Die Vergessenen Wächter von caramel-bonbon ((KaRe) Der Zauber einer anderen Welt) ================================================================================ Kapitel 4: Eine Nacht der Wandel -------------------------------- Es war eine wolkenlose Nacht. Das Licht der Sterne und des Mondes, der nicht mehr weit über dem Horizont stand, tauchte die Felsen und den klaren Bergsee mit dem Tempel in ein dunkles Blau. Reis Haut schimmerte blass. Eine frische Brise spielte mit seinen Haaren, die ausnahmsweise nur locker etwa in der Mitte seines Rückens zusammengebunden waren, und ließ einige lose Strähnen über den nackten Oberkörper streicheln. Er hatte den Kopf auf die eine Hand abgestützt, während die andere locker über dem Geländer baumelte und verträumt schaute er über das Wasser in die Ferne. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Eine Weile stand Kai in sicherem Abstand und betrachtete seine schlanke, muskulöse Silhouette. Selbst für seine Verhältnisse war es keine warme Nacht und er wunderte sich, ob der Chinese nicht fror. Denn trotz der häufigen kalten Brisen erschauderte er nicht ein einziges Mal. Wieder einmal merkte er, dass er eigentlich überhaupt nichts über ihn wusste. Außer seinem Namen und der Nationalität wusste er nichts über ihn. Nicht einmal beim Alter war er sich sicher. Er wirkte so reif, so selbstständig und welterfahren. Im Vergleich zu ihm kam Kai sich naiv und weltfremd vor. Trotz allem, was er mit seinen wenigen Jahren schon alles erlebt hatte. Krieg, Tod, Angst, Hinterhalt, Vernichtung, so viel Böses. Und Rei strahlte eine Ruhe und Geborgenheit aus, der sich Kai zugegebenermaßen nur ungern entzog. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser junge Mann, den er als Heiler kennen gelernt hatte, schon jemals etwas Bösartiges getan oder miterlebt hatte. Nein, bestimmt nicht. Rei schien in einer heilen Welt zu leben, voller Magie und Zauber. Und doch strahlte er etwas Geheimnisvolles, Unergründliches aus, das er nicht verstand. Rei hatte inzwischen bemerkt, dass der Russe hinter ihm stand. Er drehte sich um und lehnte sich an das Geländer. Mit klaren goldenen Augen blickte er ihn an und wartete, bis er neben ihn getreten war, ans Geländer stand und mit verschränkten Armen gerade aus starrte. „Kannst du nicht schlafen, Kai?“ Statt einer Antwort zu geben wandte er sich dem Chinesen zu. Keine Gefühlsregung zeigte sich auf seinem Gesicht. Doch er war nicht der einzige, der es vermochte, seine Emotionen vor anderen zu verstecken, und so stieß sein Blick auf die unbegreifliche Tiefe von Reis Augen. Sie schienen in ihn einzudringen, seine Seele zu erforschen, ihn aufzusaugen. Es war unmöglich, sich ihrem Sog zu entziehen. Er schaffte es nicht, so sehr er es wollte. Er war nicht stark genug. Sein Herz fing an schneller zu schlagen. Schließlich war es der Chinese selbst, der sich von ihm wegdrehte, während Kai wie eingefroren dastand. Nach einer Weile des Schweigens, in der keine Antwort kam, öffnete Rei erneut den Mund. „Es war ein langer Tag. Bist du nicht müde?“ Obwohl er wieder mit ihm sprach, machte er keine Anstalten, den Russen anzusehen. Zu schön war die Aussicht auf die nächtliche Landschaft Chinas. Nun konnte auch Kai sich von seiner Starre lösen und folgte seinem Blick, drehte den Kopf zur Seite, blieb mit dem Körper allerdings noch immer zu Rei gewandt stehen. „Was ist denn mit dir?“, fragte Kai mit seiner dunklen Stimme, in der Hoffnung, wenigstens auf eine solch banale Frage eine Antwort zu erhalten. „Ich bin ein Nachtmensch.“ Bei diesem Satz hatte sich auch er vom Geländer abgestoßen und stand nun zu Kai gewandt, eine Hand auf das kühle Metall gelegt. Auch Kais Kopf drehte sich automatisch zurück. Im weißen Licht des untergehenden Mondes funkelten ihre Augen. Stumm blickten sie sich an. Zwischen Kais Augenbrauen hatten sich kleine Sorgenfältchen gebildet, die dem aufmerksamen Heiler nicht entgingen. Er seufzte, legte ihm eine Hand auf die Wange. „Kai, ich weiß, dass du nach Antworten suchst.