Die Vergessenen Wächter von caramel-bonbon ((KaRe) Der Zauber einer anderen Welt) ================================================================================ Kapitel 30: Das Rückgrat der Welt --------------------------------- In dieser Nacht fanden einige Wächter keine Ruhe. Mariam lag wach auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die nächtliche Kristalldecke der heiligen Lichtung, die leise glitzernde Lichtfunken auf die Schlafenden warf wie Sterne. Ohne Unterbruch grübelte sie nun seit ihrer Ankunft über das Rückgrat der Welt nach, fragte sich, welches Puzzleteilchen es noch war, das ihr fehlte, dass sie nicht zu einem Schluss kommen konnte. Eigentlich, dachte sie frustriert, wusste sie gar nicht, wo sie anfangen sollte, welches Teilchen sie zuerst legen sollte. Würde dies einmal liegen, fiele es ihr sicherlich leichter, die Restlichen zu finden. Kyojou war keine Hilfe gewesen und das hatte sie unglaublich enttäuscht. Und doch wollte sie nicht glauben, dass er so ahnungslos war, wie er vorgab zu sein. Da er aber nicht mit der Sprache rausrücken wollte, musste sie einen anderen Weg finden, an Informationen zu kommen. Und sie wusste auch schon genau wie. Lautlos erhob sie sich von ihrer Decke, tappte vorsichtig durch die vom Schlaf gelähmten Körper, darauf bedacht, niemanden aufzuwecken. Gerade jetzt, wo es so unumgänglich war, miteinander zu arbeiten, würde es niemand für gut empfinden, dass sie die anderen ausschloss. Und sie wusste, dass ihr Vorhaben nicht auf begeisterte Gemüter treffen würde, weshalb sie sich anstrengte, kein Geräusch zu machen. Kai jedoch wurde schlagartig wach, als er bemerkte, wie jemand durch ihr Lager schlich. Er hatte seine Sinne für Außergewöhnliches und potenziell Gefährliches während so vielen Schlachten geschärft, dass sie ihn auch im Schlaf warnten. Und nachts im Lager herumzuschleichen gehörte zu den Auslöser von Warnsignalen, die ihn sofort in einen vollkommen wachen Zustand versetzten. Er öffnete die Augen einen Spalt breit, doch alles, was er entdecken konnte, war ein Schatten, der sich durch die am Boden Liegenden schlängelte. Er konnte aus diesem Winkel nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch es war nicht böse. Rei hatte ihm zwar versichert, dass die dunklen Wesen nicht zur heiligen Lichtung vordringen konnten, doch immerhin hatten sie es auch in die heilige Stätte der Erinnerung geschafft. Seiner Meinung nach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie herausfinden würden, dass sie mithilfe des Labyrinths durch Raum und Zeit reisen konnten und die ganze Welt über die Zeiten verstreut verpesteten. Sicherheitshalber hatte er die Hand um den Griff seines Schwertes gelegt, das neben ihm im Gras lag. In der falschen Überzeugung, unbemerkt geblieben zu sein, tapste sie durch das kühle Gras, hinüber zu den goldenen Bäumen. Zwischen den Stämmen blieb sie stehen und verweilte eine Weile, bevor sie seinen Namen rief. „Brooklyn“, flüsterte sie in die Nacht, doch es rührte sich nichts. „Brooklyn“, sagte sie nun etwas lauter, schielte dabei ins Lager hinüber, um sich zu bestätigen, niemanden damit aufgeweckt zu haben. Stirnrunzelnd starrte Kai auf das Gras zwischen Rei und ihm. Auch wenn er Mariam nicht verstehen konnte, so wusste er doch nur zu gut, wer an diesem Ort aufzutauchen pflegte. Es gefiel ihm nicht, doch