen zustimmen, doch die Wahrheit war: sie hatte nie mit Gajeel über dieses Thema gesprochen. Sie hoffte, dass es ihm ähnlich ging, dass er auch lieber mit ihr davonlaufen und einer ungewissen, gefährlichen Zukunft entgegensehen wollte, als so weitermachen wie bisher, obwohl es sicher war. Wobei ‚Sicher‘ in seinem Fall auch eher ein relatives Wort war. Trotzdem wusste sie es nicht. Gajeel konnte ganz anders darüber denken und- „Und was schlägst du vor?“, unterbrach der Cyborg ihre Gedanken und seine Stimme war ebenmäßig und beherrscht. Dennoch hörte sie den Unterton in seiner Stimme, die Hoffnung und das Misstrauen darin. Über Fernandez‘ Gesicht huschte ein Lächeln, so schnell, dass sie es kaum sah. „Die Gelegenheit heute ist einzigartig.“, antwortete er. „Aber ich kann euch helfen, hier zu verschwinden. Nicht nur aus der Stadt, aus Seven, und euch, sagen wir, das Startkapital für ein neues Leben zu geben. Was sagt ihr?“ Das klang zu schön, um wahr zu sein. Levy runzelte die Stirn. Nichts in dieser Welt war umsonst. „Was willst du dafür?“ „Nichts.“ Die Antwort kam ein wenig zu schnell und als sie ihm einen zweifelhaften Blick zuwarf, hob er die Hände. „Vielleicht einen Gefallen in der Zukunft.“ Das wiederum klang … ominös. Er würde sie alles fragen können, egal, was es war – von einem Kaffee bis hin zu Völkermord, wobei sie beides nicht für sehr wahrscheinlich hielt. Ihr skeptisches Gesicht musste alles sagen, denn Fernandez zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. „Was für eine Wahl habt ihr?“ Levy verzog das Gesicht, aber sie wusste, dass er Recht hatte. Selbst wenn sie jetzt flohen, selbst wenn sie ein paar Stunden Vorsprung hatten, das würde nicht reichen. Weder sie noch Gajeel hatten überhaupt eine Ahnung, wo sie hingehen konnten, um Hilfe zu finden. Wie genau sie diese Hilfe bezahlen sollten. Dies war ihre einzige Chance. Aber es war eine Chance. Gajeel schien es genauso zu sehen, denn er packte sie an der Schulter und zog sie einige Schritte weg. „Sagt er die Wahrheit?“, wollte er wissen, offensichtlich hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Argwohn. Dem Wunsch, von hier zu verschwinden, und der Befürchtung, dass dies eine sorgfältig konstruierte Falle war. „Ich denke schon.“, erklärte sie und warf einen Blick zu dem Soldaten hinüber, der sich abgewandt hatte, offensichtlich um ihnen ihre Privatsphäre zu lassen. „Gut.“, antwortete Gajeel. „Wir machen es so: du gehst wieder hoch und begibst dich in den nächsten Bunker. Ich werde sein Angebot annehmen. Ich kann … ich will nicht zurück.“ „Was?!“, entfuhr es ihr lauter als gedacht. „Nein!“ Überrascht blickte er auf sie hinunter. „Warum nicht? Das ist ein guter Plan!“ „Ich werde dich auf keinen Fall alleine gehen lassen!“ „Aber… Du willst von hier weg? Warum? Das wird gefährlich und anstrengend. Hier bist du in Sicherheit.“ Als ob das eine Rolle spielen würde, wenn er es nicht war. „Aber das interessiert mich nicht. Ich will dich begleiten.“ Gajeel schien tatsächlich nicht verstehen, was sie meinte, denn er starrte immer noch auf sie herunter, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. „Hier bist du in Sicherheit. Hier sind deine Arbeit, deine Freunde und deine Familie. Hier ist dein Leben. Und da draußen gibt es nichts für dich.