Die Vergessenen Wächter von caramel-bonbon ((KaRe) Der Zauber einer anderen Welt) ================================================================================ Prolog: Der Neubeginn --------------------- Vor Beginn unserer Zeit In einer Zeit weit außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft, als eine unbegreifliche Macht unser Universum erschaffen hatte, war die Erde noch ein trostloser, leerer Planet. Bis Anima, das Wesen des Lebens, des Atems und der Seelen den Himmelskörper entdeckte und ihm ihren Puls einhauchte. Anima delegierte einige ihrer Wächter auf die Erde, um sie mit vereinten Kräften erblühen zu lassen. Wasser überflutete steinige Gebirge und tiefe Gräben, Gräser und Farne wuchsen auf unfruchtbarer Erde und eine Atmosphäre verhinderte, dass das neue Leben sofort dahinschied. Gewitter sorgten dafür, dass die Flora gedieh und Feuer, dass aus Holz fruchtbarer Boden wurde. Nex, Animas Zwillingsbruder, der über Tod und Verderben herrschte und sich gerade an anderen Gestirnen zu schaffen machte, entdeckte, was seine Schwester erschaffen hatte. Einen blauen Planeten, so reich und voll an Leben, wie er es nie zu erträumen wagte. Er wurde eifersüchtig auf das schöpferische Werk. Er wollte es zerstören, vernichten. Doch es war ihm untersagt, einem Gestirn ein Ende zu setzen und so heckte er einen bösartigen Plan aus. Aus dem Abfall, den Resten die beim Erschaffen von Himmelskörper nicht gebraucht wurden, formte er einen gigantischen Felsen. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, stieß er diesen in Richtung Erde. Anima erschrak heftig, als sie am Himmel den fallenden Stern erblickte und ahnte Böses. Hastig rief sie ihre Gesandten zurück und sie brachten sich in Sicherheit. Die Wucht, mit welcher der Meteorit auf den Planeten aufschlug, war grausam und Anima musste traurig mit ansehen, wie ihr Zwillingsbruder ihr Meisterstück verwüstete. Staub wirbelte auf und bedeckte die Atmosphäre mit einer undurchdringbaren Wolkendecke. Ohne die Wärme und das Licht der Energie spendenden Sonne verdunkelte sich der Horizont und die Oberfläche kühlte ab. Eine dicke Eisschicht bildete sich. Das Leben starb. Enttäuscht über die bestialische Tat ihres Zwillingsbruders, wandte sie sich von ihrer Aufgabe ab. Sie war verstört und verstand nicht, wie er zu so etwas fähig hatte sein können. Halbherzig widmete sie sich einem anderen, kleineren und weniger schönen Planeten zu. Sie scheiterte und der Himmelskörper blieb bedeckt mit einer staubigen, roten Schicht, in der das wenige Wasser, das sie zustande brachten, sofort versickerte. Die Wächter sahen, dass ihre Meisterin litt. Sie unterstützen sie, redeten ihr Mut zu, stärkten ihr den Rücken. Sie drängten Anima dazu, ihren geliebten blauen Planeten noch nicht aufzugeben. Schließlich schafften sie es, sie davon zu überzeugen, es noch einmal zu versuchen. Abermals sammelten sie ihre Kräfte. Mit der Hilfe von Luft und Gewitter zersetzten sie die Staubwolke. Doch die dicke Eisschicht raubte ihr beinahe den Atem. Sie rief einen weiteren Wächter. Das Eis schmolz. Das Wasser sickerte in den Boden. Freudig bemerkte sie, dass nicht alles Leben erloschen war und kreierte freudig neue Lebensarten und hauchte ihnen Seelen ein. Abermals erblühte die Erde in ihrer strahlenden Pracht und bunter und vielfältiger als zuvor. Bald schon merkte sie aber, dass sich etwas veränderte. Die Bäume starben und es wurde kalt. Eine weiße Schicht bedeckte die Erde. Nex hatte seine Spuren hinterlassen. Durch den Aufprall des Meteorits verschob sich ihre Achse. Der Planet hing schief in seiner Umlaufbahn. Jahreszeiten waren entstanden. Der Tod suchte das Leben heim. Auf den Tod kam wieder das Leben. Ein ewiger Kreis. Anima ging zu ihrem Bruder und erzählte ihm von ihrer Entdeckung. Sie bot ihm die Freundschaft und Zusammenarbeit an. Zuerst war Nex wenig begeistert, doch als er sah und verstand, was seine Zwillingsschwester meinte, stimmte er zu. Sie wollten sich gemeinsam um ihren Schützling kümmern und während Anima die Zeit des Wiedererwachens und des Lichtes betreute, übernahm Nex die Zeit des Sterbens und der Dunkelheit. Die Wächter, die tatkräftig mitgeholfen hatten den Planeten zum Atmen zu bringen, waren entzückt darüber und versprachen, die beiden in ihrer Arbeit zu unterstützen. Sie fuhren auf die Erde hinab und gestalteten weiter ihre harmonischen Werke. Die Zeit und das Leben kamen und vergingen. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Die Erde blühte. Und die Wächter, die die Welt im Gleichgewicht hielten, gerieten in Vergessenheit. Kapitel 1: Erstes Buch: Der letzte überlebende Krieger ------------------------------------------------------ Um 600 b.c. Seine Augen, so hieß es, seien die Augen des Teufels. Gefährlich blitzten sie bei jedem Schwerthieb, bei jedem abgeschlagenen Kopf rot auf. Niemand konnte es mit ihm aufnehmen, noch nie hatte jemand ihn besiegt. Doch nun war er am Ende seiner Kräfte. Die Schlacht hatte ihn geschwächt. Schwer atmend ließ er das Schwert fallen, riss sich die Rüstung vom Leib. Er ließ den schmerzenden Kopf nach hinten fallen und mit von Blut, Schweiß und Staub verdrecktem Gesicht blickte er in den grauen Himmel. Über mehrere Kilometer zog sich das Schlachtfeld hinweg, übersät mit Leichen, die aufeinandergeschichtet herumlagen, ohne Köpfe, ohne Arme, einen steckenden Pfeil in der Brust. Es war ein Grab. Für hunderttausende von Männern. Fünf Jahrzehnte lang durchschnitten Schwerter Körper, durchbohrten Pfeile Fleisch und Muskel, fielen tote, verletzte, verstümmelte Körper mit einem dumpfen Aufprall, der vom Kriegsgebrüll übertönt wurde, auf den staubigen Boden. Ein halbes Jahrhundert lang bekämpfte sich Mann gegen Mann. Ein halbes Jahrhundert lang floss Blut. Jetzt war es vorbei. Und niemand hatte überlebt. Niemand außer ihm. Er schwankte, fiel erschöpft auf die Knie und blieb reglos liegen. Er wollte das nicht mehr sehen. Er wollte einfach nur die Augen schließen und vergessen. Es mussten Stunden vergangen sein, als am Horizont eine kleine Gruppe Geistlicher erschien und sich langsam dem Ort des Grauens näherte. Aus der Ferne hatten sie die Schlacht beobachtet und noch bestand ein kleiner Schimmer der Hoffnung, dass jemand überlebt hatte. Jeden einzelnen drehten sie um, um den einen Überlebenden zu finden und die Sonne wanderte weit über den Himmel, näherte sich bereits dem flimmernden Horizont, bis sie an seinen mit Dreck, Wunden, Entzündungen und Prellungen übersäten Körper traten. Er war bewusstlos und atmete nur schwach; doch er lebte. Notbedürftig versorgt wurde er in einen Tempel gebracht, der tief und versteckt in einer Schlucht lag, verborgen hinter Felsen und dürren Bäumen. Die Geistlichen brachten den erschöpften Krieger zu ihrem Heiler, der wortlos das getrocknete Blut vom geschundenen Körper und sorgfältig die Wunden auswusch, diese mit einer heilenden Kräutersalbe bestrich und verband. Mehrere Tage rührte der tapfere junge Mann sich nicht, trug einen inneren Kampf aus, doch solange er atmete, war noch nichts verloren. Nach fünf Tagen öffnete er matt die Augen. Jemand machte sich an seinem Oberschenkel zu schaffen und obwohl er noch nicht ganz klar sah und seine Glieder wie Feuer brannten, schreckte er auf und packte beide Handgelenke des Heilers. Er mochte es nicht, berührt zu werden. „Oh, du bist wach“, sprach der Heiler sanft und versuchte, sich loszumachen. „Wo bin ich?“ Trotz des trockenen Mundes klang die Frage harsch und befehlend. Die Augen verengten sich zu blutrot funkelnden Schlitzen und sein Griff um die Handgelenke wurde noch fester. Er starrte den Heiler an, konnte jedoch die Augen nicht sehen, da eine Kapuze ihm tief ins Gesicht hing. Der Krieger knurrte ungeduldig. Doch sein Gegenüber blieb ruhig. „Lass mich los, dann erzähle ich es dir.“ „Unmöglich“, raunte er, nachdem er den Worten des Heilers gelauscht hatte, stand ein wenig wackelig auf und griff nach seinen Klamotten, die auf einem Hocker lagen. Er zog sich die schmutzigen und blutverkrusteten Kleider an und verschwand ohne einen weiteren Blick aus der Tür. Der Heiler blieb ruhig sitzen und schüttelte den Kopf. Er wusste, dass es eine verwirrende Situation für ihn sein musste. Er würde ihm die Zeit geben, die er brauchen würde. Doch erstmals musste er wieder zu Kräften kommen. Er erhob sich, holte eine Schale kalten Wassers und folgte ihm. Der Krieger unterdessen irrte durch die Gänge. Als er einen der Geistlichen entdeckte, packte er diesen grob am Arm und forderte, ihm den Ausgang zu zeigen. Keine Reaktion. Etwas lauter fragte er versucht höflich, wo der Ausgang sei, weil er dachte, dass er vielleicht schwerhörig war. „Er wird dir nicht antworten, auch wenn du ihn anbrüllst.“ Erschrocken ließ er den Arm des Geistlichen los, der sich daraufhin verneigte und aus dem Staub machte. „Und sie mögen es gar nicht, berührt zu werden.“ „Wer seid ihr?“ Der Krieger hatte so viele Fragen. Doch der Andere reichte ihm nur die Schale Wasser, die er sofort leerte und forderte ihn dann auf, ihm zu folgen. „Dass wir nicht von hier sind hast du bestimmt schon bemerkt“, begann er zu sprechen, „die Geistlichen hier sind Mönche aus China, sie haben dem Sprechen abgeschworen, um ihre anderen Sinne zu schärfen.“ Der chinesische junge Mann legte die Hände an die Kapuze, die sein Gesicht verdeckt hatte und zog sie runter. Sofort ergoss sich langes schwarzes Haar über seine Schultern. Die Augen leuchteten ihm honiggelb entgegen und hielten seinen Blick gefangen. Beinahe seinen Verstand. „Ich bin Heiler und sie helfen mir. Nun, ich zwinge dich nicht, hier zu bleiben, aber bedenke, niemand weiß, dass du überhaupt noch am leben bist. Ich bitte dich lediglich, deinen Körper wieder zu Kräften kommen zu lassen. Außerdem nehme ich an, dass du dich weit weg von zu Hause befindest. Es wäre unklug, in deinem Zustand aufzubrechen.“ Mittlerweile waren sie draußen angelangt und stehen geblieben. Der Krieger sah sich um. Der Tempel war umgeben von einem Hof, in dem Dattelpalmen standen und Wasser plätscherte. Hinter den Mauern jedoch erstreckte sich eine weite Einöde aus Gestein und Sand und einigen vertrockneten Sträuchern. Die Sonne prallte erbarmungslos ihre Hitze auf alles, was sich dazwischen befand. Einen Weg durch dieses Land zu finden, war so gut wie unmöglich. Zudem wusste er nicht einmal, wo er sich überhaupt befand. Seufzend wandte er sich um und hastete dem Heiler hinterher, der bereits wieder in den Tempel verschwunden war. In der großen Eingangshalle holte er ihn auf. „Warte, Heiler! Ich bleibe hier. Vorerst“, betonte er letzteres stark. „Gut, dann lass mich zuerst deine Wunden pflegen, du hast mich vorhin unterbrochen.“ Zurück im Zimmer, zog der Krieger seine zerrissene Hose und das Hemd wieder aus und setzte sich auf das Lager, auf dem er zuvor gelegen hatte. Er ließ es geschehen, dass der Heiler die klaffenden Wunden gründlich auswusch. Es waren nicht die schlimmsten Verletzungen, die er sich in seinem Leben bereits zugetragen hatte. „Du kannst dich waschen gehen, aber bleib nicht zu lange im Wasser, das ist nicht gut für solch eine Verletzung. Danach kommst du zurück. Rechts, dann dritte Tür links.“ Einen Dank murmelnd verließ der Krieger das Zimmer, um den beschriebenen Raum ausfindig zu machen, der sich als geräumiges Bad entpuppte. Eine große Wanne war in den Boden eingelassen, Wasser füllte sie bereits plätschernd. Es duftete frisch nach Lavendel und Minze. Er entledigte sich seiner Unterhose und ließ sich seufzend hineingleiten. Das heiße Wasser wärmte seine Knochen und linderte das Brennen seiner überstrapazierten Muskeln. Während er sich im wohltuenden Nass entspannte, schweiften seine Gedanken ab. Der Krieger war tatsächlich sehr weit weg von zu Hause. In einem Land, das er weder kannte, noch Bedeutung für ihn hatte. Er kämpfte einzig und allein, um seinem Vaterland einen Dienst zu erweisen und der bestand darin, Land zu erobern. Als ob der Herrscher nicht schon genug Land besäße, strebte er offensichtlich nach der ganzen Welt. Es sah ganz danach aus, als ob seine Armee diesmal nicht erfolgreich gewesen war. Und wenn in einigen Tagen die Botschaft den Herrscher erreichte, würde auch er selbst als gefallen gelten. Er starrte die Decke an, und während er darüber nachdachte, musste er feststellen, dass es ihm egal war, nicht mehr nach Hause zu gehen. Dort hatte er nichts. Keine Familie, keine richtigen Freunde. Kein richtiges Zuhause. Heimat gab es schon lange nicht mehr für ihn. Seit er als Kind das erste Mal eine Waffe in Händen hielt, lebte er einzig und allein für den Krieg. Seine Gedanken schweiften zum Heiler und den Geistlichen, die ihn gerettet hatten. Sie kamen aus dem großen Reich der Mitte und befanden sich dementsprechend noch weiter von ihrem Heimatland weg. Er fragte sich, was sie an solch einem Ort machten. Dieses Land war tot, nicht fruchtbar, hatte nichts zu bieten. Er schüttelte den Kopf. Das viele Denken verwirrte ihn. Neben sich auf dem Boden entdeckte er eine Schale mit halbfester und eine Flasche mit flüssiger Seife. Die flüssige massierte er sich in die Haare, mit der anderen seifte er sich komplett ein und nach wenigen Minuten verließ er die wohlige Wärme des Wassers. Auf einem kleinen Tisch in der Nähe entdeckte er ein Tuch, mit welchem er sich die gröbste Feuchte aus den Haaren rubbelte und es sich schließlich um die Hüfte wickelte. Zurück beim Heiler setzte er sich erneut aufs Lager. Dieser hatte auf ihn gewartet und begann abermals wortlos, die Wunden abzutupfen, mit der grünen Kräutersalbe einzureiben und gut zu verbinden. Danach verschwand er kurz in einem Nebenraum und kam mit einer weiteren Schale in der einen und einem Stapel Stoffen in der anderen Hand zurück, legte beides auf den Tisch. „Die Salbe ist gegen Muskelbrennen. Geh bitte sparsam damit um, die Kräuter sind schwierig zu erreichen. Diese Kleider kannst du anziehen, deine alten sind zu zerfetzt und dreckig. Und da du doch bestimmt Hunger hast, werde ich ein Mahl zubereiten. Komm doch in den Speiseraum, sobald du hier fertig bist. Er befindet sich links, auf der anderen Seite der Eingangshalle zweite Tür rechts.“ Der Krieger nickte wortlos, worauf der Heiler den Raum verließ. Noch einige Zeit stand er einfach nur da und starrte auf die Tür, hinter welcher der Heiler verschwunden war. Gedanken über Gedanken kreisten in seinem Kopf. Was taten die Chinesen hier? Warum hatten sie sich die Mühe gemacht nach Überlebenden zu suchen? Was ging sie dieser Krieg überhaupt an? Fragen über Fragen. Die ganze Situation war ihm nicht ganz geheuer. Dem Heiler lag offenbar sehr viel daran, dass er gesund würde, obwohl sie sich fremd waren und dem Krieger war nicht entgangen, dass er eine Kraft ausstrahlte, die ihm vollkommen unbekannt war. Doch diese Macht ließ ihm seine Nackenhaare zu Berge stehen. Der Speiseraum war nichts weiter als ein schlicht mit einem tiefen Tisch und mehreren Kissen notdürftig eingerichtetes Zimmer. Auf dem Tisch standen bereits einige Schalen, deren Inhalt dampfte und einen würzigen Geruch verbreitete. So hungrig wie der Krieger war, ließ er sich auf eines der Kissen fallen und begann, das Essen in sich hineinzustopfen. Dabei unterschätzte er die Schärfe der Gerichte. Sein Mund schien zu verbrennen, die Augen tränten. Er hustete und wollte nach Wasser greifen, als eine Hand ihn aufhielt und eine andere ihm eine Schale mit einer weißen Flüssigkeit vor die Nase hielt. „Trink das, mit Wasser machst du es nur schlimmer.“ Der bereits rot angelaufene Krieger schüttete sich die Milch ohne weitere Aufforderung in den Rachen und keuchte. „Um Himmels Willen. Wollt Ihr mich umbringen?“ Zum ersten Mal legte sich ein amüsierter Ausdruck auf das ansonsten ernst dreinblickende Gesicht des Heilers. „Natürlich nicht, was hätte es denn dann für einen Sinn gehabt, dich zu retten?“ Er reichte ihm ein Tuch, womit er seine Stirn abwischen konnte, auf der sich ein Schweißfilm gebildet hatte. Und die Tränen aus den Augen. „Schau, du musst es mit dem Reis zusammen essen. Und iss langsam, sonst hast du gleich Magenschmerzen“, belehrte ihn der Heiler. Der junge Krieger murrte, tat dann aber wie ihm geheißen. Während er aß, saß der Chinese kniend neben ihm und trank einen Tee. Dass er spürte, wie er gemustert wurde, ließ er sich nicht anmerken. „Wie kommt es, dass du schon ein anscheinend solch fähiger Heiler bist? Du kannst doch nicht älter sein als zwanzig Jahre“, kam die unerwartete Frage. Doch der Angesprochene trank einen weiteren Schluck Tee und schaute ihm dann mit seinen tiefgründigen, geheimnisvoll glitzernden Opalen in die Augen. „Und du? Wie kommt es, dass du in deinem Alter ein solch mächtiger Krieger bist? Du scheinst mir auch nicht älter zu sein.“ Etwas verwirrt ließ er die Hand sinken, mit der er sich gerade einen weiteren Happen in den Mund schieben wollte, und blickte ihn blinzelnd an. „Das stimmt, ich bin zwanzig. Aber wie ich zu solch einem Krieger wurde, weiß ich auch nicht. Ich schien eine Begabung dafür zu haben.“ Der Heiler sah ihn aus unergründlichen Augen an. „Ein Schicksal, dem du dich nicht entziehen konntest, was? Eine Vorherbestimmung, als wäre es dir in die Wiege gelegt worden.“ Er nahm einen weiteren Schluck Tee. „Genau wie bei mir.“ Kapitel 2: Die heilige Lichtung ------------------------------- Mehrere Tage zogen ins Land, während denen der junge Krieger sich erholte und seine Wunden sich unter der Fürsorge des Heilers schnell schlossen. An das scharfe Essen hatte er sich mittlerweile gewöhnt, auch wenn er dachte, es niemals lieben zu können. Er sprach nicht viel. Einerseits, weil er ohnehin nie viel gesprochen hatte, andererseits, weil außer dem Heiler niemand von den Geistlichen in diesem Tempel sprach und der Heiler selbst verwirrte ihn nur mit rätselhaften Antworten und blieb auch sonst unantastbar und geheimnisvoll. Eines Tages, als er den Krieger auf dessen körperliche Gesundheit durchcheckte, stellte er ihm eine Frage. Etwas überrascht starrte er den Heiler an. „Magie? Unerklärliche Dinge?“, hakte der junge Krieger nach und erntete ein Kopfnicken. „Was soll ich schon davon halten? Ich habe noch nie etwas erlebt, was mich dazu bringen würde daran zu glauben.“ Der Heiler nickte abermals und seufzte nur. „Es gibt viele Dinge, die der durchschnittlichen Verstand nicht zu erklären vermag. Übernatürliche Dinge. Unlogische Dinge. Dinge, die allen Regeln der Natur zu widersprechen scheinen. Sie gehen weit über den normalen menschlichen Verstand hinaus.“ Der Krieger packte den jungen Chinesen an den Oberarmen, schüttelte ihn leicht. „Zeig es mir. Ich will es sehen“, verlangte er mit erregt geweiteten Augen, ein Glitzern lag darin, doch der Heiler zögerte. „Bitte!“ „Ich weiß nicht, ob du schon bereit dafür bist.“ Doch der Krieger ließ nicht locker, flehte ihn an. Der Jüngere gab schließlich nach und schickte ihn aus dem Zimmer, um alle seine Sachen zusammenzupacken. Er selber steckte einen Schlauch Wasser in seine Tasche, band sich einen langen Umhang um und setzte sich einen Hut auf den Kopf. Als der Krieger mit seinen Sachen zurückkam, drückte er ihm die gleiche Ausrüstung in die Hand und wandte sich zum Gehen. „Wir machen eine kleine Wanderung“, antwortete er auf die unausgesprochene Frage. Ohne noch weitere Worte zu verlieren, verließ er den Tempel, den Hof und betrat das dürre, leere Land. Schweigsam trotteten sie nebeneinander über den vertrockneten Boden. Der Krieger konnte ab und zu eine Schlange oder eine Maus erspähen, die hinter einem Stein verschwand. Er blickte zurück. Der Tempel müsste eigentlich noch zu sehen sein, doch durch die extreme Hitze war die Luft dermaßen verflimmert, dass sich auf dem Sand der Himmel spiegelte und den Tempel unsichtbar machte. „Heiler, wo bringst du mich hin?“ „An einen Ort, an dem du an deine Grenzen stoßen wirst.“ Er grummelte, war das doch schon wieder eine Antwort, mit der er nichts anzufangen wusste. Egal, was für Fragen er dem geheimnisvollen jungen Mann auch stellte, entweder er bekam ein Rätsel oder gar nichts als Antwort. Noch nicht einmal seinen Namen konnte er herausfinden. Und den Heiler schien seinerseits nichts zu interessieren. „Heiler, wann willst du mir eigentlich meine Fragen beantworten? Es ist nicht besonders einfach einem Fremden zu vertrauen.“ Dieser war mittlerweile stehen geblieben und hatte sich zu ihm umgedreht. „Alles zu gegebener Zeit. Geh erst mal hier rein.“ Er deutete auf einen schmalen Spalt im Fels, der sich als Eingang einer gut versteckten Höhle herausstellte. Neugierig trat der Krieger hinein, dicht gefolgt vom Chinesen. In der Höhle war es erstaunlich kühl, der Krieger zog seinen Mantel enger um sich. Seine Augen hatten sich noch nicht ganz an die Dunkelheit gewöhnt und somit stieß er in seinen Führer, der mittlerweile stehen geblieben war. Er drehte sich zu ihm um und blickte ihn vielsagend an. „Was auch immer jetzt geschehen mag. Bleib hinter mir. Und beeil dich!“ Mit diesen Worten drehte er sich abrupt um und schritt weiter seines Weges. Der Krieger verstand die Ernsthaftigkeit des anderen nicht ganz, in dieser Höhle war nichts und der einzige Weg, der hinein oder hinaus führte war der Eingang, von wo sie gerade gekommen waren. Doch der Heiler steuerte direkt auf eine Felswand zu. Kurz vor der steinernen Mauer blieb er noch mal kurz stehen und warf einen letzten Blick zurück. Dann machte er einen weiteren Schritt und war verschwunden. „Wa-!“ Scharf zog der Krieger die Luft ein. Erschrocken schaute er sich um, wo der Chinese stecken konnte. Doch er war alleine. Zögernd hob er eine Hand und legte sie auf den Stein, wo der andere vorhin verschwunden war. Er war so stabil und hart, wie er erwartet hatte. Doch plötzlich erschien eine Hand durch den Stein, packte ihn und zog ihn in Richtung der harten Felswand. Eschrocken presste er die Augen zusammen. Doch als er nicht wie erwartet sein Gesicht an den Fels klatschen spürte, riss er sie auf. Vor ihm stand der Chinese. Hinter ihm war nur eine Felswand. Er blinzelte einige Male, um sich klar zu werden, was soeben geschehen war. Der Heiler drückte ihm einen Schlauch mit Wasser in die Hand. „Hier, trink. Hast du dich wieder eingekriegt? Wir müssen weiter.“ Er hatte sich noch nicht wirklich beruhigt. Aber er nickte trotzdem und folgte dem Chinesen, der nun durch den langen Gang lief, in dem sie gelandet waren. Fackeln erhellten ihn und warfen gespenstische Schatten auf die steinernen Wände. Gierig züngelten die Flammen hinter den beiden her, beruhigten sich erst, als sie mehrere Meter weitergegangen waren. Der Gang beschrieb eine Kurve und dahinter konnte der Krieger endlich den Ausgang sehen. Licht schien ihm entgegen. Freudig beschleunigte er seine Schritte und trat hinaus. Doch er befand sich nicht wie gedacht im Freien. Er befand sich in einem riesigen, kreisrunden Raum, über ihm erstreckte sich nicht der Himmel, sondern ein Dach aus Kristallen, die diesen Raum taghell erleuchteten. Doch mit den Füßen stand er auf Gras und eine kleine Gruppe von Bäumen befand sich in ihrer Nähe, auf deren Ästen Vögel hockten, wie er noch nie gesehen hatte. Sie waren groß und bunt und das Federkleid jedes einzelnen funkelte wie das kristalline Dach selbst. Zwischen den Bäumen lag ein kleiner Tümpel mit glasklarem Wasser, in welchem ebenso seltsame Fische schwammen, wie die Vögel nicht von der Erde waren. Fasziniert nahm der Krieger alles genau in Augenschein. Dieser Ort musste verzaubert sein. So etwas konnte unmöglich in seiner grausamen Welt Wirklichkeit sein. „Schön, nicht wahr?“ Der Chinese hatte ihn beobachtet und trat nun näher. Der Krieger nickte ehrfurchtsvoll. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Ein schräges Grinsen zierte das Gesicht des Heilers. „Natürlich nicht. Es ist nicht von dieser Welt. Aber sieh dich genau um. Was siehst du?“ Er kniff die Augen zusammen. „Nun ja, abgesehen vom Offensichtlichen…?“ Der Heiler nickte, doch war es zu erwarten, dass keine anständige Antwort kam. „Dies ist ein heiliger Ort. Er verknüpft Raum und Zeit. Sollte jemals ein Normalsterblicher oder jemand ohne reinen Herzens hierherkommen, so würde er sofort für den Rest seines Lebens dem Zauber verfallen sein. Aber natürlich können Normalsterbliche diesen Ort gar nicht erst finden. Schau genau hin“, der Chinese zeigte mit einer Hand in eine Richtung, wo eigentlich die Wand des Raumes stehen sollte. Doch die Luft war von Magie so erfüllt, dass nur verwischte Konturen ausmachbar waren. Er machte einige Schritte in die Richtung, verengte die Augen zu Schlitzen, um besser erkennen zu können. Es war keine Wand, das war ihm bewusst. Er erkannte etwas, das aussah wie eine Pforte. „Ist das ein Tor?“, fragte er verwirrt. „Gut erkannt. Schau dich jetzt noch mal um.“ Abermals ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, ignorierte diesmal aber gekonnt alles andere. Der Nebel schien sich zu lichten und überrascht weiteten sich seine Augen. Da, wo eigentlich die Wände des kreisrunden Raumes sein sollten, befanden sich nichts als Tore, eines neben dem anderen und jedes Tor war individuell künstlerisch gestaltet. Es waren unzählige. Und er erkannte nicht, aus welchem sie ursprünglich gekommen waren. War er verloren? Der Chinese sah die Unsicherheit in den roten Augen und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. „Keine Angst. Ich kenne mich hier sehr gut aus. Und da auch du kein Normalsterblicher bist, wirst du dem Zauber nicht erliegen.“ Das war etwas zu viel für den ansonsten hart gesottenen Krieger. Er ließ sich ins Gras sinken. „Was soll das heißen, ich bin kein Normalsterblicher? Ich bin ein Mensch, ich habe getötet, einer wie ich hat doch kein reines Herz!“ Der junge Heiler ließ sich neben den Krieger auf die Knie sinken. Er schien wirklich am verzweifeln zu sein. Doch er wusste, dass er tief im Innern stark genug war. „Das tut hier nichts zur Sache. Ich werde dir alles erklären, wenn du bereit dafür bist. Ich habe dich gewarnt, dass ich dich an einen Ort bringe, an welchem du an deine Grenzen stoßen würdest. Das wirst du noch häufig in nächster Zeit. Ich habe dich vor die Wahl gestellt und du hast dich entschieden. Es war dir vorherbestimmt, hierher zu kommen. Und nun, lass uns gehen“, mit diesen Worten erhob er sich und blickte auf den jungen Mann herunter, “ich denke, es ist genug für einen Tag. Kai.“ Entsetzt starrte der noch immer am Boden hockende Krieger in das Gesicht über sich. „Woher-? Ich habe dir meinen Namen nie gesagt!“ Der Chinese wandte sich ab, ließ seinen Blick über die verzauberte Lichtung schweifen. „Hier herrschen Kräfte, Kai, die nicht so einfach zu verstehen sind. Ich kenne diesen heiligen Ort schon so lange, weiße die Magie zu meinen Gunsten zu nutzen. Diese Lichtung setzt Kräfte in einem frei, die man sich nie zu erträumen wagen würde. Kai, ich kann in dir lesen wie in einem offenen Buch, seit einigen Minuten weiß ich alles über dich, über deine Vergangenheit, über deine geheimsten Geheimnisse, dein Schicksal. Gespürt hatte ich es schon, als dich meine Gehilfen halbtot von der Schlacht zu mir brachten. Deshalb habe ich dich hierher gebracht.“ Stumm hatte Kai den Worten des Chinesen gelauscht. Er wusste nicht, ob er das alles nun glauben wollte, oder ob er es nicht doch viel lieber als einen einzigen großen Witz abhacken sollte. Das war alles so verwirrend. Seine ganze Welt war auf den Kopf gestellt worden, alles, woran er glaubte und nicht glaubte, ergab keinen Sinn mehr, plötzlich schien es ihm, als wüsste er nicht einmal mehr, wer er überhaupt war. Der Heiler wusste über die Angst und Unsicherheit, die im Russen aufkeimte und bot ihm die Hand. Dankend hielt er sich daran fest und ließ sich aufhelfen. „Komm, gehen wir.“ Kai nickte nur stumm und folgte dem anderen blindlings durch eines dieser unzähligen Tore, hinter dem sich der steinerne, von Fackeln gezäumte Gang befand, durch den sie schon auf die Lichtung kamen. Wieder traten sie durch die so stabil aussehende Felswand, was dem Russen einen Schauer über dem Rücken jagte. Sie durchquerten die kühle Höhle und schritten durch den Felsspalt nach draußen. Gleißendes Licht traf sie und stach ihnen in den Augen. Kai blinzelte, um sich schneller an die Helligkeit zu gewöhnen. Als er endlich sehen konnte, weiteten sich seine Augen abermals ungläubig. Die Wüste war weg. Hier war es grün und angenehm warm, die Luft war leicht feucht. Sie standen mitten im Wald vor dem Eingang einer steinernen Höhle. „Willkommen in China, Kai. Übrigens, mein Name ist Rei.“ Kapitel 3: Der Tempel in den Bergen ----------------------------------- Kai war gerade dermaßen überfordert, dass er nicht mitbekam, wie der Heiler ihm seinen Namen verriet. Verwirrt starrte er ihn an. „W-was soll das heißen, willkommen in China?“ Verstört packte er Rei an den Schultern und schüttelte ihn. „Wir waren doch vorhin gerade noch im großen Wüstenland in Afrika!? Dieser Raum, diese Lichtung mit den vielen Türen. Ich-!“ Kai fasste sich an den pochenden Kopf. „Was geht hier vor sich, Heiler?“ Erneut packte er Rei grob an den Armen, grub die Finger in dessen Muskeln. Der ruhige Chinese verzog keine Mine, legte nur beruhigend seine Hände auf Kais angespannte Unterarme. Sein irrer Blick verriet Rei, dass dies wohl ein bisschen viel auf einmal gewesen war. „Kai, beruhig dich erst einmal.“ Kais Blick bohrte sich in seinen, er riss die Augen auf, seine Pupillen zogen sich schlagartig zusammen. „Aber-!“, setzte er an, doch Rei ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Nichts aber, Kai, ganz ruhig. Wir gehen jetzt in meinen Tempel, dort werden wir etwas essen und uns erholen und dann werde ich dir alles erklären.“ Der Russe wollte gerade wieder den Mund aufmachen, doch er wurde abermals unterbrochen. „Ich beantworte dir alle Fragen, die du hast, Kai, aber erst im Tempel! Jetzt komm.“ Er duldete keinen Widerstand mehr und ging voraus über den schmalen Pfad, auf dem er gestanden hatte. Kai folgte ihm stumm. Seine Gedanken kreisten wild durcheinander um diese ganz konfuse Situation, die sein Verstand erst begreifen musste und er fragte sich, wie lange dies wohl dauerte, oder ob er ihn komplett verlieren würde. Bald waren sie von dichtem Grün umgeben. Riesige Bäume säumten ihren Weg und ihre Kronen bildeten ein schützendes Dach, das keinen Blick auf den Himmel zuließ. Dunkles, von Tau genässtes Moos erstreckte sich über totes und lebendiges Holz und Steine. Dichte Farne bedeckten den Boden und einige Felsen und hingen weit über ihren kleinen Pfad, der sich somit verborgen durch den Wald schlängelte und sich nur dem offenbarte, der ihn kannte. Ein leichtes Rauschen lag in der Luft, hie und da ein Vogelschrei, ein leises Rascheln von einem Tier, das im Farn verschwand. Einige Sonnenstrahlen brachen durch die Blätter und zogen durch die von Dunst getränkter Luft und tauchten alles in ein sanftes, grünes Licht. Jegliches Zeitgefühl war verloren. Kai wusste nicht, wie lange er bereits dem Chinesen hinterherlief, der sich kein einziges Mal nach ihm umgedreht hatte. Für ihn sah alles gleich aus und er fragte sich, wie lange es wohl gedauert hatte, bis der Heiler sich all das Wissen über diese bizarren Orte und Wege angeeignet hatte. So in Gedanken versunken achtete er nicht darauf, wo er hintrat und übersah prompt eine große Wurzel. Er strauchelte und fiel nach vorne. Reflexartig hielt er sich am erst Besten fest, das seine Hände zu fassen bekamen und das war Rei, der mittlerweile doch stehen geblieben war und sich gerade umdrehen wollte. Kai stolperte ihm in die Arme und krallte sich in seinem Hemd fest. Von seiner eigenen Ungeschicklichkeit beschämt, legte sich ein roter Schimmer um seine Nase und hastig stellte er sich wieder auf die eigenen Füße. Doch Rei schien dies nicht weiter zu kümmern, stattdessen drehte er sich wieder um und hob eine Hand. „Schau.“ Kai folgte gebannt seinem Blick. Als Rei einen großen Ast beiseite zog, offenbarte sich ihm ein Anblick, wie er es niemals vermutet hätte. Umgeben von mehreren hohen grünen Felsspitzen, erstreckte sich vor seinen Augen ein großer ruhiger Bergsee, das Wasser klar und tief und spiegelglatt. Mitten im Bergsee erhob sich stolz ein Tempel, nicht reich geschmückt, doch perfekt wiedergegeben vom Spiegel des Wassers. Keine Brücke, kein Steg führte zu ihm. „Zieh die Schuhe aus“, forderte Rei ihn plötzlich auf. In der kurzen Zeit, in der Kai mit dem Chinesen unterwegs war, hatte er bereits gelernt, nichts was er sagte zu hinterfragen und so tat er es ihm gleich und zog sich die Schuhe von den Füßen. „Und nun folge mir. Bleib dicht.“ Rei tat einen Schritt und setzte seinen Fuß unmittelbar nach dem Ufer ins Wasser. Kleine kräuselnde Kreiswellen bildeten sich, als die nackte Haut auf die glatte Oberfläche traf. Und da sah Kai, dass sich nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche ein schmaler Steg in die Richtung des Tempels zog. Ohne zu zögern trat nun auch er in das eisig kalte Wasser und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend folgte er Rei, der über das Gewässer zu schweben schien. Spiralförmig näherten sie sich dem Tempel, bis sie am Ende des Stegs ankamen und durch ein kreisrundes offenes Tor auf den kleinen Hof traten. Er war nur wenige Meter breit und außer eines kleinen knorrigen Baumes, umgeben von einem Quadrat Gras, war er kahl. Rei schenkte ihm auch nicht die geringste Aufmerksamkeit, stattdessen ging er schnurstracks auf den eigentlichen Eingang des Tempels zu, öffnete das Tor und schloss es hinter Kai wieder. Sie befanden sich nun in einer Art Eingangshalle, welche eine große geschwungene Treppe durchzog, die zum einen nach oben, auf der anderen Seite nach unten führte. Während Kai interessiert nach oben schaute und sich fragte, was wohl oben zu finden war, betrat Rei die andere Treppe und stieg nach unten. Immer tiefer führten die Stufen. Dann endete sie plötzlich vor einer weiteren Tür. Dahinter befand sich ein großer Raum und abermals traute Kai seinen Augen nicht. Verdutzt durchquerte er das große Zimmer und fand sich vor einem riesigen Fenster wieder, das einen fantastischen Ausblick über grüne Hügel, durchzogen von einigen Dunstschleiern, einen großen ruhigen See und bis weit in die Tiefen Chinas boten. Unendlich schien die Weite zu sein, in die sich der Himmel zog. Sie befanden sich nun im eigentlichen Tempel, der tief ins Innere einer gewaltigen Felswand gebaut worden war. Viele Meter ging es steil nach unten. Niemand wusste, dass sich hier ein Tempel befand. Kai war fasziniert. In sein Staunen versunken merkte er nicht, wie Rei neben ihn trat und zufrieden seufzte. „Das ist umwerfend“, flüsterte Kai überwältigt, worauf Rei sich schmunzelnd zu ihm umdrehte. „Nicht wahr? Es ist mein Zuhause. Ich habe es mir erbaut als ich hier her kam. Natürlich nicht ganz ohne Hilfe“, fügte er zwinkernd hinzu. Der Russe starrte ihn an. Er konnte es nicht fassen. Das war mit Abstand der schönste Ort auf der Welt, an dem er je in seinem Leben gewesen war. Und er fragte sich, wie dieser junge Mann neben ihm so etwas erschaffen konnte. Allerdings nahm er an, dass auch diese Gemächer nicht ganz ohne Magie entstanden waren. Der Heiler merkte, wie Kai ihn von der Seite her musterte und blickte ihn freundlich an. „Hast du Hunger?“, fragte er und obwohl der Russe sich nur schwer von dem Panorama trennen konnte, nickte er und abermals folgte er dem Chinesen durch Türen und Gänge. Als sie sich in einem weiteren Raum befanden, der zu Kais Überraschung ebenfalls ein großes Panorama-Fenster besaß, hörte er von der Seite plötzlich ein Knurren und aus den Augenwinkeln erkannte er, dass etwas Großes beängstigend schnell auf Rei zuschoss. Reflexartig hechtete er vor den Heiler um diesen zu schützen. Er erschrak heftig, als sich etwas Schweres gegen ihn warf und ihn fast umhaute. Doch dank seiner kämpferisch ausgeprägten Sinne und Stärke konnte er dem unberechenbaren Überfall und dem gewaltigen Gewicht auf seinen Schultern standhalten. Ein weiteres Knurren. Erschrocken sah Kai genau in die gelben Augen eines riesigen Raubtieres, das auf den Hinterpfoten stand und die Vordertatzen auf Kais Schultern platziert hatte. Reglungslos stand der Russe da und starrte das Tier an. Hinter sich ertönte ein unterdrücktes Kichern. „Byakko, geh runter, du machst ihm Angst.“ Sofort nahm das Raubtier seine Pfoten von Kais Schultern und setzte sie lautlos auf den Boden. Noch ein letzter Blick zum Fremden, dann schlich er zu Rei, um sich seine ersehnten Streicheleinheiten abzuholen. Schnurrend legte er sich auf den Rücken und ließ sich den Bauch durchkraulen. Kai beobachtete dieses Spektakel skeptisch. „Pff, Angst! Von wegen, ich hab mich nur erschrocken. So einen großen Tiger hab ich halt noch nie gesehen!“ Rei kicherte. „Byakko ist auch kein normaler Tiger. Nicht wahr, mein Schöner?“ Erneut durchwuschelte er das weiß-schwarze Fell und ein lautes Schnurren verließ Byakkos Kehle. Kai schüttelte den Kopf. Und doch schaute er ihm verwundert zu. Seit er mit dem Heiler unterwegs war, hatte er ihn noch nie lachen, geschweige denn so ausgelassen gesehen. Byakko folgte seinem Herrchen überall hin und legte sich immer dicht an seine Seite. Seine Augen jedoch wandten sich nur selten von Kai ab, was diesen leicht beunruhigte. Doch er zwang sich dazu, es zu ignorieren und aß genüsslich das Mahl, das ihm aufgetischt wurde. Kai und Rei sprachen nicht, sondern saßen stumm da und genossen Essen und Tee. Es war keine unangenehme Stille, im Gegenteil schien sie in Kai eine tiefe Ruhe auszulösen. Lange saßen sie einfach nur nebeneinander und genossen ihre Untätigkeit. Rei lag halb auf seiner Riesenkatze, hatte das Gesicht in seinem Fell vergraben und kraulte ihn hinter den Ohren, während Kai auf einem Kissen vor dem Fenster saß und hinaus starrte. Erst ein herzhaftes Gähnen seitens Rei holte ihn zurück in die Realität. „Sag mal Kai, wie wäre es mit einer Runde schwimmen? Das wäre doch sehr erfrischend.“ Zurück oben beim kleinen, sichtbaren Teil des Tempels auf dem Bergsee, zogen sie sich ihre Kleider aus und hüpften in das kalte, klare Wasser. Rei lachte als er sah, dass es den harten Russen am ganzen Körper erschauderte. Kurzerhand stürzte sich dieser auf den glucksenden Chinesen und tauchte ihn unter. Wild um sich schlagend versuchte er, wieder an die Oberfläche zu gelangen, um seine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Grinsend ließ Kai los und prustend tauchte der Chinese auf, nur um sich dann sofort auf den Russen zu stürzen und es ihm heimzuzahlen. Eine Zeit lang fühlten sie sich wie Kinder. Unbekümmert, naiv, sorgenlos genossen sie ihre Unbeschwertheit. Lachend legten sie sich ins Gras und blickten in den Himmel, der sich langsam lila verfärbte. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck sah Rei den jungen Mann an, der neben ihm lag. „Wollen wird rein gehen? Es wird ziemlich kühl hier draußen.“ Rote Augen erwiderten seinen Blick eine Zeit lang wortlos. Dann nickte er und erhob sich ebenfalls, sie streckten ihre steifen Glieder und zogen sich wieder ihre Kleider an. Rei zeigte dem Russen eines der Gemächer, das von nun an ihm gehören würde. Er fragte sich, wann er eigentlich eingewilligt hatte, dem Heiler zu folgen. Eigentlich hatte er ja gesagt, dass er bleiben und sich gesund pflegen lassen würde. Danach hatte er zurück gehen wollen. Zurück in sein Vaterland, das nicht seine Heimat war. Und Rei hatte ihn neugierig gemacht. Mit seinem Gerede über Magie und Unerklärliches. Er ging mit und tatsächlich hatte er ihn nicht enttäuscht, mal wieder nach so vielen Jahren wurde ein Versprechen ihm gegenüber ehrlich eingelöst. Er war ihm dankbar dafür. Deshalb ging er nicht weg. Deshalb blieb er hier und folgte ihm. Deshalb vertraute er ihm. Es war Nacht. Sterne glitzerten durch das Fenster in Konstellationen, wie Kai sie noch nie gesehen hatte. Schon sein halbes Leben lang war er häufiger von dem Ort seiner Geburt weg gewesen als er an selbigem Tage verbracht hatte. Doch so weit weg wie jetzt war er noch nie. Am Ende der Welt. Es war eine schlaflose Nacht. Eine Nacht voller Fragen, auf die Kai keine Antworten wusste. Lange starrte er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke, kleine orange Lichtflecken tänzelten darauf herum, geworfen von der Kerze, die noch immer brannte. Kai seufzte und schälte sich aus dem Laken. Er brauchte frische Luft. Rasch zog er sich eine Hose über und machte sich auf den Weg zurück nach oben. Viele Stufen stieg er hinauf, bis er endlich in der Eingangshalle ankam, wo er sogleich den Weg zum Ausgang einschlug. Auf halbem Weg blieb er stehen und drehte sich um. Sein Blick fiel auf die Treppe, die noch weiter nach oben führte. Die Neugierde siegte und so stieg er empor. Langsam, vorsichtig. Schon wieder eine Tür. Öffnen und durchhuschen. Eine kühle Brise zauberte leichte Gänsehaut auf seinen nackten Oberkörper. Er war auf dem Dach. Unter einem Zelt aus Abermilliarden von Sternen. Und ihm gegenüber stand Rei. Angelehnt am Geländer, das die freie Fläche umgab, und blickte verträumt auf das leicht kräuselnde Wasser, welches im Licht der Sterne glitzerte und funkelte. Kapitel 4: Eine Nacht der Wandel -------------------------------- Es war eine wolkenlose Nacht. Das Licht der Sterne und des Mondes, der nicht mehr weit über dem Horizont stand, tauchte die Felsen und den klaren Bergsee mit dem Tempel in ein dunkles Blau. Reis Haut schimmerte blass. Eine frische Brise spielte mit seinen Haaren, die ausnahmsweise nur locker etwa in der Mitte seines Rückens zusammengebunden waren, und ließ einige lose Strähnen über den nackten Oberkörper streicheln. Er hatte den Kopf auf die eine Hand abgestützt, während die andere locker über dem Geländer baumelte und verträumt schaute er über das Wasser in die Ferne. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Eine Weile stand Kai in sicherem Abstand und betrachtete seine schlanke, muskulöse Silhouette. Selbst für seine Verhältnisse war es keine warme Nacht und er wunderte sich, ob der Chinese nicht fror. Denn trotz der häufigen kalten Brisen erschauderte er nicht ein einziges Mal. Wieder einmal merkte er, dass er eigentlich überhaupt nichts über ihn wusste. Außer seinem Namen und der Nationalität wusste er nichts über ihn. Nicht einmal beim Alter war er sich sicher. Er wirkte so reif, so selbstständig und welterfahren. Im Vergleich zu ihm kam Kai sich naiv und weltfremd vor. Trotz allem, was er mit seinen wenigen Jahren schon alles erlebt hatte. Krieg, Tod, Angst, Hinterhalt, Vernichtung, so viel Böses. Und Rei strahlte eine Ruhe und Geborgenheit aus, der sich Kai zugegebenermaßen nur ungern entzog. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser junge Mann, den er als Heiler kennen gelernt hatte, schon jemals etwas Bösartiges getan oder miterlebt hatte. Nein, bestimmt nicht. Rei schien in einer heilen Welt zu leben, voller Magie und Zauber. Und doch strahlte er etwas Geheimnisvolles, Unergründliches aus, das er nicht verstand. Rei hatte inzwischen bemerkt, dass der Russe hinter ihm stand. Er drehte sich um und lehnte sich an das Geländer. Mit klaren goldenen Augen blickte er ihn an und wartete, bis er neben ihn getreten war, ans Geländer stand und mit verschränkten Armen gerade aus starrte. „Kannst du nicht schlafen, Kai?“ Statt einer Antwort zu geben wandte er sich dem Chinesen zu. Keine Gefühlsregung zeigte sich auf seinem Gesicht. Doch er war nicht der einzige, der es vermochte, seine Emotionen vor anderen zu verstecken, und so stieß sein Blick auf die unbegreifliche Tiefe von Reis Augen. Sie schienen in ihn einzudringen, seine Seele zu erforschen, ihn aufzusaugen. Es war unmöglich, sich ihrem Sog zu entziehen. Er schaffte es nicht, so sehr er es wollte. Er war nicht stark genug. Sein Herz fing an schneller zu schlagen. Schließlich war es der Chinese selbst, der sich von ihm wegdrehte, während Kai wie eingefroren dastand. Nach einer Weile des Schweigens, in der keine Antwort kam, öffnete Rei erneut den Mund. „Es war ein langer Tag. Bist du nicht müde?“ Obwohl er wieder mit ihm sprach, machte er keine Anstalten, den Russen anzusehen. Zu schön war die Aussicht auf die nächtliche Landschaft Chinas. Nun konnte auch Kai sich von seiner Starre lösen und folgte seinem Blick, drehte den Kopf zur Seite, blieb mit dem Körper allerdings noch immer zu Rei gewandt stehen. „Was ist denn mit dir?“, fragte Kai mit seiner dunklen Stimme, in der Hoffnung, wenigstens auf eine solch banale Frage eine Antwort zu erhalten. „Ich bin ein Nachtmensch.“ Bei diesem Satz hatte sich auch er vom Geländer abgestoßen und stand nun zu Kai gewandt, eine Hand auf das kühle Metall gelegt. Auch Kais Kopf drehte sich automatisch zurück. Im weißen Licht des untergehenden Mondes funkelten ihre Augen. Stumm blickten sie sich an. Zwischen Kais Augenbrauen hatten sich kleine Sorgenfältchen gebildet, die dem aufmerksamen Heiler nicht entgingen. Er seufzte, legte ihm eine Hand auf die Wange. „Kai, ich weiß, dass du nach Antworten suchst.“ Angesprochener erschauderte leicht unter der Berührung und den Worten. Der Berührung, weil Reis Finger eiskalt waren, und Kai fragte sich sofort, wie lange er wohl schon hier draußen gestanden hatte, und trotzdem ließen sie ihn wohlig schaudern. Die Worte, weil ihm erneut bewusst wurde, wie einfach es dem Heiler doch fiel, ihn zu durchschauen. Er versuchte, eine unerschütterliche Mine zu wahren, besonders dann, als Rei auch noch die zweite Hand an sein Gesicht legte und ihn somit zwang, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Vertraue mir, Kai. Ich verspreche dir, du wirst alle deine Fragen beantwortet bekommen. Doch es braucht Zeit, bitte gedulde dich.“ Ernst waren sein Blick und seine Worte. Der Krieger, der nie jemand anderem vertraut hatte als sich selbst, wurde schwach. Es war ein gewagtes Versprechen, das Rei ihm da gab, doch er glaubte daran, vielleicht hoffte er auch viel mehr, dass er es einlösen können würde. So nickte er, worauf er ein erleichtertes Lächeln erntete. Plötzlich wurde sein Kopf nach vorne gezogen und Rei drückte sanft seine Lippen auf seine Stirn. Ein Beschützer-Kuss. Der Chinese gab ihm damit zu verstehen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Noch nie hatte jemand so etwas gemacht, ihm gezeigt, dass er vertrauen und sich auf einen Anderen verlassen konnte, dass er sich nicht sorgen musste, dass alles gut würde. Etwas überrascht hatte er die Augen aufgerissen, doch Reis weiche Lippen lösten erneut das Schaudern und die tiefe Ruhe in ihm aus, wie er es seit wenigen Tagen in seiner Anwesenheit spürte, und so entspannten sich seine Züge rasch wieder. „Es ist schon sehr spät, Kai, es wäre besser, wenn du dich schlafen legen würdest. Es war in vielerlei Hinsicht ein aufregender Tag für dich. Dein Geist ist aufgewühlt. Und auch dein Körper verdient Erholung. Geh schlafen. Du wirst deine Kräfte morgen brauchen.