er hatte gelernt, nicht vorschnell zu urteilen und so wartete er still ab, betrachtete währenddessen Reis entspanntes Antlitz, das ihm zugewandt war. Ein leises Lachen erfüllte die Luft mit einer merkwürdig unangenehmen Spannung, die Mariam die Härchen auf ihren Unterarmen zu Berge stehen ließ. Doch dann sah sie eine Gestalt auf sich zukommen, ganz in Weiß und das Orange seiner Haare leuchtete im Dunkeln. Nur knapp konnte sie einen Gesichtsausdruck der Abscheu verhindern, als sein Näherkommen ihr seine grausamen Taten in die Gedanken rief. Tief atmete sie durch, als der Wächter der Dimensionen vor ihr stand, sie mit einem unschuldigen Lächeln abwartend musterte. „Brooklyn, ich brauche deinen Rat.“ „Die Hüterin des Schlüssels“, stellte er amüsiert fest, „was magst du nur von mir wollen?“ „Was weißt du über das Rückgrat der Welt?“, fragte Mariam ohne Umschweife und starrte ihn an, selbstbewusst und keinen Rückzug duldend. „Ah, das Rückgrat der Welt“, sagte Brooklyn und seine Stimme klang entzückt, während sein Körper zu dem eines alten Mannes alterte. Mariam nickte und fragte sich, ob er als alter Mann an Demenz leiden würde. „Was weißt du darüber?“, fragte sie sicherheitshalber nochmal nach. „Die Zeit vergeht, die Zeit verändert. Das Rückgrat der Welt in der Gegenwart ist nicht das Rückgrat der Welt der Vergangenheit. Die Ersten wussten das, sie handelten nie unüberlegt.“ „Was soll das heißen?“, fragte Mariam, wollte sich ihre Verwirrung aber nicht anmerken lassen. Doch Brooklyn lächelte nur und das kindliche Lächeln eines Jungen verschwieg weitere Worte. Mariam bedankte sich und Brooklyn verschwand. Etwas verärgert schnaubte sie auf. Eigentlich hätte sie wissen sollen, dass er ihr lediglich noch mehr Rätsel vortragen würde. Über seine Worte nachgrübelnd wandte sie sich zurück zum Lager und merkte nicht, wie ein Schatten vor ihr auftauchte. „Hattest du Erfolg?“ Ihr Herz sank ihr unmittelbar, nachdem es kurz aussetzte, in die Hose. Überrumpelt blickte sie auf und direkt in Kais hartes, unzufriedenes Gesicht und sie fühlte sich ertappt und schuldig. „Bei Anima, Kai! Erschreck mich doch nicht so!“, fauchte sie und hielt eine Hand an die Stelle, wo ihr Herz heftig gegen ihre Rippen schlug. „Und?“, hakte Kai jedoch erbarmungslos nach und seine zu Schlitzen verengten roten Augen glühten unheilvoll. Mariam schluckte. „Nun, mehr oder weniger“, meinte sie, selbst nicht ganz sicher. „Er ist ein Verräter“, knurrte er und Mariam bemerkte, wie sich seine rechte Hand noch fester um den Griff seines gezogenen Schwertes schloss. „Meine Güte, Kai! Du willst ihn doch nicht etwa umbringen?“, fragte sie, mehr herausfordernd als erschrocken. „Wenn er mir noch einen Grund gibt, werde ich nicht zögern, ihm den Kopf abzuschlagen“, knurrte er und seine Augen blitzten voller Hass auf. „Brooklyn ist nicht so schlecht, wie du glaubst! Es gibt für alles einen Grund, auch für das, was er getan hat“, versuchte sie ihn zu besänftigen, verfehlte die beabsichtigte Wirkung jedoch um Längen. „Wegen ihm ist Rei fast gestorben!“, fauchte er, „er ist ein Verräter und ein Betrüger.“ Mariam seufzte, als sie merkte, dass sie es nicht schaffen würde, ihn umzustimmen. Offensichtlich hatte auch Rei ihm noch nichts von der Bande erzählt, aus gutem Grund, wie sie sich dachte. „Ich hab ihn lediglich gebeten, mir beim Lösen des Rätsels zu helfen“, erklärte sie ihr Handeln und ihr entging nicht das Zucken seines rechten Auges. „Und hat er im Gegenzug dafür deine Kräfte verlangt?