“ Sie blinzelte wütend ihre Tränen weg. Merkte er denn nicht, dass er ihr das alles wert war? Dass ohne ihn ihr Leben nicht lebenswert war? „Aber du bist da draußen.“, erklärte sie ihm und nahm seine freie Hand in ihre. Seine Finger schlossen sich automatisch um ihre, ein warmer Druck, der ihr Herz ruhig und sicher schlagen ließ. „Und das ist das Einzige, was für mich zählt. Ich könnte dir jetzt noch viel sagen, dass ich keine Lust mehr habe, nur eine Vitiosa zu sein, eine Fehlerhafte. Dass ich mehr erreichen will, als ich hier bekommen kann. Dass das Leben hier mir nichts mehr zu bieten hat. Und das wäre wahr. Aber die eigentliche Antwort auf deine Frage? Weil ich bei dir sein will. Du Dummkopf.“ Sie löste eine Hand von seiner und legte ihm eine Hand auf die Wange, gegen die er sich unwillkürlich schmiegte. Sie lächelte ihn an. „Ich liebe dich. Wenn du das machst, komme ich mit dir.“ Er starrte sie an wie eine Erscheinung, ein Engel, herabgestiegen nur für ihn, ungläubig und zweifelnd, aber in stillem Wunder. Ein Klappern ertönte, als er sein Gewehr losließ und es auf dem Boden aufkam. Er hob die Hand um ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr zu streichen. „Dann lass uns gehen.“ Gemeinsam gingen sie zu Fernandez zurück, der seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete. Er kommentierte ihre verschlungenen Finger nicht, aber das ging ihn auch nichts an. Stattdessen zog er fragend eine Augenbraue hoch. „Sie werden nach uns suchen.“, stellte Gajeel ohne Umschweife fest und der Sergeant lächelte wieder, doch es war kein freundlicher Ausdruck, eher ein angriffslustiges Zähneblecken. „Nein, werden sie nicht.“ Er machte eine Bewegung zu den Raketen hinüber. „Ich sagte doch, ich bin wegen diesen Dingern dort hier. Und ich kann sie schlecht zur Tür hinaustragen.“ Für einen Moment war Levy verwirrt, was er damit meinte, doch dann dämmerte es ihr. „Aber … all die Leute hier!“, wiedersprach sie. „Es sind nicht alles Soldaten – die Wissenschaftler haben euch nichts getan!“ „Keine Sorge. Die Bunker können nicht so leicht beschädigt werden und sie sind alle weit genug entfernt von dieser Halle. Ihr mögt es nicht bemerkt haben, aber ihr seid ein ganzes Stück abseits vom Hauptgebäude der Anlage. Allerdings wird hier alles dem Erdboden gleichgemacht, da bleibt nichts übrig. Von einem Menschen, der in diese Detonation gerät, bleibt nicht einmal ein Schatten übrig. Wenn sie euch nicht finden und ihr nicht innerhalb von der nächsten Tage irgendwo aufkreuzt, werden sie annehmen, dass ihr hier irgendwie reingeraten seid – was ja auch der Wahrheit entspricht.“ „Hm.“, machte Gajeel und überkreuzte die Arme vor der Brust. Levy bedauerte den Kontakt seiner Finger, würde aber nicht protestieren. „Wie gehen wir das an?“, wollte sie stattdessen wissen. „Ich habe einen Freund hier in der Stadt. Er heißt Richard und hat Verbindungen.“, erklärte Fernandez, sein Ton plötzlich geschäftsmäßig. „Ihr werdet ein paar Tage bei ihm unterkommen, bis das Chaos wieder nachgelassen und sie die Suche nach euch eingestellt haben. Dann wird er euch über Omikron hinausschmuggeln.