“ Eigentlich wollte Kai daraufhin eine sarkastische Erwiderung zu seinem Besten geben, doch Reis samtige, melodische Stimme hypnotisierte seinen Verstand und er merkte, wie sich seine Gedanken vernebelten und seine Lider schwer wurden. Die mittlerweile warmen Hände wurden zurück gezogen und der kühle Luftzug, der einige Strähnen von Reis schwarzem Haar mit sich trug, kribbelte auf seiner Haut. Rei lächelte. Seine Augen leuchteten geheimnisvoll. Er würde wohl noch lange ein Mysterium bleiben. Erschrocken riss Kai am nächsten Morgen die Augen auf und fast sofort erfüllten noch mehr Fragen seinen Kopf. Kurzfristig wunderte er sich, wie er es gestern noch in sein Lager geschafft hatte, oder sich die Hose auszuziehen. Nachdem Rei mit ihm gesprochen hatte, schien er schlafgewandelt zu sein, denn er konnte sich nicht daran erinnern, in sein Gemach zurück gegangen zu sein, oder sich von Rei verabschiedet zu haben. Geschehenes jedoch war nur allzu präsent. Der Kuss auf seine Stirn, der Beschützer-Kuss. Wollte er ihn vor etwas beschützen? Doch vor was nur? Schließlich gab es nicht viel, wo er sich nicht selbst dagegen wehren konnte. Vielleicht vor sich selbst? Kai stöhnte und ließ sich zurück auf das Lager fallen. Es war grausam. Die Fragen ließen ihn einfach nicht in Ruhe und ständig tauchten neue auf. Genervt fuhr er sich durch die verwuschelten Haare und schob die Unklarheiten in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Er würde sich noch früh genug darum kümmern müssen. Als er in den geräumigen Wohnraum des Tempels trat, bemerkte er sofort Rei, der bereits mit einer Schale Tee in der Hand auf einem großen Kissen vor dem Panoramafenster saß und Byakko streichelte, der neben ihm lag und schnurrte. Der Chinese war tief in Gedanken versunken und schien die Lande vor seinen Füßen nicht wirklich wahrzunehmen. Auch bemerkte er Kai nicht gleich, als dieser sich neben ihn auf den Boden setzte. Zudem schien er sich leicht zu erschrecken, wenn auch beinahe unmerklich, als der Russe sich mit einem kleinen Räuspern bemerkbar machte. Mit großen Augen wachte Rei aus seiner Apathie auf und blickte ihn überrascht an. Wie untypisch für den ansonsten so beherrschten Heiler, der immer alles im Griff hatte. „Oh, guten Morgen Kai, ich habe dich gar nicht bemerkt, entschuldige. Ich war in Gedanken. Möchtest du einen Tee?“ Kai nickte und bekam eine Schale gereicht. „Hast du gut geschlafen?“ Wieder nickte er. Doch etwas störte ihn. Rei machte einen außerordentlich verwirrten Eindruck. Das passte nicht zu ihm. „Rei, alles in Ordnung? Du wirkst konfus.“ Der flüchtige Blick, der ihm zugeworfen wurde, erschütterte ihn. Er war unsicher und ein bisschen betreten. Als ob er ertappt worden wäre. Und er biss sich auf die Unterlippe. Die ansonsten festen Gesichtszüge waren fahrig und das erste Mal, seit Kai ihn kannte, schien er haltlos. Es war, als trug er einen inneren Konflikt aus. „Es ist nichts. Hast du Hunger?“ Es war offensichtlich, dass er log und nur ablenken wollte. So war Kais Reaktion auch eine hochgezogene Augenbraue. „Wenn ich etwas mit dir esse, erzählst du mir dann die Wahrheit? Es hatte ihn noch einiges an Überzeugungskraft und Sturheit gekostet, bis er Rei dazu bringen konnte zu gestehen, dass ihn etwas bedrückte und dass er ihm nach einem ausgedehnten Frühstück erklären würde, was es war. Und so kam es, dass sie sich mal wieder durch den Wald kämpften, der den Bergsee umgab. Diesmal schlugen sie einen anderen Weg ein, er führte direkt zu in den nackten Fels gehämmerte Stufen, die steil nach unten führten. Es war schwindelerregend hoch und nirgendwo gab es ein Geländer oder Seil, wo man sich festhalten konnte. Nervös sah Kai den Chinesen an. Doch sein Blick versicherte ihm, was er sich schon dachte. Sie würden in der Tat diese gnadenlos Angst einflößenden Stufen hinunterklettern. Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den andern, konzentriert darauf, ja keinen Fehler zu machen und auszurutschen, denn der kleine Wasserfall, der neben ihnen in die Tiefe donnerte, benetzte den Fels und machte ihn tödlich glatt. Als sie endlich unten ankamen, Kai kam es vor wie eine Ewigkeit auf dem Pfad durch die Hölle, ließ er sich erschöpft auf das Gras am Ufer des großen Sees sinken. Endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben, erleichterte ihn ungemein. Mit zu einer Schale geformten Händen schaufelte er sich das kühle Wasser ins Gesicht und wusch sich den Schweiß von der Stirn. „Keine Angst, hätte das Schicksal gewollt, dass du stirbst, dann wärst du in einer deiner zahlreichen Schlachten gefallen und nicht eine Treppe runtergestürzt.“ Rei klang sehr amüsiert, doch Kai beruhigte das kein Stück. „Schicksal? Glaubst du daran?“ „Natürlich, was denkst du denn, warum du hier bist? Bestimmt nicht durch Zufall.“ Kai merkte, dass dem Chinesen noch etwas auf der Zunge lag, das er offensichtlich nicht einfach so herausrücken würde. „Du meinst, mein ganzes Dasein beruht darin, dass ich schlussendlich hier lande?“ „Oh, dir ist bei weitem mehr vorherbestimmt als nur hier zu sein“, antwortete Rei im Flüsterton, mehr zu sich selbst denn als Antwort. „Rei, könntest du bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen?“, Kai verlor langsam wirklich die Geduld, wieso war er denn hierhergekommen, „und mir erklären, was hier läuft? Wieso habt ihr in einem Schlachtfeld nach Überlebenden gesucht? Immerhin war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand überlebt hatte minimal! Warum ist es so offensichtlich wichtig, dass ich überleben musste? Was meinst du damit, dass ich kein Normalsterblicher bin? Warum zeigst du mir das alles? Diese ganze Magie, die vor menschlichen Augen beschützt und verborgen wird? Was spiele ich für eine Rolle?“ Fragen über Fragen und Kai konnte endlich einige aussprechen. Rei hatte ihm stumm zugehört. Unsicher blickte er zu Boden und seufzte. Er verstand den Krieger und dessen unmissverständlicher Wunsch nach Wissen zwang ihn, ihm endlich die Wahrheit zu sagen. Kein Weg führte jetzt noch dran vorbei. „Na gut.“ Er trat zu Kai und blickte ihm scharf in die Augen. Seine Bestimmtheit war wieder da. „Du bist hier um ausgebildet zu werden. Und ich bin derjenige, der dich alles lehren wird. Doch vorher musst du noch überprüft werden. Nur um sicher zu gehen. Ach, vorher muss ich allerdings noch etwas wissen. Setz dich.“ Kapitel 5: Der Brunnen der Geheimnisse -------------------------------------- Kai tat, wie ihm geheißen und setzte sich im Schneidersitz in das Gras, Rei tat es ihm gleich und ließ sich ihm gegenüber nieder. Sein Rücken war absolut gerade, die Arme hingen locker an seiner Seite, die Hände auf die Knie gelegt. Die Handflächen waren nach oben gerichtet und Zeigefinger und Daumen berührten sich. Kai sah ihn skeptisch an. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“ Ein ernster Blick ließ ihn verstummen. „Wir meditieren. Halt den Rücken gerade. Schließ die Augen. Konzentriere dich auf deine Atmung. Atme tief in den Bauch ein. Und langsam wieder aus. Spüre die Gelassenheit in dir, die Ruhe, die sich in deinem Bauch ausbreitet und deinen ganzen Körper mit Wärme erfüllt. Du fühlst dich leicht, fast kannst du schweben, spürst du es?“ Kai öffnete sein linkes Auge und spähte hindurch. Er blickte genau in die hellbraunen Iriden des Chinesen, der ihn tadelnd anfunkelte. „Kai! Du nimmst das nicht ernst genug!“ „Naja, wie soll ich so etwas auch ernst nehmen können? Das ist doch Schwachsinn“, verteidigte sich der Russe und verschränkte verärgert seine Arme. „Schwachsinn? So? Ich möchte dich ja sehen, wie du dich im Griff hast! Du brauchst das! Das ist die einzige Möglichkeit, die Ruhe zu bewahren, das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu halten“, keifte Rei. Es war offensichtlich, dass Kai gerade einen wunden Punkt getroffen hatte. „Ich bin die Ruhe in Person“, wehrte er sich und packte absichtlich eine große Menge Eiseskälte in seine dunkle Stimme, verschränkte stur die Arme vor der Brust. Rei presste die Lippen zusammen und sah ihn unzufrieden an. Schließlich schnaufte er aus und schüttelte den Kopf. „Wie du meinst. Aber ich warne dich! Jammer später ja nicht rum! Und jetzt folge mir.“ Mit diesen letzten Worten erhob er sich schwungvoll und stapfte ein bisschen angesäuert weiter den See entlang, um diesen offenbar zu umrunden. Schnell hatte Kai ihn eingeholt. Doch beide schauten beleidigt geradeaus und würdigten einander keines Blickes. Sie kamen der anderen Uferseite näher und allmählich war ihre schlechte Laune verschwunden. Immer wieder warf Rei ihm prüfende Blicke zu. Kai versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch er war ziemlich gespannt auf das, was kommen würde. Vor der Felswand blieben sie stehen, es ging nicht weiter. Und doch machte der Chinese Anstalten, nach oben zu klettern, denn er zeigte in die Höhe. „Siehst du den Felsvorsprung dort? Da müssen wir hin.“ Skeptisch blickte der Russe hoch. Genannter Felsvorsprung befand sich zwei handvoll Meter über dem Boden. Ihm schauderte davor, erneut in schwindelerregender Höhe in den Felsen herum zu klettern. Hinzu kam wieder, dass der Stein durch den Wasserfall nass gespritzt war. Noch besser, er ragte unmittelbar neben dem Wasserfall heraus. Es war ein schrecklich gefährliches Vorhaben. Doch er hatte keine Zeit lange darüber nachzudenken, denn Rei war bereits dabei, geschickt Füße und Hände in der Felswand zu platzieren und sich hochzuziehen. Es war nicht einfach und Kai war dankbar, als er endlich oben ankam. Es stellte sich heraus, dass sie sich am Eingang einer Grotte befanden. Links und rechts standen große Fackeln, die jedoch nicht brannten. Rei winkte ihn zu sich und nebeneinander gingen sie durch einen schmalen Tunnel, der nach wenigen Schritten wieder endete. Die Grotte musste viele tausend Jahre alt sein, denn gigantische Stalachtiten hingen von der Decke und turmhohe Stalachmiten erhoben sich ihnen entgegen. Es was ein mystischer Ort und Kai hatte das Gefühl, die ähnliche unwiderstehliche Magie zu spüren, wie sie auf der heiligen Lichtung herrschte. Rei verbeugte sich ehrfurchtsvoll und hob die Hand, um Kais Blick in die gewollte Richtung zu lenken. Auf der anderen Seite der Höhle entdeckte er einen Spalt im Fels, aus dem Wasser plätscherte, das in einer kreisrunden steinernen Schale mündete. Über dem spiegelglatten Wasser schwebte etwas, das aussah wie Nebel. Er glitzerte. Fragend sah Kai Rei an, der ihm geheimnisvoll zulächelte. „Ja Kai, auch dieser Ort ist heilig. Die heilige Quelle, wie er auch gerne genannt wird. Ihr Wasser ist reiner als die unschuldigen Gedanken eines Kindes. Und das“, er deutete auf die steinerne Mulde, „ist der Brunnen der Geheimnisse. Wer hinein blickt, dem offenbart er ein tief im Herzen verstecktes Schicksal, das der Träger selbst nicht kennt. Willst du einen Blick wagen?“ Kai sah zum Brunnen und zurück in Reis erwartungsvoll funkelnde Augen. Er seufzte. „Ich nehme an, dass ich genau aus diesem Grund hier bin, also bleibt mir wohl nichts Anderes übrig.“ „Du könntest dich weigern“, sagte Rei schlicht. Doch Kai schüttelte den Kopf. Wer konnte schon der Offenbarung des eigenen Schicksals widerstehen? Gebannt starrte er den Brunnen an. Die Magie, die diese Höhle erfüllte, schien von ihm auszugehen. Er fühlte, wie ihn etwas mit ihm verband. Wie ein Versprechen, das hier eingelöst werden sollte. Und immerhin war er es, der Antworten wollte. Er wurde von ihm angezogen, in Beschlag genommen. Vorsichtig trat er an die Mulde heran und beugte sich tief über den Nebel. Alles um ihn herum, die Höhle, das leise Plätschern der Quelle, Rei, trat in den Hintergrund, es war, als würde er vom Diesseits abgetrennt, isoliert. Leise hohe Glockenklänge drangen in seine Ohren. Er hörte genauer hin. Keine Glocken, es war ein Lachen, ein Chor aus Lachen, so glockenhell und klar wie ein Morgen im Frühling. Er beugte sich weiter über das Quellwasser, seine Nasenspitze berührte fast den sonderbaren Nebel. Nein, es war kein Nebel. Die glitzernden Punkte, die herumschwirrten, hatten Flügel. Er bückte sich tiefer. Das Kichern wurde lauter. Elfen! Winzig kleine Elfen lachten ihn an. Aus dem Gekicher drangen Worte in sein Bewusstsein. „Komm näher“, riefen sie. Er gehorchte, stieß mit dem Gesicht durch den glitzernden Elfennebel, der seinen Blick verschleierte, auf ein Meer aus Flammen. Hitze klatschte auf seine Haut, verbrannte seine Augen, durchdrang jede seiner Nervenzellen. Erschrocken riss er den Kopf zurück und die Wucht, mit der er dies tat, ließ ihn nach hinten fallen. Heftig schnaufend saß er da und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Brunnen, der unschuldig vor sich hin glitzerte. „Was war das denn“, presste er hervor, atemlos. Er zitterte leicht und seine Glieder brannten. Er erblickte Reis Hand, die er dankbar ergriff. Als sie sich berührten, zuckte Rei zusammen und als Kai stand, sah er, dass dessen Hand einen geröteten Abdruck seiner eigenen zierte. Wie eine Verbrennung. Doch Rei lachte nur. „Offenbar hast du dein Schicksal angenommen. Danke Kai.“ Er legte ihm die unversehrte Hand auf die Schulter, die glücklicherweise mit Stoff bedeckt war. Die andere Hand tauchte er kurz in das Quellwasser und verblüfft sah Kai, wie die roten Male verblassten und schließlich verschwunden waren. Doch eine Frage drängte sich ihm in den Vordergrund. „Was ist jetzt? Was ist passiert?“ „Für jedes Naturelement gibt es einen Wächter, Kai. Du bist einer davon, das ist dein Schicksal, schon lange bevor du auf die Welt gekommen bist. Es war meine Aufgabe, dich zu finden, jahrelang habe ich Nachforschungen betrieben, bis ich endlich Hinweise erhielt, wo ich dich finden konnte. Wie sehr ich mich doch erschrak, als meine Helfer dich halbtot zu mir brachten. Ich bangte um dein Leben und doch war ich nicht vollends sicher, ob du der verlorene Wächter warst. Erst als ich in deine Augen blickte, wusste ich es. Ich war so erleichtert, dass ich es kaum abwarten konnte, dich hierher zu bringen und doch hatte ich Angst, du würdest mich auslachen, mir nicht glauben. Oder gleich wieder abreisen, sobald du gesund sein würdest. Entschuldige, wenn ich dich überrannt habe.“ Kai blieb stumm, als der Chinese geendet hatte. Das musste erst einmal verdaut werden. Rei verstand das, und um ihm Zeit zum Nachdenken zu geben, verließen sie die heilige Quelle. Die Fackeln, die am Eingang standen, brannten. Doch noch etwas war anders. Es war Nacht. Und das war unmöglich. „Es ist gefährlich, zu lange an einem heiligen Ort zu verweilen. Die Zeit vergeht viel schneller als auf der Erde. Während wir durch das Labyrinth von Raum und Zeit gingen, wo sich auch die heilige Lichtung befindet, vergingen zwei Tage. Die heiligen Orte existieren außerhalb unserer Zeitdimension, Kai.“ Rei war stehen geblieben, als er die Feststellung in den Augen des Russen gesehen hatte, dass etwas nicht stimmen konnte. Langsam wurde es beängstigend, wie schnell er Kais Stimmungen erfasste. Ihre Augen trafen sich. Belustigung war in Reis zu sehen. Er lächelte. Dann sprang er ohne Vorwarnung in die Tiefe. Elegant drang er Kopf voran in das schwarze Wasser des großen Sees ein. Seit der Erfahrung in der heiligen Quelle konnte Kai nichts mehr erschüttern und so trat er an den Rand des Felsvorsprungs und sprang hinterher. Zurück im Tempel zogen sie sich trockene Kleider an und wärmten sich mit heißem Tee auf. Vor allem Rei, denn Kai fror keineswegs, im Gegenteil, ihm heiß. Er schmunzelte bei der Erinnerung daran, wie Rei lachen musste, nachdem sie aus dem See gestiegen waren. Die Wassertropfen auf Kais Haut waren kurzerhand verdampft und es sah aus, als würde der Russe rauchen. „Ist das normal?“, hatte er gefragt, worauf der Chinese erneut von einem Lachkrampf gefangen worden war und sich schüttelnd antwortete „für dich schon“. Nun saßen sie wieder vor dem großen Panoramafenster und schauten zu, wie sich der morgendliche Himmel von einem tiefen Dunkelviolett über Rot und Orange in ein blasses Lila verfärbte. Der Horizont schien in Flammen zu stehen und ein angenehmer Schauer brachte Kais Körper zum Beben. Unauffällig erhitzte er sich immer stärker und er merkte nicht, wie der Tee in seiner Hand wieder heißer wurde. „Kai, beruhige dich! Du hast deine Kräfte noch nicht im Griff“, mahnte Rei plötzlich besorgt. „Ich mach doch nichts“, erwiderte dieser unschuldig, er wusste es tatsächlich nicht. „Konzentriere dich aufs Atmen! Hättest du doch nur meditieren geübt!“, keifte Rei nervös, „einatmen, ausatmen. Langsam wieder einatmen und tief ausatmen. Ganz ruhig. Gut machst du das. Konzentriere dich.“ Allmählich hörte der Tee auf zu sieden und erleichtert ließ Rei sich in Byakkos warmes Fell sinken. Dieser hatte bis eben noch warnend geknurrt. „Was ist denn passiert?“, fragte Kai ahnungslos. „Du hättest uns beinahe in Brand gesetzt.“ „Wie soll das denn gehen?“ Rei drehte den Kopf in seine Richtung und blickte ihn ruhig an. Seufzend erhob er sich in eine sitzende Position und legte behutsam eine Hand auf Byakkos Rippen, genau dort, wo sich sein Herz befand. „Als einer der verlorenen Wächter besitzt du gewisse Kräfte. Sie brechen zwar erst richtig aus, wenn du dein Wächtertier gefunden hast, doch sie sind schon vorhanden und wenn du erregt bist, kann es sie freisetzen. Mit der Hilfe deines Wächtertieres bist du außerdem in der Lage, sie zu kontrollieren und zurückzuhalten, oder zu unterdrücken, sollte dies einmal nötig sein. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass wir deinen Wächterpartner so bald wie möglich finden. Es wäre unvorstellbar, würden deine Kräfte unkontrolliert ausbrechen.“ Kais Blick blieb auf Byakko haften. „Ist er dein Wächtertier?“ „Gut erkannt“, lächelte Rei und strich mit der Hand, die nicht über Byakkos Herz ruhte, über dessen Stirn, „wir sind miteinander verbunden, seit wir geboren wurden. Unser Herz schlägt im gleichen Rhythmus. Wir fühlen miteinander. Wir altern zusammen. Sterbe ich, stirbt auch er. Und stirbt er…“ Rei brach ab. Er wollte nicht daran denken. Kai, dessen Neugierde siegte, versuchte flüsternd, seinen Satz zu beenden. „… stirbst auch du?“, suggestierte er, doch verstummte sofort, als er Reis tief traurigen Gesichtsausdruck sah. „Nein. Viel schlimmer. Stirbt das Wächtertier, stirbt die Seele des Wächters. Der Körper lebt weiter.“ „Was passiert mit der Seele?“ Verbittert presste Rei die Lippen zusammen. Alleine der Gedanke war grausam. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er Kai mit schneidendem Blick in die Augen. „Sie bleibt gefangen im Limbus. Ein Ort, schlimmer als die Hölle.“ Ohne große Hoffnung starrte Kai auf den Tee in seinen Händen und fragte, ob denn nicht irgendetwas dagegen getan werden konnte. Rei seufzte angespannt und schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Es ist noch nie vorgekommen.“ Er verstummte und blickte in Gedanken versunken aus dem Fenster. Kai folgte seinem Blick. Eine Weile saßen sie da, während der Himmel immer heller wurde und der Tee in Vergessenheit geriet. Kapitel 6: Die Ruhe vor dem Sturm --------------------------------- Den Rest des Vormittages verbrachten sie beide für sich. Rei war der Meinung, dass Kai, wenn er schon nicht meditieren wollte, wenigstens durch Training Körper und Geist im Gleichgewicht halten sollte. So kam es, dass Kai seine Runden um den See lief und im kalten Seewasser schwamm. Zwischendurch machte er einige Klimmzüge an einem Baum oder Liegestützen. Es strengte Kai nicht wirklich an. Seine Schlachten hatten ihn zu genüge gestärkt, er war der mächtigste Krieger seines Volkes, da war ein bisschen Körpertraining leicht zu ertragen. Also ließ er es sich über sich ergehen. Dabei merkte er nicht, wie sich weit über ihm dicke, schwarze Wolken sammelten. Er war in Gedanken. Denn obwohl sich bereits viele seiner Fragen geklärt hatten, waren neue aufgetaucht. Und die wohl größte von allen drehte sich um seine Bestimmung. Diese Geschichte mit den Wächtern war ihm suspekt. Es sah den Sinn dahinter nicht. Doch er spürte, wie sich in ihm eine Macht eingenistet hatte, seit er in der heiligen Quelle in den Brunnen der Geheimnisse geschaut hatte. Sie war so groß, so unbegreiflich und unbekannt. Sie war ihm schlicht nicht geheuer. Für Rei war es anscheinend wichtig, dass er diese Kraft unter Kontrolle hatte und sie unterdrückte, sobald sie sein Wächtertier gefunden hatten. Doch wann hatte der Chinese eigentlich vor, aufzubrechen? Und wo sollten sie überhaupt anfangen zu suchen? Ein kalter Luftzug wirbelte einige bereits gelb verfärbte Blätter davon und holte ihn zurück aus seiner Gedankenwelt. Er erschauderte. Es war ein kalter Herbstbeginn und stand im krassen Gegensatz zu der brühenden Hitze im großen Wüstenland von Afrika. Ein Wassertropfen klatschte auf seine nackte Schulter. Er blickte nach oben. Der Himmel war schwarz und bedrohlich hing er tief über China, den Eindruck erweckend, demnächst herunterzufallen und die Lande mitsamt allem Leben zu verschlingen. Ein weiterer Tropfen landete auf seiner Wange, verdampfte rasch, wie auch schon der zuvor. Schnell wurden es mehr. Die Wolken entluden mit einem mal eine gewaltige Wassermenge, die kleinen Wasserperlen prasselten gegen seinen Körper und liefen in Strömen sein Gesicht und seinen Körper hinunter. Es war zu viel, um einfach zu verdampfen. Er lief los. So schnell er konnte sprintete er zu der tödlich steilen Steintreppe, die zum Bergsee führte. Sturzbäche kamen ihm entgegen. Mühsam kämpfte er gegen sie an, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, die Zähne aufeinandergebissen, zog er sich eine Stufe nach der anderen hoch. Seine Muskeln wölbten sich, Venen traten vor Anstrengung hervor. Fluchend wischte er sich das klitschnasse Haar aus dem Gesicht. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass Rei noch irgendwo da draußen war. Ohne zu sagen wohin, ging er seines Weges in den Wald hinein und war verschwunden. Kai fragte sich, ob er bereits wieder zurück im sicheren Trocken des Tempels war, oder ob er irgendwo Unterschlupf gesucht hatte. Hauptsache, er war geschützt. Kai war so sehr auf den Chinesen konzentriert, dass er nicht merkte, wo er hintrat. Dort, wo er seinen Fuß platziert hatte, befanden sich Erde und ein wenig Gras, zu unstabil, um ihm Halt zu geben. Er rutschte ab. „Scheiße!“, fluchte er laut und konnte sich gerade noch an einem Ast festhalten, „nur noch ein bisschen, ich habe es doch fast geschafft!“ Er schaute nicht nach unten. Er wusste, wie steil und weit es runter ging. Wütend über sich selbst, versuchte er, mit den Füßen wieder Boden zu erfassen, doch sie glitten sofort wieder weg. Ein lautes Donnergrollen ließ ihn zusammenfahren. Beinahe hätte er den Ast losgelassen. Das Gewitter war verdammt nah. Zu nah, für Kais Geschmack. Nur noch mehr fluchend, strengte er all seine Muskeln an und zog sich am Ast hoch, der sich unter seinem Gewicht durchbog. Das Holz war ebenso glatt wie der Stein. Doch es war seine einzige Möglichkeit weiterzukommen. Mit Schwung ließ er los, fiel, flog halb auf die Felsen zu, streckte die Arme aus, um sich im Stein festzuklammern, doch im Gegensatz zu seinen Füßen, fanden sie keine Erhebung, sie griffen ins Leere und er drohte nach hinten zu fallen. Ein greller Blitz erhellte die düstere Atmosphäre. Es blendete fast, so weiß was das Licht, so nah war der Wolkenbruch. Sofort hinterher ein gewaltiger Donnerschlag. Kai hatte das Gefühl, blind und taub zu sein. Er sah schwarze Punkte vor sich und es pfiff in seinen Ohren. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht mehr nach hinten fiel. Eine Hand hatte sich fest um sein Handgelenk gelegt und hielt ihn fest. Doch die nasse Haut rutschte durch den starken Griff. Ein Ruck und Kais Gesicht wurde an den kalten, nassen Felsen gepresst. „Kai!“ Sein Name drang an sein Ohr. Er blinzelte, um wieder etwas sehen zu können und blickte nach oben. Die Hand hielt noch immer sein Handgelenk umklammert, so gut es ging. Den Schreck überstanden, griff er seinerseits nach dem Handgelenk, umschloss es mit seinen starken Fingern. Er folgte dem nackten Arm mit den Augen. Nasse, lange schwarze Haarsträhnen klebten daran. Es war Rei. Seine Augen leuchteten vor Anspannung. „Kai, du musst jetzt ganz ruhig sein, vertraue mir! Siehst du den kleinen Vorsprung dort? Stütze dich mit dem Fuß darauf ab, dann kann ich dich nach oben ziehen“, schrie er gegen das Prasseln des Regens. Kai nickte. Er vertraute ihm. Langsam hob er den Fuß und setzte ihn auf den Vorsprung, der nicht breiter war als zwei Finger. Mit letzter Kraft, die er aufbringen konnte, stieß er sich davon ab und Rei zog ihn hoch. Endlich. Er war oben. Doch es blieb keine Zeit zum Luft holen. Hastig rappelten sie sich auf und Rei zog ihn hinter sich her zum Anfang des unsichtbaren Stegs. Ohne zu schauen wo er hintrat, folgte er ihm dicht auf den Fersen. Das Wasser spritze in alle Richtungen davon. Der Bergsee war unruhig. Der stärker gewordene Wind trieb weiße Krönchen auf die Wellen. Ein weiterer Blitz erhellte die Oberfläche. Der Donner ließ sie erzittern. Rei riss das Tor auf und schlug es hinter Kai heftig wieder zu. Sie hatten es geschafft. Sie waren in Sicherheit. Erleichtert ging Kai in die Knie. Wassertropfen fielen aus seinen Haaren auf den steinernen Boden. Er atmete heftig und kleine weiße Wölkchen traten aus seinem Mund. Ihm war so heiß. Sein Körper dampfte. Es dauerte nicht lange, da war seine Haut trocken. Nur die Haare und die durchtränkte Hose erzählten davon, was er gerade durchgemacht hatte. Rei neben ihm schnaubte ironisch. Er triefte noch immer von Kopf bis Fuß und dünne Rinnsale bahnten sich über das Gesicht und die Arme. Vom Stoff seiner Kleidung konnten sie nicht mehr aufgenommen werden und so entstand um ihn herum eine Pfütze. Beinahe vergaß Kai, wieso der Chinese so aussah und hätte gelacht, zu komisch war dessen Anblick, wie er da stand und seine langen Haare auswrang. „Untersteh dich!“, fauchte Rei, „denk daran, wem ich das zu verdanken habe!“ Er holte aus und patschte gegen Kais Stirn. Überrascht blickte dieser ihn an. Er blinzelte zweimal, dann brachen beide in schallendes Gelächter aus. „Ach Kai, du hast mir echt einen Schrecken eingejagt. Ich dachte wirklich fast, du fällst da noch runter“, prustete Rei und stützte sich an Kais Schulter auf, ließ sich neben ihn auf den Boden gleiten und lehnte sich gegen ihn. Der dünne Stoff von Reis Hemd ließ Kais Wärme passieren. Wohlig kuschelte er sich näher an ihn ran. Mit einem Schmunzeln im Gesicht legte Kai einen Arm um ihn. „Wollen wir nicht runter gehen? Wir sollten aus diesen nassen Kleidern raus, besonders du.“ Rei seufzte schwer, nickte aber und stand auf. Kai folgte ihm die Treppen runter, auf denen sie eine nasse Spur hinterließen. Nicht wie erwartet, bereitete Rei keinen Tee zu, nachdem er sich die nassen Kleider von der Haut geschält hatte. Stattdessen schlüpfte er in einen Kimono und drückte auch Kai einen in die Hände. „Ich gehe zu den heißen Quellen in der Höhle. Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst, aber ich muss mich dringend ein bisschen entspannen.“ Kai musste nicht lange überlegen, es klang zu verlockend, sich die Knochen bis auf das Mark aufzuwärmen, besonders, da sich die Quellen nicht im Freien befanden. Die Höhle war feucht und mit heißem Dampf erfüllt. Doch zu Kais Enttäuschung war das Wasser nicht minder so heiß, wie er erwartet hatte. Auf seiner Haut fühlte es sich lediglich angenehm warm an. Rei hingegen genoss die Hitze, die seinen Körper umschloss und ihm eine feine Röte ins Gesicht trieb. Mit einem tiefen Seufzer der Wohltat ließ er sich bis zum Kinn hineingleiten und schloss die Augen. „Tut das gut“, nuschelte er. Während Rei quer in der steinernen Naturwanne lag und vor sich hindöste, wurde er von Kais aufmerksamen Blicken gemustert. Es war das erste Mal, dass er ohne Störung sein Gesicht betrachten konnte und voller Verwunderung stellte er fest, dass dieser Chinese unglaublich schön war. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet und einige Strähnen seiner nachtschwarzen Haare, umrandeten die hohen Wangenknochen. Die karamellfarbene Haut schimmerte vom Dampf überzogen. Doch sein Blick blieb an diesen sinnlichen Lippen haften. Schon einmal hatte er sie gespürt. Und es war so sanft gewesen wie die kurze Berührung eines Schmetterlings. „Weißt du eigentlich“, begann Rei ohne Vorwarnung zu sprechen, „dass eine Tradition besagt, dass der Gerettete dem Retter für den Rest seines Lebens zu dienen hat?“ Er richtete sich im Wasser auf. Ein spitzes Grinsen umspielte seinen Mund. Kai zog eine Augenbraue hoch. „Ach?“ Reis Grinsen wurde breiter und er lehnte sich nach vorne, kam Kais Gesicht mit seinem sehr nahe, nur noch eine Handbreit trennte ihre Nasenspitzen. Die bernsteinernen Augen funkelten ihn verschwörerisch an und beinahe wäre Kai in ihrer Tiefe versunken. Konzentriert kämpfte er gegen die aufkeimende Hitze in ihm an, die dieser Blick in ihm auszulösen vermochte, und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Du kannst von Glück reden, dass du so ein Sturschädel bist“, formte Reis amüsiert verzogener Mund zu Worten und sein Atem streifte seine Wange, „wer will schon eine Kratzbürste zum Sklaven?“ „Wie außerordentlich großzügig von Ihnen, mein Herr“, antwortete Kai trocken, doch der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören, worauf Rei lachte. „Nein, im Ernst, das ist absolut menschenverachtend. Ich mag das nicht. Es reicht mir, wenn du mir vertraust. Obwohl ich dich manchmal gerne herumscheuche.“ Kais Mundwinkel zuckte. „Das habe ich bereits bemerkt.“ Reis Lächeln verblasste leicht. „Ach Kai, du bist schwer in Ordnung.“ Er unterbrach den Augenkontakt, sein Blick wanderte Kais Hals entlang, weiter über das Schlüsselbein und hielt bei der linken Schulter. Doch er wich nicht zurück. Er hob eine Hand und fuhr mit den Fingern vorsichtig über die Narbe, die sich deutlich abhob. Vor einigen Jahren hatte ein Schwert nur eine Handbreit über dem Herz seine Schulter durchbohrt. Nachdem er den Arzt angeschrien hatte, ihn zusammenzuflicken, war er sofort wieder auf das Schlachtfeld gestürmt. Die Wunde war ständig aufgeplatzt und so dauerte es lange, bis sie verheilt war. Damals war er übermütig gewesen und tatsächlich nur knapp dem Tod entronnen. „Wie oft schon?“, fragte Rei im Flüsterton. „Oft genug.“ Sein Blick schweifte weiter über Kais Körper. Hie und da stoppte er kurz bei einer weiteren Narbe, die zahlreich waren. Auf dem Rücken hätte er noch einige gehabt, doch dem Heiler genügte dieser Anblick vollkommen. Denn die Wunde am Oberschenkel, die er selbst gepflegt hatte, war im Gegensatz zu diesen fast spurlos verschlossen. Rei seufzte missbilligend und zog die Hand zurück. Fast gleichzeitig entspannte sich Kai. Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt gewesen, die ganze Zeit über, während Reis Finger Linien über seine Brust zogen, als sie seinen Blicken folgten. Ihre Augen trafen sich erneut. Reis Blick war verschleiert, er atmete durch den Mund und ein roter Schimmer überzog Nase und Wangen. Abrupt drehte er sich um und stieg aus der steinernen Wanne. „Entschuldige. Die Hitze…“ Fast fluchtartig verließ er die Höhle mit den heißen Quellen, den Kimono fest um den erhitzten Körper geschlungen. Kapitel 7: Schutzsteine ----------------------- Überfordert blieb Kai in den heißen Quellen zurück. Die Decke anstarrend grübelte er eine Weile über Reis merkwürdiges Verhalten nach, bevor auch er die steinerne Wanne verließ. Seine Finger begannen bereits schrumpelig zu werden, außerdem hatte er für heute eindeutig genug Wasser gesehen. Was er jetzt brauchte war ein Lager und später etwas in den Magen. Nackt ließ er sich auf sein Futonbett fallen und zog die Decke über sich, das Gesicht in das weiche Kissen gedrückt. Es dauerte nicht lange, da war er in einen leichten Schlaf hinübergeglitten. Doch auch im Traum ließen ihn seine Gedanken nicht los. Vor seinem geistigen Auge blickten ihn honigfarbene Iriden funkelnd an und sinnlich geschwungene Lippen formten Worte, die er nicht verstand. Sie verzogen sich zu einem lieblichen Lächeln, kamen langsam näher. Öffneten sich. Kai zwang sich, die Augen aufzureißen und seine äußerst sündigen Vorstellungen abzuschütteln. Was tat er da eigentlich, das gehörte sich nicht. Es hatte nichts zu bedeuten. Weder Reis Nähe, noch seine Berührungen. Das war nur, weil er sich als Heiler Sorgen um ihn und sein Wohlergehen machte. Also war es absolut unnötig, wie ein pubertierender Junge darauf zu reagieren. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass Rei auf eine gewisse Weise sogar für ihn attraktiv war. Er war sinnlich und Mann zugleich. Ein Glück hatte er genug Selbstbeherrschung, denn Kai war sich bewusst, dass er ansonsten irgendwann etwas tun würde, was er nachher bereuen würde. Doch genau das wollte er verhindern. Er stand auf, zog sich eine Hose an und machte sich auf den Weg in den Wohnraum. Das Panoramafenster erlaubte keinen schönen Ausblick. Noch immer war der Himmel mit düsteren Wolken verhangen und Regen prasselte ununterbrochen gegen das Glas. Weder von Rei, noch seinem geliebten Byakko, war eine Spur zu sehen. Kai vermutete, dass sie sich in seinem Gemach befanden und sich ausruhten, so wie er es bis eben noch getan hatte. Er entschloss sich, ein wenig auf Wanderschaft zu gehen und diesen Tempel zu erkunden. Doch außer einer Vorratskammer und einer weiteren Schlafstube enthielt er keine weiteren Zimmer. Nur noch eines. Kai stand vor der geschlossenen Doppeltür, hinter der er Rei vermutete. Er zögerte lange, überlegte hin und her, ob er es wagen, oder doch zurück in den Wohnraum gehen sollte. Verärgert über sich selbst raufte er sich die Haare. Das durfte doch nicht wahr sein. Er, der große Krieger, war zu nervös und unsicher, um an eine Tür zu klopfen. Unfassbar. Ein letztes Mal atmete er tief ein, bevor er die Hand hob, kurz gegen das Holz hämmerte und dann ohne auf eine Antwort zu warten eintrat. Das Zimmer war größer als die anderen Schlafgemächer. Einige hölzerne Möbel zierten den Raum, in der Mitte stand ein tiefer Tisch, umrundet mit Kissen, auf dem ein Teekrug und eine dazu passende Schale standen. Auf der einen Seite des Raumes stand ein großer uralter Bonsai. Zu seinen Füßen ein großer Zengarten mit einigen vollkommen runden, weißen und schwarzen Steinen und ein kleiner Rächen, um Muster in den hellen Sand zu zeichnen. In der Ecke gegenüber war eine halbrunde Schlafnische in den Boden eingelassen, mindestens dreimal von der Größe seines Futons. Die Laken waren verwühlt, vor kurzem lag noch jemand drin. Doch im Moment sah er nur Byakko, der sich genüsslich auf der weichen Matratze fläzte und schnurrte. Kais Blick schweifte weiter durch den Raum. Ein großes Fenster, wie nicht anders zu erwarten ein weiteres Panoramafenster. Davor stand Rei in seinem blauen Kimono. Er hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und verträumt nach draußen schauend kämmte er sich die langen schwarzen Haare, die offen über seine Schulter hingen. Mit einigen wenigen Schritten hatte Kai das Zimmer durchquert und fand sich hinter Rei wider. Wortlos langte er an ihm vorbei und hielt sein Handgelenk, das immer wieder die gleiche monotone Bewegung durchführte, fest, darauf bedacht die nackte Haut nicht zu berühren. Etwas erschrocken drehte sich Rei zu ihm um. „Kai, was machst du hier?“, fragte er verwirrt. Doch Kai antwortete nicht. Stattdessen nahm er ihm den Kamm ab und fing an, an Reis Stelle sein Haar zu kämmen. Er ließ es zu, schaute wieder nach draußen, schloss dann aber genüsslich die Augen. Eine Weile standen sie nur wortlos da und Kai fuhr sachte durch die schwarzen Strähnen. „Meine Mutter sagte einmal, eine der größten Freuden im Leben ist es, sich die Haare kämmen zu lassen. Ich war noch sehr klein, als sie mir das sagte, doch es ist eine der wenigen Erinnerungen, die ich an sie habe.“ „Deine Mutter hatte recht“, erwiderte Rei liebevoll. Das Geräusch des Kamms, der durch die schwarzen Haare glitt, war wieder das einzig vernehmbare. Kais Aufmerksamkeit entging dabei nicht, dass der Chinese es genoss, denn Gänsehaut hatte sich auf seinem Nacken gebildet und zog sich seinen Hals empor. Und doch stellte er erneut die Frage. „Kai, was machst du hier?“ Der Russe rang mit sich, er wusste doch selbst nicht, was er sagen sollte. „Weil ich mich gefragt habe, wo du heute Morgen warst, denke ich“, antwortete er schließlich selbst nicht ganz überzeugt. Rei lächelte schwach und wandte sich um, ließ Kai beim Fenster stehen und ging auf eine Kommode zu, auf der eine kleine hölzerne Schachtel lag. „Ich musste etwas besorgen. Siehst du das?“, er öffnete die Holzschachtel, während er sprach und nahm einen schwarzen Stein heraus, hielt ihn dem Krieger vor die Nase, „das ist ein Lavastein, den gibt es nur in Vulkangebieten.“ Vorsichtig strich Kai über die matte, löchrige Oberfläche des nussgroßen Steins. Er fühlte sich kalt an. „Trage ihn. Er wird deine überschwängliche Hitze absorbieren. Nimm ihn nur ab, wenn es wirklich notwendig ist.“ Etwas skeptisch hielt er das feine Lederband hoch, an dem der Lavastein baumelte. „Heißt das, ich muss nicht mehr aufpassen, was ich anfasse?“ Rei nickte. „Und alles fühlt sich wieder so an wie früher?“ Ein erneutes Nicken. Kai starrte nochmals kurz den Stein an, dann steckte er seinen Kopf durch das Lederband. Das kalte Gestein fand seinen Platz in der Mitte seiner Brust und kaum berührte es seine Haut, fühlte er, wie sich die Wärme, die seinen Körper erfüllte, aus den Fingern und Füßen zurückwich und die Kälte stattdessen seine Arme und Beine hinauf kroch, bis die Hitze seinen Körper vollständig verlassen hatte. Er fröstelte. Rei machte einen Schritt auf ihn zu und hob die Hand, legte sie probeweise auf Kais Arm. „Es hat geklappt“, lächelte er erfreut. Kai dagegen war sich nicht sicher, ob er glücklich über diesen Zustand sein sollte, immerhin hatte er sich schon daran gewöhnt und es war zudem recht praktisch, immer angenehm warm zu haben. Doch andererseits konnte er sich so auch wieder über Alltägliches wie heißen Tee, Essen oder die Quellen erfreuen, das Sonnenlicht auf seiner Haut spüren. Oder eine hauchzarte, warme Berührung. Das war auch nicht schlecht. Früher hatte er auch so gelebt. Und ständig nur mit einer Hose bekleidet herumzulaufen fand er auch nicht angemessen. Er wollte sich bedanken. Bevor er allerdings ein Wort sagen konnte, ertönte ein Grummeln aus der Richtung seines Bauches. Schuldig schielte er Rei an, der sich nur schwer das Lachen verkneifen konnte. Kais Blick allerdings ließ ihn losprusten und belustig stimmte er mit ein. Nachdem sich Kai etwas angezogen und beide gegessen hatten, beschäftigte sich wieder jeder für sich. Rei meditierte lange und ging dann irgendwelchen Recherchen nach, las Pergamentrollen und studierte Karten, die, wie er erklärte, die Welt abbildeten. Kai hingegen hatte die wenigen übriggebliebenen Waffen, die er während den Kämpfen bei sich getragen hatte, von Rei zurückbekommen, jedoch nicht ohne einen unzufriedenen Gesichtsausdruck. Es war offensichtlich, dass er Waffengewalt verabscheute. So setzte sich der Krieger im Wohnraum auf ein großes Kissen und putzte die scharfen Klingen seines eigens für ihn angefertigten Schwertes und des Dolches, den er normalerweise stets auf dem Körper trug. Auf dem Metall klebte noch immer feindliches, eingetrocknetes Blut der vergangenen Schlacht. Nur mit viel Wasser und Schrubben löste es sich allmählich auf und brachte das glänzende Eisen zum Vorschein, aus dem die Klingen bestanden. In beide Griffe war ein dunkelroter Rubin eingelassen, der ihn als etwas Besonderes, nämlich als einen der besten, wenn nicht sogar als den besten Krieger der russischen Armee auszeichnete. Etwas, worauf er bis vor Kurzem noch stolz gewesen war. Doch seit er Rei kannte, begann er immer mehr am Zweck seiner früheren Lebensweise zu zweifeln. Er hatte ein Leben voller Krieg geführt und war blind dafür gewesen, dass es auch Frieden auf dieser Welt gab. Dank Rei wusste er es jetzt besser. Nach einer Weile gesellte sich Byakko zu ihm. Argwöhnisch fixierte er das lange Schwert mit seinen leuchtenden Augen, kam etwas näher, um es kritisch zu beschnuppern und knurrte abschätzend, den Rücken zu einem Buckel gekrümmt. Die Nackenhaare standen ihm zu Berge. Kai grinste. „Du bist wie dein Herrchen, was?“ Er tat die Waffe beiseite, worauf sich Byakko zu ihm legte. Kai hob eine Hand und streichelte durch das weiche, dicke Fell. Der Tiger fing nicht an zu schnurren, so wie er es bei Rei tat, sobald dieser auch nur in der Nähe war, doch er schien ihm wenigstens zu vertrauen. „Wieso bist du denn nicht bei Rei?“ Das Knurren, das Byakkos Kehle verließ, klang wie ein beleidigtes Grummeln. „Hat er dich etwa weggeschickt? Aber ansonsten ist alles in Ordnung mit ihm?“ Byakko platzierte seinen Kopf auf Kais Knie und schloss die Augen. Wäre tatsächlich etwas vorgefallen, hätte der Tiger wohl kaum so ruhig reagiert. Kein Grund zur Sorge also, dachte sich Kai und kraulte ihn hinter den Ohren. Draußen regnete es unaufhörlich weiter und der düstere Tag neigte sich dem Ende zu. Der Russe hing wie so oft in letzter Zeit seinen Gedanken nach und nur Byakko hielt in davon ab in eine Apathie zu fallen, indem er ihn mit seiner feuchten Schnauze anstupste, sobald er aufhörte, ihn zu liebkosen. Es war schon dunkel, als Rei plötzlich auftauchte. Seine Haare waren auf einer Kopfseite ganz verwuschelt vom ständigen hindurch Fahren, die Augen vom angestrengten lesen klein und von einem Schatten unterlegt. „Oh Kai! Gut bist du da. Hör mal, wir brechen schon bald auf um dein Wächtertier zu suchen. Ich glaube zu wissen, wo wir es finden. Nicht zu fassen, dass ich so lange gebraucht habe um draufzukommen“, sprach er mehr zu sich selbst, er schien ein wenig durcheinander zu sein. Doch Kai war hellhörig geworden und aufgeregt richtete er sich ein wenig auf. „Wo soll es denn hingehen?“, fragte er neugierig. Auch Byakko hob den Kopf, als würde er jedes Wort verstehen. Rei setzte sich im Schneidersitz auf ein Kissen auf Byakkos andere Seite und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. „Wo würdest du am allerwenigsten danach suchen?“ Kai zog eine Augenbraue in die Höhe. „Unter welchen Kriterien?“ „Alles was wir wissen, ist, dass es sich bei deinem Wächterpartner um ein Feuertier handelt. Das kann alles Mögliche sein.“ „Das heißt, jegliche Wüsten und Vulkane fallen weg?“ Ein Nicken seitens Rei bestätigte ihn. „Und du hast nicht die kleinste Vermutung, was es für ein Tier sein könnte?“ Ein Kopfschütteln. „Nicht die leiseste. Das weiß man nicht im Voraus. Ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass Byakko ein weißer Tiger sein würde.“ Liebevoll strich er ihm dabei über die Stirn. „Wo hast du ihn gefunden?“, hackte Kai nach. „Auf dem Meeresgrund, eingeschlossen in einer Kugel aus Glas. Dieses Glas, um genau zu sein.“ Er zeigte Kai einen Ring, den er am Zeigefinger trug und ihm noch nie aufgefallen war. Silber umfasste einen transparenten, grünen Glassplitter. Automatisch griff er nach dem Lavastein, der um seinen Hals baumelte. Rei grinste. „Genau, er hat die gleiche Funktion.“ „Aber wieso Glas?“, fragte Kai die Stirn runzelnd. „Glas entsteht, wenn ein Blitz in Sand einschlägt“, wurde er darauf belehrt. Kai nahm Reis Hand in seine, hob sie hoch und beäugte den Ring genauer. Der grüne Stein hatte nichts mit den rotgelben Körnern gemein, die ganze Horizonte bedeckten. Ein seltsamer Streich der Natur. „Kann es sein, dass sich mein Wächtertier auch im Meer befindet?“ Rei schüttelte den Kopf, ebenso wie bei den Vorschlägen Wald, Berge, Wüste und unterirdische Höhlen. „Komm schon, Kai, wo hat Feuer nicht die geringste Chance zu entfachen?“ „Im Himmel?“ „Ja, auch, aber wo noch? Komm schon“, drängte Rei beinahe zappelig vor Aufregung, „wo gibt es nichts, das brennen kann? Zugegeben, Meer war schon nicht schlecht.“ Langsam schien es Kai zu dämmern. Mit geweiteten Augen blickte er den Chinesen an. „Rei, gibt es ein Land, das nur aus Eis besteht?“ Kapitel 8: Vorbereitungen ------------------------- Rei hatte eine große ovale Weltkarte vor ihren Füßen ausgebreitet. Dass die Erde rund war und keine Scheibe, hatte er Kai schon eingebläut. In seinem alten Leben wären beide für diese blasphemische Behauptung wahrscheinlich gehängt worden, doch Kai glaubte ihm. Trotzdem musste er sich erst einmal an diese Tatsachen gewöhnen. Auch dass die Erdoberfläche hauptsächlich aus Wasser bestand und hie und da ein Erdstück einen Kontinent bildete, war neu für ihn. Er hatte sich zwar nie Gedanken darüber gemacht, aber einige Menschen waren sich sicher, dass die Erde eine Scheibe war und hinter dem Horizont das Leben aufhörte zu existieren. Kai wusste es jetzt besser und es war viel einfacher zu verstehen als die Magie und der Zauber, die Rei ihm gezeigt hatte. Dieser umfuhr mit dem Zeigefinger auf der Karte einen Kontinent, den er als Asien bezeichnete, tippte dann auf einen grün gefärbten Ort, rechts und unten von der Mitte der Erdplatte. „Wir sind hier. Und wir müssen“, er fuhr eine Linie quer über die Karte und den blauen indischen Ozean auf einen weiß gebliebenen Fleck, „hier hin.“ Kai zog eine Augenbraue in die Höhe und blickte Rei mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. „Wie einladend“, meinte er sarkastisch, worauf er sich einen Ellbogen in die Rippen einfing. „Dafür bist eigentlich nur du verantwortlich. Ich würde niemals freiwillig dorthin gehen. Die Kälte ist kaum auszuhalten.