“, schnaubte Kai. „Nein, aber mehr als ein weiteres Rätsel hat er mir nicht anvertraut“, seufzte Mariam und dachte an die eher verwirrenden als verständlichen Worte. Kai ließ einen abfälligen Laut hören und Mariam konnte es ihm nicht übel nehmen, dachte sie manchmal doch auch nicht anders über Brooklyns merkwürdiges, alles andere als soziales Verhalten. „Was hat er denn diesmal gesagt?“, fragte Kai jedoch nach, schließlich lag es in seinem Interesse, dass diese Rätsel gelöst wurden, und Mariam wiederholte die rätselhaften Worte. Kai murrte. „Ich werde morgen mit Rei darüber reden, aber jetzt sollten wir weiterschlafen.“ „Nein, ich muss noch etwas erledigen“, meinte Mariam jedoch. Kai zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging zurück zu seinem Schlafplatz, legte sich wieder hin und streckte einen Arm aus, den er um Reis Oberkörper schlang. Rei wurde wach, als er ihn zu sich hinzog und blickte ihn fragend an, den Schlaf aus den Augen blinzelnd. „Was ist los?“ Kai legte sich einen Finger auf die Lippen, um ihm zu signalisieren, leise zu sein und beugte sich dann vor, um ihn in einen trägen, verschlafenen Kuss zu verwickeln. Reis Verstand war noch nicht wach genug, um sofort zu realisieren, was geschah. Doch der Kuss erfüllte ihn mit solch einem hitzigen Kribbeln, dass er jeglichen Funken dieses Verstandes verdrängen wollte. Er fühlte sich angenehm konfus, als er spürte, wie Kais Hände sich unter die Decke und unter sein Hemd schlichen, seine Haut liebkosend begannen zu streicheln. Seufzend ließ er sich in das Gefühl fallen, gerade einfach nichts anderes auf der Welt zu wollen und zu brauchen und schlang seine Arme um Kais Nacken, um ihn näher, tiefer in den Kuss zu ziehen. Angespornt von Reis Erwiderung, zog Kai ihn sachte auf sich, ohne den Kuss zu unterbrechen, und ihre Beine schoben sich ineinander. Berauscht von dem besitzergreifenden Kuss stützte sich Rei mit den Ellbogen zu beiden Seiten von Kais Kopf am Boden ab und ließ zu, dass Kais Hände, groß und rau, unter seinem Hemd weiterhin auf Wanderschaft gingen. Bedächtig fuhr Kai Reis Seite entlang, die Wirbelsäule hinunter, platzierte beide Hände auf seinem festen Hintern. Beherzt schob er Rei nach oben, was diesem ein unterdrücktes Keuchen entlockte. „Übertreib es nicht“, raunte Rei und blickte ihn warnend, jedoch mit lustverhangenen Augen an. „Ist doch niemand wach“, log Kai und zog seine heruntergerutschte Decke über sie, „du musst halt einfach leise sein.“ Rei wusste nicht genau, was er darauf erwidern sollte, wollte er die Stimmung schließlich auch nicht verderben, und seine Mundwinkel zuckten, als er Kais Zunge an seinem Hals spürte. Wie sollte er dem wiederstehen können, fragte er sich und ließ sich in einen erneuten, gierigen Kuss ziehen. Ungeduldig rüttelte Mariam an Kyojous Schultern. Der Kerl wollte sich einfach nicht wecken lassen. Sie überlegte gerade, ob sie Sharkrash mal an ihm knabbern lassen sollte und versuchte es ein letztes Mal auf die sanfte Weise, als er plötzlich aus dem Schlaf schreckte. Verschlafen und mit verklebten Augen starrte er Mariam an. Als ihm bewusst wurde, dass er gar nichts erkennen konnte, kniff er die Augen zusammen und streckte den Kopf etwas nach vorne. Mariam verkniff sich einen Lacher und drückte ihm seine Brille in die Hand, die er sich unkoordiniert aufsetzte. Kaum erblickte er sie durch die Gläser, war er schlagartig wach. „Mari-“, wollte er gerade ausrufen, doch diese hinderte ihn daran, indem sie ihm eine Hand über den Mund legte. „Nicht so laut!