“ Angesprochener erschauderte leicht unter der Berührung und den Worten. Der Berührung, weil Reis Finger eiskalt waren, und Kai fragte sich sofort, wie lange er wohl schon hier draußen gestanden hatte, und trotzdem ließen sie ihn wohlig schaudern. Die Worte, weil ihm erneut bewusst wurde, wie einfach es dem Heiler doch fiel, ihn zu durchschauen. Er versuchte, eine unerschütterliche Mine zu wahren, besonders dann, als Rei auch noch die zweite Hand an sein Gesicht legte und ihn somit zwang, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Vertraue mir, Kai. Ich verspreche dir, du wirst alle deine Fragen beantwortet bekommen. Doch es braucht Zeit, bitte gedulde dich.“ Ernst waren sein Blick und seine Worte. Der Krieger, der nie jemand anderem vertraut hatte als sich selbst, wurde schwach. Es war ein gewagtes Versprechen, das Rei ihm da gab, doch er glaubte daran, vielleicht hoffte er auch viel mehr, dass er es einlösen können würde. So nickte er, worauf er ein erleichtertes Lächeln erntete. Plötzlich wurde sein Kopf nach vorne gezogen und Rei drückte sanft seine Lippen auf seine Stirn. Ein Beschützer-Kuss. Der Chinese gab ihm damit zu verstehen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Noch nie hatte jemand so etwas gemacht, ihm gezeigt, dass er vertrauen und sich auf einen Anderen verlassen konnte, dass er sich nicht sorgen musste, dass alles gut würde. Etwas überrascht hatte er die Augen aufgerissen, doch Reis weiche Lippen lösten erneut das Schaudern und die tiefe Ruhe in ihm aus, wie er es seit wenigen Tagen in seiner Anwesenheit spürte, und so entspannten sich seine Züge rasch wieder. „Es ist schon sehr spät, Kai, es wäre besser, wenn du dich schlafen legen würdest. Es war in vielerlei Hinsicht ein aufregender Tag für dich. Dein Geist ist aufgewühlt. Und auch dein Körper verdient Erholung. Geh schlafen. Du wirst deine Kräfte morgen brauchen.“ Eigentlich wollte Kai daraufhin eine sarkastische Erwiderung zu seinem Besten geben, doch Reis samtige, melodische Stimme hypnotisierte seinen Verstand und er merkte, wie sich seine Gedanken vernebelten und seine Lider schwer wurden. Die mittlerweile warmen Hände wurden zurück gezogen und der kühle Luftzug, der einige Strähnen von Reis schwarzem Haar mit sich trug, kribbelte auf seiner Haut. Rei lächelte. Seine Augen leuchteten geheimnisvoll. Er würde wohl noch lange ein Mysterium bleiben. Erschrocken riss Kai am nächsten Morgen die Augen auf und fast sofort erfüllten noch mehr Fragen seinen Kopf. Kurzfristig wunderte er sich, wie er es gestern noch in sein Lager geschafft hatte, oder sich die Hose auszuziehen. Nachdem Rei mit ihm gesprochen hatte, schien er schlafgewandelt zu sein, denn er konnte sich nicht daran erinnern, in sein Gemach zurück gegangen zu sein, oder sich von Rei verabschiedet zu haben. Geschehenes jedoch war nur allzu präsent. Der Kuss auf seine Stirn, der Beschützer-Kuss. Wollte er ihn vor etwas beschützen? Doch vor was nur? Schließlich gab es nicht viel, wo er sich nicht selbst dagegen wehren konnte. Vielleicht vor sich selbst? Kai stöhnte und ließ sich zurück auf das Lager fallen. Es war grausam. Die Fragen ließen ihn einfach nicht in Ruhe und ständig tauchten neue auf. Genervt fuhr er sich durch die verwuschelten Haare und schob die Unklarheiten in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Er würde sich noch früh genug darum kümmern müssen. Als er in den geräumigen Wohnraum des Tempels trat, bemerkte er sofort Rei, der bereits mit einer Schale Tee in der Hand auf einem großen Kissen vor dem Panoramafenster saß und Byakko streichelte, der neben ihm lag und schnurrte. Der Chinese war tief in Gedanken versunken und schien die Lande vor seinen Füßen nicht wirklich wahrzunehmen. Auch bemerkte er Kai nicht gleich, als dieser sich neben ihn auf den Boden setzte. Zudem schien er sich leicht zu erschrecken, wenn auch beinahe unmerklich, als der Russe sich mit einem kleinen Räuspern bemerkbar machte. Mit großen Augen wachte Rei aus seiner Apathie auf und blickte ihn überrascht an. Wie untypisch für den ansonsten so beherrschten Heiler, der immer alles im Griff hatte. „Oh, guten Morgen Kai, ich habe dich gar nicht bemerkt, entschuldige. Ich war in Gedanken. Möchtest du einen Tee?