“ Rei seufzte aufgrund der unschönen Aussichten und Kai war ebenfalls alles andere als begeistert. Die Unlust stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Der Blick, der ihm zugeworfen wurde, bewies allerdings das Gegenteil. Kai murrte und kraulte lustlos Byakkos Bauch. Rei schaute zufrieden zu, wie sein Tiger die Streicheleinheiten genoss. Nun, da auch der Chinese da war, schnurrte er genüsslich vor sich hin. Er konnte nicht anders, als ebenfalls die Finger in das flauschige Fell zu graben. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Friedlich stützte er den Kopf in die andere Hand und zwirbelte ein weißes Büschel um den Finger. Eine tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus. Ein Seufzer stahl sich durch seine Lippen, der Kai auf ihn aufmerksam machte. Abrupt hielt er in seiner Bewegung inne. Er blickte Rei an, musterte dieses Gesicht, diese Lippen, diese Augen, die ihn manchmal wirklich beinahe um den Verstand brachten und biss sich auf die Unterlippe, um die aufkeimenden Gedanken zu verdrängen. Wie liebevoll er doch seinen Tiger ansah. Erst als Kai sich zwang, den Kopf in eine andere Richtung zu drehen und aus dem Fenster zu schauen, beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Das durfte doch nicht wahr sein. Gegen seine Gedanken ankämpfend legte er die Hand wieder auf Byakkos warmes Fell, strich Linien über den warmen Körper. Etwas erschrocken zuckte er zusammen, als er plötzlich etwas anderes unter den Fingern spürte als haarige Büschel. Er hob den Kopf und blickte direkt in Reis überraschte Augen. Doch gleich darauf richteten sie sich nach unten, betrachtete Kais Hand, die auf seiner lag. Kai wagte nicht, sich zu rühren. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie sich berührten und seit er den Lavastein um den Hals trug, musste er sich auch nicht mehr fürchten, den Heiler zu verbrennen. Und trotzdem fühlte er sich nicht wohl dabei, wenn sein Bauch anfing zu kribbeln und die Hitze in ihm hochstieg. Denn es war ein Gefühl, von dem er dachte, dass es ihn schwächen würde und das wollte er nicht. Eine kleine Berührung, eigentlich schon die bloße Nähe des Chinesen reichte aus, um ihn nach mehr dürsten zu lassen. Er konnte nicht anders, aber er sträubte sich mit aller Macht dagegen und so zog er die Hand wieder zurück. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Rei dies zu verhindern wusste. Seine Finger verhackten sich in seine eigenen und wurden festgehalten. Etwas erstaunt schaute Kai in sein Gesicht, doch außer eines kaum wahrnehmbaren Lächeln konnte er nichts ausmachen, denn er schaute nur weiterhin auf ihre Hände und jegliche Gefühlsregung, die sich in seinen Augen abspielte, blieb ihm verborgen. Jedoch wollte Kai wissen, was in ihm vorging. Mit einem Ruck zog er Rei nach vorne, sodass er über Byakkos Bauch lag und ihn erschrocken anblickte. Kai kam ihm sehr nahe, die Augenbrauen zusammen gezogen. „Rei“, hauchte er, „wann genau hast du vor aufzubrechen?“ Er hätte sich schlagen können für diese unverschämte Dummheit. Doch er wusste einfach nicht, was er hätte tun sollen, ohne es nachher zu bereuen. Außerdem musste er sich irgendwie ablenken, ansonsten hätte er die Nähe einfach ausgenutzt. Reis Augen weiteten sich etwas verwirrt. Er richtete sich auf und entzog ihm die Hand. Um den Rotschimmer, der sich um seine Nase gelegt hatte, vor Kai zu verstecken, drehte er sich um und schaute aus dem Fenster auf das nächtliche China. „Bald. Aber vorher muss ich einige Dinge vorbereiten. Anständige Kleidung besorgen zum Beispiel. Mit diesen hier kommen wir in der Antarktis nicht weit. Proviant und warme Decken und ein Zelt, damit wir übernachten können, falls dies nötig werden sollte. Ich hoffe es zwar nicht, aber wir haben keine Ahnung, wo wir suchen müssen. Und der Südpol ist nicht gerade klein.“ Kai war das leichte Zittern in seiner Stimme zu Beginn nicht entgangen, doch sie wurde schnell wieder fest und er fragte sich, ob das eine kleine Unsicherheit war. „Und wo willst du das auftreiben?“ „Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich werde morgen früh gleich aufbrechen und einige Freunde besuchen, die mir helfen können. Wie lange das dauert, kann ich nicht sagen. Lass uns etwas essen, dann schlafen gehen. Es ist schon spät.“ Während dem Essen sprachen sie nicht viel und wenn, dann redeten sie nur über belanglose Dinge. Wie immer aber nicht über das Geschehene. Doch Kai blieb lange ruhelos wach und starrte die Decke an. Nur das Räucherstäbchen, das Rei ihm mitgegeben hatte, vernebelte ihm die Sinne und ließ ihn immer müder werden, was allerdings auch dazu führte, dass seine Gedanken wild um den Chinesen kreisten, der ihm mal wieder so nah gewesen war. Irgendwann schien er dann doch eingeschlafen zu sein, denn lebhafte Träume suchten ihn heim und ließen ihn leise ins Kissen stöhnen. Als er etwas verschwitzt am nächsten Morgen aufwachte, schüttelte er ungläubig den Kopf. Das wurde immer schlimmer. Dabei wusste er doch selbst, dass er Reis unwiderstehlicher Nähe kaum entkommen konnte. Er gab sich doch alle Mühe, es zu verdrängen, wieso musste er dann noch solche Träume haben. Wahrscheinlich nur, um die Fantasien auszuleben, die ihn manchmal tagsüber heimsuchten, die er aber gekonnt weit nach hinten in sein Gedächtnis schob. Etwas frustriert zog er sich eine Hose an. Er musste dringend etwas trinken, seine Kehle war ganz ausgetrocknet. Verwundert hielt er nach Rei Ausschau. Er war nirgends zu sehen. Normalerweise war er immer schon wach, wenn Kai aufstand, doch keine Spur von dem Chinesen. Im Zimmer fand er ein zerwühltes Bett vor, auf dem jedoch nur Byakko lag. Dieser hob sofort den Kopf, als Kai eintrat. „Guten Morgen, Byakko, wo ist denn Rei?“ Der Tiger erhob sich schwerfällig und trottete vor den Russen, stellte sich auf die Hinterbeine und setzte die Pfoten auf seine Schulter. Ein Grummeln verließ seine Kehle. Die Augen blickten ihn beleidigt an. „Ist er etwa in den heißen Quellen?“, spekulierte Kai, nachdem er Byakko hinter den Ohren gekrault hatte. Er wimmerte leise und ließ wieder von ihm ab, drehte sich um und kam mit einem blauen Stofffetzen zurück. Reis Kimono. Den trug er immer, wenn er in die Höhle mit den Quellen baden ging. Demnach konnte er nicht dort sein. Nach einem Blick durch das Fenster wusste er, dass er auch nicht meditieren war, denn es regnete noch immer in Strömen. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er blickte Byakko an, sank auf die Knie und krallte beide Hände fest in das Fell an seinen Schultern. „Byakko! Ist er etwa schon aufgebrochen? Ist er weg? Ohne etwas zu sagen?“ Ungläubig starrte er dem Tiger in die gelben Augen, die ihn noch beleidigt anschauten, die Ohren waren nach hinten gelegt. Das Wimmern, das seine Kehle verließ, war eine eindeutige Bestätigung, dass Kai mit seiner Vermutung absolut richtig lag. „Was?“, rief er laut aus, „das darf doch nicht wahr sein! Mist! Der ist einfach gegangen? Ohne mich?“ Ein Knurren. „Und ohne dich. Das ist merkwürdig. Wie lange wird er weg bleiben?“ Die einzige Antwort, die er darauf erhielt, war Byakko, der ihm den Rücken kehrte und sich zurück auf Reis Bett legte, den Kopf auf die Vorderpfoten bettete. Zögernd folgte er ihm und setzte sich ebenfalls auf die weiche Matratze. Mit einem tiefen Seufzer streichelte er Byakkos Kopf, kraulte ihn hinter den Ohren. „Du hast wohl recht. Wir können nur warten.“ Sie warteten drei Tage. Byakko lag meistens nur betrübt herum und schaute aus dem Fenster, ersehnte Reis Heimkehr. Auch Kai hockte lustlos auf den Kissen und trank Tee. Als Rei endlich am dritten Tag gegen Abend den Wohnraum betrat, wurde er von Byakkos überschwänglicher Begrüßung von den Füßen gerissen. Der Tiger stand breitbeinig über ihm und leckte ihm über das ganze Gesicht. Rei lachte ausgelassen und durchwuschelte das weiß-schwarze Fell. Kai schmunzelte bei diesem Anblick amüsiert und merkte, wie sehr er in den letzten Tagen, in denen der lebensfrohe Chinese nicht da war, doch Trübsal geblasen hatte. „Byakko, geh runter!“, lachte Rei und richtete sich unter dem riesigen Tier auf, „hallo Kai!“ „Hallo Rei“, antwortete der Russe eiskalt, das Gesicht versteinert. Erschrocken über diese Eiseskälte in seiner rauen Stimme, erstarrte er in seiner Bewegung und sah ihn entsetzt an. „Kai, alles in Ordnung?“ „Nichts ist in Ordnung! Was fällt dir eigentlich ein, einfach abzuhauen? Ich dachte wir gehen zusammen?“ Kai hatte sich vor dem sitzenden Chinesen aufgebaut und stierte ihn mit wütend blitzenden Augen von oben an. Rei blinzelte. Sein Mund verzog sich zu einem entschuldigenden Lächeln. „Tut mir leid, aber so ging es schneller. Aber sag mal Kai“, Rei erhob sich nun doch vom Boden und strich sich die Kleider glatt, „hast du mich denn so sehr vermisst?“ Aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen. Kai drehte den Kopf in eine andere Richtung. „Ich bestimmt nicht, aber Byakko“, antwortete er schnippisch. „Klar doch“, lachte Rei und gab dem beleidigten Russen eine Kopfnuss. „Vielleicht ein bisschen“, gab er schließlich zu, doch erntete er nur einen ungläubigen Blick von der Seite. „Hier, pack mit an.“ Rei drückte ihm einen der beiden Säcke in die Hände, die er bei Byakkos Attacke fallen gelassen hatte, und sie trugen sie in die große Wohnstube, wo sie den Inhalt auf dem Boden verteilten. Byakko folgte Rei wieder auf Schritt und Tritt. Die Klamotten, die zum Vorschein kamen, waren aus dickem, gefettetem Leder und mit dichtem, wolligem Fell gefüttert, ebenso wie die Stiefel und die Handschuhe. In die Sohlen der Stiefel waren kurze, aber dicke Eisennägel eingelassen. Argwöhnisch betrachtete Kai die merkwürdige Tracht. Es sah zwar warm und weich aus, aber er bezweifelte, dass sich ein Mensch darin noch bewegen konnte. Rei schmunzelte. „Du musst es nicht lange tragen. Nur bis wir dein Wächtertier gefunden haben.“ „Dann brechen wir morgen endlich auf?“ Mit einem kleinen Kopfschütteln machte Rei seine Hoffnung zunichte. „Nein, erst übermorgen. Ich brauche einen Tag Pause, die letzten drei Tage waren schließlich nicht unanstrengend für mich.“ Kai verstand ihn. Ob er jetzt noch einen Tag länger wartete, machte schließlich keinen großen Unterschied mehr aus. „Außerdem müssen wir morgen noch alles packen und uns vorbereiten. Genug essen und lange in den heißen Quellen verweilen, wäre meiner Meinung nach ein guter Vorschlag.“ Rei zwinkerte ihm zu und erhob sich dann, um etwas zu Essen zu machen. Kai folgte ihm hungrig, hatte er sich in den Tagen von Reis Abwesenheit nicht gerade gut ernährt. Kapitel 9: Aufbruch ins Ungewisse --------------------------------- Sämtliche Vorbereitungen waren getroffen. Die warmen Schlafsäcke und die Decken wurden zusammen und das Zelt separat zu Bündeln geschnürt, die sie auf dem Rücken tragen konnten. Sie wussten nicht, wie lange ihre Reise dauern würde, weswegen sie Proviant für zwei Tage eingepackt hatten. Im Notfall konnten sie immer noch umkehren. Die Antarktis taugliche Kleidung wollten sie erst auf der heiligen Lichtung anziehen, war es doch vorher noch zu früh. Kai war froh, dass sie dank dieses verzauberten Ortes durch den Raum reisen konnten, so mussten sie nicht in halsbrecherischen Aktionen das Meer überqueren und außerdem waren sie nicht länger als wenige Augenblicke unterwegs. Einen Haken hatte es allerdings. Rei war noch nie dort und wusste somit nicht, wo sie ankommen würden. Der Ausgang des Labyrinths konnte sich irgendwo befinden. Wie Rei ihm aber erklärte, war das nicht weiter schlimm und immerhin sei der Zufall, von Rei lieber Schicksal genannt, auf ihrer Seite, da in der Antarktis gerade Frühling war. „Der Südpol befindet sich auf der anderen Hälfte der Erdkugel“, erklärte er Kai halbwegs verständlich mit ausführlichen Handbewegungen, „und weil die Achse der Erde schief ist, gibt es Jahreszeiten. Allerdings sind sie auf der jeweils anderen Hemisphäre gegensätzlich. Das heißt, da wir hier bereits Herbst haben, ist dort Frühling.“ Kai verstand nicht ganz, wieso das von Belang sein sollte. „Ganz einfach. Im antarktischen Winter herrscht die ewige Nacht. Die Sonne geht praktisch nie auf. Der ewige Tag kommt nun immer näher. Wir werden also längere Tage als Nächte erleben. Alleine der Gedanke an eine ewige Nacht lässt mich erschaudern.“ Wie zur Bestätigung schlang er fest die Arme um den eigenen Oberkörper. Kai sah ihn staunend an. „Rei, wieso weißt du so viel? Ich habe noch nie in meinem Leben von all den Dingen etwas gehört. Wir wussten nicht einmal, dass es so etwas Ähnliches wie die Antarktis gibt, oder dass die Erde schief steht. Wie kommt es, dass du davon Bescheid weißt?“ Der Chinese sah ihn ernst an. Daran hatte er gar nicht gedacht. Er winkte ab. „Keine Sorge, das kannst du gar nicht wissen. Schließlich wird die Antarktis erst in etwa 2400 Jahren entdeckt.“ Kais Augen weiteten sich geschockt und mit einem Ausruf des Entsetzens starrte er Rei an. „Bitte was?“ Durch das Gebrüll zuckte er heftig zusammen. Ihm fiel auf, dass er wohl besser nichts weiter mehr sagen sollte, er machte es nur schlimmer und die ganze Situation für Kai unverständlicher. Dementsprechend verwirrt blickte er ihn an, die Gesichtszüge waren ihm komplett entgleist. Abwehrend hob Rei die Hände und lächelte nervös. „Vergiss es! Ich werde es dir erklären, irgendwann. Aber vergiss es erst mal, bitte. Stell keine Fragen, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun.“ Der Russe war alles andere als zufrieden. Einzig Reis flehender Blick hielt ihn davon ab ihm an die Gurgel zu springen und ihn so lange durchzuschütteln, bis er eine anständige Antwort bekam. Neben ihm kam er sich sonst schon unwissend vor. Geschehenes ließ ihn sich selbst nur noch kleiner erscheinen. „Na schön. Aber dann lass uns langsam aufbrechen.“ Kai erhob sich etwas frustriert aus der heißen Quelle und Rei tat es ihm gleich. Nach dem warmen nahrhaften Frühstück wollten sie ihre Körper zusätzlich mit einem Bad wärmen, in der Hoffnung, wenigstens etwas von der Energie speichern zu können. Langsam wurde es hell draußen. Beide zogen sich lange Kleider aus dicken Stoffen an und Rei flechtete sich sorgfältig seine Haare zu einem Zopf, den er später unter der dicken Jacke tragen würde, um ihn von der ungewöhnlich kalten Temperatur zu schützen. Sie sprachen nicht viel, während sie sich mental und körperlich auf ihre Reise vorbereiteten. Sie schmierten ihre Handrücken und die Lippen mit Fett ein, um zu verhindern, dass sie in der Antarktis aufspringen würden. Kurz bevor sie aufbrachen, gönnte sich der Chinese noch einmal einen heißen Tee. In einem Moment der Unachtsamkeit steckte Kai seinen Dolch ein. Rei musste davon nichts wissen, doch es konnte nicht schaden, eine Waffe bei sich zu haben, schließlich konnte niemand ahnen, was sie im Eisland erwartete. „Rei, wessen Idee war das mit dem Steg unter Wasser?“ Grummelnd zog er die Hosenbeine hoch und balancierte auf Zehenspitzen durch das Wasser, vorsichtig darauf bedacht, den Stoff nicht nass zu machen. Am Ufer angekommen hockte er sich auf den Boden und trocknete seine Füße, zog sich dann die Schuhe wieder an, die er tragen musste. Auch Rei streifte gerade seine Socken über. „Meine. Ich gebe zu, dass es vor allem im Winter sehr unglücklich sein kann.“ Er lächelte entschuldigend und seine Naivität eingestehend. Als er seine Idee umgesetzt hatte, dachte er nicht daran, dass es im Winter aufgrund der Kälte problematisch werden könnte. Zum Umbauen fehlte ihm allerdings die Lust, sowie Zeit. Kai murrte etwas Unverständliches vor sich hin, das Rei nicht verstand. „Ach komm schon, hör auf zu jammern“, neckte er den Russen, der ihm darauf einen bösen Blick zuwarf. „Ich weiß ja nicht wie du es siehst, aber ich mag keine nassen Füße, wenn es kalt ist.“ Rei schmollte. Er war noch jung, als er diesen Tempel erbaute. Jugendliche in diesem Alter dachten normalerweise an andere Dinge. Eingeschnappt packte er sein Bündel und stapfte durch den Wald. Hastig erhob sich Kai und schnappte sich seine Sachen, um dem Chinesen zu folgen. Immerhin war er diesen Weg erst einmal gegangen und da hatte er anderes im Kopf gehabt. „Rei, warte, es war doch nicht so gemeint. Sei nicht böse auf mich“, rief er ihm nach. Kai stolperte über die hinter Farnen versteckten Steine und versuchte, mit Rei mitzuhalten. Byakko war schon nicht mehr zu sehen, er war allen voran gegangen und wartete bereits vor dem Eingang der Höhle. Bevor Rei sie jedoch betreten konnte, wurde er von Kai am Arm zurückgehalten. Verwundert bemerkte er seinen ernsten Blick. „Rei, wenn wir auf der Lichtung sind, ich will nicht, dass du meine Gedanken liest. Bitte“, fügte er noch an, um ihm zu zeigen, dass er es wirklich so meinte. Blinzelnd schaute der Heiler ihn an, bevor er nickte. „In Ordnung, ich akzeptiere deine Privatsphäre.“ Einen Dank murmelnd stahl sich der Russe an ihm vorbei, Rei blickte ihm fragend nach. Er wunderte sich, ob er etwas zu verbergen hatte. Es machte ihn neugierig, was es sein mochte, wenn es ihm so wichtig war. Doch dann zuckte er mit den Schultern und folgte Kai und Byakko in die Höhle. Kai erschauderte, als er durch den stabil wirkenden Felsen in den Gang des Labyrinths stieg. Er mochte es überhaupt nicht und die Nackenhaare legten sich erst wieder, als sie auf die heilige Lichtung traten. Umgehend wurde Kais Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt, das aussah wie ein hölzernes Gefährt ohne Räder, mit einer flachen Ablage. Rei ging darauf zu, legte sein Bündel ab und begann unverzüglich, sich die warmen Kleider über seine eigenen anzuziehen. Kai wusste, dass sie sich beeilen mussten und tat es ihm gleich. „Den Schlitten nehmen wir auch mit. So kommen wir schneller vorwärts und müssen das Gepäck nicht die ganze Zeit am Rücken tragen. Byakko ist stark genug um uns zu ziehen“, erklärte Rei, was es mit dem Gestell auf sich hatte und der Tiger brummte zustimmend. Im Versteckten warf er dem Russen neugierige Blicke zu. Es interessierte ihn schon ziemlich, wieso Kai ihn gebeten hatte, seine Gedanken nicht zu lesen. Ihm fiel nicht ein, was der kühle Krieger vor ihm zu verbergen haben könnte. Er unterdrückte aber das Bedürfnis, auch nur kurz in ihm zu lesen. „Hilf mir mal“, bat er ihn um Hilfe, den Holzschlitten hochzuheben. Hastig warf Kai sein Bündel auf den Rücken und zusammen hievten sie ihn auf die Schultern, um mit ihm durch eines der zahlreichen Pforten zu stapfen. Es war nicht gerade einfach, ihn durch den langen Gang, geschweige denn ihn irgendwie durch den instabilen Felsen zu wuchten. Sofort trieb ihnen die kalte Luft Tränen in die Augen. Die Höhle, in der sie sich befanden, war vereist. Kais Nase begann zu tropfen und er schniefte. Rei schnürte bereits die Lederbänder um Byakkos Brustkorb und spannte ihn auf diese Weise vor den Schlitten ein, den er gleich hinter sich herziehen würde, und schmiss sein und Kais Bündel auf die Ablage. Dann stellte er sich selbst darauf und hielt sich an der hüfthohen Halterung fest. Auffordernd sah er Kai an, der ihm mit laufender Nase zusah. „Komm, du musst dich hinter mich stellen.“ Kai machte einen Schritt auf die etwas erhöhte Ablage und platzierte sich hinter ihn, wusste aber nicht genau, was er machen sollte. Rei schmunzelte und packte, so gut es mit den dicken Handschuhen ging, Kais Arme und zog daran. Unerwartet wurde er gegen Reis Rücken gepresst. Etwas überfordert blickte er in Reis grinsendes Gesicht. „Hast du etwa Berührungsängste, Kai?“, neckte er. Da er aber gleich seine Kapuze über den Kopf zog, sie fest zusammenschnürte und seine Aufmerksamkeit Byakko zuwandte, um ihn anzutreiben, bemerkte er nicht die Röte, die sich über Kais Wangen legte und die bestimmt nicht wegen der Kälte kam. Denn trotz der dicken, mit Fell gefütterten Kleider konnte er Reis Wärme an sich fühlen. Er spürte, wie er tief einatmete. „Los geht es“, flüsterte er sich selbst ermutigend. Mit einem Ruck fuhr der Schlitten an. Kai hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und klammerte sich um Reis Taille an der Halterung fest. Kaum hatten sie die Höhle verlassen, kniffen sie die Augen fest zusammen. Die Sonne strahlte hell und aggressiv spiegelte sie sich in den endlosen Weiten aus Eis und Schnee und blendete sie. Zudem klatschte die Luft noch kälter in ihr Gesicht als zuvor in der Höhle. Kai vergrub sich im Leder von Reis Jacke. Doch der lehnte sich ein wenig nach hinten und streckte die Arme in die Luft. „Willkommen in Antarktika!“, sagte er laut und konnte es selbst fast nicht glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatten. Kai murrte unglücklich. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die eintönig weiße Landschaft. Immer mehr konnte er erkennen, dass um sie herum außer einigen Eisblöcken sich nichts vom Horizont abhob. Da war nur unberührter Schnee auf Eis. Und das einzige Geräusch war das Knarren der Kufen darauf. Lange fuhren sie quer durch die weiße Einöde. Sie redeten nicht, diesmal allerdings gezwungenermaßen, denn jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachten, hatten sie das Gefühl, dass sich ihre Lungen vereisten. Die Fahrtluft jagte ihnen Tränen in die Augen und die Kälte reizte ihre Haut, die nach kurzer Zeit gerötet war. An Kais Nasenspitze fror das Kondenswasser seines Atems zu einem kleinen Eisklümpchen und dabei war er derjenige, der hinter Rei Windschatten hatte. Der Chinese war den Umständen schutzlos ausgeliefert. Doch er hatte sich stur nach vorne gewandt und rührte sich nicht. Kai legte eine Hand auf seinen Arm und brachte ihn nach kurzem dazu, sich zu ihm umzudrehen. Unglaublich, dass er es auch noch schaffte zu lächeln. „Wie machst du das?“, fragte Kai zähneklappernd. Rei drehte sich zwischen seinen Armen zu ihm um. „Durch die Meditation befindet sich mein Geist im Gleichgewicht mit meinem Körper. Äußerliche Einflüsse sind nur halb so schlimm. Im Zustand der Meditation kann ich sie sogar kaum spüren.“ „Das ist alles?“ Kai konnte es kaum fassen. „Das ist alles“, bestätigte Rei mit einem Grinsen und drehte sich wieder nach vorne, „allerdings muss ich mich besonders gut konzentrieren können.“ Er konnte Kai hinter sich leise fluchen hören und schmunzelte höchst amüsiert in den flauschigen Kragen seiner Felljacke. Kapitel 10: Hindernisse ----------------------- Der Mittag war bereits vorbei und noch immer hatte sich an der Landschaft nicht viel verändert. Kai hatte das dumpfe Gefühl im Kreis zu fahren. Laut Rei befanden sie sich auf einem Hochplateau, das durch und durch aus Eis bestand. Er erklärte ihm, dass die Antarktis größer war als ganz Europa. Folglich war es unmöglich, an einem Tag das Wächtertier des Feuers zu finden. Und je länger sie unterwegs waren, desto mehr Zweifel stiegen in Kai auf, ob sie sich überhaupt auf dem rechten Weg befinden würden. Er vertraute Rei zwar, aber er hatte ihm nie mitgeteilt, wie er die Richtung gewählt hatte. Unbewusst verkrampfte sich sein Griff um die Halterung, wo er sich festhielt. Rei drehte sich zu ihm um. „Alles in Ordnung?“ Er schaute ihn freundlich, aber ernst an. Kai zog die Augenbrauen zusammen. „Ich frage mich nur, ob wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Woher wissen wir, wohin wir gehen müssen?“ Reis Gesicht entspannte sich sichtlich und sein Blick huschte kurz zu Byakko. „Wächtertiere sind miteinander verbunden. Sie spüren ihre Anwesenheit über sehr große Distanzen. Zwar nur schwach, aber wenn sie sich konzentrieren, leitet sie das Band zueinander. Sie können auch nicht sagen, um welches Wächtertier es sich handelt, oder ob es bereits entdeckt wurde. Vertraue Byakko, solange nichts dazwischen“, abrupt brach Rei ab. Sein Blick war starr an Kais Kopf vorbei gerichtet, die Augen weit aufgerissen. Scharf zog er die Luft ein. Die Farbe war aus seinen Wangen gewichen. „Oh nein!“ Beinahe panisch wirbelte er zurück und klammerte sich an der Halterung fest. „Byakko! Beeil dich, wir müssen irgendwo Schutz suchen!“ Der große Tiger fuhr seine Krallen aus, rammte sie in das Eis unter seinen Pfoten, stieß sich mit kräftigen Hinterläufen vom Boden ab und schoss nach vorne. Seine Sprünge wurden schneller, länger. Sein Rücken streckte sich und zog sich kraftvoll wieder zusammen. Weit streckte er die Schnauze nach vorne und legte die Ohren dicht an. Kai drehte sich um, um den Grund von Reis plötzlicher Panik in Erfahrung zu bringen. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Erschrocken schaute er wieder nach vorne und betete das erste Mal in seinem Leben, dass sie schnell ein Versteck finden würden. Denn die weiße Wand, die mit rasender Geschwindigkeit ihnen immer näher kam, machte keinen harmlosen Eindruck. So schnell sie konnten schlitterten sie über das glatte Eis. Um den Luftwiderstand so gut es ging zu verringern, kauerten sich Kai und Rei tief auf die Fläche des Schlittens und der Schnee, der von Byakko aufgewirbelt wurde, peitschte ihnen ins Gesicht. Der Eisfels, den sie ansteuerten, kam immer näher, doch mit einem Blick nach hinten sahen sie mit Entsetzen, dass die Schneewand nicht mehr weit weg war und sie schon bald eingeholt hatte. Byakko sammelte alle seine Kraft zusammen und stieß sich vom Boden ab. Der Eisfels kam immer näher, doch nicht schnell genug. Rei riss sich die dicken Handschuhe von den Händen und versuchte mit vor Kälte steifen Fingern, die Schnur zu lösen, die eines der Bündel zusammenhielt. Er fluchte. Als er die Decken zusammenschnürte, hatte er nicht damit gerechnet, es in so einer Situation öffnen zu müssen. Zitternd zerrte er am Knoten. Noch nie hatte Kai ihn so unruhig gesehen, geschweige denn fluchen gehört. Er wollte ihm helfen, doch Rei rastete beinahe aus und schlug seine Hand weg. Der Sturm hatte sie fast eingeholt. Die ersten Schneeflocken wirbelten um ihre Köpfe und nahmen ihnen die Sicht. Eiskalte Windböen jagten ihnen Tränen in die Augen. Kai riss sich nun seinerseits den Handschuh von der Hand und schob sie in den rechten Stiefel. Mit der anderen hielt er Rei an der Schulter fest und drückte ihn grob zur Seite. „Lass mich mal“, rief er durch den heftigen Wind. Er zückte seinen Dolch und setzte ihn an das vereiste Seil. Mit kräftigen Bewegungen schnitt er es schließlich durch und ließ es wieder in den Stiefel gleiten. Rei schnappte sich die befreiten Felldecken. Er blinzelte gegen die Tränen an und versuchte auszumachen, wie weit sie noch vom Eisfelsen entfernt waren. Gerade rechtzeitig bemerkte er, dass Byakko eine scharfe Kurve vollzog und konnte sich noch am Schlitten festhalten. Dabei fiel ihm eine Decke aus dem Arm. Kai hinter ihm hatte den Richtungswechsel nicht kommen sehen und kippte vom Schlitten. „Byakko, stopp!“, schrie Rei und sprang hinterher. Der Russe hatte sich bereits aufgerappelt. Den Arm schützend vor das Gesicht haltend, stapfte er durch den immer heftiger werdenden Sturm, versucht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er konnte fast nichts sehen. Zu allem Übel stolperte er und fiel der Länge nach hin. Fluchend blickte er nach unten und entdeckte die Decke, die Rei fallen gelassen hatte. Er stand auf und schnappte sich das Fell, das bereits mit einer Schneeschicht bedeckt war. „Kai, beeil dich, der Sturm wird immer schlimmer!“ Er blickte in die Richtung, aus der er die undeutliche Stimme wahrgenommen hatte und konnte Reis dunkle Silhouette ausmachen. So schnell es ging kämpfte er gegen den Wind an, bis er bei Rei war. Er hatte seine Handschuhe nicht wieder angezogen, er war zu sehr damit beschäftigt, in Sicherheit zu kommen und packte Kai, um ihn hinter sich herzuziehen. Eine Windböe riss sie beinahe von den Füßen und ließ sie über die klobigen Stiefeln stolpern. Endlich beim schützenden Eisfelsen angekommen, breitete Kai hastig die Decke am Fusse der Eiswand mit dem meisten Windschatten aus, warf sich zu Boden, riss Rei mit sich und zog die zweite Felldecke über sie beide. Schützend legte er den Arm um ihn und drückte ihn an sich. Byakko hatte die Lederbänder, die ihn mit dem Schlitten verbanden, durchgebissen und legte sich dicht an Reis Rücken, um sie zusätzlich zu schützen und zu wärmen. Rei drückte sich gegen Kai. Der Sturm fegte über ihre Körper hinweg und die Windböen drangen in jede kleinste Öffnung unter die Felldecken und fuhren zwischen die Kleidernähte, brannten auf ihrer Haut wie tausend kleine Nadelstiche. Ihre Zähne klapperten und Reis Finger drohten demnächst abzufallen. „Kai, gib mir den Dolch“, stotterte er mit blauen Lippen. Kaum wurde das Messer in seine Hand gedrückt, begann er an Kais Jacke zu nesteln und schaffte es, den ersten Knopf zu öffnen. Der Russe erschauderte vor Eiseskälte. Doch Rei ließ sich nicht beirren und schob den Stoff seines Hemdes zur Seite. Gänsehaut zierte Kais nackte Brust. „Was machst du da?“, fragte er und schlotterte hemmungslos. Ohne zu antworten hob Rei mit zitternder Hand den Dolch zu seinem Hals, setzte an und durchschnitt das dünne Lederband, das seinen Nacken umschlang und an dem der Lavastein baumelte. Er fiel zwischen sie auf das Fell der Decke und sofort spürte Kai die Wärme in seine Gliedmaßen zurückströmen. „Rei“, keuchte er und drückte ihn fester an sich, um auch ihm von seiner Wärme zu spenden. Der Chinese öffnete mit seinen steifen Fingern die restlichen Knöpfe von Kais Jacke und ließ seine Hände darunter gleiten. Sie schmerzten, als sie langsam begannen aufzutauen. Er kniff die Augen zusammen und presste sich noch näher an den warmen Körper, der sich deutlich beruhigte, legte den Kopf auf die wärmer werdende Schulter und zog die Beine etwas an, um sie mit Kais zu verweben. Er brauchte diese Wärme, er brauchte so viel, wie er bekommen konnte. Starke Arme legten sich um seine Schulter und Taille und zogen ihn etwas unter den Russen. Dabei fiel Kais Jacke ganz auf und das Hemd darunter öffnete sich. Ohne nachzudenken ließ Rei seine Finger unter den Stoff gleiten. Seine Haut war so warm. Er konnte seine Muskeln spielen fühlen, als Kai begann, die Knöpfe an Reis Jacke zu öffnen. „Was soll das?“, fragte er, doch der Russe ließ sich nicht ablenken. „So hast du doch nichts davon“, erklärte er mit einem neckischen Unterton. Fast schon grob riss er Reis Kleidung beiseite und schlang dann die Arme um seine Taille, zog ihn so nah an sich, dass sich ihre Haut berührte und drückte ihn auf das Fell. Kais Körper erhitzte sich zunehmend und sein Atem hauchte heiß über Reis Ohr. Ihm wurde schwindelig. Zuvor die extreme Kälte und nun diese Hitze brachten seinen ganzen Kreislauf durcheinander. Zudem konnte er sich nicht konzentrieren, Kais schneller Herzschlag lenkte ihn ab. zugegebenermaßen nicht nur sein Herzschlag, sondern auch diese Nähe, die ihn jedes Mal aufs Neue verwirrte. Er vergrub sein Gesicht in die Halsbeuge und erschauderte unter dieser Körperwärme, während der Sturm eisige Schneeflocken um sie wirbelte. Kai hatte Gänsehaut. Und er wusste, dass das nichts mit den Wetterumständen zu tun hatte. Auch nicht mit Reis kalten Fingern, die sich in seinen Rücken krallten. Eher war es wegen den Berührungen allgemein und des Atems, der seinen Hals streichelte. Er durfte die Beherrschung nicht verlieren, obwohl es ihn beinahe verrückt machte. Er musste sich unter Kontrolle halten. „Kai, beruhige dich ein bisschen, du bist zu erregt. Wenn du so weiter machst gehen wir in Flammen auf und ich weigere mich, von dir abzulassen, bevor dieser Sturm nicht vorbei ist“, nuschelte Rei und seine Lippen strichen leicht über die nackte Haut. Sofort schoss dem Russen die Röte ins Gesicht. Er konnte den Hintergedanken, der sich bei Reis Worten in seinen Kopf drängte, nicht abschütteln. Die Zweideutigkeit war einfach erschütternd. Auf seinen Atem konzentriert, bemerkte Kai nicht, dass die katanischen Winde, die diesen grausamen Sturm mit sich brachten, langsam verebbten. Noch immer hielt er Rei fest umschlungen, um ihn warm zu halten. Seine Körperwärme ließ den Schnee um sie herum schmelzen, doch das gefettete Leder der Außenseite der Decke verhinderte, dass es aufgesogen wurde. Erst Byakko erweckte ihre Aufmerksamkeit, als er sich den Schnee vom Fell schüttelte. Rei zog seine Hände zurück und begann sofort, sich wieder einzupacken und die Jacke zuzuknöpfen. Erst dann erhob sich Kai und hielt ihm die Hand hin, um dem Chinesen beim Aufstehen zu helfen. Die Decke rutschte runter. Gleichzeitig griffen sie nach den beiden Decken, um sie aufzuheben. Dabei fiel das dünne durchschnittene Lederband mit dem daran hängenden Lavastein auf den Boden, der sich deutlich von seinem Untergrund abhob. Rei bückte sich erneut und hob ihn hoch. „Dass ich nicht eher daran gedacht habe. Dabei ist das so offensichtlich. Du brauchst die ganzen Kleider gar nicht.“ Kai grinste und machte keine Anstalten, seine Jacke wieder zu schließen. Ihm war ganz angenehm warm. „Etwas Gutes hat es. Ich habe jetzt meinen eigenen Ofen dabei. Kai, wenn ich friere musst du einfach damit rechnen, dass ich dich dazu nötige, mich zu wärmen“, freute sich Rei und grinste hinterhältig, „und außerdem kannst du gleich den Schlitten flicken, ich ziehe meine Handschuhe nicht wieder aus.“ Er ließ den Lavastein in seiner Jackentasche verschwinden, schnappte sich die beiden Decken und setzte sich auf die Ablage, um Kai dabei zuzusehen, wie er die Lederbänder von Byakkos Gespann zusammenknotete. Es dauerte nicht lange, da standen sie wieder hintereinander auf dem Schlitten und wurden vom Tiger Richtung Horizont gezogen. Rei hatte sich nach hinten gelehnt und genoss die Wärme an seinem Rücken. Der Himmel verfärbte sich bereits dunkel, als ihre Reise ein abruptes Ende nahm. Byakko stoppte vor einem Abgrund und starrte hinunter. Unter ihnen tobte die kalte Brandung an die Eiswand des Plateaus. Zu ihren beiden Seiten sahen sie in unregelmäßigen Abständen riesige Brocken sich von den Klippen lösen und ins dunkelgraue Meer stürzen, so dass die Gischt weit in die Höhe spritzte. Respektvoll wichen sie einige Schritte zurück. Kai verzog den Mund. „Grandios. Und wo lang jetzt?“ Rei zog sich die Handschuhe aus, kniete vor Byakko und nahm seinen Kopf in beide Hände. Sanft knetete er seine Ohren, worauf der Tiger anfing zu schnurren. „Im Sturm muss die Verbindung abgebrochen sein. Er hat uns in die ungefähre Richtung geleitet, aber jetzt müssen wir wohl auf ein Zeichen hoffen.“ Seufzend fuhr sich der Russe durch die Haare. Ein Grummeln ließ ihn jedoch aufhorchen. Rei grinste ihn schief an. „Lass uns etwas essen, wir können sowieso nichts tun.“ Er erhob sich, nahm eine der Decken und breitete sie auf dem Schlitten aus und begann, etwas vom getrockneten Fisch und Fleisch auszupacken und Brot in Stücke zu brechen, während Kai Byakko von seinem geflickten Gespann befreite, da er keine Probleme damit hatte, die vereisten Lederriemen mit bloßen Fingern zu lösen. Sie aßen gemächlich, sprachen nicht viel miteinander und Kai blickte in Gedanken versunken in den Horizont. Ein Flackern jedoch riss ihn aus seinen Fantasien und ließ ihn die Augenbrauen zusammenziehen. Er schaute genauer hin und tastete blindlings nach Reis Arm, um ihn ebenfalls auf die höchst seltsame Erscheinung aufmerksam zu machen. „Wieso ist der Himmel plötzlich grün, Rei?“ Kapitel 11: Feuer im Himmel --------------------------- Gebannt starrte Kai auf den Horizont. Die Sterne funkelten in der klaren, eisigen Nacht zu Abermillionen, so deutlich, wie er es noch nie gesehen hatte. Sie spiegelten sich im schwarzen Meer, das sich hie und da kräuselte und gegen die Brandung aus Eis rauschte. Seine Hand lag noch immer auf Reis Arm, der zuerst ihn fragend ansah, dann seinem Blick folgte, als Kai keine Anstalten machte, sich zu ihm umzudrehen. Überrascht weiteten sich seine Augen. Sein Mund öffnete sich. „Rei, warum ist der Himmel grün?“, fragte Kai leise. „Eigentlich dürfte das gar nicht sein, wir sind hier viel zu weit südlich. Außer“, flüsterte Rei ehrfurchtsvoll, zog plötzlich scharf die Luft ein und riss den Russen zu sich herum, „das ist wegen dir!“ Entsetzt blinzelte Kai und sah ihn an, als wäre er nicht mehr ganz richtig im Kopf. „Überleg mal, was du da sagst. Du weißt zwar wirklich viel, aber das ist völlig unmöglich. Hat es dir einen Teil von deinem Gehirn abgefroren?“ Als Antwort erntete er einen bösen Blick und einen Faustschlag auf den Arm. „Natürlich nicht“, fauchte er, „und natürlich weiß ich, wovon ich rede, ich bin nicht blöd. Ich weiß nämlich so Einiges und was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass das da völlig unmöglich sein sollte.“ Er zeigte in den Himmel, wo Bänder aus Licht in sämtlichen Grüntönen ihre geschwungenen Linien zogen. Es sah aus, als ob sich das tägliche Meer im Himmel spiegeln würde. Nachdenklich legte Rei eine Hand an seine Schläfe und nuschelte in seinen felligen Kragen. „Der Zyklus ist noch nicht vorbei. Der letzte Ausbruch fand erst vor acht Jahren statt.“ „Was für ein Ausbruch?“, unterbrach Kai seine Gedankengänge, worauf er ihn wieder ernst anschaute. „Hier am Südpol ist diese Erscheinung äußerst selten. Nur etwa alle dreizehn Jahre, wenn die Sonnenaktivität unnormal hoch ist und die Solarwinde die Erde besonders stark treffen, kann es sein, dass sie auftreten. Seit dem letzten Sonnenausbruch sind erst acht Jahre vergangen, deshalb kann es nicht eine normale zyklische Aktivität sein.“ „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte Kai trocken, von der wissenschaftlichen Rede etwas verwirrt. Rei sah ihn mit einem spitzen Lächeln von der Seite her an. Für ihn war es höchst amüsant zu sehen, wie der stattliche Krieger mit seiner Naivität kämpfte und es offensichtlich nur schwer verdaute, dass er mit diesen Informationen nichts anzufangen wusste. Er gluckste. „Deine pure Anwesenheit scheint eine Art Solarwind ausgelöst zu haben.“ „Wie soll das denn gehen?“ Ein Lachen ertönte. Der Chinese zog die Beine an sich und stütze den Kopf auf den Knien ab, sah ihm von unten in die Augen, die belustigt glitzerten. „Die Sonne ist ein Feuerball, Kai. Und du bist der Wächter des Feuers. Da du deine Energie aber noch nicht im Griff hast, ist es nicht verwunderlich, dass ihr die gleichen Eigenschaften aufweist.“ Langsam dämmerte es dem Russen und er dachte an die Sonne, die tagsüber hoch über ihnen stand und ihnen Wärme und Licht spende. Ein Grinsen verzog seine Mundwinkel. „Du meinst“, schlussfolgerte er und lehnte sich zu Rei hinunter, „wir sind beide heiß?“ Reis Wangen verfärbten sich durch die Überraschung von Kais Direktheit leicht rötlich. Um es vor Kai zu verstecken, drehte er den Kopf nach vorne und starrte in den Himmel. „Das hast du gesagt. Aber rein objektiv und physisch betrachtet, ja.“ „Komm schon, du findest mich doch auch rein subjektiv ziemlich heiß, gib es zu“, wollte er das partout nicht auf sich sitzen lassen und grinste schelmisch. Reis Gesicht verfärbte sich noch dunkler und verärgert stieß er Kai von sich, der ihm immer näher gekommen war. „Träum weiter, du Idiot!“, keifte er, verschränkte die Arme vor der Brust. Kai lachte, der Anblick war einfach zu köstlich. „Dein Körper verrät dich, Rei“, drängte er weiter. Ohne Vorwarnung erhob sich der Chinese blitzartig und er baute sich vor ihm auf, die Arme vor der Brust verschränkt. „Red nicht so einen Stumpfsinn! Hat deine Selbstverliebtheit dir etwa das Hirn verbrannt? Mach so weiter und ich schmeiße dich in den arktischen Ozean!“, fauchte er den etwas perplexen Russen angesäuert an. „Kein Grund gleich so auszurasten, ich hab es doch nicht so gemeint. Nicht böse sein, Rei. Es sah gerade eben nur so“, er suchte nach dem richtigen Wort, „einladend aus.“ Kai hielt ihn am Arm fest und zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich nach unten, um ihm einen Arm um die Schulter zu legen. Doch Rei riss sich los und setzte sich stattdessen wieder auf die Decke. Er seufzte. „Na vielen Dank auch“, murmelte er und fuhr sich durch die Haare. Seine Wangen waren noch immer gerötet und trotz der Eiseskälte war ihm warm geworden. Denn obwohl er es niemals laut zugeben würde, was der Russe sagte, entsprach absolut der Wahrheit. „Wie heißen diese Lichtschnüre überhaupt?“, störte ihn Kai bei seinem insgeheimen Selbstgeständnis. „Das sind Polarlichter“, antwortete er kurz angebunden und blickte stur gerade aus. So bemerkte er nicht, wie der Russe ihn aufmerksam musterte. „Hm, schön“, murmelte er, worauf Rei nickte. Eine Weile saßen sie auf dem Schlitten, Byakko dösend zu Reis Füßen, und schwiegen sich an. Beide hingen ihren eigenen Gedanken und Vorstellungen nach, bis Rei unterbrochen wurde. Soeben hatte er einen Lichtschweif über den Himmel huschen entdeckt. Er wusste, dass diese Sternschnuppe das Zeichen war, auf das sie warteten. „Komm Kai, wir gehen weiter!“ Er wandte sich zu ihm um und blickte geradewegs in rote Augen, die ihn etwas aus der Fassung brachten. Eine unfreiwillige Pause entstand, während der Byakko den Kopf hob und sie gespannt beobachtete. „Wir müssen da lang“, fuhr Rei in eine Richtung zeigend fort, eine leichte Unsicherheit in der Stimme beherbergend. Kai nickte und erhob sich, um den Schlitten startklar zu machen, während Rei sich erst einmal fassen musste. Dann begann er das Proviant zu verpacken. Sie waren viel zu müde um zu stehen und so drängten sie sich sitzend dicht aneinander, um nicht von der Schlittenfläche zu fallen. Der Fahrtwind stach Rei wie kleine Nadeln in das Gesicht und er zitterte am ganzen Leib. Es war viel kälter als den Tag über, da brachte alle Konzentration und Meditation nichts. Kai bemerkte das schnell und zog ihn an sich, drängte ihn zwischen seine Beine und legte die Arme um ihn. Rei ließ es wortlos zu, er war ihm in diesem Moment sehr dankbar. Er kuschelte sich an den warmen Körper, legte sein Gesicht an Kais Brust und glitt mit den Fingern unter sein Hemd, worauf der Russe leicht zusammenzuckte. Rei blickte hoch und wollte die Hände wieder zurückziehen, doch er wurde noch fester in die Umarmung gezogen. „Ist in Ordnung, war gerade nur ein bisschen kalt“, murmelte Kai. Rei zog einen Mundwinkel nach oben und schloss die Augen. Die Wärme lullte ihn ein und ließ ihn in einen wohligen leichten Schlaf fallen. Es blieb nicht unbemerkt und sanft blickte Kai auf ihn hinunter. Jetzt, wo er ihn so sah, wurde ihm bewusst, dass er nie erlebt hatte, dass der Chinese geschlafen hatte. Er war wach, wenn Kai aufstand und wenn er zu Bett ging, blieb er noch länger auf. Und jedes Mal, wenn er in der Nacht wach wurde, fand er ihn auf der Terrasse auf dem Bergtempel vor. Sähe er es jetzt nicht mit eigenen Augen, würde er denken, dass der Heiler niemals schlief. Er musterte sein Gesicht. Schwarze Strähnen fielen ihm vor die Augen und verdeckten sie. Doch er konnte die Lippen sehen, auf denen ein seliges Lächeln lag. Er mochte diesen Mund. Alleine der Anblick ließ ihm einen Schauer den Rücken hinunter jagen und sein Herz schneller schlagen. Er wusste, irgendwann einmal würde er seine Selbstbeherrschung einfach fallen lassen und sich diesen Mund nehmen. Doch er wollte, dass der Chinese einverstanden damit war. Niemals würde er ihm einen Kuss aufdrängen. Dafür sah er in diesem Augenblick zu unschuldig aus. Plötzlich drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund und Kai fragte sich, ob der Heiler überhaupt schon einmal körperlichen Kontakt zu jemandem gehabt hatte. Vor seinem geistigen Auge nahm eine gewisse Szene ihre Formen an. Rei stützte sich schwer atmend mit beiden Armen vom Boden ab, kleine Schweißperlen bahnten sich ihren Weg über seine nackten muskulösen Gliedmaßen und er stöhnte bei jedem Stoß. Enorme Hitze breitete sich urplötzlich in Kais Lendengegend aus und er versuchte hastig, diese Bilder aus seinem Kopf zu schütteln. Er musste seine Atmung und sein Herzschlag regulieren, ansonsten würde er dem Chinesen Verbrennungen zufügen. Gerade dieser bewegte sich ein wenig und öffnete leicht den Mund. Ein leises Seufzen entwich seinen Lippen. Kai hielt mit angestrengter Mine die Luft an und konzentrierte sich darauf, seine Körpertemperatur zu senken. Würde Rei sich nicht zwischen seinen Beinen bewegen und seine Finger in seine Haut graben, hätte er keine großen Schwierigkeiten gehabt. Aber unter diesen Umständen musste er sich hart am Riemen reißen. Doch es klappte. Er merkte, wie seine Körpertemperatur wieder seinen ganz persönlichen Normalzustand erreichte. Rei wurde ruhiger und Kai konnte nicht anders, als seine Hand in diese seidigen schwarzen Haare zu vergraben und seinen Kopf an seine Brust zu drücken. Lautes Geschnatter drang an Kais Ohren und eine feuchte Schnauze stupste ihm in das Gesicht, um ihn zu wecken. Stöhnend richtete er sich auf. Sein Hintern schmerzte und seine Gliedmaßen waren steif. Gähnend wollte er sich strecken, da fiel ihm auf, dass Rei nicht mehr da war. Hastig blickte er um sich und registrierte seine momentane Situation. Es war Tag. Byakko war aus seinem Geschirr losgebunden und hockte neben ihm im Schnee, folglich fuhren sie nicht mehr. Und Rei war aus seinen Armen verschwunden. Stattdessen fand er sich in der Nähe einer gigantischen Pinguinherde wider, die ohrenbetäubend laut schnatterte. Große Pinguine fütterten ihre Jungen, kamen gerade von der Jagd mit einem Fisch im Schnabel oder machten sich watschelnd auf den Weg zum Wasser. Über ihnen zogen Schneesturmvögel ihre Runden, beobachteten von oben das Geschehen und stürzten sich gelegentlich kreischend auf ein Stück liegengebliebenen Fisch. Einer der Vögel nahm geradewegs Kurs auf den Russen und kam im Sturzflug auf ihn zugeschossen, den Schnabel weit nach vorne gestreckt. Kai wollte schon ausweichen, als ein lautes Brüllen seitens Byakko den Vogel dermaßen erschreckte, dass er wild mit den Flügeln um sich schlagend mitten in der Luft kehrt machte und dabei einige Meter in die Tiefe sackte. Kai grinste und tätschelte den Tiger auf den Kopf. „Gut gemacht! Aber wo ist denn Rei schon wieder?