“, zischte sie. Kyojou nickte und Mariam nahm die Hand wieder runter, bedachte ihn jedoch mit einem warnenden Blick. „Ich war gerade bei Brooklyn“, begann sie zu erzählen, doch Kyojou war zu ungeduldig. „Bei Brooklyn? Was hat er gesagt?“, wollte er wissen. „Nicht viel“, sagte sie wahrheitsgetreu, „aber irgendwie glaube ich nicht, dass du nichts über das Rückgrat weißt. Du verheimlichst uns irgendetwas.“ „Nun ja“, zögerte der Braunhaarige. „Sag schon“, stellte Mariam ihn zur Rede. „Muss das jetzt sein?“ „Nein, aber du und ich, wir gehen jetzt irgendwohin und lösen dieses verfluchte Rätsel.“ Mariam ließ keine Widerrede zu und so schlüpfte Kyojou unter seiner Decke hervor und griff nach seiner Tasche. „Na schön“, seufzte er und folgte ihr durch das Lager, um ihre Sachen zu holen, bevor sie in die reale Welt gehen würden, denn da dort die Zeit langsamer verlief als auf der heiligen Lichtung, würden sie mehr davon zur Verfügung haben. Irritiert bemerkte er, dass sich unweit von ihnen etwas unter einer der Decken bewegte. Sie war gewölbter als alle anderen und drei Füße lugten unter der Decke hervor. Doch bevor die Erkenntnis in sein Gehirn tröpfeln konnte, wurde er an der Schulter zurückgezogen. „Spann nicht“, zwinkerte Mariam ihm zu und zog ihn dann zielbewusst in die Richtung einer der Pforten. „Wo wollen wir denn hin?“, erlaubte sich Kyojou zu fragen, etwas zu laut. Neben ihnen rührte sich Oribie. „Ich dachte an eine Bibliothek.“ Der Franzose schlug bei diesem Wort die Augen auf. Verwundert schaute er auf. „Was wollt ihr in einer Bibliothek?“, fragte er mit leichtem Akzent. „Nachforschungen anstellen“, antwortete Mariam knapp, leicht angesäuert, dass Kyojou es geschafft hatte, jemanden aufzuwecken. „Es gibt eine Bibliothek gleich bei einem Ausgang des Labyrinths, ich bin da schon oft gewesen“, plauderte Oribie und streckte sich, murmelte etwas, von wegen hartem Boden und schlecht schlafen. „Wo?“, fragte Mariam schroff, aber hoch interessiert. „In Wien, die Nationalbibliothek.“ Mariams Lippen breiteten sich zu einem triumphierenden Lächeln aus. Sich knapp bedankend, machte sie auf dem Absatz kehrt und zog Kyojou mit sich. „Hey wartet, ich komme mit“, versuchte Oribie die beiden aufzuhalten und machte sich schleunigst daran, sich die Schuhe anzuziehen, bevor er ihnen mantelüberstreifend hinterher lief. Es stellte sich als sehr leicht heraus, in die Bibliothek einzudringen. Die geschlossenen Türen stellten das größte Hindernis dar, doch als Wächterin des Schlüssels hatte Mariam schnell das Schloss geknackt. Sie mussten auch nicht aufpassen, dass jemand sie entdecken könnte, denn da sie sich noch immer in der Schattenwelt befanden, existierten die Menschen lediglich als schwach schimmernde Seelen, die sie nicht wahrnehmen konnten. Wie merkwürdig das ansonsten ausgesehen hätte, wenn drei junge Erwachsene mit einem schwebenden Hai und einem Pferd mit Horn auf der Stirn mitten in der Nacht die große Eingangstür der österreichischen Nationalbibliothek auf dem Heldenplatz aufbrachen. Mit seinem schwebenden Gang ging Oribie ihnen voraus durch die große Eingangshalle. „Was genau wollt ihr denn nun in Erfahrung bringen?