“ Kai nickte und bekam eine Schale gereicht. „Hast du gut geschlafen?“ Wieder nickte er. Doch etwas störte ihn. Rei machte einen außerordentlich verwirrten Eindruck. Das passte nicht zu ihm. „Rei, alles in Ordnung? Du wirkst konfus.“ Der flüchtige Blick, der ihm zugeworfen wurde, erschütterte ihn. Er war unsicher und ein bisschen betreten. Als ob er ertappt worden wäre. Und er biss sich auf die Unterlippe. Die ansonsten festen Gesichtszüge waren fahrig und das erste Mal, seit Kai ihn kannte, schien er haltlos. Es war, als trug er einen inneren Konflikt aus. „Es ist nichts. Hast du Hunger?“ Es war offensichtlich, dass er log und nur ablenken wollte. So war Kais Reaktion auch eine hochgezogene Augenbraue. „Wenn ich etwas mit dir esse, erzählst du mir dann die Wahrheit? Es hatte ihn noch einiges an Überzeugungskraft und Sturheit gekostet, bis er Rei dazu bringen konnte zu gestehen, dass ihn etwas bedrückte und dass er ihm nach einem ausgedehnten Frühstück erklären würde, was es war. Und so kam es, dass sie sich mal wieder durch den Wald kämpften, der den Bergsee umgab. Diesmal schlugen sie einen anderen Weg ein, er führte direkt zu in den nackten Fels gehämmerte Stufen, die steil nach unten führten. Es war schwindelerregend hoch und nirgendwo gab es ein Geländer oder Seil, wo man sich festhalten konnte. Nervös sah Kai den Chinesen an. Doch sein Blick versicherte ihm, was er sich schon dachte. Sie würden in der Tat diese gnadenlos Angst einflößenden Stufen hinunterklettern. Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den andern, konzentriert darauf, ja keinen Fehler zu machen und auszurutschen, denn der kleine Wasserfall, der neben ihnen in die Tiefe donnerte, benetzte den Fels und machte ihn tödlich glatt. Als sie endlich unten ankamen, Kai kam es vor wie eine Ewigkeit auf dem Pfad durch die Hölle, ließ er sich erschöpft auf das Gras am Ufer des großen Sees sinken. Endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben, erleichterte ihn ungemein. Mit zu einer Schale geformten Händen schaufelte er sich das kühle Wasser ins Gesicht und wusch sich den Schweiß von der Stirn. „Keine Angst, hätte das Schicksal gewollt, dass du stirbst, dann wärst du in einer deiner zahlreichen Schlachten gefallen und nicht eine Treppe runtergestürzt.“ Rei klang sehr amüsiert, doch Kai beruhigte das kein Stück. „Schicksal? Glaubst du daran?“ „Natürlich, was denkst du denn, warum du hier bist? Bestimmt nicht durch Zufall.“ Kai merkte, dass dem Chinesen noch etwas auf der Zunge lag, das er offensichtlich nicht einfach so herausrücken würde. „Du meinst, mein ganzes Dasein beruht darin, dass ich schlussendlich hier lande?“ „Oh, dir ist bei weitem mehr vorherbestimmt als nur hier zu sein“, antwortete Rei im Flüsterton, mehr zu sich selbst denn als Antwort. „Rei, könntest du bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen?“, Kai verlor langsam wirklich die Geduld, wieso war er denn hierhergekommen, „und mir erklären, was hier läuft? Wieso habt ihr in einem Schlachtfeld nach Überlebenden gesucht? Immerhin war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand überlebt hatte minimal! Warum ist es so offensichtlich wichtig, dass ich überleben musste? Was meinst du damit, dass ich kein Normalsterblicher bin? Warum zeigst du mir das alles? Diese ganze Magie, die vor menschlichen Augen beschützt und verborgen wird? Was spiele ich für eine Rolle?“ Fragen über Fragen und Kai konnte endlich einige aussprechen. Rei hatte ihm stumm zugehört. Unsicher blickte er zu Boden und seufzte. Er verstand den Krieger und dessen unmissverständlicher Wunsch nach Wissen zwang ihn, ihm endlich die Wahrheit zu sagen. Kein Weg führte jetzt noch dran vorbei. „Na gut.“ Er trat zu Kai und blickte ihm scharf in die Augen. Seine Bestimmtheit war wieder da. „Du bist hier um ausgebildet zu werden. Und ich bin derjenige, der dich alles lehren wird. Doch vorher musst du noch überprüft werden. Nur um sicher zu gehen. Ach, vorher muss ich allerdings noch etwas wissen. Setz dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)