“, fragte er an ihn gewandt. Byakko ging ihm voraus und bahnte eine Schneise durch die dicht beieinander stehenden Pinguine. Es herrschte ein reges Treiben und oftmals musste Kai einen Schritt zur Seite machen, um nicht mit einem der stolzen Tiere zusammenzustoßen. Mitten im schwarzweißen Gewusel stand Rei bei einem Jungen, piekste es in den grauen Flaum und lachte herzhaft. Freudig wedelte der kleine Pinguin mit seinen kurzen Flügelchen und schnatterte. Es war offensichtlich, dass er einen Narren an dem Chinesen gefressen hatte, denn er ließ sich keineswegs von Kai oder Byakko einschüchtern, als sie zu den beiden herantraten. Eher freute es sich über die zusätzliche Gesellschaft und anscheinend besonders über Kais Anwesenheit. Es hüpfte auf und ab und drängte gegen seine Beine. „Liebe auf den ersten Blick“, flötete Rei und grinste schief. Kai verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die unmissverständlich zeigte, dass dies keinesfalls auf Gegenseitigkeit beruhte. „Das Fellknäuel stinkt“, bemerkte er und rümpfte die Nase. Reis Augen begannen hinterhältig zu glitzern. Er bückte sich und hob etwas vom Boden auf. „Kai, fang auf“, rief er und warf eben Aufgehobenes dem Russen zu. Reflexartig hob er die Hand und fing es geschickt auf. Allerdings zappelte es wild und flutschte ihm aus den Fingern. Er versuchte, es mit der anderen Hand aufzufangen, doch der Fisch landete auf dem Boden und der Nachwuchspinguin stürzte sich gierig darauf um ihn auf der Stelle zu verschlingen. Geschockt stand Kai an Ort und Stelle. Langsam besah er sich seine Hände. Er schnupperte daran und verzog augenblicklich den Mund, ein Geräusch puren Ekels drang aus seiner Kehle. „Das ist widerlich!“, murrte er und versuchte mit Hilfe von Schnee den Geruch wegzuwaschen. Rei krümmte sich vor Lachen und der kleine flaumige Pinguin watschelte hopsend zwischen den beiden hin und her und gackerte freudig. „Na warte, Rei, das wirst du mir büßen!“ Mit ausgebreiteten Armen stürmte Kai auf den Chinesen zu, der mit Lachtränen in den Augen versuchte wegzulaufen und sich dabei immer wieder umdrehte. Er kam nicht weit. Kai stürzte sich mit einem Angriffsschrei auf ihn und riss ihn zu Boden. „Jetzt kannst du was erleben!“, drohte er und riss dem Chinesen die Jacke auf. Rittlings auf ihm hockend begann er ihn auszukitzeln. Rei versuchte vergebens sich zu wehren und klammerte sich an seinen Armen fest um sie wegzuschieben. Eigentlich war er nicht kitzelig, aber da er bereits am Lachen war, konnte er nichts dagegen tun. „Nein!“, stieß er zwischen zwei Versuchen, Luft zu holen, hervor, „hör auf, bitte, ich tu alles!“ „Vergiss es“, feixte Kai und machte erbarmungslos weiter. Kapitel 12: Aus Staub und Asche ------------------------------- Erschöpft und kraftlos lag Rei unter Kai. Beide lachten. Weiße Atemwölkchen stiegen über ihren Köpfen auf. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Rei erhob sich etwas und stützte sich mit den Ellbogen auf, um dem eisigen, harten Boden zu entkommen. Er weigerte sich aber, Kais Handgelenke loszulassen, so dass der Russe nun seinerseits festsaß. Nicht, dass es ihn störte. Doch der Körper unter ihm begann plötzlich zu zittern. Kai löste den Augenkontakt und schaute hinunter. Reis Jacke war noch immer weit aufgerissen. Entschlossen löste er sich aus der Umklammerung und wollte die Knöpfe wieder schließen, doch ohne Vorwarnung zog Rei die Beine an, worauf Kai das Gleichgewicht verlor und vorne über fiel. Sofort schlangen sich zwei Arme um ihn und zogen ihn nach unten an den Chinesen. „Rei, was soll das?“, fragte er irritiert und mit einem leichten Rotschimmer um die Nase, die Arme zu seinen beiden Seiten auf dem Eis abgestützt. „Mir ist kalt“, kam die simple genuschelte Antwort, „und du bist mein Ofen und musst mich wärmen. Also los, tu deine Arbeit!“ Sehr zögerlich schob Kai daraufhin seine Hände zwischen Hemd und Jacke, den einen Arm um die Taille, den anderen um die Mitte des Brustkorbes und hob ihn ein Stück hoch. Er drückte das Gesicht in Reis schwarze Haare im Nacken und atmete den Geruch tief ein. Seine Lider fielen zu. Ein Schaudern jagte seinen Rücken hinunter. Es war einfach ein betörendes Gefühl, den Heiler so nah an sich zu spüren, seinen Atem am Hals und der Brustkorb, der sich bei jedem Atemzug hob und wieder senkte. Ein zufriedener Laut verließ Reis Kehle, der Kais Gedanken außer Kontrolle wild kreisen ließ, und ihm blieb nicht verborgen, dass sich der Körper über ihm erhitzte. Er zog einen Arm zurück und grub die Hand in die blaugrauen Haare. Die andere glitt über das Leder, das seinen Rücken bedeckte, nach oben und fand ihren Platz auf der Schulter. Mit sanfter Gewalt schob er den Russen etwas von sich weg und drückte das Kreuz durch, um ihn ansehen zu können. Seine Augenbrauen waren nach innen gezogen. „An was denkst du gerade?“, fragte er leiser mit rauer Stimme. „Wieso meinst du? An was sollte ich denken?“, entgegnete Kai ruhig. Zu ruhig. Denn er unterdrückte sämtliche Gefühle, die gerade im Begriff waren, in ihm aufzukeimen, mit ganzer Kraft und blickte ihn ernst an. „Weil du“, keuchte Rei und zog die Brauen hoch, „weil du so heiß bist.“ Seine Augen glänzten vor Hitze und die Wangen waren leicht gerötet. Kais Blick veränderte sich. Das Gesicht nahm einen beinahe leidenden Ausdruck an und er grub die Finger in den Stoff des Hemdes, das er noch immer festhielt. „Rei“, hauchte er und rückte den Kopf etwas noch vorne, kam dem Gesicht gegenüber gefährlich nahe. Plötzlich legte sich eine Hand quer auf seinen Mund und drückte ihn weg. Rei sträubte sich widerwillig. „Kai! Was ist los mit dir? Geh runter, das reicht.“ Er setzte sich auf und schob den Russen zur Seite, um aufstehen zu können. Hastig knöpfte er seine Jacke zu und zog Kapuze und Kragen tief ins Gesicht. Sein Herz klopfte wie wild. Verwirrt pustete er eine Haarsträhne weg, die an seiner Wange klebte, und stapfte davon, den hüpfenden kleinen Pinguin glatt übersehend. Von dieser Ignoranz beleidigt, wandte dieser sich Kai zu und hopste an seinem Bein hoch, doch auch er beachtete ihn nicht, sondern stand einfach nur da und starrte vor sich hin. Er fragte sich, wie es gerade geschehen konnte, dass er die Kontrolle verloren hatte. Wäre Rei nicht rechtzeitig dazwischen, Kai hätte ihn geküsst. Das war nicht gut. Er durfte die Kontrolle nicht noch einmal verlieren. Von jetzt an würde er sich vom Chinesen fern halten. Auch wenn dieser noch so anziehend auf ihn wirkte. Sobald ihre Antarktis-Mission vorbei war, würde er ihm nicht mehr zu nahe kommen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein Blick bohrte sich in seinen Rücken. Er drehte sich um, doch außer den herumstehenden und schnatternden Pinguinen war da niemand. Und doch fühlte er eine Anwesenheit ganz in seiner Nähe, eine starke Aura, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Unsicher machte er einen Schritt in diese Richtung. Er überlegte angestrengt, ob das eine gute Idee war, bevor er jedoch einen weiteren Schritt machte. Irgendwie schien es ihn dorthin zu ziehen. Einige weitere Schritte folgten, er blieb dann aber abrupt stehen und sah sich um. Rei und Byakko waren nicht zu sehen und er war umzingelt von Pinguinen und wusste nicht, wo er war und wohin er ging. Er spürte nur diese mächtige Aura, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Nicht, dass er etwas so Starkes jemals gefühlt hatte, aber es war ihm so vertraut, als wäre er nach der Geburt davon getrennt worden. Oder als hätte er etwas aus einem früheren Leben wiedergefunden. Er wurde förmlich dorthin gezogen. Neugierig schritt er weiter und je näher er dieser merkwürdigen Anwesenheit kam, desto mehr erhitzte sich seine Haut. Auch wenn er wollte, er könnte es nicht verhindern, sein Körper hatte sich selbstständig gemacht. Konzentration oder Kontrolle des Atems hätten es nicht verhindert. Plötzlich stellte sich ein Pinguin in seinen Weg. Aufgeregt schnatterte er den Russen an und wollte ihn partout nicht vorbei lassen. Immer wieder stach er mit dem Schnabel auf ihn zu und plusterte sich vor ihm auf. „Blödes Viech, geh weg“, fluchte Kai genervt und versuchte, das Tier zu verscheuchen. Wütend ging es auf ihn los, schnappte nach ihm und kreischte. Erschrocken hob er die Arme und hielt sie schützend vor sich. Der Pinguin biss in seinen Arm, erwischte allerdings hauptsächlich Leder. Ein Glück hatte er die Jacke anbehalten, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Doch das war zu viel. Angesäuert schrie Kai das Tier an, das zusammenzuckte und etwas überrumpelt für einen Moment verstummte. Doch nur einen Augenblick, dann schnatterte es aggressiv zurück. „Hau endlich ab!“ Hastig versuchte er, an ihm vorbeizukommen, doch es rammte ihn. Strauchelnd machte er einen großen Ausfallschritt zur Seite. Dabei konnte er einen Blick an ihm vorbei erhaschen und bemerkte, dass hinter dem Pinguin noch andere standen, die offenbar etwas in ihrer Runde bewachten. Kai baute sich vor ihm auf und funkelte ihn böse an. „Verzieh dich“, knurrte er. „Wie wäre es, wenn du ihn bitten würdest?“ Überrascht drehte er sich auf dem Absatz um, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort stand Rei in einigem Abstand mit verschränkten Armen und hatte das Spektakel mit angesehen. „Pinguine sind äußerst stolze Tiere, es kann nicht schaden, ihnen mit Respekt zu begegnen. Außerdem passen sie sehr gut auf ihren Besitz auf. Schließlich kommt es häufig vor, dass sie sich gegenseitig die Eier klauen.“ Eingeschnappt wandte sich der Krieger wieder dem Pinguin zu. „Lässt du mich bitte durch?“, fragte er gepresst freundlich und neigte den Oberkörper leicht nach vorne. Der Pinguin klapperte kurz mit seinem Schnabel und beäugte ihn kritisch, drehte sich dann aber um und watschelte zurück in den Kreis seiner Artgenossen. „Das gibt es doch einfach nicht“, murmelte Kai frustriert vor sich hin und trat näher an den Ring, um einen Blick zwischen den Pinguinen hindurch auf deren Mitte zu erhaschen. „Da liegt ein Ei!“, stellte er fest. „Unmöglich, die Brutzeit ist schon lange vorbei!“ „Nein, nein, kein normales Ei. Es ist seltsam“, winkte er ab, „es scheint mich irgendwie zu rufen“, ergänzte er zögerlich flüsternd. Rei kam argwöhnisch näher und warf ebenfalls einen Blick hindurch. Stirn runzelnd sah er Kai an. „Dein Wächtertier soll ein Pinguin sein?“ „Was? Niemals!“, protestierte der Russe lauthals, das konnte doch nicht sein Ernst sein, „mein Wächtertier ist doch nicht so plump und nervig!“ Geschockt hatte er sich in etwas hineingesteigert, während er sich weigerte zu glauben, dass diese Behauptung der Wahrheit entsprechen sollte. Dabei bemerkte er nicht, wie Rei krampfhaft versuchte, einen Lachanfall zu unterdrücken. Er schaffte es nicht und prustete los. „Kai, vergiss es“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, „überleg doch mal, dein Wächtertier ist ein Feuertier und ein Pinguin ist meines Wissens nach kein Tier dieses Elements.“ Mit großen Augen starrte Kai ihn an. „Du hast Recht! Na was für ein Glück“, seufzte er erleichtert. Sich entschuldigend und verbeugend drängelte er sich zwischen den Pinguinen durch. Vor seinen Füßen lag das Ei, gebettet in ein Nest aus Federn und Algen. Es war schwarz. Die Oberfläche war matt und hatte unzählige winzig kleine Löcher. Genau wie der Lavastein, den er von Rei geschenkt bekommen hatte. Er ging in die Knie und hockte sich neben das Ei. Eine Spannung ging von ihm aus, die Luft um es herum schien zu vibrieren. Vorsichtig streckte er die Hände aus und hielt sie in wenigem Abstand darüber. Es kribbelte in seinen Fingern und Hitze breitete sich aus, zog sich die Arme hoch in den Rest seines Körpers. Tief zog er die Luft in seine Lungen, seine Nasenflügel bebten, dann legte er die Hände auf die mattschwarze Oberfläche. Ein markerschütternder hoher Schrei zerriss plötzlich und gänzlich unerwartet die Luft, drohte, Kais Trommelfelle zu zerreißen und seinen Kopf zum Platzen zu bringen. Erschrocken weiteten sich seine Augen, sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Rei, der hinter ihm stand, zog scharf die Luft ein, um dann den Atem anzuhalten. Das Ei hatte unter Kais Berührung angefangen zu glühen und verfiel zu Asche. Entsetzt zog er seine Hände schnellstmöglich zurück, doch es war bereits zu spät, die Glut dehnte sich unaufhörlich weiter aus, brachte das Ei zum Bröckeln, bis davon nur noch ein Häufchen schwarzgrauer Asche übrig blieb. Kai schluckte schwer und starrte ungläubig auf den schwarzen Staub vor seinen Knien. Er konnte nicht fassen, was da gerade geschehen war. Da war er sich doch so sicher gewesen, dass in diesem Ei sein Wächtertier gesteckt hatte und jetzt war es pulverisiert. Er konnte es nicht fassen. Unsicher blickte er zu Rei hoch, der zögerlich neben ihn trat. „Rei? Was ist da gerade passiert?“ Seine Stimme zitterte und er musste sich stark zusammenreißen, dass sie nicht versagte. Der Chinese schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Entmutigt sackte Kai zusammen und schlug mit den Fäusten in den Schnee. „Verdammt“, presste er zwischen den Zähnen durch und versuchte, nicht wütend aufzuschreien. Eine Hand legte sich auf seine bebende Schulter und strich beruhigend darüber. „Kai“, setzte er an, doch dieser schüttelte nur den Kopf und erhob sich hastig vom Boden, drehte sich um. „Nein. Vergiss es. Es sieht ganz so aus, als würde ich kein Wächtertier besitzen. Gehen wir, dir ist bestimmt kalt.“ geknickt, aber mit straffen Schultern verließ er den Kreis aus Pinguinen, die ohne Umschweife zurückwichen und ihn durchließen. Skeptisch einen letzten Blick auf das Aschehäufchen werfend, folgte Rei dem Russen. Er seufzte und holte ihn dann mit raschen Schritten ein. Die Pinguine starrten ihnen nach und begannen dann, wild durcheinander zu schnattern. Sie veranstalteten einen Lärm, der sie die Hände auf die Ohren halten ließ und die anderen Tiere ebenfalls dazu trieb, lauthals mit Schnabelklappern anzufangen. Mit ihren Flossen in der Luft herumfuchtelnd watschelten sie auf die beiden zu und versperrten ihnen den Weg. Sie streckten die Brust raus und bauten sich vor ihnen auf. Rei versuchte sich bittend an ihnen vorbeizudrängen, doch sie rammten ihn, sodass er auf den Boden fiel und erschrocken nach oben blickte. Die Pinguine stapften weiter auf ihn zu und er krabbelte auf seinem Hintern zurück, erhob sich strauchelnd. Auch als er in Kampfposition ging, machten sie keine Anstalten, stehen zu bleiben. Kreischend drängten sie die beiden immer weiter zurück, bis sie wieder im Kreis standen, der jetzt allerdings um einiges größer war als vorhin. Kai drehte sich um. Sein Blick wanderte zum Aschehäufchen und blieb daran haften. Argwöhnisch zog er die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Die Hitze, die vorhin in ihm aufgestiegen war, brannte noch immer in seiner Brust. Und die Anziehungskraft zog ihn ebenfalls noch immer in die Richtung des Nestes. Er streckte den Arm aus, um Rei daran zu hindern weiterzugehen, und machte dann langsam einen Schritt nach dem andern darauf zu. Eine noch stärkere Welle der Hitze durchströmte seinen Körper. Seine Augen loderten feuerrot auf und funkelten gefährlich. Vor der schwarzen Asche ließ er sich auf die Knie sinken und beugte sich über das Häufchen. Irgendetwas war ihm vorhin aufgefallen. Etwas hatte sich bewegt. Er hob eine Hand und streckte sie darüber aus. Vorsichtig ließ er zwei Finger sinken und berührte den noch immer heißen schwarzen Staub. Plötzlich ertönte ein hoher Schrei und eine Feuersäule vom Durchmesser des Nestes schoss in den Himmel, deren Wucht Kai nach hinten schleuderte und ihn schmerzhaft auf dem Hintern landen ließ. Überrascht starrte er mit offenem Mund in die Unendlichkeit des Himmels, wo die brennende Säule sich verlor. Sein Herz raste und hallte in seinen Ohren wider. Die Feuersäule wurde breiter, löste sich vom Boden und zog sich viele Meter über ihm zu einer gigantischen Feuerkugel zusammen. Sein Herz schlug lauter, übertönte beinahe das Geschnatter um ihn herum. Ein erneuter Schrei, der aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien, ließ ihn die Luft aus der Lunge pressen. Er konnte den Blick nicht von der Feuerkugel wenden, er war unfähig zu blinzeln und seine Augen brannten. Die Schläge seines Herzens wurden langsamer, lauter und alles um ihn herum verstummte. Nur etwas anderes war noch zu hören. Ein schnelles Trommeln, das langsamer wurde. Langsamer und ebenfalls lauter, es hallte in deinem Kopf wider, bis es im Gleichklang mit seinem Herz schlug. Ein letzter, lauter gemeinsamer Herzschlag, dann war es still. Der Feuerball explodierte. Rei schlug die Arme vor das Gesicht, um sich vor Verbrennungen im Gesicht zu schützen. Kai verschwand gänzlich im lodernden Feuer. Die Zeit schien für ihn still zu stehen. Er war eingehüllt in Hitze und Feuer und starrte reglos auf den Punkt, wo sich vorhin noch das Zentrum der Feuerkugel befand. Jetzt schwebte dort ein Tier. Es leuchtete rot und stand in Flammen, die langsam abklangen. Ein hoher Schrei verließ den spitzen, gekrümmten Schnabel. Stolz breiteten sich die Schwingen aus. Die geschlitzten Augen blitzten. Mit einer Würde, eines Königs gleich, sankt der Phönix auf ihn zu und blieb vor ihm auf Augenhöhe schweben. Den Atem anhaltend streckte Kai eine Hand aus und legte sie auf die warmen roten Federn an seinem Hals. „Suzaku“, flüsterte er und eine kleine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel. Kapitel 13: Zweites Buch: Ein Schwert zerbricht ----------------------------------------------- Viele Tage, sogar Wochen zogen durch die Lande, seit Kai nach einigen haarsträubenden Abenteuern endlich sein Wächtertier in Antarktika gefunden hatte. Die Wälder rund um den kleinen Bergsee hatten sich in sämtliche Töne von dunklem Bordeaux über kräftig leuchtende Rot- und Orangeschattierungen bis hin zu zart schimmerndem Gold verfärbt, das hin und wieder vom dunklen Grün der Tannen unterbrochen wurde. Sanft ließ die Sonne ihre Strahlen über das Gebirge streicheln und nur selten durchzogen dichte Dunstnebel die morgendlichen Wälder. Azurblau schimmerte der Herbstenzian auf den Wiesen und bildete mit einigen anderen zarten Blütenblättern weit ausgedehnte bunte Blumenteppiche. Dank Suzaku hatte Kai große Fortschritte in der Kontrolle seiner Fähigkeiten gemacht. Er war nun auch ohne den Lavastein in der Lage, unvorhergesehene oder emotionell bedingte Hitzeausbrüche zu unterdrücken, doch trotzdem trug er den schwarzen Stein weiterhin um seinen Hals. Infolge dessen lernte er mit der Beherrschung seiner Kräfte, auch sich selbst und seine ständig aufkeimenden Gefühle in den Griff zu bekommen. Und mit Reis Hilfe wurde er durch tägliche Meditationsübungen nicht nur zu einer vollkommen ruhigen und ausgeglichenen Person, sondern er lernte auch neue Techniken im Schwertkampf. Wie sich herausstellte war Rei zwar begabt im Umgang mit der Waffe, doch es dauerte nicht lange, da wurde er von dem Russen bereits überwältigt. Denn seine Kampftechnik blieb weiterhin der waffenlose Kampfsport, der weitaus weniger aggressiv war und Schaden anrichtete. Mit kleinen fließenden Bewegungen gelang es ihm immer wieder, seinem Angreifer auszuweichen und ihn mit minimalen Handbewegungen außer Gefecht zu setzen. Doch nie sah Kai, wie der Heiler seine eigenen Wächterkräfte einsetzte. Es war ein kühler Spätherbstmorgen, als Rei ihn erneut zu einem Kampf aufforderte. Während Kai sein Schwert in den Händen hielt, war der Chinese nur mit einem simplen langen Holzstab bewaffnet. Tief ging er in die Knie, den Stab mit nach hinten ausgestrecktem Arm in der Mitte festhaltend und wartete, dass Kai angriff. Er ließ nicht lange auf sich warten. Mit rasender Geschwindigkeit näherte sich die Klinge seinem Gesicht und erst im letzten Moment wich er mit einer grazilen Bewegung aus, rammte den hölzernen Stab in den Boden und stieß sich daran ab. Kai hatte sich gerade umgedreht und bemerkte mit großen Augen den Fuß, der nur eine Fingerbreite vor seiner Nase stoppte. Mit der freien Hand schob er das Bein zur Seite und blickte direkt in Reis grinsendes Gesicht. Schwungvoll stieß er ihn am Fuß zurück und stürzte sich erneut auf ihn. Etwas notbedürftig wurde sein Schwerthieb mit dem Stab geblockt, hinterließ eine tiefe Kerbe im Holz. Es knackte gefährlich. Rei atmete tief ein. Es kribbelte in seinen Fingern. Feine, für das menschliche Auge kaum sichtbare Funken sprangen auf das Holz über. Rei spannte jede Faser seines Körpers an und holte aus. Mit dem Schwung einer ganzen Körperdrehung krachte Holz auf Metall und mit einem lauten Klirren zerbarst die eiserne Klinge. In der Sonne aufblitzend flogen die Splitter durch die Luft und verschwanden zwischen Grashalmen. Regungslos stand Kai an Ort und Stelle und starrte ungläubig auf das zerbrochene Schwert in seinen Händen. Ihm gegenüber stand Rei, still beobachtete er jede kleinste Regung, die von ihm ausging. „Das war eines der besten Schwerter, die es gibt“, flüsterte er heiser. Seine grauen Strähnen verdeckten die Augen. Doch die Lippen waren aufeinander gepresst und hatten ihre zartrosa Farbe verloren. Verbittert ließ er die Hand sinken, die den abgegriffenen Griff umklammerte. Jahrelang hatte ihn dieses Schwert in Schlachten und zahlreiche Kämpfe begleitet und ihm treue Dienste erwiesen. Nun war es zerstört, unbrauchbar. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, eine andere um seine Finger, deren Knöchel weiß hervorstanden. „Kai, in der Welt, in der du jetzt lebst, hätte dieses Schwert den magischen Kräften nicht lange standgehalten. Es tut mir leid, aber es war nicht gut genug.“ Niedergeschmettert ließ er die Hand sinken und schaute Rei an, die honigbraunen Augen glitzerten ihn entschuldigend an. „Was soll ich denn machen ohne Waffe? Ich hatte nur dieses eine Langschwert“, entgegnete Kai enttäuscht und etwas wütend zugleich. Dass er ein so gutes Schwert durch einen solch einfachen Schlag eines simplen Holzstabes verlor, schmerzte ihn. Gleichgültig, wie viel Magie dahinter gesteckt haben mochte. Reis Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Seine Augen begannen zu leuchten und er rüttelte den Russen leicht an der Schulter. „Wir besorgen dir ein neues Schwert“, sagte er enthusiastisch. Kai sah in skeptisch an. „Rei, in gutes Langschwert kann man nicht einfach so besorgen. Viele, die sich Schmiede nennen, taugen nur wenig und wenn es ein guter Schmied ist und der auch ein gutes, reines und hartes Metall verarbeiten kann, dann ist ein solches Schwert unbezahlbar“, belehrte er den Heiler und seufzte resigniert. „Wir brechen auf.“ Diese Worte ließen keine Widerrede zu. Rei drehte sich um und lief mit festen Schritten zurück zum Tempel. Etwas überfordert stöhne Kai auf und sprintete schließlich hinterher. „Könntest du mich mal über deine Pläne aufklären? Es ist schwer dir zu folgen, wenn man nicht weiß, was du willst.“ Planlos stand Kai mitten in Reis Gemach und sah diesem zu, wie er in einem Schrank wühlte und hin und wieder etwas hervorzog und begutachtete, bevor er es wieder zurück steckte oder dem Russen in die Hand drückte. „Zieh das an.“ Ohne ihn anzuschauen, hielt er ihm eine lange Hose aus dickem dunkelbraunem Stoff und ein Hemd, einige Nuancen heller und mit Kapuze, unter die Nase. Kai fragte nicht wieso. Er hatte gelernt, nichts von dem, was der Chinese ihm sagte oder auftrug, in Frage zu stellen. Also tat er wie geheißen und begann, sich umzuziehen, während Rei weiterhin in den Fächern des Schrankes wühlte. Schließlich fand er, wonach er suchte, und stellte zwei Paar kniehohe Stiefel auf den Boden. Aus einem anderen Fach holte er noch zwei Lederwesten, die mit Fell gefüttert waren und warf sie Kai zu. Rasch zog er sich selbst ebenfalls um, schlüpfte dann in die ledernen Stiefel, und warf eine Weste über. Kai tat es ihm schweigend gleich. Die Kleidung erinnerte ihn sehr an die Tracht, die sie in der Antarktis getragen hatten, einfach nicht ganz für solch extreme Temperaturen. Er wartete noch immer auf eine Antwort und er fühlte sich wieder einige Wochen zurückversetzt. Der Heiler benahm sich genau so still und geheimnisvoll wie zu der Zeit, als sie sich kennen gelernt hatten. Er sprach zwar nicht mehr so sehr in Rätseln, aber er verriet ihm auch nicht, was er eigentlich im Sinn hatte. Allerdings würde er sich das nicht mehr gefallen lassen. Er packte Rei an der Schulter und drehte ihn zu sich um, damit er ihn direkt ansehen musste. Überrascht blickte er den Russen mit großen Augen an. „Wohin und zu wem gehen wir, Rei?“, fragte er klar und deutlich und beharrte darauf, eine Antwort zu bekommen. „Zu einem Schmied in den Bergen“, entgegnete er kurz angebunden und machte sich aus Kais Griff los, „nun komm, holen wir noch etwas Proviant, dann brechen wir auf. Suzaku und Byakko kommen natürlich mit.“ Ein Seufzer verließ seine Kehle. Solch eine Antwort war typisch für den jungen Chinesen, da half all sein Hoffen auf eine ausführliche Erklärung nichts. Doch dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass er nach dieser Zeit mit Rei, wieder einmal einen anderen Menschen sehen würde. Diese Vorstellung mutete ihm merkwürdig zu. Er hatte sich dermaßen an das zweisame Leben mit dem Chinesen gewöhnt, dass er beinahe vergessen hatte, dass es noch andere Menschen gab. Und er wusste nicht recht, ob er sich freuen sollte, oder ob er dies eher als eine Störung betrachtete. Voller Elan machte sich Rei mit Kai und ihren beiden Wächtertieren im Schlepptau auf den Weg. Suzaku und Byakko verstanden sich prächtig. Hatten sie sich anfangs noch zögerlich beschnuppert und waren sich aus dem Weg gegangen, so neckten sie sich mittlerweile gegenseitig und bildeten ein starkes Team. Denn auch sie hatten die vergangenen Wochen genutzt, um ihre Fähigkeiten zu verbessern und sich zu stärken. Dies war von großer Bedeutung, wollten sie ihren Wächterpartnern beim Kampf schließlich keine Behinderung sein. Mitten auf dem Weg blieb Rei abrupt stehen und Kai, der nicht auf ihn geachtet hatte, lief beinahe in ihn hinein. Halb drehte er sich zu ihm um und blickte ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck an, als würde er etwas abwägen. Die Augenbrauen waren tief nach unten gezogen und er biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab vergessen dir etwas Wichtiges zu sagen“, stellte er fest. Kai war versucht, mit den Augen zu rollen, doch er unterließ es und wartete stattdessen. „Wir reisen wieder durch das Labyrinth von Raum und Zeit. Aber“, sprach er und drehte sich ganz zu ihm um, „weißt du eigentlich, warum das so heißt?“ Ein Schulterzucken. „Ich dachte, vielleicht weil es in einer anderen Zeitdimension existiert?“, vermutete Kai. „Das stimmt teilweise. Aber darum geht es nicht. Dank dieses Labyrinths können wir nicht nur durch den Raum reisen, sondern auch durch die Zeit.“ Kais Augen weiteten sich und in seinem Bauch kribbelte es. Er hatte nämlich so eine Ahnung, was das genau bedeuten sollte. „Du meinst, wir können einfach in eine beliebige Zeit springen?“ „Genau! Wie denkst du denn, habe ich dich gefunden? Wächter sind nicht nur räumlich voneinander getrennt, sondern auch in sämtliche Zeitalter verstreut. Bevor ich wusste, in welchem Land ich dich finden würde, musste ich herausfinden, in welcher Zeit du lebst. Deshalb ist es auch so schwierig, einen Wächter zu finden. Und wir machen jetzt auch eine kleine Zeitreise von ungefähr vierhundert Jahren.“ Kais Kinnlade sackte nach unten und ein heftig ausgeblasener Luftstoß verließ seine Kehle. „Vierhundert Jahre?“ Er musste nochmals nachfragen, das konnte er schlicht nicht glauben. Doch Rei nickte. „So viel“, nuschelte der Russe und blickte auf seine Hände. „Es geht noch viel mehr. Theoretisch können wir mehrere hunderttausend Jahre durch die Zeit reisen. Allerdings ist das nicht ganz ungefährlich. Der Reisende könnte die Realität aus den Augen verlieren, oder versuchen, etwas an der Vergangenheit zu ändern. Das kann schlimme Folgen haben. Doch alleine schon mit einem Realitätsverlust ist nicht zu spaßen. Der Reisende verliert einen Teil seiner Identität, er kann vergessen, von wo er ursprünglich kam, oder sogar, wer er ist.“ Mit kreisenden Bewegungen massierte Kai sich die Schläfen und versuchte, sich das alles vorzustellen. Es war unmöglich. Seine Gedanken verhakten sich und zurück blieb nur ein stechender Schmerz. „Alles in Ordnung?“, fragte Rei etwas besorgt. Dass das Kopfnicken, das er als Antwort erhielt, nicht stimmte, war ihm sehr wohl bewusst. Er wusste noch genau, wie er auf diese Information reagiert hatte. Damals hatte er laut losgelacht, weil er dachte, es sei ein Witz und der andere wollte ihn veräppeln. Als ihm aber versichert wurde, dass dies der volle Ernst sei, saß er lange einfach nur da und starrte in die Leere. „Rei?“ Kais Stimme war nur ein unsicheres Flüstern und sein Blick hatte sich irgendwo weit hinter dem Heiler verloren. Seine Augen waren glasig und er blickte durch ihn durch. „Ja?“ Er wartete geduldig, bis der Russe sich etwas fassen konnte und sich räusperte. Er sah ihn nun an. Sein Gesicht war angespannt und die Züge argwöhnisch verzogen. „Sag mal“, fing er an, wusste dann aber nicht, wie er weiterfahren sollte. Er haderte. „Lass dir Zeit“, sprach Rei ruhig und drehte sich um, wollte weiter seinen Weg schreiten. Eine Hand hielt ihn fest. Er blickte fragend auf. „Warte, Rei.“ Kais Gesichtszüge hatten sich wieder gefestigt und er zog die Luft tief in die Lungen. „Ich kann es zwar nicht so richtig glauben, aber aus welcher Zeit kommst du?“ Reis Blick verdüsterte sich, seine ansonsten entspannten Gesichtszüge wurden hart. In seinen leuchtenden Augen lag Schwermut und Trauer und ein matter Glanz legte sich über die hellen Iriden. Seine Lippen waren aufeinander gepresst, so dass sämtliches Blut aus ihnen wich. Er senkte den Kopf und versuchte, sich unter Kais Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, wegzudrehen. Doch der Griff verstärkte sich und zwang ihn, ihm gegenüber stehen zu bleiben. Er schüttelte leicht sein Haupt und einige seiner schwarzen Haarsträhnen schwangen hin und her. „Ich weiß es nicht mehr.“ Das Schütteln wurde heftiger. „Ich habe es vergessen“, flüsterte er. Fest drückte er die Augen zusammen und mit einem Ruck befreite er sich aus der Umklammerung. „Ich weiß nicht mehr, welcher Zeit ich entstamme“, sprach er mit rauer Stimme und mit dem Rücken zu Kai gewandt, „ich bin so oft durch die verschiedensten Zeitalter gereist, dass ich vergessen habe, meinen Ursprung zu wahren. Ich bin zu einem Zeitlosen geworden. Einer, der lebt, in der Zeit vor und zurück springt, ohne die Regeln der Zeit einzuhalten.“ Ein letzter schwermütiger Blick direkt in die blutroten Augen, die ihm Halt gaben, dann drehte er sich wortlos um und folgte dem kleinen Pfad durch den Wald, dessen Bäume Blätter im Wind rauschten und golden schimmerten. Kapitel 14: Der Schmied ----------------------- Um 10 v. Chr. Knöcheltief stand Kai im Schnee. Rei war nur einige Schritte voraus und wartete auf ihn. Hinter ihm erhob sich stolz ein weißer Berggipfel. Verdrossen ließ Kai seinen Blick zum höchsten Punkt gleiten, um dann Rei zu fixieren, der ihn geduldig beobachtete. Ein leichtes Schmunzeln hatte sich auf seine Lippen gelegt. Es war der Blick, mit dem er den Russen schon oft bedacht hatte. Wissend, sanftmütig, geheimnisvoll und höchst amüsiert. Kai fühlte sich gleich wieder naiv und wie ein Kind, das schmollte und bockig darauf wartete, an der Hand genommen zu werden. Er grummelte und machte doch keine Anstalten, auch nur einen Schritt zu tun. Seufzend fuhr er sich durch die Haare. „Das ist nicht dein Ernst. Du strapazierst mich bis auf die Knochen.“ Reis Lächeln wurde breiter. „Beschwer dich nicht zu viel, sei froh befindet sich der Ausgang des Labyrinths nicht noch weiter unten. Außerdem bleibst du so fit, mein Lieber.“ Er hatte Recht. Die Höhle befand sich zwischen den beiden Berggipfeln, nicht am Fuße des Berges. „Das wäre ja noch schöner gewesen. Und was soll das heißen, so bleibe ich fit? Mit dir geht das gar nicht anders! Nicht, dass ich das nötig hätte. Wo sind wir überhaupt?“, murrte Kai weiter und trat etwas widerwillig neben Rei, der ihn schief anblickte. „Und ob du das nötig hast. Sonst kannst du es niemals mit mir aufnehmen.“ Provokativ grinste er Kai ins Gesicht. Empört stemmte dieser die Hände in die Seiten und schob den Kopf nach vorne, um Rei böse in die Augen zu funkeln. „Denkst du? Na warte“, sagte er mit bedrohlich leiser Stimme und ließ seine Arme zuschnappen. Rei duckte sich, bevor Kais Arme ihn umschlingen konnten, und hechtete zur Seite. Einige Schritte entfernt drehte er sich um und streckte ihm die Zunge raus. Mit einem beachtlichen Kriegsgebrüll stürmte Kai auf ihn zu, worauf er lachend losrannte. Es war ein Wettrennen unvergleichlicher Art. Während Rei beinahe leichtfüßig von Stein zu Stein hüpfte, stieß Kai sich kraftvoll im Schnee ab. Doch er schaffte es nicht annähernd, den Chinesen aufzuholen. Der Abstand wurde immer größer. Byakko war freudig an ihnen vorbeigerast, gefolgt von der dicht über ihm fliegenden Suzaku. Sie lieferten sich ihren eigenen kleinen Wettkampf. Langsam näherten sie sich dem Gipfel. Rei wurde langsamer, verfiel in Schritttempo und stoppte schließlich. Kai holte in ein und stützte sich schwer schnaufend auf den Knien auf. „Du Kampfsau“, stieß Rei zwischen zwei Atemzügen hervor. Auch er war außer Atem, doch hatte er eine sichtlich bessere Kondition als der Russe, der ihn von unten anlinste. Ein Schweißtropfen rann seine Schläfe hinunter. „Was ist denn mit dir? Du spinnst doch total.“ Kopfschüttelnd blickte er zurück. Der Weg, den sie zurückgelegt hatten war steil und mit Schnee bedeckt. Keine einfache Strecke für ein Wettrennen. Er war immer davon überzeugt, körperlich einer der Stärksten Männer zu sein. Und Rei schien ihm nicht nur geistig überlegen, sondern teilweise auch physisch. Er bewunderte ihn dafür. Es gab nicht viele, die es je mit ihm aufgenommen hatten und nur einmal hatte ihn jemand überlisten können. Trotzdem war er sich sicher, dass er alleine von der Muskelkraft stärker war als Rei. Das beruhigte ihn ein bisschen. Er richtete sich wieder auf und stieß die Luft aus seiner Lunge. „Also, wo sind wir denn nun eigentlich?“, kam er auf seine Frage zurück. Rei räusperte sich und schaute an Kai vorbei, um den Ausblick genießen zu können. Es war atemberaubend. Viele kleine weiß bepuderte Bergspitzen ragten in die Höhe, umhüllt von dunstigen Wölkchen. Dies lag weit unter ihnen. „Wir sind im Kaukasus-Gebirge. Genauer gesagt auf dem Elburs. Er ist der höchste Berg weit und breit. Ich zeige es dir auf der Karte, wenn wir zurück im Tempel sind. Der Elburs ist ein Vulkan und hin und wieder noch aktiv. Siehst du die abgebrochene Spitze? Das ist der Krater, wo er das Lava ausspuckt.“ „Und dein Schmied lebt hier?“ Rei nickte und zeigte mit der Hand auf einen dunklen Fleck über ihnen, der offensichtlich eine Höhle war. Die Höhle befand sich nicht weit vom Krater entfernt. Gemächlich legten sie die letzten Schritte durch den knöcheltiefen Schnee zurück. Sie waren noch immer etwas außer Atem von ihrem kleinen Wettlauf, außerdem machte ihnen die dünne Luft zu schaffen. Besonders Kai, hatte er diesbezüglich im Gegensatz zum Chinesen noch keinerlei Erfahrungen gemacht. Rei schien das nicht viel auszumachen. Munter erzählte er dem Russen des Schmieds Lebensgeschichte. „Er lebt seit Jahren alleine hier im Gebirge. Seine Eltern sind vom Nordosten nach Noricum gereist, um dort ein neues Leben anzufangen. Bereits sein Vater beherrschte das Kunstwerk des Schmiedens, er war es auch, der es ihm beibrachte. Noricum und seine Hauptstadt Virunum sind berühmt für ihre guten Waffen und sie waren seit etwa hundertfünfzig Jahren mit Rom befreundet und seither beliefern sie die Armee des römischen Reiches mit ihren Waffen. Natürlich musste sich auch sein Vater, wie er selbst sich beugen. Als er dann etwa sechzehn Jahre alt war, wurde Noricum zu einer Provinz des Römischen Reiches gemacht. Er war schon immer ein Sturkopf und sah nicht ein, warum er den Römern einfach so Waffen schmieden sollte, da er sie eigentlich nicht leiden konnte. Auch dass sein Land nun nur noch eine von vielen Provinzen war, konnte er nicht akzeptieren. Kurz darauf ist er gegangen. Ohne jegliche Unterstützung, reiste er den beschwerlichen Weg gen Osten und bestieg diesen Berg, nahm sich diese Höhle als sein neues Zuhause.“ Rei seufzte kurz, bevor er mit einer kaum hörbaren Trauer in der Stimme weiter sprach. „Das ist nun acht Jahre her. Er war neunzehn, als ich ihn endlich fand.“ „Du hast ihn gesucht?“, wollte Kai wissen. Ein Nicken und ein schiefes Lächeln bestätigten ihn in seiner Annahme. „Dann ist er auch ein Wächter?“ Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Sehr gut geschlussfolgert!“ Rei zwinkerte und sah Kai fröhlich an. Es freute ihn ungemein, dass der kühle Russe ihm zuhörte und es ihn auch interessierte, was er ihm erzählte. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er einige Schritte voraus und merkte nicht, wie Kai ihm mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck hinterher sah. Suzaku landete neben ihm auf dem Boden und raschelte mit ihren Flügeln. Verständnis spiegelte sich in ihren Perlenaugen. Kai hob eine Hand und legte sie an den gefederten Hals. Sanft ließ er seine Finger darüber gleiten und der Phönix schloss genüsslich die Augen. Zaghaft flüsterte er ihren Namen, worauf sie ihren schönen Kopf an seiner Schulter rieb. Er konnte nicht anders als zu lächeln. Mit einem kleinen Lacher brachte er etwas Abstand zwischen sie und folgte Rei. Rei ging langsamer, bis Kai ihn eingeholt hatte. Sie befanden sich nun direkt vor dem Höhleneingang. Lärm und Hitze schlug ihnen entgegen und Rei rief den Schmied beim Namen, worauf aber keine Reaktion folgte. Das ohrenbetäubende Dröhnen, das aus dem dunklen Schlund drang, war schlicht zu laut. Mit der Schulter zuckend betrat er die Höhle und bedeutete Kai, ihm zu folgen. Sofort stieg ihm ein wohlbekannter Geruch in die Nase. Er konnte beinahe das geschmolzene Eisen heraus riechen. Er mochte diesen Duft. Tief zog er die Luft durch die Nase ein, doch Ruß ließ ihn niesen und husten. Röchelnd hielt er die Hand vor den Mund. Einige Schläge von Rei auf den Rücken halfen ihm, wieder einigermaßen normal atmen zu können. Das laute Klingen von Eisen, das auf Eisen schlug, verstummte. Einen Augenblick war es still, außer des leisen Rauschens im Hintergrund, dann trat ein junger Mann mit breiten Schultern hinter einer Felswand hervor, die den Blick nach hinten verhinderte. Sein wahrhaft gestählter Körper glänzte vom Schweiß der Hitze und der Anstrengung und die Kleidung, sein Gesicht und die nackten Arme, sogar die kurzen Haare waren mit Ruß verschmutzt. Sein breiter Mund verzog sich zu einem erfreuten Grinsen, als er sah, wer ihn da besuchte und er breitete die Arme aus. Freudestrahlend lief Rei auf ihn zu, wurde in eine heftige Umarmung geschlossen und lachend erwiderte er den festen Griff. „Rei! Wie schön, dich endlich wieder zu sehen. Du warst schon lange nicht mehr da. Was hast du die ganze Zeit getrieben?“ Kai hielt sich abseits und beobachtete stillschweigend die Szenerie, musterte jede Bewegung des anderen Mannes. Missbilligend bemerkte er, dass seine Augen glänzten, wenn er den Chinesen ansah, und dass er ihn, obwohl sie sich nicht mehr in den Armen lagen, noch immer festhielt. Mit einem Räuspern trat er in den Bereich ihrer Aufmerksamkeit. Sofort schossen die buschigen Augenbrauen des Schmieds in die Höhe und er beäugte ihn genau von oben bis unten. Rei drehte sich um und löste somit endlich die großen Hände des Schmieds von sich. Dieser stand ihm nun direkt Gegenüber. „Ach, das ist also der Wächter, von dem du mir erzählt hast? Kein schlechter Fang“, bedachte der Schmied mit einem Grinsen, „dann hat der Stein etwas getaugt?“ Kai wurde hellhörig. „Allerdings! Er trägt ihn um den Hals und er wirkt wahre Wunder. Vielen Dank nochmals“, strahlte Rei und blickte Kai an, um sich eine Bestätigung einzuholen. Er nickte etwas mürrisch. „Er scheint nicht gerade ein geselliger Kamerad zu sein. Spricht er immer so wenig?“, fragte der Schmied an Rei gewandt. „Findest du?“, entgegnete Rei und lächelte“, wir verstehen uns eigentlich ganz gut. Ich denke, er ist nur ein bisschen fremdenscheu. Komm, ich stelle ihn dir vor.“ Er zog den Mann hinter sich her und platzierte ihn vor Kai, der leicht nach oben blicken musste, etwas, was er sich nicht gewohnt war. Der Schmied hob eine Hand und donnerte sie gegen Kais Schulter und beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Das Gesicht blickte ihn freundlich an und keine Spur von Misstrauen oder Geringschätzung war darin zu sehen. Die Augen funkelten ihn in einem klaren Stahlgrau treu an. Automatisch zogen sich Kais Mundwinkel nach außen. Er verließ sich prinzipiell auf seine Menschenkenntnisse. Und dieser Mann schien schwer in Ordnung zu sein. Nun hob auch er eine Hand und schlug sie gegen seine muskulöse Schulter. Rei strahlte. „Wie schön! Von Kai hab ich dir ja schon einiges erzählt“, sagte er an den Schmied gewannt, „und Kai, das hier ist der Schmied, der die besten Schwerter weit und breit durch die Zeit macht. Das ist Boris.“ Brav schüttelten sich die beiden Männer die Hände. Boris grinste verlegen. „Na, dann kommt doch rein in die gute Stube“, lud er seine beiden Besucher ein, ihm zu folgen. Ohne zu zögern lief Rei ihm hinterher durch einen Höhlenraum, in dem ein gigantischer schwarzer Ofen stand. Die Hitze, die er ausstrahlte, verteilte sich im ganzen Raum und Kai wurde nun klar, wieso der Schmied nur in einer Weste herumlief. Beim vorbeigehen riskierte Kai einen Blick durch die kleine Luke. Gelborange Stichflammen schossen in die Höhe und mitten im Feuerinferno hing ein massives Steingefäß, vom Ruß schwarz verfärbt und gefüllt mit flüssigem Metall. Im angrenzenden Raum war es wieder angenehm warm. Ein einfaches Lager zum Schlafen war außer einem Haufen Metallschrott das einzige, das ihn ausfüllte. Auf dem Boden lagen einige Decken, auf die Rei und Kai sich niederließen, während Boris in einem weiteren Raum verschwand, um etwas zu Trinken zu holen. „So, was führt euch zu mir, Rei?“, fragte er geschäftlich und drückte ihnen je einen Becher mit klarem Wasser in die Hand. „Wir brauchen ein neues Schwert für Kai“, antwortete Rei, „seines ist bei unserem letzten Training leider zerbrochen.“ „Zerbrochen ist gut. In tausend Stücke ist es zersplittert“, warf Kai mürrisch ein und starrte dem Schwert nachtrauernd auf sein Wasser, die Unterlippe ein wenig nach vorne geschoben. Rei lächelte entschuldigend und Boris blickte zwischen ihnen hin und her. Plötzlich brach in lautes Gelächter aus und klopfte Rei kräftig auf den Rücken. „Hast du etwa sein Schwert geschrottet?“ Beleidigt verschränkte Kai die Arme vor der Brust, während Rei sich verlegen am Kopf kratzte und Boris sich vor lauter Lachen den Bauch hielt. Tränen drängten sich in seine Augenwinkel. „Ich gratuliere, Rei, du hast es mal wieder geschafft“, gluckste er und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg. „Was soll das heißen, mal wieder?“, unterbrach Kai den Schmied und sah ernst zu Rei. Dieser schwieg. Stattdessen war es Boris, der antwortete, der die Belustigung nicht aus seiner Stimme verbannen konnte. „Rei hat schon viele Waffen geschrottet. Deshalb hab ich mit der Zeit ein Metallgemisch entwickelt, das so hart ist, dass es ihm mit der richtigen Verarbeitung und Stählung einigermaßen Stand hält. Es nennt sich Damast“, brüstete Boris sich in Eigenlob. Kai ließ die Augen nicht von Rei ab. Seine Brauen waren tief nach unten gezogen. „Wie kann ein Mensch einfach so ein Schwert zerstören?“, fragte er langsam und sah den Chinesen durchdringend an. Rei hob den Kopf und blickte in Kais blutrote Augen, die ihn ernst anfunkelten und presste die Lippen aufeinander. Boris legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Er hat Kräfte, Kai, wie du sie dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermagst.“ Boris’ Stimme klang rau und unheimlich. Und wieder einmal merkte Kai, dass er nichts über den Heiler wusste. Er war und blieb ein Geheimnis. Kapitel 15: Die Kraft einer Vorstellung --------------------------------------- Gedankenverloren stand Kai etwas abseits. Ideen und Vorstellungen durchfluteten seinen Schädel, seit Boris ihm angedeutet hatte, was für eine Macht Rei eigentlich besaß. Er war neugierig und doch wusste er, dass diese Kräfte von einer zerstörerischen Natur sein mussten, wenn er sogar ohne seine Fähigkeiten richtig einzusetzen Schwerter zersplittern konnte und Rei sie somit sicher nur im allergrößten Ausnahmezustand einsetzen würde. Frustriert schüttelte Kai den Kopf, als er daran zurückdachte, wie der Chinese sein geliebtes Schwert mit nichts Weiterem als einem Holzstab durchschlug. Dass sie nun hier bei Boris waren, Reis Meinung nach der beste Schmied überhaupt, machte es nur halb wett. Er würde ihm erst verzeihen, sobald er das neue Langschwert in den Händen hielt, das aus dem Metallgemisch entstehen sollte, das Boris mit gezielten Hammerschlägen in Form schlug. Er grummelte unverständliche Sätze vor sich hin. Kai beobachtete jede seiner Bewegungen und Rei stand am Eingang der Höhle und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Byakko und Suzaku waren verschwunden. Nur Boris’ Wächtertier, ein Falke, war anwesend und hockte auf einer dicken Eisenstange. Er putzte sich gerade das Gefieder. Plötzlich stöhnte Boris genervt auf. „Falborg, hilf mir mal“, sagte er grummelnd an den Falken gewandt. Elegant spreizte er darauf seine Schwingen. Mit kräftigen Flügelschlägen trieb er das Feuer im Ofen an. Der Schmied schob das Metallstück zurück in die Flammen. Ein erneutes Murmeln aus seiner Kehle verriet, dass er noch immer unzufrieden war. „Boris, stimmt etwas nicht?“, fragte Rei neugierig und trat an seine Seite. „Eigentlich ist alles in Ordnung, aber es dauert viel zu lange, bis es glüht. Das muss schneller gehen. Je schneller die Metallmischung erhitzt und wieder abgeschreckt wird, desto härter wird das Schwert. Und das braucht Kai. Aber mit der Methode geht das einfach nicht schnell genug“, erklärte der Schmied. Rei hatte ihm aufmerksam zugehört und schielte nun zu Kai. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Kai, komm doch mal her“, rief er ihn spitzbübisch zu sich. Argwöhnisch kam er näher. „Was gibt es denn?“, fragte er vorsichtshalber. „Es wird Zeit, deine Kräfte auf die Probe zu stellen“, grinste Rei ihn an, „komm, stell dich hierhin und halte die Hände kugelförmig zueinander, so, wie wir es angeschaut haben.“ Er erklärte Kai nochmals kurz, was er tun musste. Doch dieser war sichtlich nervös. Er kaute auf seiner Unterlippe und warf unsichere Blicke von Rei zu Boris und wieder zurück. „Rei, ich hab das noch nie gemacht. Bis jetzt habe ich nur gelernt, die Kräfte zu unterdrücken. Was muss ich denn tun?“ „Am besten“, er überlegte kurz, was er nun am besten sagen sollte, „du denkst einfach an das, was immer in deinem Kopf vorgeht, wenn du so heiß wirst.