“, fragte er, während er voller Entzücken seinen Blick über die prunkvolle Einrichtung gleiten ließ. „Brooklyn hat etwas gesagt, dass die Zeit verändert. Wir suchen nach dem Rückgrat der Welt, ich nehme an, es hat irgendetwas mit der Erde zu tun“, fasste Kyojou kurz zusammen. Oribie nickte fröhlich und winkte, ihm zu folgen. „Dann schauen wir uns doch am besten das Globenmuseum an“, zwitscherte er und schritt ihnen voran durch mehrere große Säle, wieder hinaus ins Freie, über einen großen, kreisrunden Platz mit Pflastersteinen und durch eine gerade Straße, gesäumt von gradlinigen Fassaden, die Unicolyons Hufgeklapper zurückwarfen. Das Gebäude, den Palais Mollard, den sie betraten, war hell und einladend und über dem Eingangstor ragte ein kleiner runder Balkon aus der Fassade. Oribie zögerte nicht und führte sie durch das Gebäude in den ersten Stock und egal wo sie hinschauten, der Raum war brechend voll mit Globen jeglicher Größe und Farbe. Karten hingen an Wänden oder waren fein säuberlich hinter schützendem Glas ausgestellt. Überwältigt schritt Mariam durch die Reihen. „Das ist wunderbar“, hauchte sie andächtig. Oribie lächelte zufrieden. Kyojou hingegen zog seinen Computer aus der Tasche und setzte sich an einen Tisch, klappte ihn auf. /Chef, da bist du ja endlich wieder/, ertönte sogleich eine weibliche Stimme aus dem Rechner und Mariam und Oribie zuckten erschrocken zusammen, fuhren herum und starrten Kyojou an. „Was war das gerade eben?“, fragte Oribie sichtlich verstört. /Chef, willst du uns nicht bekannt machen?/, fragte jedoch die Computerstimme, bevor er antworten konnte und so schnappte er den Mund zu und fühlte sich wie ein Fisch. Er seufzte und drehte den Laptop mit dem Bildschirm ihnen zu. Ein kleines grünes Licht leuchtete am oberen Rand des Bildschirms. „Mariam, Oribie, das ist Dizzy, Dizzy, das sind Mariam, die Hüterin des Schlüssels, und Oribie, ein Wächter der Erde.“ Mit aufgerissenen Augen und Mündern starrten die beiden in den Bildschirm, auf dem sich farbige Muster kringelten. Unglauben spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider. /Hallo ihr beiden, freut mich, euch kennenzulernen! Ich bin Kyojous Wächterpartnerin/, ergänzte sie. „Du?“, platzte Mariam heraus und zeigte mit dem Finger auf den Laptop. /Hey, ich kann dich sehen!/ Auf dem Bildschirm blinkte ein Bild auf von einem Gesicht, das vorwurfsvoll dreinschaute, auf. „Entschuldige, aber ich verstehe das nicht, ich dachte immer Kyojou sei wächtertierlos“, versuchte sie sich zu erklären. /Ich bin auch kein Tier, sondern ein menschlicher Verstand, gefangen in einem Computer./ „Aha“, machte Mariam, die das erstmals verdauen musste. Kyojou drehte den Laptop wieder zu sich. „Dizzara, es gibt etwas zu besprechen“ /Ach Chef, du weißt doch, dass du mich Dizzy nennen darfst./ „Dizzy, was weißt du über das Rückgrat der Welt?“ Gespannt rückten Mariam und Oribie näher, lugten dem Braunhaarigen gespannt über die Schultern. /Darüber muss ich im Internet recherchieren, aber die Verbindung ist nicht die beste, es könnte etwas dauern./ „Und wir versuchen hier etwas herauszubekommen, allzu weit kann die Lösung doch nicht sein.“ „Was ist Internet?