“ Omikron war eine Stadt an der südlichsten Spitze von Seven und in guter Reichweite von nicht nur einem sondern sogar zwei anderen Ländern. Es gab viele Gerüchte über Schmuggel, Schwarzmärkte und ähnliche illegale Geschäfte, die auch über die Grenzen abgezogen wurden. Fernandez‘ Worte zeigten nur, dass sie wahr waren. „Ich weiß nicht, wohin Richard euch bringen wird – Fiore und Bosco sind beides gute Möglichkeiten. Er wird euch aber helfen, eine Stadt auszuwählen, in der ihr unterkommen werdet, und euch genug auf den Weg mitgeben, dass ihr euch ein Leben schaffen könnt, wenn ihr hart arbeitet und nicht zu viel verlangt.“ Levy nickte und Gajeel grummelte eine kaum verständliche Zustimmung. „Sorg dafür, dass dein Tablet nicht nachverfolgt werden kann oder lass es hier.“, wies Fernandez sie an und drehte sich dann zu ihrem Cyborg. „Falls du hier ein paar Waffen findest, die du mitnehmen willst, tu dir keinen Zwang an. Aber beeilt euch. Meine Leute werden bald hier sein, um alles Tragbare mitzunehmen, ehe wir die Bomben zünden. Sie sollten euch nicht sehen.“ Levy fragte sich, wie viel er aufs Spiel setzte, um ihnen auf diese Weise zu helfen, anstatt sie in Gewahrsam zu nehmen oder einfach zuzulassen, dass sie auf eigene Faust ihr Glück versuchten. Darum fragte sie nicht weiter, sondern tat, was ihr aufgetragen war und schnappte sich ihr Tablet von dem Platz, an dem sie es vorhin hatte liegen lassen, um sich um Gajeels Verletzung zu kümmern. Es war schnell genug unauffindbar gemacht und der Soldat zeigte ihr auf der Karte, wo sie den geheimnisvollen Richard finden würden und wie sie es schafften, dass er ihnen vertraute und sie beim Wort nahm. Gajeel holte sich derweil das Sturmgewehr des Kommandanten und alle dazugehörige Munition, dazu mehr als eine Handfeuerwaffe, zwei Messer und taktische Westen für sie beide. Levy schlüpfte ohne viel Widerrede in das viel zu große Kleidungsstück und nahm sogar eine eigene Pistole entgegen, auch wenn sie bezweifelte, die Waffe jemals einzusetzen. Sie wusste kaum, wie man sie benutzte. Fernandez brachte sie zu einer etwas entfernt gelegenen Tür und erklärte, wie sie das Gebäude am schnellsten verlassen konnten – durch einen Hintereingang, der kaum zu erkennen war. „Viel Glück.“, sagte er zu ihnen. „Ihr werdet es brauchen. Mein Freund wird euch helfen, so gut er kann, aber ich will nicht lügen. Es wird nicht leicht werden. Nicht die Flucht und nicht das neue Leben.“ „Nichts lohnenswertes ist je leicht.“, erklärte Levy ihm. „Dir auch viel Glück. Ich hoffe … ich hoffe, ihr habt irgendwann Erfolg. Lass dich nicht töten, Sergeant.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, klopfte Gajeel auf den Arm. „Geht jetzt.“, befahl er. „Bevor die anderen euch hier finden. Ich habe keine Lust, dass ihr noch mehr von meinen Kameraden umbringt. Und beeilt euch. Wir werden nicht ewig brauchen, diese Halle hier leerzuräumen und ihr wollt nicht, dass die Explosion euch doch noch erwischt.“ Mit einem grüßenden Nicken drehte er sich um und die Tür fiel hinter ihm wieder ins Schloss. Sie waren wieder allein. Levy blickte zu Gajeel hoch, Angst, Hoffnung und Aufregung kämpften in ihr um Vorherrschaft, doch als sie ihn jetzt anblickte und nach seiner Hand griff, fühlte sie nur Freude und Liebe. Gajeel erwiderte den Händedruck und sie wusste, dass sie beide diese Entscheidung nicht bereuen würden. Egal was jetzt noch geschah, sie würden zusammen sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)