“ Sofort schoss Kai die Röte in die Wangen. Er fühlte sich ertappt. Und dabei waren es doch gerade diese Vorstellungen, die er in letzter Zeit aus seinem Kopf verbannen wollte. Nun holten sie ihn eine nach der anderen wieder ein. Hitze stieg in ihm hoch und vor seinem geistigen Auge sah er wieder diesen unwiderstehlichen Körper, der sich unter ihm räkelte und seinen Namen flüsterte. Seine Augen brannten. Er fühlte, wie Rei sich an seinem Hals zu schaffen machte und das dünne Lederband löste. Die hauchzarten Berührungen ließen ihn dabei fast den Verstand verlieren und als er seine Hände um seine Handgelenke spürte, die ihnen die Richtung wiesen und ihm ein Kribbeln durch den Körper jagten, war es endgültig um ihn geschehen. Er hatte das Gefühl, von innen heraus zu explodieren. Mit einem Mal wurden sämtliche angestauten Gefühle befreit und mit einer gewaltigen Stichflamme herausgelassen. Rei drehte den Kopf zur Seite, um nicht die volle Bandbreite der Hitze abzubekommen, doch Boris stand zu nah am Ofen. Verdutzt hob er eine seiner Pranken an das Gesicht und betastete die verkokelte Augenbraue. Kai starrte abwechslungsweise verblüfft auf seine Hände und auf den Ofen und Rei schlug ihm begeistert auf die Schulter. „Geht doch“, grinste er und Boris nickte hastig. „Mach weiter Kai, Falborg wird dir helfen, ein kleines Feuerinferno zu erzeugen. Rei, wärst du so nett und könntest mir eiskaltes Wasser holen?“ Kaum war alles bereit, hob Boris siegessicher die Faust in die Höhe. „Jetzt können wir anfangen!“ Nach vielen Stunden schweißtreibender Arbeit und unzähligen Hammerschlägen, ließen sie sich erschöpft auf dem Boden nieder. Nur einmal hatten Kai und Rei eine kurze Pause gemacht um etwas zu trinken und die vor Schweiß feuchten Hemden auszuziehen, doch Boris hatte ununterbrochen und ehrgeizig weiter gearbeitet, bis er das fast fertige Schwert in der Hand hielt. Alles was jetzt noch fehlte, war die Feinarbeit, doch dafür musste es zuerst noch erhärten und abkühlen. Draußen war es bereits stockdunkel und Boris streckte sich, um die verkrampften Muskeln etwas zu lockern. „Den Rest mache ich morgen. Jetzt brauche ich erst mal ein Bad. Auf zu den heißen Quellen, würde ich meinen“, sagte er zu den beiden gewandt, worauf er ein begeistertes Nicken erhielt. Das leicht sprudelnde heiße Wasser tat unglaublich gut. Ihre Glieder entspannten sich etwas und die müden Knochen erholten sich in der Schwerelosigkeit. Alle drei waren sie in Feierlaune und so kam es, dass sie nach dem Bad und trotz ihrer Erschöpfung nicht schlafen gingen. Boris stellte einen Laib Brot, viel getrocknetes Fleisch und eine Flasche Wodka auf den Tisch. Kai stierte mit Stielaugen auf die Flasche. Es war Monate her, seit er das letzte Mal Wodka auch nur gesehen hatte. Boris lachte herzhaft auf. „Da kommt wohl der Russe in dir hoch, was?“, gluckste er und reichte ihnen je einen großzügig gefüllten Becher, „hier, nimm auch einen, Rei!“ „Du weißt doch, dass ich Alkohol nicht besonders gut vertrage. Auch deinen guten Wodka, Boris“, wehrte er halbherzig ab. „Rei, nimm den Becher!“, forderte der Schmied und wurde tatkräftig von Kai unterstützt. „Ach, gib schon her“, grinste Rei und riss den Becher an sich. Die beiden Russen sahen sich an und brachen in Gelächter aus. „Weißt du, mein Lieber, diesbezüglich kannst du mir nichts vormachen. Ich kenn dich schon zu lange“, gluckste Boris und prostete ihm zu. „Dann weißt du aber auch, dass ich nicht viel vertrage“, keifte Rei und prostete zurück. Boris wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Keine Sorge, Kai hier wird sich um dich kümmern, wenn du unter dem Tisch liegst.“ Kräftig schlug er seinem neuen Kumpel auf den Rücken. Dieser nickte und nahm einen großen Schluck. „Was für ein Freund bist du nur“, grummelte Rei gespielt theatralisch und setzte dann amüsiert den Becher an seine Lippen. Der Alkohol floss. Das Brot und das Fleisch schwanden. Laut grölten ihre Stimmen durch die Höhle, singend und brabbelnd und Unsinn erzählend. Die Flasche war beinahe leer und obwohl Rei sich anfangs noch gewehrt hatte, trank auch er nicht weniger als seine härter gesottenen Kollegen. Angetrunken hatte er den Kopf auf seiner Hand aufgestützt und blickte mit glasigen Augen in die Runde, ein heiteres Grinsen auf den Lippen. Wie schon oft an diesem Abend knallten Kai und Boris ihre Becher aneinander und verfingen sich in Lobeshymnen über den jeweils anderen. „Auf Boris, den besten Schmied, den es auf der ganzen runden Welt gibt und jemals geben wird! Prost!“ Johlend schütteten sie sich den Wodka in den Rachen und sofort füllte Boris wieder auf. „Auf Kai, der es endlich geschafft hat, ein Flämmchen zu erzeugen. Prost!“ „Und natürlich auf unseren Rei“, hob Kai den Becher und versuchte, den Chinesen zu fokussieren, doch Boris unterbrach ihn, „der das alles über sich ergehen lässt.“ Reis Gegrinse wurde breiter und er hob ebenfalls den Becher. „Ja, auf mich, dass ich euch und das alles ertrage.“ Er leerte seinen Becher und erhob sich dann schwankend. Unsicher hielt er sich an der Tischkante fest und torkelte zwischen die beiden Russen, legte jeweils einen Arm um sie. „Ihr seid die Besten“ nuschelte er und lächelte sie nacheinander an, „aber ich gehe jetzt trotzdem schlafen.“ Seine Wangen hatten einen dunklen Rotschimmer angenommen und seine Augen glitzerten benebelt. „Kommst du mit?“, fragte er an Kai gewandt und hielt sich an dessen Ärmel fest. „Gute Idee“, warf Boris jedoch ein und streckte sich, „ich bin hundemüde. Bis morgen dann.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Raum. Kai blickte in seinen leeren Becher und dann zu Rei, der vor ihm stand und aussah, als würde er demnächst umkippen. Er seufzte. „Wo schlafen wir denn?“ Sichtlich angetrunken deutete Rei auf den Boden in einer Ecke. Dicke Felldecken lagen aufeinander gestapelt dort. „Kannst du gehen?“, fragte Kai etwas besorgt. Der Chinese nickte, krallte sich dann aber an Kais Arm fest, um sich abzustützen. „Warte. Irgendwo steht noch Wasser von vorhin.“ Kai hatte es schnell entdeckt und reichte ihm den Becher, den Rei gierig leerte. „Schon besser.“ Er begann, sich das Hemd auszuziehen. Seine Finger fummelten an den Knöpfen und Kai schaute ihm gebannt zu, bis er es endlich geschafft hatte, sie zu öffnen. Langsam glitt der etwas verschmutzte weiße Stoff von seinen Schultern und gaben einen wunderbaren Anblick auf Reis nackten Oberkörper frei. Kai schaffte es nur mit großer Anstrengung, seine Augen von ihm loszureißen. Demonstrativ sah er in eine andere Richtung und begann seinerseits, sich auszuziehen. Während er sich an der Hose zu schaffen machte, schlüpfte Rei unter die Felle. Kais Nackenhaare stellten sich auf, als er einen Blick auf sich spürte und er wandte sich um, sah die honiggelben Augen, die ihn auffällig musterten und die Nervosität kribbelte in seinem Bauch. Hastig legte er sich hin und starrte die Decke an. Rei drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf seiner Hand auf. „Kai, an was hast du denn eigentlich gedacht?“, fragte der Chinese neugierig. Er wollte es schon so lange wissen. Doch Kai wich ihm aus. „Was meinst du?“ „Du weißt schon, was ist es, das dich so erregt? Was für Gedanken gehen dir da durch den Kopf?“ Reis Stimme war ungewohnt tief und rau. „Das geht dich nichts an“, versuchte Kai der Frage zu entkommen und ein Hauch Rot legte sich um seine Nase. „Bist du sicher?“ Der Unterton in Reis belegter Stimme ließ ihn den Kopf zur Seite rucken. Überrascht blickte er in seine Augen, die ihn auffordernd anglitzerten. Nur eine Handbreite trennte ihre Nasenspitzen. Kai antwortete nicht. Rei so nahe zu sein, kostete ihn einiges an Kontrolle und der Alkohol machte es ihm nicht leichter. Er schluckte. „Es geht mich also nichts an?“, wiederholte Rei flüsternd und beugte sich noch etwas tiefer über ihn. Eine schwarze Haarsträhne kitzelte Kais Wange und langsam hob Rei eine Hand, fuhr mit den Fingerspitzen hauchzart über seinen Hals und hinterließ dort ein Kribbeln. Kai zog scharf die Luft ein. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren. Nicht jetzt. „Doch, wahrscheinlich geht es dich etwas an“, antwortete er endlich nuschelnd. Ein Lächeln legte sich auf Reis Lippen. „Kai, wie viele Frauen hast du schon geküsst?“ „Einige. Wieso fragst du?“ Kai wunderte sich, was dieser plötzliche Themenwechsel zu bedeuten hatte und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Hast du schon einmal einen Mann geküsst?“ Er war sofort nüchtern. Ihm wurde heiß. Die Richtung, die ihr Gespräch gerade einschlug, gefiel ihm ganz und gar nicht. Nicht, wo er doch so sehr mit sich kämpfte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Denn würde das geschehen, könnte er wohl nicht mehr aufhören. Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte kurz den Kopf. Rei kam noch ein Stück näher und ihre Nasenspitzen berührten sich fast. „Willst du es versuchen?“ Diese verführerische Stimme jagte ihm Schauer über den Rücken und etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Er konnte nur noch flach atmen. Doch er durfte die Kontrolle nicht verlieren und so zwang er sich, den Kopf in eine andere Richtung zu drehen. Reis Hand jedoch wusste dies konsequent zu verhindern. „Rei“, hauchte Kai etwas gequält auf und schloss die Augen, „du machst es mir verdammt schwer.“ Als er die Augen wieder öffnete, sah er das Lächeln auf Reis leicht geöffneten Lippen, die honigfarbenen Iriden, die ihn anfunkelten. Nun war es endgültig um ihn geschehen. Wenn er jetzt etwas tat, das der Chinese nicht wollte, dann war dieser selbst schuld. Er hob die Hand und legte sie in Reis Nacken, vergrub sie in den schwarzen Haaren, fuhr mit dem Daumen über das empfindliche Ohr. „Du bist betrunken“, versuchte er noch ein letztes Mal, ihn zur Vernunft zu bringen, doch ohne eine Antwort abwarten zu können, erhob er sich etwas vom Boden und legte ganz leicht seine Lippen auf Reis. „Mag sein“, flüsterte er, als sich ihre Lippen nach der kurzen Berührung wieder trennten. Er schlang einen Arm um Kais Brust und zog ihn näher zu sich. Kapitel 16: Fingerspitzengefühl ------------------------------- Kai lag noch lange wach auf dem Rücken und starrte die Decke an. In seinem Kopf drehten sich die verruchtesten Gedanken und sein ganzer Körper kribbelte voller Wonnegefühl. Noch nie zuvor wurde er mit solch einer zarten Leidenschaft geküsst. Reis sanft fordernden Lippen waren zwar ein wenig rau von der Kälte, doch ansonsten genau so weich, wie er es sich vorgestellt hatte. Und seine Finger hinterließen ein elektrisierendes Gefühl auf seiner Haut. Seine bloßen Berührungen brachten ihn bereits vollkommen aus der Fassung. Doch so unvorhersehbar es begonnen hatte, so plötzlich riss Rei die Augen auf, starrte ihn fassungslos an, entschuldigte sich mit hochrotem Gesicht und drehte sich hastig und beschämt um. Die Felle, die vorhin von seinem Körper gerutscht waren, zog er sich weit über den Kopf und vergrub sich darin. Ein Seufzer entglitt Kais Lippen. Ob er enttäuscht sein sollte oder glücklich, wusste er nicht. Trotz seiner Ambivalenz verzog ein Grinsen seine Lippen. Es war zum Haare Raufen. Endlich hatte er seinen ersehnten Kuss bekommen, der zudem auch noch von Rei selbst aus kam, doch plötzlich reichte es ihm nicht mehr. Es war nicht genug. Er wollte mehr. Fluchend drehte er sich auf die Seite, wandte Rei den Rücken zu. Er bemerkte nicht das Rascheln von Fellen neben sich und den Blick, der ihn kurz darauf aufmerksam musterte, denn er versuchte zwanghaft, sich nicht doch auf die andere Seite zu drehen. Noch einige Zeit fuhr er sich mit dem Finger immer und immer wieder über seine Unterlippe, bis der Alkohol und die Erschöpfung sich schließlich doch noch bemerkbar machten und er endlich einschlief. Unausgeschlafen und unruhig schlug Kai am nächsten Morgen die Augen auf. Sofort drehte er sich auf die andere Seite und setzte sich auf, doch Rei lag nicht mehr neben ihm. Stattdessen saß er an die Wand gelehnt und sah ihn mit merkwürdig belegten Augen an. Ansonsten war sein Gesicht vollkommen ernst. Kai wusste nicht was sagen und starrte den Chinesen etwas verdattert an. Der Augenblick zog sich in die Länge, während dem sie sich einfach nur anblickten. In ihre Gedanken so vertieft, bemerkten sie nicht den jungen Mann, der den Raum betrat. Boris blieb in der Mitte stehen und schaute zwischen ihnen hin und her, versuchte, die Situation zu verstehen, die gerade vorherrschte und kam zum Schluss, dass er es wohl gar nicht verstehen wollte. Er räusperte sich laut. Gleichzeitig blickten die beiden Freunde ihn an, mit einem Blick, der ihm deutlich sagte, dass er besser nicht gestört hätte. Er grinste entschuldigend und kratzte sich am Kopf. „Guten Morgen ihr beide, ich dachte, ich schaue mal vorbei, ob ihr schon wach seid, aber wenn ich störe“, ließ er das Ende offen und deutete mit dem Daumen nach draußen. Rei erhob sich und rauschte an ihm vorbei. „Du kommst gerade rechtzeitig.“ Dann war er verschwunden. Überfordert mit Reis Verhalten schaute er zu Kai. „Was hat er?“ Doch der zuckte bloß mit den Schultern und stöhnte auf. „Ich habe keine Ahnung“, log er und erhob sich, um sich anzuziehen, „wie sieht es aus, machen wir weiter?“ „Kein Frühstück?“ „Kein Hunger“, blieb Kai kurz angebunden und stahl sich an Boris vorbei. Der Russe blieb völlig verwirrt stehen und schaute in die Richtung, in die zuerst Rei und nun auch Kai verschwunden waren und fragte sich, was zum Teufel in die beiden gefahren war, dass sie sich so seltsam verhielten. Kopfschüttelnd folgte er ihnen. Kai wartete bereits auf ihn mit dem unfertigen Schwert in der Hand und trippelte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab. "Kai", seufzte der Schmid und nahm ihm das Schwert aus den Händen, "ich kann dich heute eigentlich gar nicht gebrauchen. Du kannst aber zuschauen, wenn du möchtest", fügte er noch hastig hinzu, als er bemerkte, wie der Krieger den Kopf etwas enttäuscht hängen ließ. Er musste nicht lange überlegen. Natürlich wollte er zuschauen. Schließlich hatte er noch nie gesehen, wie eine Waffe entstand und es war besser, als in Gedanken zu versinken und sich zu fragen, wie er mit der ganzen Geschichte, die sich am Abend zuvor abgespielt hatte, umgehen sollte. Denn das wusste er nicht im Geringsten und Rei war ihm auch keine Hilfe dabei. Bis anhin hatten sie nach all den Neckereien und Anspielungen, die sich zwischen ihnen abspielten, nie auch nur ein Wort darüber verloren und so getan, als wäre nichts geschehen. Bis jetzt ging das gut. Aber der Kuss hatte alles verändert. Darüber hinwegzusehen war nicht mehr möglich. Boris setzte sich an eine merkwürdige Vorrichtung, die er selbst als Schleifmaschine bezeichnete. Er setzte die Füße auf zwei Pedale und trat darauf. Der große runde Stein begann sich rasend schnell zu drehen, sodass von der rauen Oberfläche nichts mehr zu sehen war außer grünlich verfärbtes Grau. Aus einem Rohr, das aus der Wand herausragte, floss kaltes Wasser, um das Schwert sowie den Schleifstein abzukühlen, die sich durch die Reibung erhitzten. Dieses ganze Prozedere war ziemlich unspektakulär, wie Kai mit Bedauern feststellen musste. Er bereute, nicht gefrühstückt zu haben. Sein Magen knurrte. Mit einem entschuldigenden Lächeln erhob er sich, um sich auf den Weg nach etwas Essbarem zu machen. In einem Nebenraum stieß er auf Rei. Hätte dieser ihn nicht gleich bemerkt, wäre er am liebsten rückwärts wieder hinausgegangen. Doch der Chinese rief leise seinen Namen und trat einen Schritt auf ihn zu. Er hob eine Hand, um sie auf Kais Arm zu legen, doch mitten in der Bewegung stoppte er und ließ sie entmutigt wieder sinken. Fassungslos beobachtete Kai jede seiner Bewegungen. Er war anders. Diese Offenheit, die unbekümmerte Lebensfreude und Energie, die er auszustrahlen pflegte, war weg. Vor ihm stand ein junger Mann, der sich fahrig die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und unsicher auf den Boden stierte oder seinem Blick auswich. Das bloße Atmen schien ihn Kraft zu kosten. "Ich muss hier raus", stieß er heiser aus. Unsicher sah er zu Kai. "Kommst du mit? Etwas spazieren. Diese Räume hier engen mich ein." Ein leichtes Lächeln legte sich auf Reis Lippen, als Kai nickte, und er ging voraus nach draußen, wo Byakko freudig im Schnee tummelte und Suzaku auf einem großen Stein hockte und ihn missbilligend musterte. Die beiden ignorierend, stapfte Rei weiter nach oben. Kein einziges Wort fiel zwischen ihnen und auch als sie am Kraterrand standen und hinunterblickten, machte keiner der beiden Anstalten, etwas zu sagen. Die Zeit strich dahin, während sie wortlos nebeneinander standen und die hügelige Landschaft um sie herum betrachteten, die vollkommen weiß war und sich weit unter ihnen erstreckte. "Was gestern passiert ist", fing Rei schließlich an", es tut mir leid." Erst als Kai nickte, fuhr er fort. "Ich könnte dem Alkohol die Schuld daran geben, aber ich mache es nicht. Denn es wäre falsch zu sagen, dass ich es nicht absichtlich getan habe. Zuerst sollte es nur ein Spiel sein, so wie es doch schon oft geschehen ist, aber ich habe die Kontrolle darüber verloren. Weißt du, bevor ich dich gefunden habe, war ich immer alleine. Jahrelang. Die anderen Wächter habe ich alle schon sehr lange vor dir gefunden und sie zwar immer wieder besucht, aber ich habe alleine gelebt. Ich bin ein Einzelgänger. Noch dazu habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich selbst habe keine Ahnung, in welcher Epoche ich überhaupt lebe und ich habe vergessen, woher ich komme. Meine Identität hat sehr darunter gelitten, wie du dir sicher vorstellen kannst." Rei verstummte. Es war das erste mal, wo Rei freiwillig etwas über sich preisgab und Kai starrte ihn an. Er hatte keine Ahnung, wieso Rei das tat, aber das war ihm egal. Einfach nur etwas über ihn zu erfahren, machte ihn auf eine seltsame Weise glücklich und ein kleines bisschen stolz. Denn er hatte das Gefühl, dass Rei noch nie jemandem etwas über sich selbst erzählt hatte. "Du musst dich nicht erklären, Rei, es ist schon in Ordnung", sagte Kai und hob vorsichtig seine Hand, um seine Schulter zu berühren. "Doch", seufzte Rei, "denn es ist nicht richtig wenn du es nicht weißt. In all der Zeit alleine, dachte ich, mich damit abfinden zu können. Es war auch nie wirklich ein Problem. Aber du", plötzlich versagte seine Stimme und er blickte den Krieger mit verzweifelten Augen an, "ich war noch nie jemandem so nah und in deiner Nähe fühle ich mich, als könne ich wirklich ich selbst sein und meine Pflichten manchmal ein bisschen vernachlässigen. Und dann diese Blicke, die du mir so oft zuwirfst." Heftig wirbelte Kai seinen Kopf in Reis Richtung und sah ihn erschrocken an. "Denkst du im Ernst, ich hätte sie nicht bemerkt? Kai, du solltest mich besser kennen." Ein tadelndes Grinsen zierte seine Lippen und der Krieger wandte seinen Blick zurück auf den Krater, ein leichter Rotschimmer um die Nase. "Am Anfang habe ich mir nichts dabei gedacht, schließlich kannten wir uns kaum und Neugierde ist ganz normal. Aber dann kamen auch noch diese Anspielungen dazu und die warfen mich komplett aus der Bahn. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, deshalb habe ich sie einfach ignoriert. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass du Recht hattest mit einigen Bemerkungen. Ich habe versucht, das zu verdrängen. Trotzdem bist du mir immer wieder näher gekommen und langsam verstand ich auch, was es mit deinen Blicken auf sich hatte." Kai hob den Kopf, als Rei nicht weiter sprach und schaute ihm direkt in die Augen. Das helle Honigbraun schimmerte ihm entgegen und er dachte, eine Spur von Unsicherheit und die Frage nach Bestätigung darin zu finden. Er seufzte tief. "Du willst damit sagen, dass ich daran schuld bin?" "Ein bisschen vielleicht", schmunzelte Rei und fuhr sich durch die Haare. Dass Kai das scheinbar so locker aufnahm, damit hatte er nicht gerechnet und es beruhigte ihn ungemein. "Was gestern geschehen ist, war eigentlich nicht beabsichtigt. Ich wollte nur eine Bestätigung für meine Vermutung und habe dich mit meinem Verhalten zu bedrängen versucht, aber dann ist wohl der Teufel mit mir durchgebrannt. Deine Nähe hat mich regelrecht erschaudern lassen und mein Herz hat angefangen so schnell zu schlagen, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam. Und dann hat es mich einfach überkommen. Den Rest kennst du", endete er hastig und drehte sich etwas von Kai weg, um seine roten Wangen vor ihm zu verstecken. Sein Herz pochte laut in seiner Brust. Doch er hatte einen Entschluss gefasst. Er wusste, was er tun musste. Zwei Hände legten sich um seine Schultern und zwangen ihn, sich zu Kai zurückzudrehen, doch er hielt den Blick weiterhin gesenkt und nestelte an seinem Hemd herum. "Rei", flüsterte Kai sanft und legte eine Hand an seine Wange, strich ihm zögernd eine Haarsträhne weg. Er erschauderte und schloss kurz die Augen, um die Berührung zu genießen. Dann blickte er ihn an und Kai erkannte mit einem Schlag, was er nicht wissen wollte. Langsam ließ er die Hände sinken. "Kai, das können wir nicht machen. Du bist nicht grundlos hier. Ich habe dich nur geholt, weil wir alle Wächter brauchen, die wir auftreiben können um die Mission zu erfüllen, die uns aufgetragen wurde. Es würde nicht gut gehen, das weißt du." Rei sprach gegen Ende immer wie leiser und hielt den Blick gesenkt. Als Kai völlig abwesend nickte, spürte er einen kleinen Stich in seiner Brust und er wusste, dass er nicht nur sich selbst verletzt hatte. Doch der Schmerz würde vorbei gehen, wie auch die Gefühle. Rei hob beide Hände und legte sie an Kais Schläfen, um ihm in die Augen sehen zu können. Es überraschte ihn nicht, dass keinerlei Regung in seinem Gesicht zu sehen war und lächelnd beugte er sich etwas nach vorne, um seine Lippen auf seine Stirn zu legen. Kai seufzte gequält und ohne zu überlegen schlang er seine Arme um den Körper vor ihm. Überrascht schaute Rei ihn an und als er durch die Maske hindurch deutlich die verzweifelte Sehnsucht sah, spürte er, wie sein Verstand aufgab. Er zog ihn wieder näher zu sich und nach einem kurzen Augenkontakt legte er sanft seine Lippen auf die von Kai. Die Arme pressten ihn dicht an ihn und schnitten ihm beinahe die Luft ab, doch es war ihm egal. Er krallte sich in seinen Haaren und am Hemd fest und seufzte in den Kuss hinein, den Kai stürmisch erwiderte. In diesem einen Kuss lagen so viele ambivalente Gefühle, dass es sie beinahe zerriss. Sie wollten es und doch durften sie nicht. Es war ihr wahrscheinlich letzter Kuss. Es war verboten und doch erfüllte es sie mit Verlangen. Er war leidenschaftlich, stürmisch, qualvoll, voller Sehnsucht und Schmerz und so sündig wie süß. Kais Hände bebten, als er Rei über den Rücken strich und ihn noch näher an sich ziehen wollte, als dieser sich langsam von ihm löste. Er hatte das Gefühl, dass Rei ihm entglitt, obwohl er ihn fest in den Armen hielt. Doch das konnte er nicht zulassen. Noch nicht. Er rückte den Kopf nach vorne, um Reis Mund zu erhaschen und riss ihn in einen neuen Kuss, in dem seine ganze Sehnsucht und Hoffnung lag. Wenn er diese Lippen schon aufgeben musste, dann wollte er wenigstens noch so viel wie möglich davon kosten. "Kai", flüsterte Rei atemlos, "lass mich los." Er tat, wie ihm geheißen und ließ die Arme sinken und ballte die Hände zu Fäusten. Was wollte er denn schon machen. Er seufzte. Geschickte Finger schoben die Fransen beiseite, die ihm über die Augen hingen und strichen ihm über die Wange. "Es tut mir leid, Kai." Seine Stimme klang abgehackt und heiser. Kai wollte ihn nicht ansehen. Er konnte nicht. Die Finger verschwanden und hinterließen ein Kribbeln auf seiner Haut. "Ich wünschte, es wäre anders." Die leise gehauchten Worte drangen in sein Ohr und reflexartig blickte er auf, doch Rei war weg. Kapitel 17: Der Zauber der Lichtung ----------------------------------- Mit hängenden Schultern und zusammengezogenen Augenbrauen stapfte Kai zurück zur Höhle des Schmieds. Suzaku kam ihm bereits entgegen, einen Schrei ausstoßend, der ebenso verletzt klang, wie er sich fühlte. Er musste nicht fragen, er wusste auch so, dass Byakko verschwunden war. Zusammen mit Rei. Wortlos legte er seine Stirn gegen das warme Gefieder des Phönix’ und seufzte. „Wo sie wohl hin sind, Suzaku? Denkst du, sie kommen bald wieder zurück?“ Das stolze Tier rieb den Kopf an seiner Schulter, um ihn zu trösten, doch das bedrückende Gefühl, verlassen und alleine zu sein, ließ ihn nicht los. Ohne Rei fühlte er sich in dieser Welt unsicher und irgendwie schwach. Seufzend wandte er sich in die Richtung der Höhle. Boris wartete bestimmt schon auf ihn, um dem Schwert den letzten Schliff zu geben. Inständig hoffte er, dass ihn das ablenken würde. Boris saß am Tisch und schob sich große Stücke Brot in den Mund. Als Kai den Raum betrat, blickte er auf und Kai glaubte, etwas wie einen Vorwurf in seinen Augen zu sehen. Mürrisch setzte er sich auf einen Stuhl und legte den Kopf auf die Arme. „Hunger?“, fragte Boris und hielt ihm ein Stück Brot hin, doch Kai schüttelte nur den Kopf, so gut es ging. Eine Weile schwiegen sie, während Boris kauend den Krieger beobachtete, der einfach nur dasaß, mit dem Gesicht nach unten, und sich nicht rührte. „Was hast du denn angestellt, dass Rei so überstürzt abgehauen ist?“ Kai hatte nicht damit gerechnet, dass der Schmied ihn so direkt fragen würde und starrte ihn an, mit dem Gefühl entblößt worden zu sein. „Ist er das?“, fragte er kühl zurück. Er wusste nicht, was er antworten sollte, weshalb er zu einer seiner Gegenfragen griff, die er so zahlreich einsetzte. Boris nickte. „Hat nur schnell Byakko und seine Tasche geholt, dann war er auch schon weg. Nicht mal groß verabschiedet hat er sich. War ziemlich durch den Wind, wenn du mich fragst.“ Ohne es zu merken, nickte er. Der Schmied hielt in seiner Bewegung inne, sich das nächste Stück Brot in den Mund zu schieben und ließ die Hand wieder sinken. „Weißt du, wo er hin ist?“ Kai seufzte. „Nein, ich habe keine Ahnung. Weder wohin er ist, noch wie lange er weg bleiben wird. Ich habe eigentlich gehofft, dass du es weißt.“ Boris musterte sein Gesicht, während Kai die Tischplatte löcherte. „Zu blöd. Dann musst du wohl hier bleiben. Ich kenne mich mit diesem Labyrinth nämlich überhaupt nicht aus, das ist mir zu kompliziert. Und auch wenn ich könnte, wissen wir nicht, wo er ist, geschweige denn in welcher Zeit.“ Boris hatte recht, schoss es Kai durch den Kopf. Auch wenn er zum Tempel zurückfände, in welcher Zeit er auch immer landen würde, Rei würde wahrscheinlich nicht dort sein. Der Gedanke, alleine in einer Zeit zu landen, die er nicht kannte und in der ihm alles fremd war, machte ihm Angst. Grummelnd strich er sich durch die Haare. „Na, dann bleibe ich hier, bis er mich abholt.“ „Ist in Ordnung für mich. Wollen wir mit dem Schwert weitermachen? Ich möchte dir etwas zeigen. Das hast du bestimmt noch nie gesehen.“ Boris war wieder vollkommen in seinem Element, was den Krieger die Mundwinkel verziehen ließ. Schmunzelnd folgte er dem Schmied. Respektvoll linste Kai in eine kleine Mulde im Boden, die Boris abgedeckt hatte und aus der heißer Dampf zischte. Das Wasser darin brodelte und spie übel riechende Gaswolken aus. Angewidert rümpfte er die Nase. Der Gestank nach faulen Eiern ließ ihn erschaudern. „Wie einladend. Was zur Hölle wollen wir hier?“ Boris lachte und wickelte Schnur und Tuch vom Schwert ab. „Das ist eine Solfatare und was du riechst, ist Schwefel. Durch die Oxidation mit Sauerstoff bildet sich eine Säure, die ich mir gerne zu nutzen mache, um meinen Waffen das gewisse Etwas zu verleihen. Sieh hin.“ Vorsichtig ließ er den Schaft des Schwerts mit seiner dick eingepackten Hand in das säurehaltige Wasser gleiten. Gebannt schaute Kai zu, wie er das Schwert hin und wieder herauszog, kritisch begutachtete und wieder zurücksinken ließ, und musste sich in Geduld üben. Das Ergebnis überraschte ihn. Das Schwert hatte seine ganz eigene Struktur erhalten, die für den Damast typisch war und die nicht vom Menschen beeinflusst werden konnte. Rebellisch und eigen. Es gefiel ihm. „Darf ich mal?“, fragte Kai und streckte die Hand aus, um das Schwert zu halten, doch Boris schüttelte den Kopf. „Nein, bevor es nicht fertig ist, gibt der Schmied ein Schwert nicht aus der Hand.“ Zurück in der Höhle zog Boris einen rot funkelnden Stein aus einem kleinen Säckchen und hielt ihn gegen das Licht. „Rei hat ihn mir gegeben. Es ist der Rubin aus deinem alten Schwert und er dachte, dass du ihn vielleicht auch bei diesem wieder haben willst.“ Ein Lächeln legte sich auf Kais Lippen. Dieser Chinese hatte es schon wieder geschafft, ihn zu überraschen und zu erfreuen. Sogar jetzt, wo er nicht einmal anwesend war. Es war zum verrückt werden. Es war eine kleine Arbeit, den Edelstein in das Schwert einzulassen und den Griff mit einem Lederband zu umwickeln und endlich durfte Kai es halten. Vorsichtig nahm er es in die Hände. Es war unglaublich leicht und perfekt ausbalanciert. Ein Strahlen erhellte sein Gesicht und seine Augen leuchteten rot auf. „Es ist perfekt! Ein Meisterwerk.“ Boris nickte und stolz haute er sich mit der Faust auf die Brust. „In der Tat, das ist die beste Waffe, die ich jemals geschmiedet habe. Lass uns darauf trinken!“ Kai lachte und nahm den Becher entgegen, der mit Vodka gefüllt war, was ihn nicht verwunderte. „Prost.“ Als Kai am nächsten Morgen aufwachte, hörte er leise Stimmen aus dem Nebenraum. Abrupt erhob er sich und ging eilig darauf zu, ohne sich die Mühe zu machen, eine Hose anzuziehen. Er hatte recht gehabt mit seiner Vermutung und verwundert blieb er im Eingang stehen. Dort stand Rei und unterhielt sich angeregt mit Boris, der nur eine Hose trug. Rei bemerkte ihn sofort. „Kai, haben wir dich geweckt?“ Der Krieger schüttelte den Kopf. In seinem Bauch machte sich ein komisches Gefühl breit. „Wo warst du denn, Rei?“ Es fühlte sich an wie Eifersucht. „Ich musste zurück in den Tempel, um einige Dinge zu holen, die wir auf unserer Reise brauchen. Wir werden eine Weile nicht mehr dorthin zurückgehen.“ Er mochte es nicht. „Wieso denn nicht?“ Es erinnerte ihn an die Gefühle, die er hegte. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis unsere Mission beginnt und vorher muss ich einige Wächter noch einmal besuchen. Es ist nicht nötig.“ Er seufzte resigniert. „Was ist mit mir?“ „Ich dachte eigentlich, dass du mitkommst, aber du kannst auch hier bleiben. Wie du willst.“ Kai hatte bereits damit gerechnet, dass Rei ihn nicht dabei haben wollte. Umso überraschter war er, als er hörte, dass er doch mitkommen durfte. „Natürlich komme ich mit“, antwortete er erleichtert und grinste schief. Auch auf Reis Lippen legte sich ein Lächeln. „Schön. Dann würde ich vorschlagen, dass du dir was anziehst und wir dann aufbrechen. Ist das in Ordnung für dich, Boris?“, fragte er noch an den Schmied gewandt. Kai beeilte sich mit anziehen und schnappte sich das Schwert, das in der schlichten ledernen Scheide steckte, die Boris am Tag davor noch für ihn angefertigt hatte. Als er zurückkam, bemerkte er sofort Reis Hände, die eine Pranke von Boris hielten, die er zu einer Faust geformt hatte. Verschwörerisch redete er auf den Schmied ein und ließ die Faust nicht los, ehe er geendet hatte. „Du weißt, was du tun musst, ja? Lass sie niemals aus den Augen! Und wag es nicht, sie zu verlieren!“ Boris nickte brav. „Keine Angst, ich pass schon drauf auf.“ Offensichtlich hielt er etwas in der Hand, doch ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, ließ er es in die Hosentasche gleiten. Rei schaute ihn warnend an. „Wir sehen uns, wenn es soweit ist. Wehe dir, du bist nicht da!“ Er holte aus, um ihm mit der Faust auf die Schulter zu hauen, doch Boris schlang unerwartet seine Arme um ihn und drückte ihn an sich. „Keine Sorge, ich werde da sein, versprochen. Ich kann dich doch nicht alleine lassen. Du wärst verloren ohne mich.“ Rei ließ sich die Umarmung gefallen, erwiderte sie und kicherte über seine Worte. „Na gut, ich vertraue dir. Bis dann, Großer!“ Boris wuschelte ihm noch kurz durch die Haare, dann wandte er sich Kai zu. „Kai, schön dich kennengelernt zu haben.“ Er klopfte ihm auf den Rücken und lächelte ihn ehrlich an. „Ich muss mich nochmals bedanken Boris, das Schwert ist ein Traum.“ „Keine Ursache, das habe ich gerne gemacht. Noch was, Kai. Lass ihn nicht zu oft aus den Augen. Er neigt dazu, die Einsamkeit zu suchen und zu verschwinden, er war zu lange alleine. Deine Anwesenheit tut ihm ganz gut.“ Kai nickte überrascht auf die geflüsterten Worte. „Na dann, ihr zwei, man sieht sich!“, rief Boris ihnen hinterher, als sie die Höhle verließen und ihren Rückweg antraten. Es war nicht anders, als Kai erwartet hatte. Rei schwieg ihn an und sein Lächeln war nicht mehr halb so sorglos wie einige Tage zuvor. Eher war es gezwungen und verkrampft. Und das stimmte ihn traurig. Nebeneinander stapften sie durch den Schnee den Berg hinunter, dorthin, wo der Eingang zum Labyrinth von Raum und Zeit lag. Byakko und Suzaku folgten ihnen ruhig. Sie spürten genau, dass etwas in der Luft lag, sie knisterte förmlich und da sie nicht wussten, was sie tun sollten, gaben sie keinen Laut von sich. Auf der Lichtung kam Kai ein Gedanke. Hier hatte Rei alles über ihn erfahren, in seine Gedankenströme und in sein Gedächtnis geschaut wie in eine offene Truhe und alles, was darin lag, hatte sich ihm offenbart. Rein theoretisch sollte das auch umgekehrt möglich sein. Angestrengt versuchte er, sich zu konzentrieren und irgendeinen Gedankenfetzen von Rei zu erhaschen. Er wusste nicht, was er genau tun musste, also lenke er seine Konzentration schlicht auf Rei selber. „Kai!“, rief dieser erschrocken und starrte ihn an, „was tust du da? Hör auf damit!“ Er schauderte. „Ich habe nur etwas versucht, scheint aber nicht geklappt zu haben.“ „Was zum Teufel hast du gemacht?“, fragte Rei leicht außer Atem. „Ich wollte deine Gedanken lesen, so wie du das bei mir gemacht hast“, antwortete Kai ehrlich, obwohl er es nicht wirklich zugeben wollte, doch Reis Wortwahl irritierte ihn. Rei raufte sich die Haare und stöhnte. „Kai, wenn du das versuchen willst, solltest du zuerst lernen, deine eigenen Gedanken zu kontrollieren. Was du jetzt getan hast, ist das genaue Gegenteil von Gedanken lesen.“ Kai konnte sehen, wie sich seine Wangen rötlich verfärbt hatten. „Ich hab dir Gedanken gesendet?“ „Nicht nur irgendwelche Gedanken, Kai, sondern ganz bestimmte Vorstellungen. Bitte lass das in Zukunft. Ich“, er stieß die Luft durch die Zähne aus, „ich kann sonst nicht klar denken.“ „Was genau habe ich denn gemacht, Rei?“ Eigentlich hatte er eine ziemlich genaue Ahnung, was er getan hatte, aber er wollte den Chinesen ein wenig necken, um die Stimmung ein bisschen anzuheben. Und um ihn erröten zu sehen, wenn er ehrlich war. „Egal jetzt“, wollte Rei sich umdrehen, doch Kai packte sein Handgelenkt und zog ihn zurück. „Sag es mir“, grinste er ihn amüsiert an. „Du weißt doch selbst am besten, was in deinem Kopf vor sich geht, wenn du an mich denkst. Das muss ich dir nicht noch sagen“, antwortete er und wich gekonnt Kais Blicken aus. „Wie hat es sich angefühlt?“, bohrte er weiter. Rei blieb bockig und versuchte, sich loszureißen, doch er scheiterte. Seufzend gab er auf. „Wenn du dir vorstellst, mich zu berühren, Kai, dann kommt das auch genau so bei mir an. Ich spüre deine Hände unter meinen Kleidern und deinen Atem in meinem Nacken und ich kann nichts dagegen tun, da es nichts weiter als ein Phantomgefühl ist. Ich kann dich nicht wegstoßen und bin dir ausgeliefert.“ Kais Grinsen wurde mit jedem Wort breiter und Reis Wangen dunkler. Er biss sich auf die Unterlippe und starrte ins Leere. „Also bitte, lass es bleiben. Ich kann dir beibringen, Gedanken zu lesen, aber mach das nicht mehr.“ „Das?“, fragte Kai unschuldig und knabberte in Gedanken an Reis Hals, schickte ihm dieses Bild direkt in den Kopf. Rei zog scharf die Luft ein und versuchte, das Gefühl so gut es ging zu ignorieren. „Genau das. Hör auf damit“, warnte er ihn verärgert. „Wie schade“, seufzte Kai. Rei warf ihm einen undefinierbaren Blick von der Seite her zu und schüttelte leicht den Kopf. „Lass uns weitergehen. Wir müssen den Indianern einen Besuch abstatten.“ Kapitel 18: Am Ufer des Mississippi ----------------------------------- Um 800 Wäre Kai sich nicht durchaus bewusst, dass Rei sich in dieser Welt auskannte, so würde er unter gegebenen Umständen stark daran zweifeln, dass sie sich noch auf dem richtigen Weg befanden. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, seit sie das Labyrinth von Raum und Zeit verlassen hatten und seit da ohne Halt und Unterbruch den Wald durchstreiften, der hier offenbar alles bedeckte. Die Bäume waren riesig. Die Luft war trocken und kaum von Vogelgezwitscher erfüllt, und der Wald sah immer gleich aus, wo er auch hinschaute. Doch so zielgerichtet und sicher wie Rei geradeaus lief, wagte er nicht, nachzufragen. Grummelnd trottete er hinter ihm her. Suzaku hatte er aus den Augen verloren, er vermutete, dass sie weit über den stolzen Baumkronen ihre Runden drehte und wie auch Byakko das mildere Klima dieser Gegend genoss. Die Riesenkatze wälzte sich genüsslich auf dem Boden, bis das weißschwarze Fell struppig und mit Nadeln und Laub bespickt zu Berge stand, und schärfte ihre Krallen an einem dicken Baumstamm. Ein erfreuter Laut ließ ihn jäh aufblicken. Reis Schritte wurden schneller und auch Kai beschleunigte, bis sie mit langen Schritten durch den Wald liefen, laut knacksten Zweige unter ihren Füßen und brachen entzwei, kleine Steinchen wurden weggekickt. Das Getier, das sie bisher aufmerksam beobachtet hatte, floh in Bauten und Gestrüpp. Abrupt bremste Rei ab. Kai kam noch rechtzeitig neben ihm zum Stillstand und fand sich oben auf einer Böschung wider, die steil nach unten fiel. Zu ihren Füßen schlängelte sich einer der größten Flüsse, die Kai je gesehen hatte, gemächlich durch die Lande und zog eine tiefe Kerbe in die Oberfläche der Erde. Rei zog tief die Luft ein, die hier so anders roch als in China und ihm ein Lächeln auf die Lippen zauberte. „Riechst du das, Kai? Das ist der Duft der Freiheit.“ Kai streckte die Nase in die Luft und schnupperte, doch er konnte beim besten Willen nicht feststellen, was der Chinese meinte. Es roch zwar anders, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie Freiheit riechen sollte. Ein leichter Salzgeruch, vermischt mit Harz und Holz drang ihm in die Nase und ließ ihn niesen. Rei lachte. „Amerika ist wohl weniger dein Fall, was?“ Kai zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Ich werde von dir sowieso von einem Land ins nächste gejagt, ob es mir gefällt oder nicht. Meine Meinung ist hier doch ziemlich egal. Aber bis jetzt hat es mir deutlich zu viel Wald hier.“ Wieder musste Rei lachen und schüttelte den Kopf. „Wir bleiben nicht lange, versprochen.“ Plötzlich hob er einen Arm und zeigte den Strom hinauf. Ganz weit hinten konnte er braungebrannte Menschen ausmachen, die auf dem Wasser zu gehen schienen. Rei legte seine Hände kelchförmig um seinen Mund und ein Laut entglitt ihm, der Kai die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. In seinen Ohren klang es wie der Schrei eines Tieres, das entweder schwer verletzt worden war, oder sich einen Begattungspartner suchte. Er tendierte zu der zweiten Option. Auf Reis Ruf kamen viele gleich klingende Antworten zurück, was Kai in seiner Entscheidung bestätigte und als sie näher kamen, erkannte er, dass es Männer waren, die auf kleinen langen, aber schmalen Booten standen und ihre Speere in die Luft hielten, oder saßen und ruderten. Doch alle schauten zu ihnen und winkten und johlten. Rei fuchtelte wild mit den Armen herum und hätte Kai beinahe am Kopf erwischt, hätte dieser sich nicht rechtzeitig geduckt. „Los! Spring!“, brüllte Rei ihm freudestrahlend in die Ohren und zerrte an seinem Arm. „Was? Nein! Ich weigere“, doch er kam nicht weiter, Rei stieß ihn die Böschung hinunter in den Fluss und folgte ihm mehr zweckmäßig als schön mit einem Sprung ins kalte Wasser. Als Kai auftauchte, hatte er sich schon einige Wege ausgedacht, wie er das dem Chinesen heimzahlen konnte, doch dieser lachte so voller Freude, dass Kai nicht anders konnte, als ebenfalls zu grinsen und ihm hinterher zu schwimmen. Die Männer zogen sie in ihre Boote und lachten und einige umarmten Rei wie einen Bruder, die Jüngeren neigten respektvoll ihre Häupter vor ihm. Doch alle redeten stürmisch auf ihn ein und Rei wusste nicht, wo er zuerst antworten sollte. Perplex starrte Kai die Männer an. Noch nie hatte er solche Menschen gesehen. Sie waren allesamt groß und schlaksig, braun gebrannt, hatten kaum Kleidung an, in ihre langen schwarzen Haare waren Muscheln geflochten und alle sahen mehr oder weniger gleich aus. Doch das Schlimmste war, dass Kai kein einziges Wort verstand. Er stöhnte auf und riss die Aufmerksamkeit von den Indianern los, lenkte sie auf den Inhalt des schmalen Bootes, in dem er sich befand, und das gefährlich schaukelte. Es war ihm bereits ein verdächtiger Geruch in die Nase geschlichen und ein Blick nach rechts bestätigte seine Vermutung. Offensichtlich waren die Männer auf Fischfang gewesen und nun wieder unterwegs zurück nach Hause. Die Erinnerung an seine letzte Begegnung mit Fisch kam ihm unweigerlich in den Sinn und er dachte an die aufdringlichen Pinguine in Antarktika. „Na toll. Das wird bestimmt lustig.“ Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, als die Boote sich einer Ansammlung von Zelten näherten. Die Männer stießen wieder ihre merkwürdigen Laute aus, worauf sofort eine Schar Frauen und Kinder an das Ufer drängte, um die Jäger Willkommen zu heißen und die Beute in Empfang zu nehmen. Rei wurde abermals von allen herzlich umarmt, doch da diesmal alles Frauen waren, die leicht bekleidet, jung und meist sehr hübsch waren, fühlte Kai ein Grollen in sich aufsteigen. Er ignorierte die neugierigen Blicke, mit denen er selbst gemustert wurde und heftete sich an Reis Fersen. Er wollte ihn unter keinen Umständen in diesem menschlichen Tumult verlieren oder alleine lassen. Sie wurden in eine Runde um das Feuer gedrängt, unzählige Menschen scharten sich um sie und schnatterten und quasselten freudig erregt auf Rei ein, der sich kaum retten konnte, geschweige denn selbst zur Rede kam. Als jedoch ein weiterer Mann die Runde betrat, wurde es schlagartig still. Er war groß und von beachtender Statur, sein Gesicht stolz und wettergegerbt und in seinem Zopf hingen Federn. Rei sprang sofort auf, trat vor ihn und verneigte sich höflich, wie es allerdings in China üblich war und den Häuptling amüsiert grinsen ließ. Er hob eine Hand und tätschelte Reis Kopf. Kai, der wusste, dass Rei das hasste, prustete unweigerlich los. Somit wurde sämtliche Aufmerksamkeit auf den jungen Krieger gelenkt und nun war er der Mittelpunkt aller Gespräche. Es gefiel im ganz und gar nicht. Stur verschränkte er die Arme vor der Brust, reckte das Kinn und blickte in eine andere Richtung. Sie waren sehr neugierig über diese neue Erscheinung und wollten alles wissen, saugten interessiert alles auf und stellten unzählige Fragen, die Rei geduldig und etwas stockend, da der fremden Sprache nicht vollends mächtig, beantwortete. Erst spät nach Mitternacht kamen sie endlich dazu, sich schlafen zu legen. Kai hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte in den Sternenhimmel. Sie sahen fast gleich aus wie in China und sie glitzerten und funkelten und beruhigten ihn ungemein. „Weißt du, es wäre möglich, dass einer dieser Sterne gar nicht mehr existiert“, flüsterte Rei neben ihm. Kai wartete still ab, dass der Chinese weiter sprach. „Es ist durchaus möglich, dass einer dieser Sterne bereits erloschen ist. Und doch sehen wir das Licht noch, das er vor so vielen hundert Jahren von der Sonne reflektiert und zu uns geschickt hat.“ Kai drehte den Kopf und blickte Rei an, Sterne glitzerten in seinen Augen. „Du meinst, Sterne können sterben?“ „Alles stirbt einmal, Kai, auch Sterne. Das Universum ist bestimmt durch den Zyklus von Tod und Widergeburt, nur so ist es möglich, dass ein Gleichgewicht herrschen kann. Aber wenn ein Stern stirbt, dann wird irgendwo ein Neuer geboren. So wird der Kreis geschlossen.“ „Warum erzählst du mir das?“, fragte Kai mit kühler Stimme, aber ziemlich beeindruckt und das nicht zeigen wollend. Reis Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich weiß nicht. Es erzählt sehr viel über das Leben, finde ich. Vielleicht wird dir dieses Wissen einmal von Nutzen sein.“ Die Worte versiegten und Schleier des Schweigens breitete sich über sie aus. Kai beäugte Rei stirnrunzelnd, doch dieser hielt sein Blick weiterhin auf das Sternenzelt über ihnen gerichtet. Manchmal waren Rei und seine Absichten schwer einzuschätzen. Doch da war auch noch etwas anderes, was Kai nicht verstand. „Wieso“, begann er und hielt den Blick weiter auf das Profil des anderen gerichtet, „bist du zurückgekommen?“ „Was meinst du?“, fragte Rei, stemmte sich auf seine Arme und blickte ihn an, misstrauisch. „Tu nicht so, du weißt genau, was ich meine.“ Etwas verärgert setzte er sich auf. „Wenn es dir so zuwider ist, mich in deiner Nähe zu haben, warum bist du dann zurückgekommen? Dein Abgang war schließlich überstürzt genug.“ Rei presste die Lippen zusammen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Oberfläche des Mississippi, die ruhig das Sternenlicht spiegelte und glitzerte. „Ich musste nachdenken. Ich“, zögerte er, rang nach den richtigen Worten, „wusste nicht, was ich tun sollte.“ Er schlang einen Arm um sich. So hatte er sich noch nie gefühlt. So unsicher. Kai schwieg. „Ich dachte, es wäre das Beste, dich bei Boris zu lassen und alleine zu gehen, aber wäre das nicht ungerecht gewesen? Schließlich war ich es, der dich in diese Welt verschleppt hat und du bist noch so unwissend, es gibt noch so viel, das ich dir schuldig bin zu zeigen. Und außerdem“, er brach erneut ab. „Und was, Rei?“, fragte Kai fordernd, er konnte nicht glauben, dass das alles war. Unsicher schwenkten Reis Augen zu Kai, musterten dessen ernstes Gesicht. „Ich wollte dich bei mir haben. Es ist mir nicht zuwider dich in meiner Nähe zu haben, ich habe mich so daran gewöhnt, dass du da bist. Es gefällt mir.