“, fragte Oribie und schaute Kyojou mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Kyojou räusperte sich. „Das kannst du dir vorstellen wie eine riesige Bibliothek, in der all das Wissen dieser Welt in jeglicher Sprache gespeichert ist“, versuchte er verständlich zu erklären. „Und wo ist diese Bibliothek?“, fragte Oribie weiter, so entzückt von der Vorstellung, solch einen Palast, gefüllt mit Millionen und Abermillionen von Büchern, selbst sehen zu können, dass seine fliederfarbenen Augen aufleuchteten. „Oh, das ist nicht so, wie du dir eine Bibliothek vorstellst, das ist alles auf mehreren riesigen Rechnern gespeichert, das sind Daten, aber du kannst sie nicht anfassen. Wie dieser Computer hier“, bemerkte Kyojou und strich beinahe zärtlich über die Tastatur seines Laptops. Oribie ließ etwas die Schultern fallen. „Also bringt das gar nichts, wenn man keinen Computer hat“, meinte er enttäuscht. „Nein, aber zu deiner Zeit ist so etwas auch noch gar nicht erfunden, da hat es auch noch kein Internet gegeben, das mussten auch erst einige Menschen alles eingeben und in Daten abspeichern.“ „Warum kann Dizzy denn darauf zugreifen?“, fragte der Franzose und schob die Unterlippe leicht nach vorne. „Das ist Dizzys Fähigkeit als Wächterpartner, sie hat zwar keinen Körper, aber sie existiert in Daten. Und sie kann auf Netzwerke zugreifen, die mehrere hundert Jahre entfernt liegen. Das ist sehr nützlich.“ Stolz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und beinahe unmerklich hob sich seine Brust. „Warum hat sie das denn nicht schon auf der heiligen Lichtung gemacht?“, fragte Mariam dazwischen und es klang vorwurfsvoll. „Weil dort ein komplett anderes Raum-Zeit-Kontinuum herrscht. Dizzy kann nicht einfach nur nicht darauf zugreifen, und auch wenn sie es schaffen würde, was ich nicht bezweifle, dann würde sie in einen Strudel aus Metadaten gerissen, aus dem sie nicht mehr fliehen könnte und sie würde in die einzelnen Bestandteile der Daten zerfetzt, aus der sie besteht.“ Beinahe panisch hatte sich Kyojous Atem beschleunigt und er krallte die Hände in seine Hose. „Oh, na dann ist ja jetzt alles geklärt. Wir sollten uns nun auch nützlich machen und versuchen, etwas herauszufinden.“ Seufzend setzte sich Mariam neben einen Globus, der in einem Holzgestell ruhte und drehte ihn herum. „Brooklyn sagte, die Ersten hätten nie etwas Unüberlegtes getan. Kann es sein, dass sie wollten, dass wir hierher kommen?“, überlegte sie laut. „Das Globenmuseum ist weltweit das einzige seiner Art, und keine andere Bibliothek liegt so nah an einem Ausgang des Labyrinths von Raum und Zeit“, meinte Oribie. „Du bist ziemlich belesen“, bemerkte Mariam. „Ach, ich war in einer guten Schule und hatte genügend Zeit“, sagte der Franzose bescheiden, doch seine Wangen schimmerten rosa ob des Kompliments. Schließlich hatte er sehr viel dafür getan, sich viel Wissen anzueignen. Auch ohne Internet. In Gedanken versunken fuhr Mariam mit dem Finger über den Globus, die Linien der Grenzen der Kontinente entlang, da fiel ihr etwas ein, was Brooklyn gesagt hatte. „Sagt mal, war die Erde schon immer so?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Nein, wieso meinst du?“, fragte Kyojou und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Weil Brooklyn gesagt hat ‚die Zeit vergeht, die Zeit verändert. Das Rückgrat der Welt in der Gegenwart ist nicht das Rückgrat der Welt der Vergangenheit. Die Ersten wussten das, sie handelten nie unüberlegt’. Die Ersten kamen auf die Erde, nachdem Anima sie erschaffen hatte und ich frage mich, ob die Erde damals anders ausgesehen hat. Aber das würde auch bedeuten, dass das Rückgrat der Welt heute nicht mehr da ist, wo es damals war.“ /Chef, ich habe etwas zu berichten, was diese Annahme bestätigen könnte/, meldete sich die Computerstimme wieder und Mariam zuckte zusammen. „Du hast unsere ungeteilte Aufmerksamkeit“, sagte Kyojou, während sie näher rückten. Auf dem Bildschirm tauchte das Abbild der Erde auf. /So sieht die Erde heute aus. Und als Rückgrat wird in der Regel eine Aneinanderreihung der Wirbelknochen bezeichnet, jedoch kann diese Bezeichnung auch für eine Gebirgskette verwendet werden, die sich über den Globus zieht. Nun, die längste Gebirgskette auf der Erde befindet sich unter dem Wasser und zwar zieht sie sich vom Norden bis in den Süden senkrecht durch den atlantischen Ozean./ Wie von magischer Hand wurde eine rote Linie auf die abgebildete Erdkugel gezeichnet. /Anbetracht der Information, die Mariam gerade mitgeteilt hat, können wir annehmen, dass die ersten Wächter die Erde vor ungefähr fünfhundert bis zweihundertfünfundzwanzig Millionen Jahre betraten und die kambrische Explosion des Lebens auslösten, die die Erde zum Erblühen brachte. Also etwa zu der Zeit, als die Erde und deren Atmosphäre stabil wurden bis zur Zeit, in der die heutigen Kontinente noch im großen Pangäa verschmolzen waren./ Eine Animation veranschaulichte ihnen in Zeitraffer, wie die Kontinente zu einem Superkontinenten verschmolzen und wieder auseinanderdrifteten. Die rote Linie blieb genau dort, wo sie war. /Angenommen, sie wussten, was mit der Erde geschehen würde und suchten sich die atlantische Schwelle als Anhaltspunkt aus, würde dies, übertragen auf Pangäa, etwa so aussehen./ Die Animation hielt still und die rote Linie spaltete den Superkontinenten in zwei Hälften. „Das ist unglaublich“, flüsterte Mariam bewundernd. /Nun, leider kann ich euch nicht sagen, wo sich die Orte, die ihr sucht, befinden, ich schlage vor, dass ihr sie zusammen mit den anderen auf die Karte der heutigen Zeit übertragt, immerhin geht schon bald die Sonne auf und ihr solltet rechtzeitig zurück sein./ Dizzy gähnte herzhaft und blieb dann still. „Kaum zu fassen, was die Zukunft so mit sich bringt“, bemerkte Oribie und schaute sich dann suchend im großen Raum um. „Was tust du da?“, fragte Mariam skeptisch. „Ich suche eine Karte, die wir mitnehmen und verwenden können, um eben gehörtes Wissen einzutragen“, erklärte der Franzose sein Tun und hielt eine große Karte in die Luft um sie zu begutachten. „Du kannst doch nicht einfach etwas von hier entwenden!“, rief Mariam aus, beinahe etwas empört. „Oribie hat Recht, wir brauchen eine solche Karte, auch wenn es nicht ganz in Ordnung ist“, hängte der Braunhaarige noch an, als er Mariams unheilvoll funkelnde Augen sah. Doch sie musste sich geschlagen geben. Natürlich hatten sie Recht und so rollte Oribie mit einem zufriedenen Lächeln eine riesige Karte zusammen. Dann verließen sie das Globenmuseum und Wien und huschten zurück auf die heilige Lichtung, der sie im Gegensatz zur realen Welt nur kurze Zeit weggeblieben waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)