“ Kai nickte. Eigentlich war es genau das, was er hören wollte. Aber zufrieden war er nicht. In Reis Nähe zu sein bedeutete, dass er immer dem Drang ausgeliefert war, ihn zu berühren, dem Wissen, dass er sich zurückhalten musste und Kai fragte sich, ob es dem Heiler nicht ebenso erging. Nachdenklich musterte er Reis feine Züge, seine Haut schimmerte bläulich. Er wollte wissen, das in diesem Kopf vor sich ging. Doch das blieb ihm schlicht verwehrt. Er wollte seine Wange streicheln, ihn küssen. Doch Reis Worte hallten noch zu klar in seinem Kopf wider. ‚Ich habe dich nur geholt, weil wir alle Wächter brauchen, die wir auftreiben können um die Mission zu erfüllen, die uns aufgetragen wurde. Es würde nicht gut gehen, das weißt du’, hatte er gesagt. Aber auch dass er sich wünschte, es wäre anders. Er verstand ihn nicht. Kopfschüttelnd versuchte er, die verwirrenden Gedanken loszuwerden und legte sich hin. Er war müde. Neben sich hörte er, wie Rei es ihm einige Augenblicke später gleichtat. „Gute Nacht, Kai“, konnte er ihn noch flüstern hören, dann wiegte ihn das stetige Rauschen des Mississippi gemächlich ins Land der Träume. Als er die Augen wieder aufschlug, war der Himmel noch blasslila, die Luft frisch, das Wasser klar und kühl. Rei kniete nur wenige Meter weiter unten am Flussufer und wusch sich das Gesicht. Erst als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Kai wach war und ihn ansah. „Oh, guten Morgen, Kai, hast du gut geschlafen?“ Mit einem Lächeln auf den Lippen, das der Welt sagte, dass der Tag nur gut werden konnte, versuchte er, sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen, die hartnäckig an Wangen und Hals klebten. Kai zuckte mit den Schultern, erhob sich und ging an Rei vorbei zum Flussufer, ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren. Mit beiden Händen zu einer Schale geformt, schaufelte er sich das erfrischende Wasser ins Gesicht. Verdutzt blickte Rei ihm nach. Das Lächeln verschwand. Kleine Grübchen bildeten sich zwischen den Augenbrauen, als er sie zusammenzog. Er merkte genau, dass Kai anders war als sonst. Abweisend. Kalt. Ihr Verhältnis hatte sich geändert. Sie waren auf einer Mission, die keine Gefühle zuließ und Kai war nun gänzlich der Mitstreiter, den Rei eigentlich wollte. Ein kleiner Stich in der Brust war der letzte Funke, der von der knisternden Leidenschaft übrig blieb, die er vor kurzem noch spüren durfte. Er biss die Zähne zusammen und wandte das Gesicht ab. Eigentlich sollte er froh darüber sein. Schließlich war er es, der dies so wollte. Das Lächeln kam zurück auf seine Lippen. Doch an Stelle der Fröhlichkeit trat Bitterkeit und ein fester Entschluss. „Kai, der Schamane ist ins Dorf zurückgekehrt. Ich muss zu ihm. Wenn du magst, kannst du mitkommen.“ Ein weiteres Schulterzucken war das einzige, was Rei als Antwort erhielt. Kai folgte Rei in einigem Abstand durch das Dorf. Die Leute grüßten freundlich und Rei grüßte zurück. Der Krieger fühlte sich wie bei einem Schaulaufen von Pferden und er war das Pferd, das bewertet wurde. Er versuchte den Drang zu unterdrücken, sich einfach umzudrehen und Reißaus zu nehmen, indem er auf den staubigen Boden starrte und den Blick erst wieder erhob, als er die Füße vor ihm anhalten sah. Sie standen vor einem Zelt, das etwas größer als die anderen, aber viel prächtiger und in leuchtenden, bunten Farben bemalt war. Rauch stieg aus der Spitze empor. Hitze schlug ihnen entgegen, als Rei das Leder vor dem Eingang beiseite schob. Ohne weiter zu zögern, betraten sie das Zelt des Schamanen. Ein riesiges Feuer brannte in der Mitte, rundherum lagen Felle und mit Wasser und verschiedenen Kräutern gefüllte Schalen. Von oben hingen Zweige und merkwürdige steinerne Kugeln herunter. Dichter, merkwürdig riechender Rauch verhinderte die klare Sicht und machte sie schläfrig. „Ich wusste, dass du bald kommen würdest. Nimm Platz und lass dich in die Arme schließen.“ Rei tat, wie ihm geheißen, kniete sich auf die Felle und lehnte sich zu einer Gestalt hinter dem Feuer, um sie zu umarmen, dann blieb er im Schneidersitz sitzen. „Ich sehe, du hast den mitgebracht, der mit dem Feuer tanzt. Er soll sich setzen.“ Mit einer ausgestreckten Hand bat er Kai, auf der anderen Seite neben ihm Platz zu nehmen. Skeptisch musterte er die Ringe, die an den Fingern steckten, die Armreifen, die sich um die Handgelenke wanden und mit Steinen und Mustern verziert waren. Die Haut war blass. Zu blass, als dass er einen von den Indianern hätte sein können, die draußen ihrem Alltag nachgingen. Als Kai sich gesetzt hatte, konnte er im Licht des Feuers die Konturen des jugendlichen Gesichtes sehen, die so nichts mit den harten Gesichtszügen der Einheimischen gemein hatte. Große Ringe hingen an den Ohren und Federn und farbige Perlen schmückten die hellen Haare, die das rötliche Licht des Feuers reflektierten. Sein Oberkörper war nackt und lediglich von vielen Kettchen bedeckt, an denen Muscheln hingen. Als er das Gesicht zu Kai wandte und die Augen öffnete, strahlten ihn zwei unschuldig blaue Augen an. „Augen, die Feuer speien. Ich sehe, deine Verbindung zum Feuer ist sehr stark. Das ist gut. Aber lass es nicht stärker als du werden.“ Kai verstand nicht, was der Schamane ihm mit den letzten Worten sagen wollte, er fühlte sich benebelt und unfähig zu denken, doch auch ihm entging nicht, dass die Flammen sich sachte in seine Richtung schlängelten. Plötzlich erhob sich der Schamane und verließ das Zelt, dicht gefolgt von Rei und Kai beeilte sich, aufzustehen. Endlich an der frischen Luft, atmete Kai tief ein. Ihm war leicht schwindelig von dem benebelnden Rauch. Der Schamane streckte sich bis die Knochen knackten und lachte herzhaft auf. Kai starrte ihn etwas verdutzt an. Er hatte nicht erwartet, dass vor ihm ein Junge stand, jünger als er und Rei, mit blasser Haut und blonden Haaren. Dem Schamanen entging nicht, dass er von ihm angestarrt wurde und lachte erneut, die Hände in die Seiten gestemmt. „Mein Name ist Makkusu, das Kind des Wassers. Hier nennen sie mich auch gerne Wassergeist. Kommt mit, setzen wir uns in Ruhe an den großen Fluss, der Mississippi genannt wird.“ Während der Schamane und Rei, der Heiler, nebeneinander gingen und ausgiebig miteinander plauderten, trottete Kai ihnen hinterher. Am Flussufer setzten sie sich in das frische Gras. Rei zog ein kleines Säckchen aus der Tasche und drückte es Makkusu in die Hand, schloss seine Finger drum herum. „Wir haben nur wenig Zeit, Makksi. Du weißt was zu tun ist, wenn sie leuchtet, wir haben das schon so oft besprochen. Beeil dich und versammle die andern. Auch wir müssen uns beeilen. Wir können nicht länger bleiben.“ Makkusu nickte mit einem ernsten Gesichtsausdruck und erhob sich rasch. „Ich bringe euch so nah an die Höhle des heiligen Labyrinths wie möglich. Geht ins Wasser, ich kehre die Strömung um. Genbu wird euch leiten.“ Die zwei Reisenden taten, wie ihnen geheißen ohne nachzufragen. Eine große schwarze Schildkröte tauchte aus dem Wasser auf, bereit, sie zu führen. Der Schamane positionierte sich breitbeinig seitlich zum Flussufer, hob seine Arme und schwenkte sie wellenartig durch die Luft. Ein feines Silberkettchen klimperte gegen die Silberspangen, die sein linkes Handgelenk umfassten. Jedes einzelne kleine Glied enthielt einen weißdurchsichtigen Stein, der in der Sonne hellblau aufleuchtete. Kapitel 19: Am Hof des Zaren ---------------------------- um 1600 Die Smutnoje Wremja, die Zeit der Wirren, war geprägt von Aufständen und Unruhen, die im Reich herrschten. Jahrelange Machtkämpfe um den Thron schwächten das Land. Wirtschaftliche und soziale Krisen stürzten das Zarenreich ins Unglück. Ernten missglückten, die Menschen starben am Hungertod, viele kamen durch Raubmord ums Leben. Gauner lebten unter den Adeligen. Die Adelsopposition stellte sich gegen den durch ein Semskij Sobor, eine Nationalversammlung, gewählten Zaren, bezichtigte ihn des Mordes am jüngsten Sohn des Zaren und rechtmäßigen Nachfolger des Throns, Dmitrij. Obwohl dieser im Alter von 9 Jahren unter ungeklärten Umständen verstorben war, hielt sich im Volk hartnäckig der Glaube, Dmitrij lebe noch. Die Gerüchte über das wundersame Überleben des Zarewitsch brachte viele Gauner dazu, hinterhältige Pläne zu schmieden. Sie gaben sich als Dmitrij aus, um den rechtmäßigen Titel des Zaren und den Thron an sich zu reißen. Niemand traute niemandem und keiner, der noch etwas auf sein Leben hielt, ging unbewaffnet aus dem Haus. Zwei düstere Gestalten huschten durch die schmutzigen Straßen, eingehüllt in unauffällige Mäntel, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Einzig die Stiefel ließen darauf schließen, dass sie nicht aus ärmlichen Verhältnissen stammten. Ihr Ziel war das Herz Moskaus und somit der Palast des Zaren und unter keinen Umständen durfte ihnen jemand folgen. In einer dunklen, engen Gasse hielten sie abrupt inne. Aufmerksam schauten sie sich um, ob sie auch alleine waren. „Ruf Suzaku zu dir“, flüsterte Rei und zog einen Umschlag aus seinem Mantel, „sie muss diesen Brief zum zweiten Berater des Zaren bringen.“ Kai schaute in die Höhe, wo weit über ihnen der stolze Phönix seine Runden drehte und die Situation scharf im Auge behielt, um in Falle eines Übergriffs oder Verfolgern die beiden Wächter warnen zu können. Nun stieß sie mit einem kräftigen Flügelschlag kometenartig gen Boden, einen feinen Feuerschweif hinter sich herziehend. Erst kurz über ihren Köpfen breitete Suzaku die Flügel aus, um vor ihnen in der Luft abzubremsen und auf Kais geschützten Arm zu landen. Rei band ihr mit einer feinen Schnur den Brief um den Hals, fasste ihr dann kurz mit zwei Fingern an die Stirn. „Flieg nun!“ Kai hob den Arm in die Höhe, sodass Suzaku die Flügel wieder ausbreiten und sich funkensprühend in die Lüfte erheben konnte. Er schaute ihr nach, während Rei nochmals die kleine Gasse hoch und runter blickte um sicher zu gehen, dass sie niemand beobachtete. Kai war versucht ihn zu fragen, wie Suzaku diesen Berater denn finden solle, doch im Hinterkopf hörte er Reis Stimme, die leise widerhallte und davon sprach, dass Wächtertiere andere Wächter finden konnten und er vermutete, dass auch Reis Berührung an Suzakus Stirn etwas damit zu tun hatte. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn Rei wollte nicht länger in der Gasse verharren. Sich im Schatten haltend, huschten sie weiter durch die dreckigen Straßen, während Suzaku den Kreml bereits erreicht hatte und im Sturzflug auf ein Fenster zuschoss, um auf dem Sims zu landen und mit dem Schnabel gegen das Glas zu klopfen. Der Mann, der hinter der Scheibe an einem Tisch saß, stirnrunzelnd eine Akte überflog, hob ruckartig den Kopf. Seine Augen blitzten eisig auf, als er sah, was da draußen auf dem Fenstersims saß. Er erhob sich rasch und öffnete die hohen Fensterflügel. „Soso, hat Rei also den Wächter des Feuers endlich gefunden und ihn auch noch mitgenommen. Wie dreist. Ich bin gespannt, zu was er fähig ist und kann nur hoffen, dass er sich nicht als Verlierer entpuppt.“ Suzaku kreischte beleidigt, raschelte mit den Flügeln und funkelte ihn mit roten Augen zornig an, doch der Berater hob nur beschwichtigend die Hand und winkte ab. „Lass gut sein. Zeig mir den Brief.“ Etwas unsanft zog er ihr den Brief vom Hals und riss den Umschlag auf. Während er die wenigen Worte las, zog sich seine linke Augenbraue in die Höhe und sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich abrupt um und verließ das Zimmer, um mit schnellen Schritten den Innenhof zu überschreiten. Rei und Kai währenddessen schlugen sich durch dichtes Gestrüpp näher an die Mauer heran, die den Palast umgab und eine geheime Tür beherbergte, die sie mitten in den Hof hineinführen würde. Doch sie war aus Sicherheitsgründen abgeschlossen und nur der zweite Berater des Zaren besaß den Schlüssel. Denn nur er wusste davon. Die Tür quietschte laut und Rei und Kai sahen sich zwei eiskalten Augen gegenüber, die sie von oben herab betrachteten. „Du solltest endlich anständig Russisch lernen, Rei“, begrüßte er den Heiler mit ebenso kalter Stimme. „Es erfüllt mich ebenfalls mit Freude, dich wiederzusehen, Yuriy“, gab Rei trocken in brüchigem Russisch zurück und zeigte auf Kai, „das ist Kai, der Wächter des Feuers, wie du vielleicht schon bemerkt hast.“ „In der Tat“, sprach Yuriy in überheblichem Ton und musterte ihn von Kopf bis Fuss mit abschätzigem Blick. „Kai, das ist Yuriy, der Wächter des Eises.“ „Wie passend“, nahm er zur Kenntnis und schaute ihm direkt in die Augen, hielt dem eisigen Blick stand, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Feuer prallte auf Eis und Rei konnte die Spannung spüren, die die Luft zum Knistern brachte. Er räusperte sich und es dauerte noch einige Augenblicke, bis Yuriy den funkensprühenden Augenkontakt unterbrach. „Entschuldige Rei, lass uns hinein gehen, dann kannst du mir dein Anliegen vortragen. Folgt mir. Rasch.“ Er nahm keine Rücksicht auf die beiden Wächter, die sich versteckt halten mussten und schritt mit seinen langen Beinen mitten über den Hof. Yuriy war sehr stolz. Mit seinen jungen Jahren hatte er es bereits zum zweiten Berater des Zaren geschafft und er selbst war überzeugt davon, dass er bereits die Stelle des ersten Beraters angetreten hätte, wären die Umstände im Zarenreich nicht gerade so kompliziert und seiner Meinung nach überflüssig. Er ordnete sich nicht gerne unter. Ein Grund, weshalb er Mühe hatte, sich unter den Chinesen zu stellen und dessen Anweisungen anzunehmen. Er hielt sich für einen Führer und Herrscher. Seine Intelligenz und Fähigkeiten, Leute zu seinen Vorteilen zu manipulieren oder Strategien auszudenken, war einer der Gründe, weshalb er es bereits so weit geschafft hatte. Seine Macht als Wächter machte er sich in brenzligen Situationen gerne zu Nutzen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was das für Auswirkungen haben könnte. Doch nie, niemals würde er diese Macht ausnutzen. Rei wusste das und doch fiel es ihm schwer, sich mit dem eiskalten Russen anzufreunden oder ihm zu vertrauen. Gerade wollte Rei zu seinen Erklärungen ansetzen, weshalb er hier war, als es an der dunklen, hölzernen Tür klopfte. „Schnell, hinter den Schreibtisch und kein Laut“, flüsterte Yuriy harsch und deutete mit der Hand auf den massiven fast schwarzen Schreibtisch, hinter dem sie Schutz finden konnten. „Herein“, rief er dann gelangweilt und lehnte sich im rot gepolsterten Sessel weit nach hinten, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Hinein trat ein eher schmächtiger Knabe, der offensichtlich sehr von Yuriy eingeschüchtert war. Er klammerte sich am Saum seines Hemdes fest, als wäre es ein rettendes Seil. Er atmete heftig. „Was denn nun?“, fragte Yuriy ungeduldig. Der Junge zuckte zusammen und entschuldigte sich verbeugend. Rei warf Yuriy einen bösen Blick zu, der diesen jedoch geflissentlich ignorierte. „Herr Ivanov, ich soll Ihnen ausrichten, dass die Vorbereitungen für heute Abend verzögert wurden und“, sprach er leise und vermied es dabei, Yuriy in die Augen zu sehen, als er jedoch genau von diesem unterbrochen wurde. „Wie bitte? Was soll das bedeuten, verzögert?“, wütend erhob er sich von seinem Sessel, um die Hände auf die Tischplatte zu knallen und den Boten mit tief heruntergezogenen Augenbrauen eisig anzufunkeln. „Entschuldigen Sie, Herr“, brachte er halb erstickt hervor und verbeugte sich tief, „ich wurde über den Grund nicht unterrichtet. Ich sollte Sie lediglich bitten, in den Ballsaal zu kommen und“, doch auch da kam er nicht weiter, denn Yuriy winkte ab. „Ja ja, schon gut, ich komme gleich. Du kannst gehen.“ Der Junge verbeugte sich noch einmal zum Abschied und flüchtete dann aus dem Zimmer, noch einen kurzen ängstlichen Blick zurückwerfend. Yuriy seufzte genervt auf. „Alles muss man alleine machen, diese nichtsnutzigen Verlierer. Wartet hier“, warf er noch in den Raum, bevor er mit stolz erhobenen Hauptes aus der Türe schritt. Rei entspannte sich etwas, doch er blieb hinter dem Schreibtisch sitzen und löcherte den Holzboden mit seinen nachdenklichen Blicken. Er konnte nur warten. Warten, bis Yuriy wieder zurück war, um ihm die Perle geben und ihn schwören lassen zu können, mit ihm zu gehen, denn er wusste, wie stark der Russe war und er brauchte ihn an seiner Seite. Er brauchte alle, die er auftreiben konnte. Abneigung durfte keine Rolle spielen. Genauso wenig wie Zuneigung. Aus den Augenwinkeln musterte er Kai, der aufgestanden war und nun an der Wand lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen offenbar geschlossen. Eine Pose, die sich Kai in letzter Zeit verinnerlicht hatte, merkte Rei und atmete etwas lauter aus. „Was ist?“, fragte Kai und schaute ihn aus unergründlichen Augen an, doch Rei schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich dachte nur gerade an die Mission und den Kampf, der uns bevor steht und dass wir jeden Wächter brauchen, den wir haben können. Und“, antwortete Rei wahrheitsgemäß und schaute dabei auf seine Hände, brach dann aber ab. Eine kurze Weile sagte keiner der beiden etwas, Kai, weil er Rei sprechen lassen und nicht drängen wollte und Rei, weil er es Kai eigentlich lieber verschwiegen hätte. „Und was?“, hackte Kai schließlich doch nach, die Geduld etwas verlierend und Rei schaute auf, ihm direkt in die Augen und der Krieger konnte nicht sagen, welches der Gefühle in seinen verdunkelten Augen am stärksten leuchtete, ob es seine starke Willenskraft war, die Entschlossenheit, mit der er an seine Sache heranging, oder doch der Hoffnungsschimmer, einem Wunsch, einer Sehnsucht nachzugeben, doch seine Augen verengten sich und der Schimmer verschwand, an dessen Stelle stand nur noch Unnachgiebigkeit und Trotz. „Und dass die Ablehnung gegen einen Einzelnen nicht darüber richten darf, ob die Mission scheitert, genauso wenig wie Zuneigung.“ Der Blickkontakt riss nicht ab, auch nicht, als Kai langsam nickte. „Wie du meinst“, murmelte er und drehte sich um, schaute aus dem Fenster, hinunter in den Hof, der bis auf einen Mann, der eilig über den Platz schritt, menschenleer war. Von der Seite nahm er wahr, dass Rei sich von Boden erhob und sich neben ihn stellte, die Hände locker auf den Fenstersims gelegt. „Du bist nicht meiner Meinung“, seufzte Rei. „Nicht was die Zuneigung betrifft.“ Der Heiler schloss kurz die Augen, um kurz darauf Kai mit einem nachdenklichen Blick zu bedenken, welcher sich ihm zuwandte, mit dem Arm auf den Fenstersims abgestützt. Seine Gesichtszüge waren sehr ernst. „Rei, Zuneigung alleine entscheidet keinen Krieg. Weder mit Sieg noch mit Niederlage. Die Frage ist, was du daraus machst. Natürlich werde ich mir Sorgen machen und meine Gedanken werden neben dem Feind, den ich gerade bekämpfe, ausschließlich bei dir sein, aber ich hege ein großes Vertrauen zu dir und ich weiß, dass du stärker bist, als zu zeigst.“ Er hatte leise gesprochen und mit einem bitteren Unterton in der Stimme, der Rei einen Schauer den Rücken hinunterjagen ließ. Doch Rei wollte einfach nicht locker lassen. „Aber“, warf er ein. „Es würde nichts ändern, das weißt du. Meine Gedanken werden bei dir sein, genauso wie die deinen bei mir und wie wir zueinander stehen, wird unwichtig.“ Gegen Ende waren seine Züge härter geworden, seine Stimme fester und nachdrücklicher. Langsam schien er wirklich die Geduld mit dem sturen Kopf des Heilers zu verlieren. Seinen Vorsatz, Rei nicht mehr näher zu kommen, hatte er kurzerhand über Bord geworfen und so hob er eine Hand und legte sie auf Reis, doch ehe dieser reagieren konnte, hörten sie Schritte auf dem Gang und einen Augenblick später wurde die Türe schwungvoll von Yuriy aufgeschlagen. Es dauerte lange, bis Rei endlich mit Yuriy sprechen konnte. Zu beschäftigt war er damit, den geplanten Ball zu retten, der am Abend stattfinden sollte und zu dem hunderte wichtige Adelige geladen waren. Er hatte lediglich Rei und Kai passende Kleidung vorbeigebracht, damit sie sich unter das tanzende Volk mischen konnten. Besonders Rei nahm das Angebot mit Freuden an, wo Kai wenig begeistert brummend zustimmte. Doch auch er ließ sich zu einem Tänzchen herab und die aufgetakelten Frauen mit ihren bunten bauschigen Röcken fanden großen Gefallen an ihm, sei es an seiner grimmigen Art und der guten Statur oder der unmerklichen Unbeholfenheit beim Tanzen, denn er hatte große Mühe, sich davon schleichen zu können. Kurzerhand versteckte er sich hinter einem Vorhang und atmete tief aus, als er neben sich Stimmen hörte, von der er die eine besonders gut kannte. „Wenn sie anfängt zu leuchten, dann ist es soweit, dann musst du mit den andern ins Labyrinth von Raum und Zeit kommen, ich bitte dich darum. Wir brauchen dich und deine Kraft, Yuriy, und vor allem brauche ich deine Fähigkeiten als Stratege.“ Rei wusste, wie er den Russen zu bearbeiten hatte, denn dieser nickte und lächelte herablassend. „Na gut, wenn du mich so sehr brauchst, dann werde ich da sein. Aber nun entschuldige mich, ich habe den werten Damen noch einen Tanz versprochen.“ Dann war er verschwunden und Rei lehnte sich seufzend an die Wand. „Vor allem werden wir deine Hinterhältigkeit brauchen, Yuriy“, flüsterte er vor sich hin und erschrocken drehte er sich zur Seite, als Kai ihn am Arm packte und zu sich hinter den Vorhang zog. „Kai! Was zum Henker machst du hier?“, flüsterte er entsetzt. „Ich brauchte Ruhe vor den Weibern da draußen, die gehen mir gewaltig auf die Nüsse“, sagte er schulterzuckend und Rei konnte nicht anders, als zu lachen, was Kai ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Er liebte es einfach, den Heiler lachen zu sehen, so überschwänglich und sorgenlos und es ließ sein Herz hüpfen. „Verzeih“, hauchte er, bevor er Reis Arm packte um ihn zu sich zu ziehen und seine Lippen an die Reis legte. Natürlich hatte Rei über Kais Worte nachgedacht und doch versuchte er instinktiv, sich von ihm zu lösen. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, schrie, dass es falsch war, dass er an die Mission denken musste, dass es egoistisch von ihm wäre, sich einfach so fallen zu lassen und er legte seine Hände auf Kais Schultern, um ihn wegzudrücken, doch er ließ ihn nicht. „Wieso willst du dich dagegen wehren?“, flüsterte Kai gegen Reis Lippen und der feine Luftzug ließ ihn erschaudern. „Ich weiß nicht“, antwortete Rei wahrheitsgemäß und schloss die Augen, schüttelte kaum sichtlich den Kopf. In ihm tobte ein Sturm, der heftiger war, als er ihn jemals zuvor gespürt hatte. Er hatte Angst, dass er die Mission vernachlässigen würde und doch wollte er es doch so sehr, wollte diese grob-weichen Lippen auf den seinen fühlen. Eine große Hand legte sich an seine Wange und er spürte die Hornhaut, aber nicht unangenehm, auf seinem Wangenknochen kratzen, als er sich dagegen schmiegte. Kapitel 20: Das Herz des Windes ------------------------------- um 1000 Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ das frische Gras grün leuchten und die in Blüte stehenden Kirschblütenbäume schimmerten ihr zartes Rosa. Nichts als melodisches Vogelgezwitscher und leichte Schritte auf hellem Kies waren zu hören. Keine Worte durchdrangen die harmonische Stille und nur das feine Rauschen des Windes bewegte die ruhige Szenerie, wirbelte durch die Kirschbäume und trug deren Blütenblätter hoch in den Frühlingshimmel. Ein süßlicher Geruch stieg Rei in die Nase und mit einem sanften Lächeln sog er die frische Luft tief in die Lungen. Ein Seufzer entrann seiner Kehle, als er die Augen kurz schloss, einzig um den Moment in seinem vollendeten Sein zu genießen. Kai schlenderte mit lockeren Schritten neben ihm her, seine Gesichtszüge waren entspannt und er fühlte sich ausgeruht und nahezu glücklich. Es war nicht die Zeit zur Hast und niemand durfte solch eine Harmonie durch Eile stören, auch nicht zwei Reisende, die der Muße nicht nachgeben dürften. Ein kleiner Bach zerschnitt den geschlängelten Kiesweg, der jedoch seinen Weg unbeirrt über eine gewölbte Brücke weiterführte, dem Schicksal trotzend. „Wie überaus kitschig“, merkte Kai leise grinsend an und zog spottend einen Mundwinkel nach oben. „Ja“, seufzte Rei und verzog den Mund ebenfalls zu einem süffisanten Lächeln, „so wie die Japaner es lieben.“ Ihre Blicke trafen sich nicht, beide blickten nach vorne, versunken in ihren Tagträumen von letzter Nacht. Die Küsse, die sie austauschten, hatten so vieles verändert. Und doch war Rei nicht bereit, sich ihm hinzugeben, nicht solange ihre Mission so unmittelbar bevor stand und sie all ihre Kräfte brauchen würden. Er glaubte nicht, dass es sie stärker machen würde, wenn sie ihre Gefühle zuließen. Kai wusste das und er hatte ihm versprochen, ihn zu nichts zu drängen und Rei war ihm sehr dankbar dafür. Die Allee auf der sie Schritten, löste sich in einem Park auf und gewährte ihnen die Sicht auf einen großen, gepflegten, bunten Garten, angeordneten Steinen und einen kleinen Wasserfall, offensichtlich künstlich angelegt. Mitten auf dem grünen Rasen stand ein Junger Mann in weißem Kimono und zusammengebundenen schwarzen Haaren in einer Pose der traditionellen japanischen Schwertkampfkunst, das Schwert schimmerte bläulich und scharf. Lautlos glitt er in eine andere Position, seine Bewegungen, sein Atem, sein Herzschlag dem Pulsieren der Erde unter seinen nackten Füßen angepasst. Erst als sie in einige wenige Schritte Abstand vor ihm hielten, brachte er seine Glieder in aufrechten Stand, das Schwert unter den Ellbogen geklemmt, den Kopf gen Boden geneigt, die Hände zusammengefaltet. Er verneigte sich, wie es der japanische Brauch verlangte. „Was für eine überaus große Freude, dich wiederzusehen, Rei“, sprach er in jugendlich brüchiger Stimme, blickte auf und schaute ihn strahlend an, „ach, komm her, lass dich in die Arme schließen!“, und ohne weitere Vorwarnung schlang er die Arme um Rei und drückte ihn an sich, sein Lachen hallte über den Garten und ließ einen kleinen Vogel, der bis soeben sein fröhliches Lied sang, auf seinem Ast erschrocken verstummen. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, kleiner Takao“, lachte Rei, worauf er sich einen Stoß in die Rippen einfing. „Ich bin nicht klein“, giftete der Japaner zurück, seine Aufmerksamkeit allerdings galt bereits Kai, der etwas hinter Rei stand, „wer ist denn das?“, fragte er neugierig. „Kai Hiwatari“, antwortete der Krieger kurz angebunden. „Du bist Schwertkämpfer?“, stellte Takao mit einem Blick auf Kais Langschwert fest, worauf dieser nickte. „Ich fordere dich zu einem Kampf heraus!“ Der kleine Japaner hatte sich vor Kai aufgebaut und starrte ihm mit übermütiger Angriffslust in die Augen. Kai zog eine Augenbraue in die Höhe und Rei stöhnte auf, musste dann aber lachen. „Man soll nicht mit dem Feuer spielen“, versuchte Kai Takao mit kalter Stimme zur Vernunft zu bringen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Wächter des Feuers? Ich werde dich besiegen!“, war sich dieser jedoch sicher und lachte frech. Kais Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. „Ich nehme deine Herausforderung an“, knurrte er und reckte sein Kinn. „Takao, lass gut sein, dies ist ein wirklich ungünstiger Zeitpunkt.“ Rei mochte es gar nicht, wenn Takao seine Fähigkeiten so zur Schau stellen musste, doch auch Kai schien einem kleinen Machtaustausch nicht abgeneigt, hatte er doch lange keinen anderen Gegner mehr gehabt als Rei und dieser kämpfte nun mal nicht mit dem Schwert. „Ein kleiner Kampf kann nicht schaden, Rei“, wies er ihn zurück. Takao nickte eifrig und stellte sich grinsend in Angriffsposition. „Es wird nicht lange dauern, versprochen“, versuchte er Rei noch zu besänftigen, seines Sieges bereits sicher, doch dieser verdrehte lediglich die Augen. „Na schön, dann tut, was ihr nicht lassen könnt.“ Er entfernte sich einige Schritte, während Kai so stehen blieb, wie er war und darauf wartete, dass der Japaner angriff. Er war sich sicher, dass der Jungsporn ohne groß zu überlegen angreifen würde und wartete, die Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, bereit zu ziehen. Takao griff an. Er war schnell und wilde Entschlossenheit funkelte in seinen Augen, als er das Schwert hob, um es direkt auf Kai niedersausen zu lassen. Doch dieser hatte von Rei einige Tricks gelernt, dass man zum Sieg nicht unbedingt eine Waffe brauchte, und nur mit einem kleinen Schritt wich er Schwert und Mann aus. Takao, überrascht, dass Kai nicht abblockte, krachte zu Boden. Mit großen Augen schaute er auf und bemerkte die Schwertspitze, die kurz vor seiner Nase in der Luft schwebte. „Ich sagte doch, dass du nicht mit dem Feuer spielen sollst“, sagte er ruhig und steckte das Schwert zurück in die Scheide. Takao rappelte sich auf. „Ich will eine Revanche!“, rief er entrüstet, doch Kai schritt zu Rei zurück, den zappelnden Japaner ignorierend. Der Heiler lächelte ihn süffisant an. „Ich bin stolz auf dich, du scheinst viel gelernt zu haben.“ „Vom Besten“, antwortete Kai und grinste sein schräges Grinsen. Takao hatte sich zu ihnen gesellt und schmollte. „Na schön, ich werde dich bei Gelegenheit erneut herausfordern und dann werde ich dich besiegen! Ich habe dich halt etwas unterschätzt, wird nicht wieder vorkommen, verlass dich drauf!“, versprach er großspurig und in seinen Augen funkelte sein steinharter Wille, „aber nun lasst uns hinein gehen, Großvater wird sich freuen, dich zu sehen, Rei.“ Großvater freute sich tatsächlich so sehr, dass er aus dem Redeschwall fast nicht mehr hinauskam. Er servierte Tee und Essen, da er der Meinung war, dass Rei dünner aussah als das Letzte mal, als er ihn gesehen hatte, was allerdings schon sehr lange her war und Großvater bekanntlich gerne etwas mehr an den Rippen junger Männer sah, sein Neffe war Beweis genug. Also schlugen sie sich die Bäuche voll, bis Großvater auf ein Thema zu sprechen kam, das Rei weit mehr interessierte als die Gespräche zuvor um ihren Alltag. „Takao hat sehr gute Fortschritte gemacht in seiner neuen Technik, ich hätte es selber nicht gedacht, aber er ist richtig gut geworden. Nicht wahr, Junge?“ Freudig klopfte er ihm auf die Schulter. Takao grinste. Rei schaute interessiert zwischen den beiden hin und her. „Dürfte ich das mal sehen?“, fragte er schließlich neugierig. Großvater nickte begeistert und Takaos Grinsen wurde noch breiter. „Natürlich, los, ihr jungen Recken, gehen wir in den Dojo.“ Im großen Raum stellte sich Takao in die Mitte und Rei, Kai und der Großvater lehnten sich an die Wand. Keine Sekunde ließen sie ihn aus den Augen, während er sein Schwert aus der Scheide zog, die Augen schloss und tief durchatmete. Sekundenlang standen alle ganz still, wagten kaum zu atmen, als sich Takaos Haare begannen zu bewegen, wie durch einen Luftzug. Gebannt beobachteten sie jede kleinste Bewegung, jede Haarsträhne, jedes Zucken der Sehne am Hals, spürten selbst, wie der Wind ihre Wangen streichelte. Spürten, wie er immer stärker wurde, sich um den jungen Japaner schlängelte, sich langsam zu einem Sturm aufbaute. Rei musste schlucken, als er die Kraft wahrnahm, die von Takao ausging. Als dieser langsam das Schwert hob, wurde der Sturm stärker und da tauchte etwas im Wind auf, wie blaue Fäden, die silbern schimmerten und als Takao mit einem lauten Angriffsschrei einen großen Ausfallschritt nach Vorne machte, die Klinge nach unten sausen ließ, brach ein Drachen aus dem Nichts hervor, schnitt die Luft um sie herum entzwei, hinterließ tiefe Kerben im Holz, das den Raum kleidete. Rei fühlte einen Schnitt an der Hand, die er instinktiv vor die Augen gehoben hatte. Kai war zu gebannt von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Ein blutige Linie zierte seine Wange, einige Haare fielen zu Boden, sein linkes Ohr brannte, als sich eine tiefe Kerbe in die Muschel schnitt. Es war schneller vorbei, als Rei oder Kai denken konnten. Perplex starrten sie den Jungen an, der bereits wieder breit grinsend zu ihnen hinüberschritt, sein Drache schlängelte sich um seine Schultern. „Takao, du warst großartig!“, strahlte Rei ihn an, „du hast wirklich sehr große Fortschritte gemacht, das war unglaublich.“ Kai hielt sich im Hintergrund. Was er da gesehen hatte, war in der Tat unglaublich. Plötzlich musste er sich eingestehen, dass er gegen Takao keinen Hauch einer Chance gehabt hätte, hätte dieser bei ihrem kurzen Kräftemessen vorhin diese Attacke angewandt. Soweit war er noch nicht. Es war etwas später am Nachmittag, als sie sich von Großvater verabschiedeten. Takao begleitete sie noch ein Stück, unterhielt sich aufgeregt mit Rei über seine Fähigkeit, seine Waffe mit seinem Wächtertier zu verbinden, um eine effektive Attacke ausführen zu können. Er hatte soweit trainiert, dass er diesen Zustand bereits mehrere Minuten aufrecht erhalten konnte. „Nun ja, es ist halt ziemlich kräfteraubend, aber ich krieg das noch länger hin, ich muss nur noch mehr üben!“ Rei grinste matt, als er ihm auf die Schultern klopfte. „Mach dir nicht zu viel Gedanken darüber, Kleiner, du bist jetzt schon weiter als wir alle zusammen. Sieh, die ist für dich“, Rei zog eine kleine weiße Perle aus einem kleinen Säckchen und legte sie auf Takaos ausgestreckte Hand, „wenn sie leuchtet, musst du in das Labyrinth von Raum und Zeit kommen, dann beginnt unsere Mission. In der Zwischenzeit musst du aber noch die andern holen. Du weißt, wo du sie finden kannst. Gib auch ihnen jeweils eine Perle, damit sie den Zeitpunkt nicht verpassen. Wir brauchen alle, die wir auftreiben können.“ Takao nickte, sein Blick war ernst und seine Finger fest um das kleine Säckchen geschlossen. Rei wusste, auch wenn der Japaner nicht danach aussah, wenn es um seine Freunde ging, war er zuverlässiger als bei allem anderen in seinem Leben. „Geh nach Hause, Takao, genieße die Zeit mit deinem Großvater und deinen Freunden, solange du noch kannst. Wer weiß, was uns danach erwartet.“ Takao sah ihn skeptisch an, verstand er die letzten Worte seines Freundes nicht, doch er nickte, lächelte sie beide an und verabschiedete sich winkend. Kai starrte vor sich zu Boden. Er hatte einen Entschluss gefasst. „Ich möchte das erlernen.“ Rei seufzte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte er ihn an. „Das ist sehr schwer, Kai.“ „Ich scheue keine Herausforderung“, sagte Kai ernst. „Ich weiß, aber“, Rei brach ab. „Du glaubst nicht, dass ich das schaffe?“ Kai schien etwas verärgert, bliebt stehen uns starrte den Chinesen aus funkelnden Augen an. „Das ist es nicht. Komm, setzen wir uns hin. Dort unter dem Baum. Ich will es dir in Ruhe erklären.“ Einige Schritte entfernt von ihnen stand ein großer, verknorrter Kirschblütenbaum. Stumm setzten sie sich, lehnten sich an den Stamm. Reis Blick schweifte ab in die weite Ferne des blauen Himmels. Wenige weiße Wolken zogen vor sich hin. Mehrmals atmete er ein und wieder aus, überlegte lange, bevor er zu sprechen anfing. „Sein Wächtertier mit seiner Waffe zu verbinden ist viel schwieriger, als einfach nur das Element zu beherrschten.“ „Dem bin ich mir durchaus bewusst.“ Doch Rei schüttelte den Kopf. „Nein, du verstehst nicht. Ich kenne niemanden, der das beherrscht.“ „Was ist mit dir? Als du mein Schwert zerbrachst, war das nicht genau so?“, unterbrach ihn Kai. Rei lächelte schief. „Nein, ich beherrsche das nicht. Genug, um etwas Schaden anzurichten, aber nicht im selben Ausmaß wie Takao. Weder ich noch du, noch die anderen Wächter sind dazu im Stande.“ Kai legte die Stirn in tiefe Falten. „Was macht dich da so sicher?“, stellte er die berechtigte Frage. „Vertrauen, Kai. Tiefes, bedingungsloses Vertrauen. Das ist der Schlüssel und Takao ist der einzige, den ich kenne, der ein solches Urvertrauen in alles und jeden hegt. Das Band zwischen ihm und Seiryuu ist so stark wie kein anderes zwischen Wächter und Wächtertier. So wie ich dich kenne, vertraust du nichts und niemandem, was nach deinen Erlebnissen im Krieg nicht verwunderlich ist. Ich bezweifle, dass du selbst deinen eigenen Reihen trautest. Boris verließ sein Zuhause, aus Misstrauen in andere Menschen. Makkusus wurde vermutlich von seiner Mutter ausgesetzt, als er noch ein Baby war, er war nicht in der Lage, ein Urvertrauen überhaupt aufzubauen. Yuriy traut nur sich selbst, doch nur, weil er selbst niemandem einen Grund gibt, ihm Vertrauen zu schenken. Und wie kann einer, der sich selbst verlor, ein solches Vertrauen aufbauen? Nein, Kai, an Takaos Fähigkeiten kommen wir nicht ran. Er ist einzigartig. Von uns Wächtern ist er der einzige, der dazu imstande ist. Auch wenn er seine Eltern nicht oft sieht. Im Geiste sind sie immer bei ihm und das merkt er und gibt ihm Kraft.“ Rei verstummte und Kai blickte zu Boden. Was Rei da sagte, stimmte. Er hatte noch nie jemandem vertraut. Niemandem, außer Rei. Und selbst ihm vertraute er nicht bedingungslos. Es war etwas, was er nicht steuern konnte. Auch wenn er gerne würde, das Misstrauen in ihm hatte lange genug Zeit gehabt, alles Vertrauen zu eliminieren. Bis jetzt hatte es ihn immer geschützt. Es hatte ihn stark gemacht. Diesen Schutzschild wollte er nicht verlieren. „Was tun wir jetzt?“, fragte Kai, blickte Rei an. Etwas hatte sich zwischen sie gestellt. Er fühlte sich seltsam weit entfernt von ihm. Und er konnte dem Drang, ihn zu berühren nicht nachgeben. Die unsichtbare Wand zwischen ihnen hinderte ihn daran. Die Zähne zusammenbeißend, folgte er Reis Blick. Die kleine Wolke zog langsam weiter, unbeeindruckt. „Jetzt warten wir.“ Kapitel 21: Drittes Buch: Geheimnishüter ---------------------------------------- Andere Zeiten an anderen Orten Die Zeit neigte sich langsam dem Ende zu. Es war ein Tag wie jeder andere und doch etwas anders. Denn mit jedem Tag, der seither vergangen war, lagen die Nerven blanker. Eine tiefe Spannung lag in der Luft, die Gedanken waren nie dort, wo sie sein sollten. Auch wenn sie versuchten, nicht daran zu denken, das Gewicht in ihren Hosentaschen, die Anziehungskraft der kleinen Perle schien unnatürlich groß. Ihre Waffen lagen schon lange griffbereit. Ihre Wächtertiere teilten ihre Anspannung. Mit gespitzten Ohren, zuckenden Schwänzen und Schweifen, weit aufgerissenen Augen, folgten sie aufmerksam jeder Bewegung ihrer Partner. Doch niemand sonst wusste etwas von ihrem Vorhaben. Niemandem hatten sie Bescheid gesagt. Sie würden ihre Freunde, ihre Familien ahnungslos zurücklassen, selbst unwissend, ob sie überhaupt zurückkehren würden. Tagelang, fast wochenlang hatten sie gewartet. Ihre Ungeduld wurde kontinuierlich größer. Vermischte sich mit Angst vor der Ungewissheit, was sie erwarten würde. Mit Abenteuerlust. Mit der Trauer, ihre Angehörigen verlassen zu müssen. Ohne Abschied. Mit der Frage, ob sie sie wiedersehen würden. Was die Zukunft für sie bereit hielt. Wie es enden würde. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont, der Himmel hatte sich bereits halb dunkel verfärbt. Ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Tief versunken in ihren Gedanken erhaschten sie einen letzten Blick auf die Sonne, bevor sie vollends versank. Ein Bruch in der Zeit. Das weiße Leuchten der Perlen erschien verstreut über Raum und Zeit. Ein Lächeln. Ein bedeutungsvoller Blickwechsel. Dann waren sie verschwunden. Sie waren alle da. Sie erschienen aus den verschiedenen Toren der heiligen Lichtung, gerüstet und bewaffnet für die kommende Schlacht, in Begleitung ihrer Wächtertiere. Rei begrüßte jeden, der auf der Lichtung erschien mit einem Dank. Byakko stand neben ihm, den Kopf stolz erhoben, seine Rüstung glänzte golden, wie die Suzakus, die über ihren Köpfen kreiste. Takao war da, um ihn herum Seiryuu, sein Schwert steckte in der Scheide, die auf seinem Rücken ruhte. Er schien es kaum erwarten zu können. Makkusu hatte sich neben ihn gestellt, Genbu zu seinen Füßen. Er war etwas nervös, war er doch eher defensiv veranlagt. Yuriy stand etwas abseits, sein Wolfswächter Wolborg ebenso desinteressiert wie er selbst. An seinen Händen schimmerten lange Klingen, die an Wolfskrallen erinnerten. Boris stand auf der anderen Seite neben Rei und Kai, Falborg hatte sich zu Suzaku gesellt. Sein schwerer Hammer baumelte neben seinem Bein an einem Gürtel. Ernster als Kai ihn kennengelernt hatte, nickte er ihm zum Gruß zu. Und da waren Wächter, die Kai noch nicht gesehen hatte. Da waren Rai mit Galeon, Mao mit Galux, Kiki mit Galman und Gao mit Galzzly aus den Tiefen Chinas. Oribie mit Unicolyon aus Frankreich, Jony mit seiner Axt auf dem Rücken und Salamalyon aus Schottland, Giancarlo mit Schwert und Schild und Amphilyon aus Italien und Robert mit einem Morgenstern in beiden Händen und Gryffolyon aus Deutschland. Michael mit seinem Trygle , Emily mit Trygator, Eddy mit Trypio, und Steven mit Tryphorn aus Amerika. Sergej mit Seaborg und Ivan mit Wyborg aus Russland, genauso unnahbar wie Yuriy. Die etwas schwer einzuschätzenden Mystel mit Pfeil und Bogen und Poseidon, Ming-Ming mit Venus, Garland mit Appolon und Moses mit Gigars. Und da waren Ozuma mit Flash Leopard, Miriam mit Sharkrash, Jusuf mit Vanishing Moot und Dunga mit Vortex Ape, geheimnisumwogen und mysteriös. Sie waren alle da, vereinten die Elemente um in den Kampf zu ziehen. Einer der Torbogen leuchtete kurz auf, als ein junger Mann hindurchschritt. Er war der letzte und wirkte fehl am Platz, ohne Wächtertier und mit Krawatte, auf seiner Nase saß eine große runde Brille, unter seinem Arm klemmte eine Mappe. Kai erinnerte sich an Reis Worte, dass nur Wächter die Lichtung fänden und fragte sich, was es mit diesem Kerl auf sich hatte. Doch Rei wirkte angespannt und erleichtert zugleich, als er ihn bemerkte und ging mit langen Schritten auf ihn zu, umarmte ihn leicht. „Kyojou! Da bist du endlich. Es sind schon alle da und warten darauf, dass du ihnen sagst, was sie tun müssen.“ Der braunhaarige Wuschelkopf nickte, räusperte sich und trat an Reis Seite in die Mitte der Versammlung. „Meine Freunde, das ist Kyojou, einigen von euch habe ich vielleicht bereits etwas über ihn erzählt. Er ist derjenige von uns, der in der jüngsten Geschichte lebt. Also später als ihr alle, in der Zukunft. Er war es, der den Hilferuf schickte.“ Rei schubste ihn etwas nach vorne, forderte ihn auf, zu reden. Kyojou schien schüchtern und soviel Aufmerksamkeit nicht gewohnt, er kratzte sich an der Nase und räusperte sich erneut. „Hallo zusammen. Ihr kennt alle die Legende, nach der die Welt und unser Sonnensystem entstand. Demnach hatten sich Anima und Nex angefreundet, um gemeinsam die Erde zu beleben und erst gemeinsam gelang es ihnen, einen Zyklus von Leben und Tod zu erschaffen, der unsere Welt prägt.“ Seine Zuhörer nickten zustimmend, die Geschichte war ihnen vertraut. „Ihr wisst auch, dass Nex zuerst eifersüchtig war und die Erde, Animas Werk, zerstören wollte.“ Ärgerliches Getuschel ging durch die Reihen, verstummte jedoch, sobald Kyojou weiterfuhr. „Ihr Bündnis schien bis in alle Ewigkeit zu halten, doch das täuscht!“ Fragende Blicke löcherten ihn nun. „Während Anima ganz offensichtlich ihre Wächter auf die Erde schickte, um das Gleichgewicht zu halten, schickte Nex seine dunklen Gestalten im Geheimen, versteckte sie in den Schatten und im Untergrund.“ Das Getuschel wurde wieder lauter, aufgewühlt und erzürnt. „Die Wächter gingen mit der Zeit vergessen, da sich das Gleichgewicht hielt und sie nicht mehr gebraucht wurden. Je mehr Zeit verging, desto mehr ging ihre heilige Kraft verloren. Nex hatte genau darauf gewartet, denn seine düsteren Untertanen schöpften Kraft durch die abtrünnigen Gedanken der Menschen, die nach Macht strebten und die Welt unterwerfen wollten.“ Einige empörte Rufe drangen aus der Traube der Zuhörenden. „Tatsache ist, dass in der Zeit, aus der ich komme, viele Millionen von Jahren nach Animas und Nex’ Bündnis, die Schatten genug Kraft erworben haben, um auszubrechen. Sie haben von den Menschen Besitz ergriffen, um die Welt in ihr Verderben zu stürzen und Nex’ fürchterlichen Versuch zu vollenden, Animas geliebten Planeten zu vernichten.“ Stille. Sämtliche Blicke waren auf ihn gerichtet, einige suchten Bestätigung bei Rei, der nur bitter nicken konnte. „Die Schatten sind so stark wie nie zuvor und so Leid es mir tut das zu sagen, aber wir, die Wächter, haben in den Jahren, in denen wir nicht gebraucht wurden, unsere Kraft eingebüßt. Ich kann nicht sagen, wer stärker ist. Aber wir müssen alles geben. Wir dürfen Nex , den Verräter, nicht gewinnen lassen.“ Zaghafte Zustimmung breitete sich aus. Die Nachricht hatte sie geschockt, doch ihre Bestimmung war es, die Schatten zu vernichten und zu bannen, zurück in den Untergrund, und dem würden sie nachkommen. Angst hatten sie vielleicht, doch der Mut in ihnen war größer. „Nun, Angriff ist die beste Verteidigung, nicht wahr?“ Yuriys kalte Stimme übertönte alle anderen. Für ihn war klar, dass sie anders nichts erreichen würden. Für ihn war es an der Zeit, in den Krieg zu ziehen. Während einige sofort zustimmten, blieben andere skeptisch. Doch auf die Schnelle wusste niemand einen anderen Vorschlag zu machen. Der Drang nach Abenteuer kam noch zusätzlich hinzu. Und schließlich war es der Tatendrang, der die Zurückhaltung verdrängte. Erstes Gebrüll war bereits zu hören, als Kyojou etwas in den Sinn kam. „Hört zu. In die Zeit, in die wir gehen, wird nichts so sein, wie ihr es kennt. Es ist das metallene Zeitalter, überall hat es Maschinen, die Städte bestehen aus Stahl und Beton, Grün ist sozusagen ausgestorben. Es wird euch alle überfordern. Deshalb werde ich euch nun einige Bilder übermitteln. Erschreckt nicht.“ Konzentriert schloss er die Augen. Es brauchte ihn viel Kraft, so viele Bilder an alle Wächter zu schicken. Angestrengt runzelte er die Stirn. Die Bilderfolgen waren schrecklich. Düster. Hektisch. Grau. Ihm entging nicht das unterdrückte Schaudern, das jeden einzelnen von ihnen innerlich erzittern ließ. Einige bissen hart die Zähne zusammen. „Ja, das ist unser Ziel. Unser Schlachtfeld“, murmelte Kyojou. „Was ist mit all den Menschen? Wir werden sie in Gefahr bringen. Sie werden es nicht verstehen. Mit der Zeit glaubten sie immer weniger an Übernatürliches“, warf Mao ein. Doch Kyojou schüttelte schlicht den Kopf. „Nein. Sie werden nichts von all dem mitbekommen. Die Menschen sind blind geworden, sie werden weder uns, noch unsere Fähigkeiten wahrnehmen. Und wenn doch, werden sie es ignorieren und verleugnen. Uns wird niemand bemerken.“ „Auf was warten wir denn noch länger, auf bessere Zeiten?“, versuchte Ozuma etwas Witz in die Ernsthaftigkeit zu bringen, doch das Gelächter blieb größtenteils aus. Rei warf Kai einen Blick zu. Er hatte schon lange kein Wort mehr gesagt und Rei machte sich Gedanken, wie es dem Krieger ging. Unauffällig streckte er die Hand etwas aus, um mit den Fingern über Kais Handrücken zu streicheln. „Es tut mir leid“, flüsterte er. Kai wandte den Kopf und sah ihn mit einem Blick an, der Rei nicht definieren konnte und er fragte sich, wann das gewechselt hatte, seit wann er es war, der Kai nicht lesen konnte. „Was tut dir leid?“, fragte Kai zurück, seine Stimme kühl und rau. „Dass du schon wieder in einen Krieg mit hinein gezogen wirst. Eigentlich wollte ich das verhindern, aber wie es scheint, ist mir das nicht möglich und dir nicht gegönnt.“ Er fühlte sich unangenehm schuldig, wollte er ihm doch friedliche Zeiten zeigen, ihn spüren lassen, was es heißt glücklich zu sein und unbeschwert leben zu können und nun war er es, der ihn in einen erneuten Krieg gezogen hatte. Einen Krieg, der ihn nur etwas anging, weil er ein Wächter war, was er erst durch ihn erfahren hatte. Betrübt senkte er den Blick. „Du selbst sagtest einmal, dass der Krieg mein Schicksal sei, wie es deines ist zu heilen.“ Sein Mundwinkel zuckte. Es war nicht so, dass er es schlimm fände, hier mit ihnen allen in eine Schlacht zu ziehen. Sie waren viel weniger als die Armeen, in denen er bislang kämpfte, und ihr Gegner war etwas, das sie weder bestimmen noch richtig greifen konnten, doch diesmal hatte er ein Ziel. Es war das erste Mal, wo er wusste, für was er sein Leben aufs Spiel setzte. Zum ersten Mal hatte er einen Grund. Und er hatte Freunde, für die es sich zu kämpfen lohnte. Oder zumindest für einen lohnte es sich, alles zu geben. „Es ist halb so fürchterlich, wie du denkst. Und ich bin überzeugt, dass es dem Trupp hier alles andere als schadet, wenn zumindest einer weiß, was es heißt Krieg zu führen.“ Rei musste unwillkürlich schmunzeln. Hier sprach der geborene Krieger. Es gefiel ihm trotzdem nicht. „Das hier ist etwas anderes. Hier geht es nicht darum, Schwerter sprechen zu lassen, das hier ist ein magischer Krieg, übernatürlich, hier zählt nicht nur die Länge oder die Reichweite der Klinge, Magie kann dir den Kopf verdrehen, kann dich betäuben, erstarren lassen, in dich eindringen und dich von innen heraus zerstören. Hier brauchst du mehr als nur genügend Kraft um Schmerzen auszuhalten, du musst der Verlockung widerstehen können, die dir eingepflanzt werden kann. Körperliche Stärke ist hier nicht alles, der Geist-“ „Rei, ich werde das schaffen. Vertrau mir“, unterbrach ihn Kai etwas ärgerlich. „Wenn das hier vorbei ist, wird es keinen Krieg mehr für dich geben. Nie wieder.“ Da war Rei sich sicher. Zumindest wünschte er es ihm. Die Traube von Wächtern verschob sich immer mehr in die Richtung des Tors, aus dem Kyojou gekommen war. Rei warf Kai einen letzten Blick zu, dann liefen auch sie den anderen hinterher. Sie alle drängten sich durch den leuchtenden Torbogen, durch den von Fackeln beleuchtete Steintunnel. Einige hatten Lieder angestimmt, um die Stimmung etwas aufzuheitern, Kai kannte das nur zu gut. Der Tunnel war lang und sah genau gleich aus wie die anderen, durch die er bereits gegangen war. Nur das Ziehen in seinem Magen war noch nie so stark gewesen. Ihm fiel auf, dass auch der Schamane, der vor ihm ging, sich den Bauch hielt. So auch Takao und einige andere, pressten sich teilweise schon fast schmerzhaft die Faust in den Magen. Eine Reise durch die Zeit ging nicht spurlos am menschlichen Körper vorbei, je weiter sie durch die Zeit reisten, desto mehr machte sich der Verstoß gegen die Naturgesetze bemerkbar. Das Spiel mit der Zeit hatte seinen Preis, der gezahlt werden musste. Anfangs nur körperlich, regelmäßige Reisende wurden schließlich im Geiste angegriffen, verloren letztendlich ihre Identität. So wie Rei. Die ersten verschwanden durch den Felsen, der den Ausgang versperrte, weitere folgten. Überrascht mussten sie feststellen, dass sie sich nicht in der Höhle befanden, die normalerweise Raum zwischen dem Labyrinth von Raum und Zeit und der wahren Welt ließ, sondern sie auf einer Straße standen, betoniert und befahren. Erschrocken sprangen sie zur Seite, den fahrenden metallenen Ungeheuern aus dem Weg. Es war dunkelste Nacht, doch der Verkehr dicht. Sie waren noch nicht alle draußen, da hörten sie schrille Schreie, die ihnen in den Ohren schmerzten, ihnen wurde kalt und einige Wächter begannen zu brüllen. Warnrufe verließen ihre Kehlen. Verwirrt und überrumpelt wussten einige nicht, was geschehen war. Ein grässlicher Schrei ließ die hintersten nur erahnen, was vorne geschah. Rei war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Hastig drückte er sich nach vorne, Kai folgte ihm ohne zu überlegen. Ein weiterer Schrei, wütendes Gebrüll und ein lautes Pfeifen in viel zu hoher Frequenz schmerzte in ihren Ohren, da sahen sie endlich, was geschah. Die ersten lagen am Boden, die Gesichter schmerzverzerrt, sich krümmend, umschlungen von etwas, das aussah wie dunkle zu Materie gewordene Schatten. Diejenigen, die nachgekommen waren, versuchten mit Waffen, genauso wie mit ihren Kräften gegen sie anzukämpfen. Die Wächtertiere spuckten wütend Feuer und Wasser, versuchten, die Erde zu erschüttern oder sie wegzublasen. Ohne Erfolg. Yuriy fluchte laut auf Russisch, als auch seine Versuche, die Schatten einzufrieren, fruchtlos blieben. Andere versuchten mit bloßen Händen, die Schatten von ihren Freunden wegzuziehen, doch sie waren nicht fassbar, hielten nur das, was sie halten wollten, entwanden sich ihren Griffen wie Luft. Fassungslos stürzte sich Rei in die Richtung der am Boden Liegenden, doch Kai hielt ihn am Arm zurück. „Lass mich los!“, schrie er ihn an und versuchte, sich frei zu machen, doch Kais Blick blieb hart. „Lass mich los, verdammt!“ Kai zuckte zusammen, als er ein stechendes Kribbeln durch seinen Körper schießen spürte, wie ein kleiner Blitzschlag, und lockerte seinen Griff um Reis Arm, der wütend dreinblickte. Sofort riss er sich los. Er wusste, dass hier niemand mehr etwas ausrichten konnte. Sie waren ahnungslos in einen Hinterhalt getappt. Er musste nach vorne. Sofort. Doch die Wächter drängten immer weiter zurück in den sicheren Tunnel, den die Schatten nicht betreten konnten. Rei kämpfte sich nach vorne, rammte den Entgegenkommenden die Ellbogen in die Rippen, damit sie aus dem Weg gingen und nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, stolperte er auf die Straße, fiel zu Boden. Da sah er sie. Die Schatten, die die zuckenden Körper seiner Freunde umschlungen hatten, ihnen das Leben aussaugten. „Nein, das tut ihr nicht!“, krächzte er und rappelte sich auf, stürzte sich auf seine dunklen gestaltlosen Feinde, Wut stieg in ihm auf, Wut auf die Schatten, Wut auf Nex, den Verräter, Wut auf sich selbst, weil er nicht früher gehandelt hatte, weil er gezögert hatte, weil er überrascht war und leichte Panik in ihm aufgestiegen war, und er fühlte, wie diese Wut aus ihm herausbrach, eine helle blendende Lichtkugel breitete sich um ihn herum aus, ließ die Nacht kurz zum Tag werden, und das grelle Licht ließ die dunklen Schatten zerfetzen. Kapitel 22: Im Angesicht der Zeit --------------------------------- Sie waren am Boden zerstört. Beinahe hätten sie zwei ihrer Leute verloren uns sie selbst waren machtlos gewesen, was sie auch getan hatten, es war wirkungslos geblieben. Rei hatte sie zwar vertreiben können, doch sie waren sich sicher, dass dies den Schatten nicht groß geschadet hatte und Rei war erschöpft nach solch einem immensen Kraftausbruch. Er hatte kaum mehr alleine gehen können. Makkusu kümmerte sich um Kiki und Giancarlo, während Rei sich ausruhte. Boris warf Kai einen bedeutungsvollen Blick zu und der Krieger verstand plötzlich, was der Schmied gemeint hatte, als er ihm sagte, dass Rei eine Macht besaß, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Doch er begriff auch, dass ihn diese Macht gleichzeitig ungemein schwächte. Das musste der Grund dafür sein, warum er ihn sie nie hatte einsetzen sehen. Als Kiki und Giancarlo wieder einigermaßen stabil auf den Füßen standen, an Stängeln der Passionsfruchtblüte kauend, die sie etwas beruhigen sollten, hockte sich der Schamane neben Rei und hielt ihm eine Schale zu Trinken hin. Es war eine warme Medizin, die er oft verwendet hatte, um verletzte Stammesmitglieder wieder aufzupäppeln und er hoffte schweren Herzens, dass sie auch hier helfen würde. Rei setzte sich auf und lächelte etwas unbeholfen. „Danke dir, Maksi.“ Die Medizin tat gut, sie gab ihm etwas von der Wärme zurück, die er zuvor verloren hatte. Doch es war nicht genug. Seine Fingernägel waren blau unterlaufen, genauso wie sich seine Lippen violett verfärbt hatten. Ihm war so kalt. Ein Schaudern ließ seien Körper erzittern. Er rappelte sich etwas mühselig auf. „Kai? Mir ist kalt“, murmelte er an den Krieger gewandt und sah ihn erwartungsvoll mit müden Augen an. Er verstand. Mit einer fließenden Bewegung zog er sich das Lederbändchen über den Kopf und Rei in die Arme, der seine Hände sofort unter dessen Hemd verschwinden ließ. Kai zuckte nicht einmal zurück, als die kalten Finger seine nackte Haut berührten. Behutsam strich er ihm über den Rücken, ließ seine Körpertemperatur kontrolliert kontinuierlich leicht steigen. Rei murmelte etwas in seine Halsbeuge, drückte die kalte Nasenspitze an das warme Fleisch und schloss die Augen. Das tat gut. Noch viel besser als die Medizin. Die restlichen Wächter hatten sich unterdessen zusammengesetzt, um sich zu beraten. Einzig Yuriy hielt sich etwas im Hintergrund, er war immer noch der Ansicht, dass Angriff die beste Verteidigung war und sie mit Opfer rechnen mussten, wollten sie gewinnen. Dass die anderen diese Meinung nicht mit ihm teilten, war nur zu offensichtlich. Doch wie sie die Sache auch drehten und wendeten, von welcher Perspektive sie die Situation auch betrachteten, sie blieben alleine schon an der Tatsache stecken, dass sie nicht wussten, wie diese Schattengestalten zu besiegen waren. Die Hoffnungslosigkeit drückte schwer. Die Euphorie, die sie kurz zuvor noch verspürt hatten, war gänzlich verschwunden, sie fühlten sich schwach und hilflos, ohne die geringste Ahnung, was zu tun war. „Es gäbe da vielleicht eine Möglichkeit“, überlegte einer laut, aber zögernd, und sofort waren alle Augen auf Mystel gerichtet, der stur seinen Bogen anstarrte. „Was meinst du?“, fragte ihn Ming-Ming etwas ungeduldig. „Nun ja, wenn wir die Welt da draußen in einer anderen Dimension betreten, könnte es vielleicht klappen.“ „Er hat Recht! In anderen Dimensionen haben Lebewesen andere Gestalten, vielleicht könnten wir sie so tatsächlich überrumpeln“, mischte sich nun auch Miriam ein, begeistert von Mystels Vorschlag und von einem plötzlichen Geistesblitz getroffen, sie tappte sich mit der offenen Handfläche auf die Stirn, „das würde natürlich auch bedeuten, dass die Menschen eine andere Gestalt annähmen, sie existieren nur in dieser Dimension, wahrscheinlich sähen wir nur ihre Seelen oder Schatten und sie uns gar nicht, wenn wir Glück haben“, fuhr sie an Mao gewandt fort, welche lächelte, „kein Mensch würde zu Schaden kommen.“ Boris grummelte. Ihm gefiel das gar nicht. Ihm reichten die Reisen durch die Zeit durchaus aus. Auch Rei hatte nur wenig begeistert alles mit angehört. Zeitreisen waren das eine, aber in eine andere Dimension zu wechseln war etwas ganz anderes. Es war gefährlich. Doch er schwieg, wusste er selbst schließlich auch keinen anderen Vorschlag zu machen und gefährlich war ihre Mission so oder so. Ihnen blieb keine andere Möglichkeit. „Und wie sollen wir das anstellen?“, fragte Rai, die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Wir brauchen Brooklyn“, antwortete Kenny und klang, als wäre es selbstverständlich. „Wen?“ Es trafen ihn lediglich fragende Blicke. „Brooklyn, der Wächter der Dimensionen. Ohne ihn geht es nicht.“ Rei verzog den Mund. Das war nicht gut. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hatte ihn einmal getroffen, den Hüter der Tore, den seltsamsten aller Wächter, er war ihm nicht geheuer und seine Menschenkenntnis hatte ihn noch nie getäuscht. Er wand sich aus Kais Armen. „Kyojou, ich weiß nicht, gibt es keinen anderen Weg?“, machte er seiner Beklommenheit Luft. Der Wächterlose seufzte. „Wenn überhaupt ist er der einzige, der im Stande ist, uns alle dorthin zu bringen.“ „Und wo ist dieser Brooklyn?“, unterbrach sie Michael, kollektives Nicken unterstütze den Einwurf. Rei stand alleine da. Diejenigen, die sich nicht enthielten, waren allesamt für den Vorschlag, in eine andere Dimension zu dringen. Er fühlte sich nicht gut, doch gegen immerhin über dreißig Wächter hatte er nicht die geringste Chance. Er war überstimmt und schließlich wollte auch er etwas erreichen und das ging in diesem Fall nicht auf dem sichersten Weg. Kyojou unterdessen drängte sich durch die anderen, ging hinüber zu der kleinen Baumgruppe. Die bunt glitzernden Singvögel verstummten in ihrem Gezwitscher, beobachteten mit ihren funkelnden Augen den Ruhestörer durch die goldenen Blätter. Vor dem kleinen Tümpel blieb er stehen, blickte kurz in das glasklare Wasser zu den kristallinen Fischen. „Brooklyn, wir brauchen deine Hilfe. Wo bist du?“ Seine Augen suchten den Raum um ihn ab auf der Suche nach der Gestalt des Wächters der Dimensionen. Die anderen beobachteten ihn gespannt, wollten nicht verpassen, wer dieser unbekannte Wächter war. Minutenlang warteten sie, da sahen sie plötzlich eine Gestalt, ganz in Weiß gekleidet, aus einem der gegenüberliegenden Tore schreiten. Etwas merkwürdig wurde ihnen zumute, als sie bemerkten, wie sich die Gestalt langsam veränderte, kleiner wurde und langsam wieder größer, dann langsam gebeugt und wieder kleiner. Nachdem Kyojou einige Worte mit ihm ausgetauscht hatte, kamen sie zu ihnen zurück. Emily und Mao blickten angewidert weg, Ming-Ming schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund, einen Laut des Horrors erstickend. Entsetzen oder Ekel waren die Emotionen, welche die meisten Gesichter verziehen ließen, als sie erblickten, dass es nicht nur Brooklyns Gestalt war, die sich veränderte. Sein Gesicht bekam Falten, die Wangen wurden schlaff, die orangenen Haare von grauen Strähnen durchzogen, die Augen verloren ihren Glanz und wurden trüb, das Gesicht alterte in Zeitraffer, nur um in der gleichen Geschwindigkeit wieder eine jugendliche Frische darin erstrahlen zu lassen, die Haut sich glättete, bis ihnen das weiche Gesicht eines Kleinkindes entgegenblickte, nur um dann sehen zu müssen, wie es wieder alterte und sich verjüngte, immer und immer wieder und sie konnten sich schlicht nicht an diesen Anblick gewöhnen. Es war skurril. Unmenschlich. Doch das war sein Schicksal, als Hüter der Tore war er an die Gesetze des Labyrinths gebunden, das Raum und Zeit miteinander verband. Als Wächter der Dimensionen war er der einzige, der niemals starb, solange er das nicht selber wollte. Erst wenn er sich für einen Ort und eine Zeit entschied und dort verweilen wollte, fuhr der Zyklus des Lebens fort und ein neuer Wächter der Dimensionen wurde geboren, nachdem er gestorben war, um an seine Stelle zu treten. Rei wusste darum und das einzig schreckliche an seinem Aussehen war für ihn das Lächeln. Dieses fröhliche Lächeln, das allen weismachen wollte, dass alles in Ordnung war und sie ihm vertrauen konnten, das verdeckte, wie verdorrt seine Seele wirklich war. Der Heiler erschauderte und griff hastig nach Kais Hand, drückte fest zu, während Brooklyn in die Runde lächelte, mit seiner Vertrauenswürdigkeit sofort alle seine Freunde in den Bann zog. „Was ist los?“, flüsterte er. Rei schüttelte den Kopf. „Schau ihm nicht in die Augen, ich will nicht, dass du in seinen Bann gezogen wirst. Ich traue ihm nicht.“ Kai runzelte die Stirn. Er verstand nicht, was der Chinese meinte, doch er widerstand der Faszination, Brooklyn weiterhin ins Gesicht zu starren. Kyojou unterdessen erklärte in jeder Einzelheit ihren Plan. „Wie interessant. Und ich soll euch dabei helfen?“, fragte Brooklyn, lächelte naiv. Kyojou nickte, stellvertretend für alle andern. „Hm, ich weiß nicht, ob meine Lust groß genug ist, diese Anstrengung auf mich zu nehmen.“ Er spielte gerne. Er spielte gerne lächelnd. „Bitte Brooklyn, bring uns in diese Dimension“, stürmte Kyojou auf ihn ein. „Aber einer von euch ist nicht dafür, einer will nicht, dass ich euch helfe“, sagte er entschuldigend und seine hellen Augen blieben an Rei hängen, blinzelten ihn unschuldig an, „der Heiler möchte eine andere Lösung suchen, meine Hilfe nicht in Anspruch nehmen müssend, du vertraust mir nicht, Rei.“ Die letzten Worte waren eine einzige Anklage direkt an ihn gerichtet. Wütend kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen, seine Hand verkrampfte sich zur Faust. „Nein, Brooklyn, ich traue deinen Spielchen nicht und es wäre mir tatsächlich lieber, nicht auf dich angewiesen zu sein. Aber wie die Dinge nun mal stehen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, also bitte hilf uns.“ Rei zwang sich diese Worte auszusprechen, auch wenn sie ihm noch so zuwider waren und sie all dem widersprachen, was er dachte. Er tat es für die anderen. Für die Mission. Für die Zukunft. Für die Rettung dieses Planeten und das, bei Anima, das war Grund genug. „Bitte“, wiederholte er noch einmal nachdrücklich, betont freundlich, und da war wieder dieses heuchlerische Lächeln auf Brooklyns Lippen und er hätte es ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen. „Na schön“, sagte Brooklyn gütig und streckte die Hand aus. Rei blieb nichts anderes übrig. Er hob widerwillig den Arm und schlug ein, ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als sie sich berührten und seine Nackenhaare standen zu Berge. Brooklyns Augen blitzten auf, er schloss fest seine Finger um die seinen und einen Moment sah Rei das widerliche, höhnische Grinsen, das nur ihm galt, das ihn verriet, da hörte er einen leisen Knacks und der Glassplitter in seinem Ring brach entzwei. Unmerklich fuhr er zusammen und zog seine Hand zurück. Dieser Bastard. Reis Augen verengten sich noch mehr, abgrundtiefe Abscheu spiegelte sich darin wider, doch Brooklyn bemerkte es nicht, er hatte sich wieder an diejenigen gewandt, die ihm mehr vertrauten als er. „Schön“, wiederholte er wieder süßlich lächelnd, „ich werde euch helfen. Aber ihr müsst euch schon anstrengen und euch genau an meine Angaben halten.“ Kyojou und die anderen nickten erleichtert, nur wenige Augenpaare, Kais, Takaos, Maos, Makkusus und Boris’, waren auf Rei gerichtet, die Brauen nachdenklich nach unten gezogen. Ihnen war nicht entgangen, dass da etwas zwischen Rei und Brooklyn geschehen war, das nicht hätte sein sollen. Nicht hätte sein dürfen. Doch es blieb keine Zeit nachzufragen, Brooklyn huschte zwischen ihnen hindurch, zog sie an den Armen oder schubste sie in die Position, in denen er sie haben wollte, bis sie in einem großen Kreis aneinandergereiht standen, immer abwechslungsweise nach den Elementen geordnet, Luft, Feuer, Erde, Wasser und wieder von vorne, sich an den Händen haltend, die Wächtertiere vor ihnen und in ihrem Zentrum der Wächter der Dimensionen, die Arme in die Luft gestreckt, bereit, das Tor zur anderen Dimension zu öffnen. Leise begann er Worte zu flüstern, Worte, die sie nicht verstanden, weil es keine Sprache war, die auf der Welt existierte, es war die Sprache der Seelen und es klang wie eine Verschwörung, während die Worte lauter wurden und in einen Singsang übergingen, der ein lautes Pfeifen in ihren Ohren verursachte. Ihre Köpfe brummten. In ihren Bäuchen zog es unangenehm. Bei jedem einzelnen der Wächter begann etwas zu leuchten, zuerst nur schwach, dann immer stärker und in gänzlich unterschiedlichen Farben und bei näherem Hinsehen erkannten sie, dass es ihre Schutzsteine waren. Ein Luftzug ließ ihre Haare und Kleider flattern und vermischte sich mit dem strahlenden Licht, ließ es nach oben steigen, verwirbelte die Farben miteinander zu einem Strudel, in den sie wie gebannt starrten und sie spürten, wie ihre Füße den sicheren Boden unter ihnen verließ, sie abhoben und in der Luft schwebten, während das Pfeifen in ihren Ohren unerträglich schrill wurde, dass ihre Trommelfelle beinahe platzten. Sie durften bloß nicht loslassen. Das strudelnde Licht zog sie langsam nach oben, als in ihrer Mitte direkt über Brooklyn eine weiße Lichtkugel entstand und den Strudel anzog, bis sich die Lichtschlieren ihrer Schutzsteine darin verloren, sie nährten, so dass sie wuchs und sich ausdehnte, bis sie mit einer lautlosen Explosion zerbarst und sie alle in ihrem blendenden Licht verschluckt wurden. Sie schrien. Doch sie hörten keinen einzelnen ihrer Schreie. Sie rissen die Augen auf. Alles was wie sehen konnten war das Licht, das sie umgab. Sie durften nicht loslassen. Der Strudel, der an ihnen zog, machte es ihnen schwer. Sie fühlten sich, als würden Jahrtausende an ihnen vorbeirasen, an ihnen zupfen und ziehen und sie stoßend, dass sie ihr Ziel nicht erreichten, und dann stand plötzlich alles still. Sie schwebten. Schwerelos. Losgelöst von der Gravitation. Allen Naturgesetzen trotzend. Um sie herum war nichts. Nur das weiße Licht umhüllte sie wie ein Schleier. Rei suchte die Reihe der Wächter ab, blieb an Kai hängen, der einige Wächter weiter in den Kreis eingebettet war. Doch genau wie die Blicke der anderen war seiner in das Zentrum ihres Kreises gerichtet. Wo zuvor die Lichtkugel war, entstand nun eine kleine Kugel aus dunklem Nichts, die sich nun ihrerseits anfing auszuweiten, sie brauchte kein Licht, das sie nährte, sie brauchte nichts. Rasend schnell wurde sie größer und Rei brüllte auf. „Nein!“ Wenn das Nichts sie verschluckte, war alles verloren. Brooklyn hatte ihnen nichts gesagt, sie nicht vorgewarnt, doch Rei war sich sicher, dass wenn sie vom Nichts verschluckt wurden, alles verloren war, denn im Nichts gab es nichts mehr, was sie tun konnten, im Nichts würden sie aufhören zu existieren, sie und ihre Kräfte und ihre Seelen würden für immer darin gefangen sein, sie würden nie wiedergeboren werden können, die Erde wäre verloren. „Nein!“, schrie Rei erneut und versuchte nun mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, sich von der Umklammerung loszureißen, die seine Hände betäubten, „wir müssen loslassen!“ Er hörte seine Stimme nicht. Panisch blickte er zu Kai, zu Boris, zu Makkusu, zu Mao, doch sie starrten nur apathisch in die schwarze Antimaterie, die sich in rasender Geschwindigkeit ausdehnte und da fanden ihn zwei dunkle Augen und Takao verstand. Mit aller Gewalt, die er aufbringen konnte, riss er sich los und dann war alles dunkel. Kapitel 23: In der Welt der Schatten ------------------------------------ Kai blinzelte. Er fühlte sich elend. Seine Knochen wogen schwer und drückten ihn zu Boden. Benommen versuchte er sich zu bewegen, doch sein ganzer Körper brannte. Ihm fehlte die Kraft. Er konnte nicht, nicht einmal einen Finger rühren. Das Atmen fiel ihm schwer. Kraftlos blieb er liegen, die Lider fielen ihm zu. Da war nichts. Nichts außer seinem Herzschlag. Dumpf und unregelmäßig. Und dann, nach einer schieren Endlosigkeit spürte er mehrere Arme, die ihn hochhoben. Er wurde getragen, wohin wusste er nicht, doch die Unterlage, auf die er gelegt wurde, war weich. Und die sanften Berührungen angenehm. Die Stimme, die leise auf ihn einredete beruhigend. Etwas wurde ihm in den Hals geflößt. Seine Glieder entspannten sich, Wärme breitete sich aus. Und da waren wieder diese Berührungen, dann fuhr etwas über seine Haut, es brannte, da war eine Hand an seinem Oberschenkel und er mochte es nicht berührt zu werden, er riss die Augen auf, streckte die Hand aus und packte das Handgelenk, der Person, die es wagte, ihn zu berühren. „Oh, du bist wach“, flüsterte sie. Er konnte das Gesicht nicht erkennen, es war verdeckt hinter einer Kapuze. „Wo bin ich?“, fragte er und sein Mund fühlte sich sandig an, ausgetrocknet, er verfestigte den Griff um das Handgelenk des Heilers. „Lass mich los, dann erzähl ich es dir.“ Er begann zu sprechen mit seiner warmen Stimme, erzählte ihm eine Geschichte die er nur zu gut kannte und doch war es unfassbar. „Unmöglich.“ Er erhob sich abrupt, kurz wurde ihm Schwarz vor Augen ob der plötzlichen Bewegung, doch er riss sich zusammen, wie es sich für einen Krieger gehörte, packte seine schmutzigen, mit Blut verkrusteten Kleider und er stürmte hinaus, raus aus dem Gebäude, bis er sich in der Wüste widerfand. Plötzlich tauchte hinter ihm der Heiler auf, gab ihm eine Schale zu Trinken. Kai nahm es dankbar an, dann blickte er ihn an. Er hatte die Kapuze runtergezogen und langes schwarzes Haar ergoss sich über seine Schultern, doch was ihn in Bann zog waren diese Augen, sie leuchteten hell und freundlich. Er folgte ihm zurück in den Tempel, zurück in den Raum, in dem er zuvor gelegen hatte, wo auch sein Schwert an einem Tisch gelehnt stand. Er setzte sich wieder hin und der Heiler ging zum Tisch hinüber, werkelte ein wenig herum, mischte Kräuter in warmes Wasser, dann griff er ohne Vorwarnung nach Kais Schwert, zog es aus der Scheide und ohne sich bewegen zu können, sah er die blutverkrustete Klinge auf sich niedersausen, dann die Augen, die nicht mehr hellbraun und freundlich glitzerten sondern schwarz und bösartig leuchteten, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt und er spürte, wie die Klinge sich in sein Fleisch bohrte. Kai schrie. Heftig schnaufend richtete er sich auf, blickte sich orientierungslos um. Er lag auf dem Boden, um ihn herum weitere Körper verstreut und teilweise halb aufeinander liegend. Sein Herz raste. Einige der Körper bewegten sich, er hörte ein Stöhnen von mehreren Seiten und dann schreckten auch die anderen langsam aus ihren Albträumen auf. Und dort war Rei, kreidebleich und Kai fragte sich, was der Heiler geträumt haben musste, dass er so entgeistert aussah. Mühsam rappelte er sich auf und kroch mehr zu ihm rüber, als dass er gehen konnte, ließ sich neben ihm zu Boden fallen, zog den Heiler mit sich, sein ganzer Körper bebte. Er suchte Reis Blick, musste sich vergewissern, dass seine Augen nicht schwarz und böse waren und seine Züge entspannten sich, als er in das vertraute Bernstein sah, zwar matt, doch liebenswürdig auf ihn schauend. Seufzend vergrub er sein Gesicht in Reis Haaren, atmete den vertrauten Geruch ein. „In meinem Traum hast du mich umgebracht, mit meinem eigenen Schwert, damals im Tempel, wo du mich eigentlich gesund pflegen wolltest“, flüsterte er dumpf. Rei stöhnte. „Wir alle haben wohl etwas in der Art geträumt“, antwortete er heiser, „der Tod ist der einzige Ausweg aus einem Traum.“ „Was hast du geträumt?“, wollte Kai wissen und drehte den Kopf etwas. Unsicher warf Rei ihm einen Blick zu. Doch dann schüttelte er den Kopf. „Das ist unwichtig, was im Moment zählt, ist einzig, dass wir wissen, was real ist und was nicht.“ Er stemmte sich in eine sitzende Position und schaute sich um. In seinem Kopf drehte sich alles. „Wir dürfen hier nicht verweilen.“ Es brauchte ihn alle restliche Kraft, die er noch hatte, aufzustehen und die wenigen Schritte zu machen, die ihn von Kyojou trennten. Neben ihm sank er auf die Knie und legte eine Hand auf dessen Schulter. „Kyojou?“, fragte er leise, „alles in Ordnung? Weißt du, wo wir sind?“ Der Braunhaarige richtete sich kraftlos seine Brille gerade und blickte sich um. „Nun, es kommt mir bekannt vor, aber es ist alles irgendwie“, er überlegte, was es wohl sein könnte, dass er es zu kennen schien, er es aber nicht wiedererkannte, „spiegelverkehrt.“ Er blickte sich weiter um, suchend, nachdenkend. „Ja, ja das ist es, es ist alles spiegelverkehrt!“, war er sich sicher. Rei nickte und sprach dann auf ihn ein. „Wir müssen hier weg. Kennst du einen sicheren Ort, wo wir hingehen können? Dein Zuhause vielleicht?“ Kyojou nickte und seine Gesichtszüge wurden ernst. Erschöpft schleppten sie sich durch die Straßen, die nur von schwebenden Lichtern erhellt wurden, die sich schnell bewegten und sich hektisch aneinander vorbei zwängten. „Das sind die Menschen, ihre Seelen leuchten wie Lichter, aber mehr können wir nicht von ihnen sehen“, flüsterte Miriam, sie hatte sich bei Ozuma abgestützt, den anderen Arm um sich geschlungen, als wäre ihr kalt. Sergej fuchtelte mit seinen Pranken durch die Luft, bekamt jedoch nichts zu fassen und das Licht huschte an ihm vorbei, als wäre nichts geschehen. „Sie bemerken uns nicht“, stellte er fest. Sie mochten sich nicht ausmalen, wie die Schatten aussahen. Wenn die Menschen in dieser Dimension Lichter waren, sollte dies bedeuten, dass die dunklen Schatten hier Gestalt angenommen hatten. Ihre Schritte wurden hastiger. Und obwohl ihnen noch schwindelig zumute war, beeilten sie sich, in ein sicheres Versteck zu kommen. Kyojou führte sie, lief hin und wieder gewohnheitshalber in die falsche Richtung, bevor er sich besann, dass er in dieser Dimension spiegelverkehrt denken musste. Alle konzentrierten sie sich auf den Weg, der vor ihnen lag und so bemerkten sie nicht den dunklen Schatten, der hinter Ecken lauernd sie beobachtete. Lediglich die schrillen hochfrequenten Schreie, die gelegentlich und eher weit entfernt die Luft zerrissen, ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Vor einem großen Haus, das sich bis hoch in die grauen Wolken zu erstrecken schien, blieben sie stehen. Befremdet betrachteten sie das graue Gebäude, das sich vom grauen Hintergrund kaum abhob. Zögernde Blicke wurde ausgetauscht. Doch der Gedanke, dass sie keinerorts sicherer sein würden als bei einem Wächter zu Hause, bewegte ihre Füße durch die Tür, hinein in die Finsternis. Wo eigentlich elektrisches Licht brennen sollte, war nichts als Schatten. Der Fahrstuhl schien für sie nicht zu funktionieren und so nahmen sie die vielen Treppen, die sie bis in den elften Stock bringen sollten, schleppten sich nach oben, ohnehin schon erschöpft genug. In der Wohnung angekommen, ließen sich die meisten sofort zu Boden fallen. Schlafen. Sie wollten nur noch schlafen. Andere suchten mit trockenen Kehlen nach etwas Trinkbarem, doch alles was flüssig hätte sein müssen, blieb starr. Kai hatte sich gegen die nächstbeste Wand gelehnt und schüttelte leicht den Kopf ob der Unerfahrenheit, die sich ihm hier bot. Als ob es ein Leichtes wäre, in den Krieg zu ziehen, als ob Nahrungsmittel stets sofort zur Hand wären. Nein. In den Krieg zu ziehen bedeutete, auf Gewohnheiten verzichten und seine Bedürfnisse ignorieren zu müssen. Was für Dummköpfe dies doch waren, die etwas anderes dachten. Er schloss die Augen. Zumindest für sich selbst konnte er sich so erholen und neue Kräfte schöpfen. Unweit von ihm hockte Rei zusammengesackt auf einem Stuhl, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt und betrachtete mit zu Schlitzen verengten Augen seinen Ring. Einzig die silberne Fassung hielt den gespalteten Glassplitter noch zusammen. Brooklyn. Er hatte ihn entzweit. Er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen musste, würde sein Schutzstein komplett zerstört. Dieser Bastard. Er musste irgendeinen Hintergedanken damit hegen. Nur was. Was hatte er vor. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Takao, schritt auf ihn zu, er hatte ihn beobachtet. Reis Kopf zuckte in seine Richtung und ein kleines Lächeln verzog seinen Mund, als er in das besorgte Gesicht seines Freundes blickte. „Nein“, schüttelte er leicht den Kopf, „nein, es ist halb so schlimm, wie es aussieht. Ich denke, er wird standhalten.“ Der Japaner nickte und lächelte zurück. Wenn Rei das sagte, dann musste etwas dran sein. Schließlich würde ein Freund ihn doch nicht anlügen. „Setz dich, Takao, du musst wieder zu Kräften kommen.“ „Ich würde eher zu Kräften kommen, wenn ich etwas essen könnte!“, maulte er, setzte sich jedoch neben Rei auf den Boden. Ein Stück Brot landete in seinem Schoss. „Mehr haben wird nicht mitgenommen“, sagte Moses, doch Takao hatte sich das Stück Brot bereits zwischen die Zähne geschoben und bedankte sich nickend. Moses bot auch Rei ein Stück an, doch er lehnte dankend ab. Zu vertieft war er in seinen Gedankengängen verstrickt, als dass er jetzt etwas hätte essen können. Er machte sich Sorgen, wie sie weiter vorgehen sollten, was sie erwartete. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Du solltest wirklich etwas essen, Rei, es würde dir gut tun und dir etwas von deiner verlorenen Energie zurückgeben“, sprach Makkusu auf ihn ein und drückte kurz bestärkend die Finger in seine Schulter. Rei seufzte und nahm das Stück Brot entgegen, knabberte an einem Krümel und ließ sich zurück in seine Gedankenströme ziehen. Alle Aufmerksamkeit nur auf sich alleine gerichtet, entging ihnen der dunkle Schatten, der durch das Fenster spähte. Eingesperrt in einen Raum merkten sie nicht, wie dunkle Schatten an den Hauswänden empor kletterten, wie sie sich die Treppen hochzogen, langsam näher kamen und sie einkesselten. Sie saßen in einer Falle, ohne es zu merken. Grelle Schreie ließen sie aufschrecken, sie die Hände auf die Ohren pressen, die, die auf dem Boden saßen sprangen auf, verwirrt, erschrocken blickten sie sich um, die Augen weit aufgerissen. Das Glas der Fenster zerbarst und flog durch den ganzen Raum, schnitt denjenigen, die am nächsten standen durch Stoff und Fleisch. Die Wächtertiere waren angriffsbereit und knurrten, schrien, fauchten. Die Wohnungstür zerbarst und ein Schwall schwarzer Kreaturen quetschte sich hinein, durch den Türrahmen, durch die Fenster und schrille Schreie ausstoßend, trieben sie die Wächter in einem Kreis zusammen wie Vieh. Überrumpelt, wie sie waren, wussten sie erst nicht, was sie tun sollten, sie starrten die Kreaturen an, die sich vor ihnen aufgebaut hatten, groß ragten sie bis zur Decke, Schwarz wie Pech, hatten sie Gestalten angenommen zwischen Mensch und Tier, mit spitzen langen Zähnen und Krallen, erschaffen, um zu töten. Sie zögerten nur einen Augenblick. Raus. Sie mussten raus hier, in einem solch engen Raum hätten sie keine Chance. Diejenigen, die Waffen besaßen, ließen sie auf die finsteren Kreaturen niedersausen, im Zusammenspiel mit ihren Kräften stellten sie die wirkungsvollste Abwehr dar, die sie momentan aufweisen konnten. Wer mit bloßen Händen kämpfte, stand im Zentrum des Kreises, der sich langsam zu einem Oval Richtung Tür verformte, und schleuderten ihren Feinden Zauber entgegen. Alle brüllten sie durcheinander. Der Versuch, einen Plan zu machen, scheiterte kläglich, sie mussten handeln, keine Zeit blieb zum Überlegen, zum Nachdenken, zu überrumpelt waren sie von dem Hinterhalt der Finsternis. Langsam schlugen sie sich ihren Weg durch den Raum in die Richtung der Tür, wo aber keine Tür mehr war, lediglich ein großes Loch prangte in der Wand, und wo noch mehr der Kreaturen auf sie warteten, schreiend, kreischend, Zähne fletschend. Brüllend ließen einige ihre Waffen auf sie niedersausen. Sie waren verwundbar. Sie waren verletzlich. Sie waren lebendige Gestalten, die ebenso wie andere Lebewesen sterben konnten. Allein dieser Gedanke war es, der sie bestärkte. Eigentlich war es nicht anders, als gegen von Wahnsinn geplagte Menschen zu kämpfen, dachte sich Kai, einzig, dass er eine weitere Waffe einsetzen konnte, die er noch nie zuvor gebraucht hatte. Das Feuer, das sich um seine Klinge wand, brannte tiefe Wunden in das schwarze Fleisch. Leblose Gestalten ließen sie zurück. Schwarze leblose Kreaturen, einzig geschaffen, um zu zerstören. Mit aller überbleibenden Kraft, die sie aufbringen konnten, erkämpften sie sich eine Schneise durch sie hindurch, weg von dem Raum, weg von der Wohnung, die beinahe ihr Grab hätte sein können. Das Treppenhaus war eng. Kai und Boris gingen voraus, die Kreaturen niedermetzelnd, gleich hinter ihnen schoss Mystel tödliche Pfeile auf sie ab, zuhinterst Makkusu, der Wasser aus der Luft zog, und Yuriy, der sie mit des Schamanen Hilfe effizient einfrieren konnte. Doch es waren so viele. Sie drängten sich an ihren toten und erstarrten Gefährten vorbei, ein einziger Schwall und es nahm und nahm kein Ende. Die Wächter konnten ihre Kräfte nicht stark genug einsetzen, die Gefahr, einen von sich selbst du verletzen, war zu groß. Selbst die Wächtertiere wussten nicht genau, wie sie handeln sollten, sie wollten ihren Partnern helfen, doch sie wollten sie nicht verletzen. Wären sie alleine vorgegangen, wären sie in der Unterzahl gewesen, hier im engen Treppenhaus. Sie mussten zusammenbleiben. Nur so konnten sie sicher hier heraus gelangen. „Halt, wartet!“, schrie Takao plötzlich. Sie waren in einem Zwischenstock angelangt, hatten erst gerade die sechste Etage hinter sich gelassen, hinter ihnen häuften sich die schwarzen Kreaturen genauso, wie sie von vorne drängten. „Wir müssen springen!“ Takao fuchtelte wild mit seinen Armen, um die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Er zeigte auf das riesige Fenster. „Bist du verrückt?“, schrien einige zurück, doch Takao blieb hart. „Wollt ihr zerfleischt werden? Vertraut mir!“ Von oben wie von unten kamen massenweise Schattenwesen auf sie zu, mehr als sie in diesem engen Treppenhaus hätten vernichten können, sie krabbelten auf ekelerregende Weise den Wänden entlang, hingen an der Decke. Ihnen blieb keine andere Wahl. Nur letzte Blicke wurden noch ausgetauscht, dann sprangen sie durch das splitternde Glas und fielen. Kapitel 24: Vier Schwarze Krallen --------------------------------- Rasend schnell kam der graue Asphalt näher, kaum blieb genügend Zeit zu handeln oder zu denken. Wessen Wächtertier Flügel hatte, fliegen konnte, oder dem der Sprung nichts ausmachte, klammerte sich daran fest, sie wurden sicher zu Boden gebracht, doch die anderen fielen den freien Fall. Takao und die anderen Wächter über Wind und Luft sammelten ihre Kräfte und schleuderten sie nach unten und die Luft, die auf dem Boden aufschlug und zurückprallte, federte sie ab wie ein Kissen. Mehr oder weniger leichtfüßig, landeten sie neben ihren Freunden auf dem Boden, doch Zeit blieb keine, denn die schwarzen Kreaturen der Finsternis scheuten den Sprung aus der luftigen Höhe ebenso wenig, knallten auf die Straße, schüttelten kurz ihre widerlichen Köpfe, um zur Besinnung zu kommen, nur um dann ihre schrille ohrenbetäubenden Schreie auszustoßen und sie erneut anzugreifen. Doch hier draußen hatten die Wächter genügend Platz, ihre Fähigkeiten spielen zu lassen. Makkusu und Yuriy, die zuvor bemerkt hatten, wie effizient ihre zusammengenommenen Kräfte waren, ließen die schwarzen Wesen reihenweise in glitzernde eisige Wälle frieren, zugleich ein Hindernis für die, die nachkamen, wenn auch nur für kurze Zeit, denn sie zögerten keinen Augenblick, die Eingefrorenen einfach zu vernichten. Schwarzes Eis flog splitternd durch die Luft. Doch zum ersten Mal zeigte die Kraft der Wächter ihre zerstörerische Macht. Beinahe grausam war es mitanzusehen, wie die Erde sich spaltete, wie Häuser in sich zusammen stürzten, Körper lebendig unter den Trümmern begraben wurden, die Überreste in Flammen aufging und durch die Luft geschleudert wurden, als ob sie explodiert wären. Kai wurde in seine zahlreichen Schlachten zurückversetzt, er erinnerte sich an die vielen Dörfer, die geplündert und in Brand gesteckt worden waren, nicht nur von ihren Feinden, auch von seinen Leuten selbst, die Menschen, die schreiend versuchten zu fliehen oder ihr einziges Hab und Gut aus den brennenden Häusern zu retten, ihre Kinder zu beschützen, dem Tod zu entgehen. Doch Männer auf Beutezug zeigten kein Erbarmen. Sie lachten. Genau gleich wie damals fühlte er sich, als er mitten zwischen den brennenden und einstürzenden Häusern stand, Schreie um ihn herum, in seinem Kopf. Auch hier hallten die Schreie in seinem Kopf wider. Schrille, ohrenbetäubende, Trommelfell zerreißende Schreie, ausgestoßen von widerlichen Kreaturen, die seine Welt bedrohten und da waren die Schreie von seinen Mitstreitern, sie brüllten und riefen sich Dinge zu, die er nicht verstand. Magie zischte an seinem Kopf vorbei und er sah die Wächtertiere, die sich in den Schattenwesen festbissen, ihnen Stücke von schwarzem, stinkenden Fleisch aus den Körpern rissen, doch eigentlich, eigentlich war es wie jedes andere Schlachtfeld auch. Jeder kämpfte um sein Leben. Seine Faust schloss sich stärker um den Griff seines Schwertes. Tief sog er die Luft in seine Lungenflügel. Er würde kämpfen. Absolute Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Gesicht wider, als er die andere Hand hob und sich das Lederband mit dem daran baumelnden Lavastein über den Kopf zog. Er würde kämpfen. Und er würde alles geben. Er merkte, wie sich sein Körper erhitzte, hörte Suzaku, die hoch oben in den Lüften einen Schrei ausstieß. Mit flammender Klinge stürzte er sich auf eine Schar Schattenwesen, die sich von der Seite hatten anschleichen wollen. Das Feuer vereint mit der scharfen Klinge zerfetzte die entstellten Körper. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Der dumpfe Laut von am Boden aufschlagenden Körper drang an seine Ohren. Ihm war heiß. Er besaß eine Kraft wie noch niemals zuvor. Ein unheilvolles Glitzern trat in seine Augen. Es war ein gutes Gefühl. Der Rausch dieser Macht übermannte ihn. Er wollte mehr. Mehr Kraft, mehr töten. Die schwarzen Kreaturen häuften sich reglos am Boden. Doch es kamen immer mehr hinzu, es war, als ob die hochfrequenten Schreie, die sie immer und immer wieder ausstießen, ein Ruf war, der den anderen ihre Position mitteilte und sie anlockte. Immer mehr kamen, immer weiter griffen sie an. Es waren zu viele. Sie mussten weg, weg von hier, sich etwas ausruhen, sich beraten, eine Lösung finden. „Weg hier!“ Wie ein Lauffeuer breitete sich der Ruf zwischen ihnen aus und alle folgten sie ihm. Mit mehr Kraft als zuvor, setzten sie ihre Fähigkeiten nun nicht mehr ein, um die Schattenwesen zu zerstören, sondern um sie aus dem Weg zu räumen, sich einen Weg durch sie hindurch zu bahnen. Nur noch weg hier. Staub und Dreck aufwirbeln, ihnen die Sicht nehmen, Hindernisse aufbauen und standhalten. Und nur noch weg. Sie liefen. Sie wussten nicht wohin. Um Ecken und über Straßen. Nur noch weg. Ihre Lungen brannten, als sie endlich hielten. Schnaufend stützten sie sich auf ihren zitternden Knien oder an den Wänden ab. Schweißperlen liefen über ihre Schläfen. Ihre Herzen schlugen heftig gegen die Rippen. „Was sollen wir nur tun? Es sind so viele!“ Erneut hatte die Hoffnungslosigkeit sie überrollt. Obwohl sie nun in dieser Dimension waren, obwohl sie die Schattenwesen sehen, verletzen und sogar töten konnten, waren sie nicht wirklich einen Schritt weitergekommen. Kopfschütteln war die nüchterne Antwort. „Sollten wir uns vielleicht trennen?“, kam ein kleinlauter Vorschlag, der jedoch sofort zunichte gemacht wurde. „Bloß nicht! In der Gruppe sind wir am stärksten.“ „Aber warum werden es dann nicht weniger?“ „Weil es Wesen sind, die sich Millionen von Jahren von Schatten ernährt und sich fortgepflanzt hatten. Schatten gibt es überall“, flüsterte Kyojou, „es ist wie ein Fluch.“ Seufzend vergrub er sein Gesicht in den Ärmeln. Seine Mitstreiter so sehen zu müssen war wie ein Stich ins Herz. Hoffnungslos, abgekämpft, frustriert. Und er war es gewesen, der sie hier mithineingezogen hatte. Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter. „Es ist nicht deine Schuld“, flüsterte eine beruhigende Stimme, so dass nur er es hören konnte, „wir sind Wächter. Es ist unsere Bestimmung.“ Kyojou blickte auf und sah in das aufmunternd lächelnde Gesicht von Rei. Er seufzte und scheiterte kläglich an dem Versuch, zurückzulächeln. „In einer Gruppe zu bleiben ist momentan wohl das Beste, doch es wäre von Vorteil, uns Partner zu suchen, die unsere Fähigkeiten mit ihren Kräften zu ergänzen vermögen. So werden wir stärker und können mehr der Schattenwesen zugleich vernichten“, unterbrach Yuriy plötzlich die Stille. Er hatte aus seiner Zusammenarbeit mit dem Schamanen gelernt, dass sie im Team stärker waren, auch, wenn ihm der Gedanke, mit jemandem zusammenarbeiten zu müssen, absolut zuwider war. Es war der einzige Vorschlag, der gemacht wurde. Niemand sonst hätte eine Lösung vorschlagen können. Alle saßen sie nur ratlos auf dem Boden und nippten an kleinen Wasserschalen, die Makkusu verteilt und mit Hilfe der anderen Wasserwächter gefüllt hatte. Sie nickten. Eigentlich klang das gar nicht mal so schlecht und Rei war wieder einmal mehr froh über die Entscheidung, dass er den eiskalten Russen gebeten hatte, mit ihnen zu kommen. Takao wurde Kai zugeteilt. Da sie beide Schwertkämpfer waren, teilten sie sich eine ähnliche Technik und Wind und Feuer vereint konnte zerstörerische Gewalten erzeugen. Der Japaner freute sich gewaltig, doch Kai knurrte nur etwas Unverständliches und rührte sich nicht. Boris stellte sich sofort zu Rei. „Unsere Fähigkeiten passen zwar nicht, aber ich habe versprochen, auf dich aufzupassen“, brummte er augenzwinkernd, „und außerdem bin ich der einzige, der deine wahre Kraft kennt.“ Rei schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „Du willst dich doch nur in Sicherheit wissen, Boris“, neckte er und boxte ihm mit der Faust gegen den Oberarm, worauf der Russe anfing zu lachen. Es tat gut, ein ehrliches Lachen zu hören. Zu sehr drückte die negative Atmosphäre auf die Stimmung. Sein Blick fiel einige Meter hinter Boris. Dort etwas abseits von den anderen an der Wand gelehnt stand Kai, die Augen geschlossen, vom Geschehen abgewandt und verschlossen. Mit leisen Schritten trat er auf ihn zu. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er und blieb dicht vor ihm stehen. Die schweren Lider hoben sich nur halb und außer eines Schulterzuckens kam keine Antwort. Rei zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn. Die Gesichtszüge waren angespannt und in der linken Faust sah er ein ledernes Band zwischen den Fingern. Vorsichtig hob er eine Hand und legte sie an Kais warmes Gesicht. Sofort fielen die halbgeöffneten Augen wieder zu und er schmiegte seine Wange in die Handfläche, seine Gesichtszüge entspannten sich etwas, atmete tief ein und wieder aus. Es tat so gut, in seiner Nähe zu sein. Doch er hatte sie nicht verdient. Noch vor einigen Wochen hatte er selbst zu Rei gesagt, dass seine Gedanken während des Kampfes bei ihm bleiben würden, doch dem war nicht so. Während des kurzen Kampfes zuvor hatte er nur an die berauschende Macht denken können, die er verspürte, die ihn ausfüllte. Doch er wollte ihn fühlen. Wollte ihm nah sein. Jetzt gleich. Kai legte die Arme um Reis Taille und zog ihn bestimmt zu sich, drückte ihn gegen die Wand und schirmte ihn somit von den Blicken der anderen etwas ab, auch wenn das überflüssig war, denn niemand bemerkte sie, waren sie doch tief in Gedanken versunken. Er küsste ihn. Nicht zärtlich, nicht liebevoll. Eher stürmisch und verzweifelt und Rei, etwas überrumpelt von der Unsicherheit im Kuss, erwiderte ihn vorsichtig. Seine Augen fielen zu. Obwohl sich der Kuss anfühlte wie ein Abschied, erfüllte er sein Herz mit Freude, mit einer Aufgeregtheit, vertrieb die düsteren Gedanken, die ihn plagten. Doch der schöne Augenblick wurde ihnen nur kurz gewährt. Aufbruchsstimmung machte sich breit. Sie hatten sich entschlossen, auf den größtmöglichen Platz zu gehen, der in ihrer Nähe war, sich dort im Kreis aufzustellen und zu warten, bis die finsteren Kreaturen sie fanden. Mehr konnten sie nicht tun. Die Kreaturen kamen. Wie Insekten bedeckten sie die Straßen, krabbelten auf sie zu wie Wellen eines schwarzen Meeres, umringten sie zu tausend. Zähne fletschend und kreischend ließen sie einige Schritte Abstand zu den Wächtern in ihrer Mitte, bereit, jederzeit anzugreifen. Die Wächter hoben ihre Waffen. Es konnte beginnen. Brüllend stürzten sich die Schattenwesen auf den Ring in der Mitte. Mit vereinten Kräften gelang es den Wächtern, den ersten Ansturm wegzufegen. Weiter Kreaturen kamen nach. Und auch sie wurden aufgehalten, eingefroren und durch einen festen Schlag in Stücke zersplittert. Ein weiterer Ansturm jedoch ließ den Ring der Wächter etwas kleiner werden. Immer mehr kamen hinterher, immer gefährlicher wurden sie in ihrer Rage, dass sich die Wächter nicht einfach auslöschen ließen, immer waghalsiger wurden ihre Angriffe. Einige kletterten auf andere und sprangen von oben auf sie hinunter. Gegen oben waren sie zu wenig geschützt, zu überraschend kam dieser Angriff. Dass die Schattenkreaturen es in ihren Ring wagen würden, hatten sie sich nicht gedacht. Doch da waren sie, vor ihnen und nun auch hinter ihnen. Der Ring schrumpfte. Rücken an Rücken kämpften sie, verteidigten sie sich gegen innen und außen. Die kleinen Gruppen, die sich gebildet hatten, versuchten ihr Bestes, mit ihren Kräften zusammenzuarbeiten, versuchten neue Attacken, neue tödliche Kombinationen. Doch nicht alle funktionierten. Einige wurden verletzt, gebissen, geschlagen, umgeworfen. Die Verletzten wurden in den Ring gebracht, der sich immer weiter um sie schloss. Makkusu rannte ständig zwischen Front und den Verletzten hin und her, hielt die Verteidigung aufrecht, versorgte seine Freunde mit Medizin. Rei half ihm, wo er konnte. Im Gegensatz zu Makkusu hatte er keine Medizin mitgenommen, aber da er viele mit dem Schamanen gemeinsam entwickelt hatte, wusste er sie anzuwenden. Notdürftig wurden die Wunden ausgewaschen, eingesalbt und verbunden, meist mit Stofffetzen ihrer eigenen Kleidung. Gerade alleine und tief über den röchelnden Jony gebeugt, der sich etwas weit hinaus gewagt hatte, merkte er nicht, wie eines der Schattenwesen hinter ihm in ihren Ring eindrang und seinen ungeschützten Rücken anvisierte. Kai und Takao waren ein sehr starkes Team. Gemeinsam verursachten sie feurige Wirbelstürme, die über die schwarzen Kreaturen hinwegfegten, sie pulverisierten. Mit ihren Schwertern stachen sie die näheren nieder. Um sie herum wurde das Schlachtfeld etwas lichter, die Schattenwesen versuchten, ihnen möglichst auszuweichen, merkten sie doch, dass von ihnen eine der größten Gefahren ausging. Ein Grinsen hatte sich auf Kais Gesicht gelegt. Doch dann, ein Schrei. Suzaku schrie nach ihm. Das Grinsen erlosch. Er wirbelte herum. Kaum hatte Rei Jonys Schulter wieder eingekugelt, traf ihn ein heftiger Schlag von der Seite. Unsanft landete er auf dem rauen Asphalt. Sein Arm schmerzte. Das Schattenwesen hatte ihm mit seinen Krallen den ganzen Arm aufgerissen, blutrot verfärbten sich die Stofffetzten seines linken Hemdärmels. Hastig rappelte er sich auf, schnell atmend. Das Schattenwesen kam erneut auf ihn zu, schreiend, als würde es sich über seinen Triumph freuen. Als sähe es ihn bereits tot. Doch Rei würde das nicht dulden. Auf keinen Fall würde er es siegen lassen. Er tastete nach seinem Stock, doch der lag noch immer neben Jony und da kam er gerade nicht hin. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Wenn die widerliche Kreatur es auf diese Weise haben wollte, bitteschön, dann konnte es dies haben. Tief atmete er ein, die Hände flach auf Brusthöhe im Viertelwinkel zueinander ausgerichtet, abwartend. Sollte es nur zu ihm kommen. Es kam schnell. Holte mit dem einen krallenbesetzten Arm aus, Rei wich aus, doch sofort schlug der andere Arm auf ihn nieder, Rei blockte mit seinem rechten Unterarm und spürte die schwarzen Stacheln, die sich hineinbohrten. Kais Herz setzte einen Schlag aus. Dort war Rei, blutüberströmt und kämpfte mit bloßen Händen gegen eines der Schattenwesen, das ihn weit überragte. „Rei!“, brüllte er und stolperte auf ihn zu. Reis Blick traf die schwarzen Augen der Kreatur, bösartig stierten sie ihn an, nur wenige Handlängen zwischen ihren Köpfen. Geifer tropfte aus dem zahnbesetzten Mund der Schattengestalt, das wirkte, als wäre es zu einem Grinsen verzogen. Rei biss sich auf die Zähne. Er würde es unter keinen Umständen siegen lassen. Ganz sanft verformte er seinen Mund zu einem Oval und blies einen leichten Windhauch aus. Kleine Funken glitzerten darin wie Sterne, tänzelten vor die Augen der schwarzen Kreatur, die verwirrt auf die funkelnden Sterne starrte und nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Auf das hatte Rei gehofft. Er schlug den Arm weg, stieß sich vom Boden ab, einmal vom ausgestreckten Arm, trat auf den Brustkorb und stürzte sich von oben auf den Kopf der Gestalt, die Hände ausgestreckt. Unter seinen Fingerspitzen spürte er die raue, schuppige Haut, sie brannte leicht, als würde sie seine Fingerkuppen verätzen, doch darauf durfte er keine Rücksicht nehmen. Ohne sich groß anstrengen zu müssen, merkte er, wie sich kribbelnd die Elektrizität in seinem Körper ausbreitete und sich plötzlich schlagartig entlud und nur mit großem Wille konnte er sie in seine Hände lenken. Weißes, leicht grünlich verfärbtes Licht schlug in die schwarze Kreatur ein wie ein Blitz. Es schrie, schrie einen grausamen Schrei des Schmerzes, während Rei immer mehr Strom und weißes Licht durch seinen Kopf schickte, das sich in den ganzen zuckenden Körper ausbreitete, der sich noch ein letztes mal aufbäumte, bevor es in Milliarden kleine schwarze Staubkörner zerfetzt wurde. Kai hatte das Gesicht abgewandt, zu sehr blendete das Licht, doch jetzt, wo er wieder zu Rei hinsah, konnte er erleichtert ausatmen. Mit großen Schritten ging er auf ihn zu. Rei selbst wurde von der Wucht, die seine Lunge zusammenpresste, weggeschleudert, fand sich auf dem Boden wider, den blutenden Arm schützend vor das Gesicht haltend. Sein Blick fiel auf den silbernen Ring an seinem Zeigefinger. Der grüne Glassplitter hatte viele kleine tiefe Risse bekommen, einige Splitter waren bereits hinausgefallen. Er war zerstört. Endgültig. Er konnte ihn nun nicht mehr schützen. Einzig Byakko bemerkte das Fehlen des Schutzsteins. Knurrend stürzte er sich auf seinen letzten Gegner, biss ihm die Kehle durch, er musste sofort zu Rei, niemand anderes konnte ihm jetzt noch helfen. Kai hatte nicht mehr als vier Schritte gemacht, da bemerkte er, wie sich plötzlich alle Schattenwesen in ihrem Umkreis zu Rei wandten und auf ihn zu schlichen, die anderen Wächter und ihre Wächtertiere einfach plötzlich ignorierten. „Rei“, rief er nochmal und beschleunigte seine Schritte. Der Chinese blickte auf und seine Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, wer auf ihn zu rannte, hastig schüttelte er den Kopf. „Nein!“, schrie er und seine Lunge brannte, „bleib wo du bist!“ Kai blieb stehen, ratlos und mit zusammengezogenen Augenbrauen stand er nur wenige Schritte von ihm entfernt, sah die schwarzen Kreaturen, die immer näher kamen und den Kreis um ihn langsam schlossen. Reis Körper kribbelte. Sein Kopf pochte. Er presste die Augen zusammen und die Finger gegen die Schläfen. Sein Atem ging schwer. Er brauchte Byakko. Beunruhigt und mit zusammengebissenen Zähnen sah Kai zu, wie Rei hinter den Kreaturen verschwand und sich nicht rührte. Seine Finger klammerten sich um den Schwertgriff, bereit zu ziehen und einzugreifen. Sein Atem ging immer schneller, sein Herz drohte beinahe zu zerspringen, das Kribbeln verstärkte sich, die Elektrizität wuchs und wuchs und wusste nicht wohin in diesem viel zu kleinen Körper. Er gab keine Richtung vor. Der Druck wurde zu groß. Mit einem unterdrückten Schrei entlud Rei die Elektrizität in einer Kugel gleißenden Lichts, das alles um ihn herum einhüllte. Die Schattenwesen wurden zerfetzt. Kai wurde weggeschleudert. Und Rei kauerte heftig atmend im Zentrum eines kleinen Kraters, um ihn herum schwarzer Staub. Ein Brüllen lenkte seine Aufmerksamkeit auf Byakko, der mit schnellen Sprüngen auf ihn zukam, die Ohren angelegt. Kai sah nichts mehr. Lediglich bunte Sterne tanzten vor weißem Grund, das Licht hatte ihn zu stark geblendet. Nervös rieb sich die blinden Augen. „Byakko“, röchelte Rei und klammerte sich im struppigen Fell fest, drückte die Nase hinein. Alleine seine Anwesenheit beruhigte ihn. Kai blinzelte ein paar Mal. Die bunten Sterne waren zwar noch da, aber immerhin konnte er wieder sehen. Mit schmalen Augen nahm er das Szenario wahr, das sich ihm bot und ihm wurde bewusst, dass der kleine Kraftausbruch in der realen Welt zuvor nicht alles gewesen war, was Rei zu bieten hatte. Sein Blick fiel auf Boris, der weiter hinten gegen zwei der Kreaturen gleichzeitig kämpfte, mit seinem Hammer gerade den Schädel eines der Wesen zertrümmerte. In seinen Augenwinkeln bewegte sich etwas. Schnell drehte er den Kopf zurück, dort wo Rei und Byakko saßen. Ein Schattenwesen schlich sich von hinten an. „Rei!“, schrie er zum dritten Mal, sprang auf die Füße und rannte so schnell er konnte auf sie zu. Es war nicht schnell genug. Byakko hatte das Wesen zwar bemerkt, doch bevor er reagieren konnte, hatte es ausgeholt und den weißen Tiger weggeschleudert und Kai musste mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen mitansehen, wie Rei sich vom Boden abstützend zu ihm umdrehte, hinter ihm baute sich das Schattenwesen auf. Mit zitternden Gliedmaßen erhob er sich vom Boden, stolperte beinahe. Er musste weg. Ihre Augen trafen sich. Und Rei bemerkte das Entsetzen in seinen roten Augen, als er ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Bauch spürte und gleichzeitig Byakko laut brüllen hörte. Sein Atem stockte. Er blieb stehen. Blickte an sich hinunter. Vier lange schwarze Krallen ragten aus seinem Bauch hinaus. Er fühlte die Taubheit sich ausbreiten. Er roch den heißen, stinkenden Atem, der ihm in den Nacken blies. Er drehte den Kopf, sah das Wesen, das ihn triumphierend anstierte. Viel zu langsam wurden die Krallen aus seinem Körper hinausgezogen. Er schmeckte das Blut, das sich in seinem Mund sammelte. Er presste eine Hand gegen die Wunde und spürte das warme Blut über seine Finger laufen. Ihm wurde schwindelig. Er konnte kaum noch atmen. Er hörte Kai, weit entfernt, der sich brüllend auf das Schattenwesen stürzte, es mit einem gezielten Schlag enthauptete, hörte den dumpfen Aufschlag seines Körpers und Kopfes auf dem Boden. Und noch während er spürte, wie sich zwei Arme um ihn schlangen und ihn an einen Körper pressten, sackten seine Knie ein und ihm wurde schwarz vor Augen. Kapitel 25: Durch die Pforten des Limbus ---------------------------------------- „Rei!“ Ein lang gezogener Schrei hallte über das Schlachtfeld. „Rei!“ Alle Köpfe drehten sich in die Mitte des zerbrochenen Kreises, Entsetzen verzerrte ihre Gesichter. „Rei!“ Die Verletzten hatten sich bereits um sie geschart, rüttelten an dem leblosen Körper. „Rei!“ Die noch Kämpfenden vollendeten ihre letzten Züge, den Blick kaum von ihm abwenden könnend. „Rei!“ Alle schrien durcheinander. Brüllten. „Rei!“ Makkusu und Yuriy generierten mit gemeinsamer, letzter Kraft eine Kuppel aus dickem Eis, die sie schützen würde. „Rei!“ Kai saß reglos und schweigend auf dem Boden, Reis leblosen Oberkörper an sich gelehnt und versuchte, die Blutung zu stoppen. „Rei!“ Boris stürzte sich auf ihn, ließ seinen Hammer achtlos fallen, sank auf die Knie und packte seine Schultern, schüttelte ihn, als wolle er ihn aufwecken. Nur aufwecken. „Rei!“ Einzig dieser Name war es, der in ihren Köpfen widerhallte. „Rei!“ Makkusu eilte herbei, Tränen glitzerten in den blauen Augen, und die anderen machten ihm schweigend Platz, wussten sie, dass der Schamane der einzige war, der jetzt noch irgendetwas hätte ausrichten können. Er winkte Takao und Boris zu sich, gab den Wächtern, die um sie herumstanden, zu verstehen, dass sie ihn hochheben sollten. „Ein Luftkissen, schnell!“ Die zwei Luftwächter taten wie geheißen, Takao zu Reis Füßen, Boris über dem Kopf. Hart schluckte er, als er in das leblose, leichenblasse Gesicht seines Freundes blickte. Ganz vorsichtig ließen die anderen Wächter ihn los und Rei blieb in der Luft schweben, seine schwarzen Haare um ihn herum, als wäre er in Wasser konserviert. Der Schamane riss ihm das blutdurchtränkte Hemd vom Leib. Ihnen stockte der Atem. Sein linker Arm war zerfetzt, der rechte durchbohrt und vier große blutende Wunden durchlöcherten die rechte Bauchseite. Blut tropfte zu Boden und sammelte sich langsam zu einer Pfütze. Einige wandten den Blick ab. Es war zu viel, zu grausam. Unterdrückte Schluchzer waren zu hören, besonders den sensiblen Gemütern von Mao und Ming-Ming setzte dieser Anblick etwas mehr zu als den anderen. Emily legte die Hände über die Augen. Doch auch die anderen konnten nur tatenlos den Blick abwenden oder zusehen, wie Makkusu anfing, hastig die blutenden Wunden zu säubern. Wasser vermischte sich mit dem Blut und tropfte noch schneller zu Boden. Das ohnehin schon zerfetzte Hemd zerriss er in Streifen, knüllte einige zusammen und presste sie Rei auf die Wunden an Bauch und Rücken. Er musste sich beeilen. Er durfte nicht noch mehr Blut verlieren. Sein Herz schlug noch schwach, doch unregelmäßig, und nicht mehr viel trennte ihn von der Klippe des Todes. „Halten!“ Sofort griffen acht Hände nach den Stoffknäueln und drückten sie auf die Wunden, sodass Makkusu die Hände frei hatte, um straff einen notdürftigen Verband anzulegen. Doch mehr konnte er nicht tun. Nicht hier. „Wir müssen weg von hier. Zurück zur heiligen Lichtung, dort wird er am ehesten überleben.“ Stummes Nicken war die einzige Antwort, die er bekam. „Takao, Boris, macht weiter, die Schwerelosigkeit macht ihm die Schmerzen erträglicher. Yuriy, wir beide müssen uns sicher zum Eingang vom Labyrinth von Raum und Zeit bringen, die anderen Wasserwächter können uns helfen. Kyojou, zeig uns den Weg.“ Abermals ein Nicken. Sie waren froh, dass wenigstens einer in dieser Situation wusste, was zu tun war. Doch viele wunderten sich, wie ausgerechnet dieser unscheinbar wirkende, blondhaarige Junge die Nerven behalten konnte, ihnen Anweisungen zu geben. „Nehmt Byakko mit“, richtete er sich noch an die restlichen Luftwächter und zeigte auf den ebenfalls reglos am Boden liegenden weißen Tiger, dann stellte er sich neben Yuriy, um einen Tunnel aus der Kuppel hinaus zu formen, an dem die Schattenwesen bereits versuchten hoch zu krabbeln, gierig lechzend nach mehr Blut. Kyojou stand hinter ihnen, das Gesicht tränenüberströmt. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte Yuriy zu Makkusu, mit dem Gedanken, ihn wohl doch ziemlich falsch eingeschätzt haben zu müssen, sah dann aber die Tränen, die ihm nun, da ihn keiner mehr sah, ungehindert über die blassen Wangen kullerten und ein kleines Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel. Dieser Junge war wirklich sehr tapfer. Kai unterdessen ging stumm neben Boris, immer wieder einen Blick auf Reis Kopf werfend, der zwischen ihnen schwebte, als müsse er sich vergewissern, dass er noch nicht tot war, und auch noch nicht wieder aufgewacht. „Ich habe versprochen, ihn zu beschützen“, hörte er plötzlich Boris flüstern, seine Stimme klang heiser und gurgelnd, eine Träne stahl sich aus dem rechten Auge, „ich habe versagt. Versagt.“ Kai seufzte schwer. Auch er hatte sich geschworen, Rei zu schützen, insgeheim hatte er sich dieses Versprechen abgenommen, denn er wusste, dass der Chinese damit nicht einverstanden gewesen wäre. Auch er hatte dieses Versprechen nicht einhalten können. Auch er hatte versagt. „Es war nicht deine Schuld, Boris“, flüsterte er, auch seine Stimme schien ihm nicht wirklich gehorchen zu wollen, „du hättest es nicht verhindern können.“ Boris versuchte einen Schluckauf zu unterdrücken, ein Mundwinkel hob sich etwas in die Höhe, doch sofort verkrampften sich seine Züge. „Ein Dickkopf, unser Rei. Bloß niemanden in Gefahr bringen. Doch seine Rechnung ist nicht aufgegangen. Er hätte lediglich einmal nur an sich selbst denken müssen, nur einmal!“ Seine Schultern zuckten. Kai legte ihm eine Hand an den Arm, versuchte, ihn etwas zu beruhigen, doch er dachte genauso. Hätte Rei nur dieses eine Mal nicht an jemand anderes gedacht, wäre all das nicht passiert. Er presste die Zähne zusammen und ballte die andere Hand zur Faust. „Du kennst Rei länger als ich. Und ich bezweifle, dass er jemals nur an sich gedacht hat.“ Sein Kumpel schüttelte den Kopf. „Nein, niemals.“ Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie auf der Lichtung ankamen und ihn endlich ablegen konnten. Die Stoffknäuel und der Verband waren durchgeblutet, Rei noch blasser geworden. Schnell und doch vorsichtig, tauschten sie den Notfallverband gegen frische Stofffetzen aus und warteten, bis Makkusu mit Medizin und anständigem Material zurückkam. Wer nicht half, stand im Kreis um sie herum und blickten mit bedrückten Gesichtern zu ihm herunter oder saßen abseits und versuchten, das Geschehene irgendwie zu verstehen. Der Schock saß tief in ihren Knochen. „Wie kann es eigentlich sein, dass er immer noch lebt?“, fragte Michael, worauf ihn jeder entgeistert anstarrte. „Ich mein, bei diesen Wunden wäre doch jeder andere schon längst“, er zögerte, „naja, tot.“ „Das hat verschiedene Gründe“, flüsterte Kyojou, der neben Rei am Boden saß, und sofort rückten alle ein Stück näher, um auch kein Wort zu verpassen. „Wächter sterben generell nicht so schnell wie Menschen, wie Normalsterbliche.“ Aufmerksam hörte Kai zu. Das erklärte einiges. All die schweren Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, all die vielen Male, die er beinahe ums Leben gekommen wäre und doch immer weiterkämpfen konnte. Einfach, weil er ein Wächter war. „Aber es stimmt schon, nicht mal ein Wächter könnte solche Verletzungen überleben“, seufzte Kyojou, „es mag daran liegen, dass er Heiler ist, gewiss nicht ohne Grund ist er das. In ihm schlummert wahrscheinlich noch eine andere Kraft, die Heilkraft, die er zwar noch nicht entdeckt hat, doch sie scheint groß genug zu sein um ihn gerade noch am Leben zu halten. Und da wäre vielleicht noch etwas anderes“, sprach er leise weiter und seine Augen trafen Kais, das leuchtende Grün blickte ihn durchdringend an, „jemand anderes, wegen dem er nicht gehen will.“ Kai riss den Blickkontakt ab. Er konnte ihm nicht weiter in die entblößenden Augen schauen, das Gefühl, etwas tun zu müssen, irgendetwas tun zu müssen, erdrückte ihn beinahe. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Schamane zurückgekommen war und neben Rei Platz nahm. Er bat Takao, zu dem kleinen Weiher zu gehen, um etwas des heiligen Wassers in eine Schale zu füllen, mit dem er die Medizin anrühren konnte. Es würde die Wunden schneller heilen, teilte er den anderen mit. Vorsichtig strich er die Salbe auf die Wunden und verband sie dann sofort, angefangen beim Bauch. Dann warteten sie. Erwarteten, dass irgendetwas passierte, dass er vielleicht aufwachte, doch nichts geschah. „Es war zu spät“, flüsterte Makkusu plötzlich und heiße Tränen liefen über seine Wangen, seine Schultern begannen zu zucken und er schlug die Fäuste auf den Boden, wütend auf sich selbst, dass er so lange gebraucht hatte, dass er Zeit verschwendet hatte, dass er ihm nicht früher helfen konnte. Völlig verzweifelt kauerte er am Boden, seine Schultern bebten und gequälte Laute drangen an ihre Ohren. Er machte sich für Reis Tod verantwortlich. Boris jedoch ließ Jony nicht mehr aus den Augen. Mit geballten Fäusten, sodass die Knöchel weiß unter der gespannten Haut hervortraten, warf er ihm tödlich funkelnde Blicke zu. Sein Gesicht war wutverzerrt. Für ihn war klar, wer Schuld war. Wütend biss er die Zähne zusammen, die Kiefermuskeln traten deutlich hervor. Sein ganzer Körper war angespannt vor Zorn und deutlich traten die Venen hervor an seinen nackten Armen. Er war zum zerreißen gespannt und während Jony teilnahmslos dastand und zuschaute, stürmten die Gedanken in seinem Kopf wild durcheinander. „Es ist doch alles Jonys Schuld“, presste er zwischen den aufeinandergepressten Zähnen hervor. Kai blickte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an und auch andere, die nahe genug standen, um es gehört zu haben, warfen ihm fragende Blicke zu. „Nein“, sagte Kai schlicht und schüttelte den Kopf. „Natürlich!“, knurrte Boris jedoch plötzlich etwas lauter und die ersten wichen bereits von ihm. „Hätte er sich nicht von Rei die Schulter einkugeln lassen, wäre er nicht da gewesen!“ Die Sicherung war durchgebrannt. Außer sich vor Zorn zeigte er mit dem Finger auf Jony. „Oder noch besser, er hätte das Ding doch sehen müssen, hätte er nur einmal seinen Blick von seinem Arm genommen!“, brüllte er anklagend. „Lass gut sein.“ Kai legte ihm eine Hand auf den Oberarm, doch Boris schüttelte sie ab. „Nein! Dieser weinerliche Mistsack hätte das Ding gesehen, er hätte Rei warnen müssen!“ „Rei wollte ihm helfen und es wäre bestimmt nicht in seinem Sinn gewesen, dass wir einen einzelnen verantwortlich machen.“ Er machte sich nicht gerne für Jony stark. Auch er hatte mit dem Gedanken gespielt, Jony die Schuld anzuhängen, doch wäre dies nicht gerecht gewesen. Und wie er sagte, bestimmt gegen Reis Willen. Die Blicke der anderen waren gebannt auf sie beide gerichtet, zuckten hin und her, angespannt. Einige schauten kurz zu Jony, wollten sicher gehen, dass das stimmte, was Boris sagte. Jony jedoch zog sich etwas zurück. Natürlich, er hatte sich doch auch Vorwürfe gemacht. Aber er war so abgelenkt gewesen, so auf den Kampf konzentriert und darauf bedacht, sich sofort wieder ins Getümmel zu stürzen, dass er wie durch einen Tunnel hindurch nichts anderes mehr wahrgenommen hatte. „E- es tut mir leid“, flüsterte er und sofort war es still. „Ich habe es nicht gesehen. Ich war so fixiert darauf, dass ich schnellstmöglich weiterkämpfen konnte, dass ich es nicht bemerkt habe.“ „Rei ist tot“, knurrte Boris und seine sturmgrauen Augen flackerten auf. Jony nickte stumm und ließ den Kopf hängen. Er hatte es doch verdient. Sein Übermut hatte ihm noch nie Glück gebracht. „Ein Krieg, in dem jeder nur auf sich schaut, ist noch vor dessen Beginn verloren. Merk dir das, Jony“, bemerkte Kai und legte Boris abermals eine Hand auf den Oberarm, doch diesmal wurde sie nicht abgeschüttelt. Er spürte, wie sich Boris langsam abzuregen begann. Jony nickte. Er hatte seine Lektion gelernt und so schnell würde er die Konsequenzen nicht vergessen können. Die Luft war dick auf der Lichtung. Unsichere Blicke wurden ausgetauscht, hie und da hörte man ein ersticktes Flüstern, doch im Grunde war es still, in Gedanken irgendwo, weit, weit weg von dem, was sie alle nicht wahrhaben wollten. Doch dann, plötzlich ein Schrei. „Schaut doch, sein Gesicht!“ Sofort drängten sich alle um den am Boden liegenden und starrten auf Reis Gesicht. Alle sahen sie, wie seine Wangen wieder einen gesünderen Ton annahmen, sich seine Lippen wieder leicht rosa färbten, wie Leben zurückkam in das zuvor noch so tote Antlitz. „Nein, nein, es ist zu spät!“, schrie Makkusu jedoch atemlos auf, „ihr versteht das nicht!“ Doch sie wollten nicht hören, sie redeten durcheinander, und wollten nicht zuhören, dass es nicht so war, wie es schien, so sehr waren sie erleichtert. „Hört mir zu, verflucht!“, brüllte er plötzlich. Das Gerede verstummte. Seufzend strich er sich die Haare aus der Stirn. „Sein Körper lebt. Aber seine Seele konnte ich nicht zurückholen.“ „Was ist mit seiner Seele?“, fragte Kiki. „Sie ist verloren.“ Heiser war seine Stimme. „Willst du damit sagen, dass zwar sein Körper noch lebt, er aber eigentlich tot ist?“, flüsterte Oribie, Entsetzen in seiner Stimme. „Nein, sie ist gefangen-“ „Im Limbus“, unterbrach ihn Kai und der Schamane nickte. Erneut wurde das Gerede lauter, doch wo zuvor noch Freude war, prägte nun Furcht und Ratlosigkeit die Stimmen. „Weiß hier irgendjemand etwas über diesen Limbus?“, knurrte Kai in die Runde. „Ich“, meldete sich Kyojou, etwas eingeschüchtert. „Dann sprich!“ „Der Limbus wird auch gerne als Vorhölle bezeichnet, es ist ein Ort, wo diejenigen Seelen stranden, die weder in den Himmel, noch in die Hölle kommen können und wo sie für den Rest der Zeit verloren sind. Niemand wurde jemals daraus gerettet. Obwohl ich auch noch nie von einem Versuch gehört hätte.“ „Gibt es einen Weg hinein?“, fragte Kai und seine Stimme wurde harscher. Entsetzt starrte Kyojou ihn durch die runden Brillengläser an. „Es gibt nur einen, der dies mit Sicherheit sagen kann. Der Hüter der Tore.“ „Brooklyn“, knurrte Kai. Kyojou nickte und schluckte. Er wollte noch irgendetwas sagen, doch Kai war bereits herumgewirbelt und schritt zielstrebig auf die kleine Baumgruppe zu. „Brooklyn!“, brüllte er mit bebender Stimme. Nichts geschah. „Brooklyn, komm raus!“ Gebannt schauten die anderen Wächter ihm zu, wie er mit geballten Fäusten zwischen den Gold geblätterten Bäumen stand, als wolle er einen Faustkampf ausüben. Sein Gesicht war wutverzerrt. „Brooklyn, du vermaledeiter Sohn einer Hündin, komm raus, oder ich komm rein und dann wirst du sehen, wie alt du aussiehst!“ Einige schluckten hart, andere kicherten hinter vorgehaltener Hand, doch das leise spöttische Lachen, das plötzlich die ganze Lichtung zu erfüllen schien und vom kristallinen Dach zurückgeworfen wurde, überhörte niemand. Kalt lief es ihnen den Rücken runter, als das Lachen lauter wurde. Und dann sahen sie die nur zu gut wiedererkennbare Gestalt Brooklyns durch eines der verschwommenen Tore schreiten. „Aber, aber, wer wird denn da so verärgert sein?“, spöttelte er vor sich her und blieb knapp vor Kai stehen, den stechenden Blick seiner türkisenen Augen nicht von Kais abwendend, der ihn anfunkelte, als würde er ihm am liebsten an die Gurgel springen. In Rage packte er den Kragen von Brooklyns weißer Kleidung und schrie ihm direkt ins Gesicht. „Wie komm ich zu ihm?“ „Gar nicht“, antwortete der Hüter der Tore und lächelte ihn unschuldig an. „Ich weiß genau, dass du mir sagen kannst, wie ich in den Limbus komme“, zischte Kai, er musste sich arg zurückhalten, ihm nicht einfach einen Faustschlag zu verpassen. „Was nützt dir das Hineinkommen, wenn du nicht mehr hinaus kommst? Wenn ihr nicht mehr hinaus kommt?“, präzisierte er und fummelte an Kais festem Griff. „Sag mir wie!“, beharrte Kai und kam Brooklyn so nah, dass er dessen Atem spüren konnte. „Na schön, wenn du darauf beharrst, ich werde es dir zeigen“, seufzte Brooklyn theatralisch. Kai lockerte den Griff um seinen Kragen und ließ die Hände sinken, bedachte ihn jedoch weiterhin mit einem scharfen Blick, er traute ihm nicht. „Unter einer Bedingung“, fuhr er plötzlich fort und hob den Finger, als wolle er ihn belehren. „Spuck schon aus!“, knurrte Kai. „Im Tausch dafür, dass ich dir den Weg zeige, gibst du mir deine Kräfte.“ Kai stockte und biss sich hart auf die Zähne. Er warf einen Blick auf die anderen Wächter, auf Rei, der am Boden lag, lebend und doch tot. Und dann nickte er. Er streckte die Hand aus, doch kaum wollte Brooklyn einschlagen, zog er sie hoch und fixierte ihn. „Für wie lange?“, bohrte er nach. „Ach, nur für dieses Leben“, antwortete er sichtlich erfreut. „Einverstanden, aber ich bleibe der Wächter des Feuers und meine Seele wird wiedergeboren werden, mit den Kräften. Ansonsten schwöre ich dir, dass ich mich an dies hier erinnern kann und dich suchen und finden werde“, versprach Kai und schlug ein. Er spürte, wie die angenehme Hitze, die ihn seit erst so kurzer Zeit erfüllte, aus ihm heraus floss, sie ihm entzogen wurde. Er bemerkte den großen runden, goldenen Ring an Brooklyns Mittelfinger und der weiße Stein, der Stein der tausend Lichter, der darin eingelassen war, funkelte in allen Farben, doch das Rot glühte nahezu auf. Und dann war alles vorbei. Er fühlte sich kalt und leer. „Schön“, flötete Brooklyn entzückt, „nun folge mir auf den Pfad deines Untergangs.“ Ohne den anderen Wächtern noch einen einzigen Blick zu schenken, folgte er dem Wächter der Dimensionen, der ihn zu einem Tor führte, das ganz anders aussah als diejenigen, durch die er bis jetzt gegangen war. Die Pforten waren schwarz und merkwürdige Zeichen waren eingeritzt, die er nicht lesen konnte. Tief sog er die Luft in die Lungen und richtete sich noch ein Stück gerader auf, stolz und selbstbewusst blickte er auf Brooklyn. „Wie kommt man aus dem Limbus hinaus?“, fragte er fordernd. „Gefangen im Alptraum, gibt es nur einen Weg hinaus.“ „Und der wäre?“ „Der Tod.“ Brooklyn lachte laut auf, sichtlich amüsiert über die Situation, und machte dann einige Schritte nach hinten. Kai blickte nach vorne, ein feiner Luftzug streichelte über seine Wange und schien ihn hineinlocken zu wollen, wie eine Hand, die nach ihm griff. Kurz schloss er die Augen, dann machte er den ersten Schritt in den dunklen Tunnel. Kapitel 26: Sechs Tode sterben ------------------------------ Irritiert stellte Kai fest, wo er war. Er stand mitten in einem Wald, ein zartorangenes Lichtermeer ergoss sich über den weichen Waldboden, das die Sonne durch die bereits verfärbten Blätter der Baumkronen warf. Es war das letzte, was er erwartet hatte. Vor allem, weil er diesen Wald nur zu gut kannte. Die Bäume, die hier standen, die Büsche, die bunten Waldblumen, er kannte alles hier. Der Pfad, der sich zwischen den Stämmen hindurch schlängelte, war er selbst schon einige Male gegangen in letzter Zeit. Es war der Pfad, der ihn direkt zum See bringen würde, direkt zum Tempel in den Bergen, wo Rei wohnte. Doch das war unmöglich. Immer schneller wurden seine Schritte. Das wollte er sehen, mit eigenen Augen. Doch da war er, als Kai den Ast zur Seite zog, um auf den See blicken zu können, mittendrin erhob sich der Tempel aus dem Wasser. Ohne sich die Schuhe auszuziehen, trat er hastig auf den Steg, der ihn zum Eingang bringen würde. Schwungvoll riss er die Tür auf, schritt durch die Eingangshalle zur Treppe, die ihn nach unten führte. Oben musste er nicht nachsehen, schon von Weitem hatte er gesehen, dass Rei dort nicht war und sollte er tatsächlich hier im Tempel sein, dann unten. Doch noch zögerte er, nahm jede Stufe einzeln. Die Frage, wieso Rei hier sein sollte, brannte in seinem Kopf und unzählige verschiedene Möglichkeiten nahmen in seinen Gedanken Gestalt an, unter anderem, dass Rei zwar in der Schattenwelt gestorben war, aber seine Seele zurück in die reale Welt, zurück in ihre Dimension gegangen war. Er traute diesem Brooklyn nicht, und er glaubte ihm nicht, dass er sich hier im Limbus befinden sollte. Der Limbus war die grauenhafte Vorhölle, ein Ort ohne Ausweg, doch das hier, das waren die grünen Berge in den Tiefen Chinas. Das hier war die traumhafte Realität, der Limbus war der zwischenweltliche Albtraum. Er erinnerte sich an das, was der Hüter der Tore gesagt hatte, dass der einzige Ausweg aus dem Limbus der Tod sei und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte dafür gesorgt, dass Reis Schutzstein zerstört werden konnte. Er hatte sie dem Schwarzen Nichts ausgesetzt, ohne sie darüber aufzuklären und nun, nun wollte er Rei umbringen lassen. Durch ihn. Kai. Es klang logisch. Doch das Warum ließ sich nicht so einfach beantworten. Seine Hand hatte sich zur Faust verkrampft. Sollte sich herausstellen, dass er mit seinen Vermutungen richtig lag, er würde Brooklyn eigenhändig an die Gurgel gehen. Doch dafür musste er erst Rei finden. „Rei?“, rief er, als er unten war. Zu seiner Rechten öffnete sich eine Tür. Dort war Reis Schlafgemach, und durch den Spalt steckte eben dieser seinen Kopf. „Kai! Gut, dass du wieder zurück bist, hilf mir mal.“ Verwirrt blieb er einen Augenblick stehen, folgte ihm dann jedoch in das Zimmer. Da war Rei, putzmunter und fröhlich, hockte auf dem Boden und wühlte in einem Haufen Dinge, denen Kai jedoch keine Beachtung schenkte. Er lebte. Es ging ihm gut. „Wie viele Runden hast du denn gemacht? Wir wollten doch noch trainieren“, plapperte er, ohne dass er Kais verwunderten Blick bemerkt hätte und erhob sich, „hier dein –“, doch weiter konnte er nicht sprechen, denn Kai hatte die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gezogen. Ganz dicht, ganz fest. Er presste die Lippen gegen seine. Überrascht riss Rei die Augen auf und hätte beinahe Kais Schwert und den Dolch fallen lassen. Mit solch einer stürmischen Begrüßung hatte er überhaupt nicht gerechnet und erst recht nicht, dass Kai ihn küssen würde. „Kai, was-?“, wollt er fragen, doch der Krieger schüttelte nur den Kopf. „Egal, was wolltest du sagen?“ Rei sah ihn fragend an, eine Augenbraue hochgezogen, hob dann aber das Schwert. „Dein Schwert und der Dolch, wir wollten doch trainieren.“ Kai blickte auf das Schwert. Sein Schwert. Sein altes Schwert. Er griff nach dem Schwert an seinem Gürtel und musste feststellen, dass das nicht mehr da war. Stirnrunzelnd griff er nach den Waffen und folgte Rei nach draußen. Sein altes Schwert war also noch da. Doch das würde auch bedeuten, dass sie weder bei Boris gewesen waren, noch bei Makkusu, Yuriy oder Takao. Die ganze Geschichte hatte nie stattgefunden. Das hier war die Vergangenheit. Auf der Wiese angekommen, forderte Rei ihn zu einem Kampf heraus. Er nickte und hielt das Schwert in beiden Händen, während der Chinese nur mit einem simplen Holzstab bewaffnet war. Kai erinnerte sich an das einzige Mal, als Rei bewaffnet gekämpft hatte. Da hatte er sein Schwert zerbrochen und der erwartete Stich im Herz blieb aus, zu gerne mochte er Boris’ Waffe. Er blickte zu Rei, der tief in die Knie gegangen war und wartete, dass er angriff. Also griff er an. Er sah die Klinge auf Reis Gesicht zurasen, sah Rei im letzten Moment ausweichen. Schwungvoll ließ er das Schwert mit einer Ganzkörperdrehung weiterschwingen, doch plötzlich war da ein Fuß direkt vor seinem Gesicht. Mit einer freien Hand schob er das Bein zur Seite und blickte direkt in Reis grinsendes Gesicht. Er stieß ihn am Fuß zurück und stürzte sich erneut auf ihn. Etwas notbedürftig wurde sein Schwerthieb mit dem Stab geblockt, hinterließ eine tiefe Kerbe im Holz. Es knackte gefährlich. Rei atmete tief ein. Kai bemerkte den plötzlichen Stimmungswandel. Er hatte das schon einmal gesehen. Er nahm Reis Anspannung wahr, wie sich seine Muskeln zusammenzogen. Er holte aus und Kai entdeckte, was ihm das letzte Mal verborgen geblieben war. Die feinen grünlichen Funken, die er aussprühte. Es war reiner Instinkt, dass Kai seinen Fähigkeiten freien Lauf ließ. Flammen umschlangen die lange Klinge seiner Waffe und zerbarsten das Holz, als wäre es ein Windhauch. Rei wusste nicht, wie ihm geschah, als Kai das Schwert plötzlich fallen ließ, sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden riss. Mit aufgerissenen Augen starrte er ihn an. „Kai, was war das denn? Wieso kannst du das?“, fragte er perplex. „Ich kann auch ganz andere Dinge“, raunte Kai ganz dicht an seinem Ohr und er ließ seine Körperwärme bewusst ansteigen. Da kam ihm in den Sinn, dass Brooklyn seine Fähigkeiten an sich genommen hatte, bevor er durch das Portal hierher kam. Und doch besaß er sie noch. Ihm schoss durch den Kopf, dass das wohl alles nur ein Traum gewesen war. Dass er trotzdem seine Fähigkeiten so gut einzusetzen wusste, ignoriere er getrost. „Beherrsch dich!“, warnte Rei und holte ihn damit aus seinen Gedankenströmen. „Wieso?“, grinste Kai lediglich und beugte sich noch etwas tiefer über ihn, ließ seine Lippen an Reis Hals entlang streichen. Er spürte, wie Rei unter ihm erschauderte und die Hände in seine Arme krallte. Kai konnte nicht anders, er musste ihn küssen. Zu sehr hatte er Angst gehabt, ihn nie wieder sehen zu können, nie wieder diese Haut berühren zu können, nie wieder diese perfekten Lippen fühlen zu können. Er drückte die Lippen auf Reis Mund, der leicht geöffnet war und küsste ihn stürmisch, ließ seine Finger unter das Hemd gleiten und zog ihn in einen Strudel der Leidenschaft. Nach einigen halbherzigen Protestversuchen gab Rei schließlich auf und gab sich ihm hin, vergrub die Finger in Kais Haaren, legte die andere Hand auf seinen Oberarm, wo er langsam unter den Stoff des Ärmels glitt. Kai rechnete jeden Moment damit, dass Rei abbrach. Doch er tat es nicht. Er gab sich ihm hin, ließ zu, dass Kai ihm das Hemd über den Kopf streifte und er selbst war erregt und überfordert zugleich, denn er war sich sicher, dass Rei dies niemals zugelassen hätte. Sanft fuhr er mit den Fingern über Reis Bauchmuskeln und stoppte abrupt. Beinahe traute er seinen eigenen Augen nicht. Vorsichtig fuhr er mit einem Finger über die vier hellen Narben und spürte deutlich, dass sie sich von der Haut abhoben. Sie waren da, die vier Wunden, die Rei beinahe umgebracht hätten und sofort schwirrten seine Gedanken durcheinander, wenn diese Narben existierten, dann musste doch alles passiert sein, was aber ebenfalls bedeutete, dass er in Betracht ziehen musste, dass er sich hier nicht in der Realität befand. Er ließ die Hand zu Reis Rücken gleiten und spürte auch da die Abhebungen der Narben, da wo die vier Krallen der schwarzen Kreatur ihn durchbohrt hatten. „Woher hast du die?“, fragte Kai mit rauer Stimme. „Ist das wichtig?“, flüsterte Rei und zog ihn in einen erneuten Kuss, doch Kai brach ihn ab. „Ja, für mich schon“, beharrte er und blickte Rei durchdringend an. „Ich weiß es nicht, ich hatte sie schon immer, seit Geburt. Muss wohl in einem früheren Leben passiert sein“, meinte er schulterzuckend und hob die Hand, um Kais Kopf zu sich zu drehen und ihn zu küssen. Kai blockte ab. Nein, das konnte nicht sein. Und das hier war unmöglich Rei, denn Rei hätte niemals zugelassen, dass Kai so weit gehen könnte und niemals hätte er so gleichgültig über ein früheres Leben gesprochen. Und doch, die Vorstellung, ihn zu töten, machte ihn verrückt. Seine Finger schlossen sich um den Griff seines Dolches, der in seinem Gürtel steckte. „Kai, alles in Ordnung?“ hörte er Rei ernst fragen und seine Finger lösten sich wieder. Nein, zuerst musste er sich vollends sicher sein, dass das hier nicht der echte Rei war. „Rei, was weißt du über den Limbus?“, fragte er beim Abendessen. Der Chinese ließ seine Essstäbchen sinken und sah ihn stirnrunzelnd an. „Wieso willst du das wissen?“, fragte er. „Gibt es eine Möglichkeit, jemanden da raus zu holen?“, überhörte er jedoch die Frage. „Naja, es gibt diese Vorstellung, dass nur der Tod einen herausholen kann, doch das Problem dabei ist, dass wohl kaum jemand einen Freund töten würde, um zu sehen, ob das wirklich funktioniert.“ „Gefangen zu sein in der Vorhölle, stelle ich mir furchtbar vor. Ich denke nicht, dass es dort besonders schön ist“, suggerierte Kai. Rei kicherte. „Es hat nicht wirklich etwas mit der Hölle zu tun, es heißt lediglich so, doch in Wahrheit ist es nur eine Zwischenwelt, wo die Seelen in einer Illusion ihres wahren Lebens dahin vegetieren“, seufzte Rei. Kais Augenbrauen zogen sich tief nach unten. „Wieso weißt du das?“, fragte er. „Ich weiß nicht, ob es stimmt, ich habe es lediglich so gehört.“ „Würdest du wollen, dass ich dich töte, wenn du im Limbus gefangen bist?“, fragte Kai geradehinaus und Rei starrte ihn ungläubig an. „Was? Natürlich nicht!“ Kais Blick verdüsterte sich. Ein falsches Lächeln legte sich auf seine Lippen. Rei hätte niemals so geantwortet. Niemals. Er hätte ihn sogar mit Sicherheit noch schwören lassen, dass er ihm nicht in den Limbus folgen sollte, würde es einmal dazu kommen. Er erhob sich und stellte sich hinter Rei, beugte sich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr. „Ich werde dich zurück holen, Rei.“ Ohne noch weiter zu zögern, zog er den Dolch und rammte ihn Rei in die Brust. Und dann lag er plötzlich auf weichen Fellen, Rei war ganz dicht über ihn gebeugt, seine hellen Augen schauten ihn erwartungsvoll an. „Du bist betrunken“, rutschte es ihm aus der Kehle. „Mag sein“, lächelte er jedoch nur und beugte sich tiefer über ihn, verschloss Kais Mund mit seinen Lippen. Kai konnte sich nur zu gut daran erinnern, dieser erste Kuss hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt, jedes Detail war ihm noch im Bewusstsein. Auch die Lippen, die ihn so fordernd küssten, so zart und leidenschaftlich zugleich, etwas rau von der Kälte. Doch die Lippen hier waren keineswegs rau. Sie waren weich und sanft und luden zum Küssen ein. Kai versank beinahe darin, er wollte sich fallen lassen, wollte, dass es nicht mehr aufhörte und doch rief sein Verstand, dass Rei schon längst hätte abbrechen sollen. Und trotzdem, zumindest ein bisschen wollte er dies noch auskosten. Er ließ seine Hand über Reis wohlgeformten Hintern gleiten, den die Felle nun nicht mehr bedeckten, und zog ihn etwas nach oben. Rei stöhnte leise in den Kuss hinein und Kai schmolz fast, als es diesen Laut hörte, nur zu gerne würde er mehr davon hören. Nur zu gerne. Doch das hier war nicht echt. Und obwohl Kai am liebsten alle seine guten Vorsätze über Bord geworfen hätte, wusste er, dass er handeln musste. Er fingerte nach dem Dolch, der neben den Fellen am Boden lag. Diesmal würde es ihm nicht so schwer fallen. Er nahm das Messer fest in den Griff und stach erneut zu, mitten in den Rücken, zwischen die Schulterblätter. „Verzeih“, hörte er sich selbst sagen und er bemerkte gerade noch Reis verwirrt blinzelnde Augen, bevor er die Lippen auf seine drückte. Er spürte Reis leisen Protest, der jedoch nach kurzer Zeit versiegte. Tanzmusik drang an seine Ohren und genau vor dem Vorhang, hinter dem sie standen, lachte eine Frau penetrant auf. Kai presste sich näher an Rei, drückte ihn zwischen sich und der Wand ein. Ihre Knie schoben sich ineinander. „Bitte Rei, lass uns von hier verschwinden“, flüsterte Kai in Reis Ohr. Er nickte und hintereinander kamen sie hinter dem Vorhang hervor, schlichen sich durch den Tanzsaal und huschten aus der Tür, suchten das Zimmer auf, das Yuriy ihnen zuvor gezeigt hatte. Rei lehnte sich gegen die Tür, die ins Schloss fiel, und blickte ihn an. Kai zögerte. Dieser Rei schaute ihn abwartend und doch etwas zweifelnd an, als würde gleich etwas auf ihn zukommen, das er nicht kontrollieren konnte und das mochte er nicht. Der Krieger hob eine Hand und legte sie sachte an Reis Wange, wollte ihm zeigen, dass er Rücksicht nehmen würde. „Ich habe nachgedacht“, hörte er ihn flüstern, „du magst recht haben, was das betrifft, aber ich will auf keinen Fall, dass diese Zuneigung auf irgendeine Weise unsere Mission beeinflusst.“ Kai nickte und küsste ihn, diese Worte wollte er hören und die Bedingung, die er gestellt bekommen hatte, war einzuhalten. Er stockte. Nein, er hatte sich nicht daran gehalten. Nur die Zuneigung zu Rei hatte ihn dazu geführt, ihm in den Limbus zu folgen, niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, das bei irgendjemand anderem zu tun. Außerdem hätte Rei nicht gewollt, dass Kai seine Kräfte, geschweige denn sein Leben aufs Spiel setzen würde, nur um ihn zu retten. Und trotzdem konnte er mit gutem Gewissen dahinterstehen. Sie brauchten Rei. Er küsste ihn auf den Mund und spürte, wie Rei die Leidenschaft vorsichtig erwiderte. Er spürte die Hände im Nacken und halb auf den Ohren und wie sie ihn etwas näher zogen. Ermutigt ließ er die Finger unter das Hemd gleiten und streichelte seinen Bauch. Keine Narbe war zu spüren. „Wärst du wütend auf mich, wenn ich dir in den Limbus folgen würde?“, fragte Kai flüsternd. Rei blickte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Wieso solltest du so etwas tun?“, fragte er. Kai küsste ihn aufs Ohr und flüsterte hinein. „Um dich dort heraus zu holen.“ „Nein“, sagte er wütend, schubste ihn weg und starrte ihn an, „das wäre zu gefährlich.“ „Und wenn ich genau wüsste, wie man hinein und wieder hinaus gelangt?“, bohrte Kai nach. Dieser Rei war unglaublich realistisch. „Woher solltest du das wissen?“ Eine perfekte Illusion. Beinahe. „Brooklyn“, meinte Kai simpel. „Du weißt doch, dass ich ihm nicht traue. Du darfst nicht auf ihn hören.“ Kai Augenbraue zuckte nach oben. Es konnte zwar sein, dass die Illusionen stetig besser wurden, vielleicht hatte der Limbus sogar ein eigenes Bewusstsein, doch es konnte ihn nicht täuschen, nicht, wenn es um Rei ging. Mit einer blitzartigen Bewegung zückte er seinen Dolch und trieb ihn ihm in den Bauch. Kai blinzelte, die Sonne schien ihm ins Gesicht. Um das grelle Licht abzuschirmen, hob er eine Hand vor die Stirn und bemerkte bei dieser Bewegung, dass er Rei im Arm hielt. Dieser wurde gerade wach und lächelte ihn an. „Guten Morgen“, nuschelte er und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Kai grinste. Er wusste genau, wo er war und nur zu gerne erinnerte er sich an diese erste gemeinsame Nacht in einem Bett. Es war kurz vor Anfang der Mission gewesen. Rei verzog etwas das Gesicht. „Was ist?“, fragte Kai. „Schmerzen“, nuschelte Rei und errötete. „Wovon?“, fragte Kai überrascht. „Muss ich das aussprechen?“, murrte Rei. Kais Mundwinkel verzogen sich. Der Limbus mochte sich zwar seine schönsten Erinnerungen mit Rei ausgesucht haben, doch anscheinend wusste es nicht, dass sie nicht miteinander geschlafen hatten. „Entschuldige“, flüsterte er mit seinen Lippen auf Reis, dann stach er zu. Mit dem Schwert in der Hand rannte er so schnell er konnte auf Rei zu, hinter welchem sich gerade die schwarze Kreatur aufbaute. Er schrie und sah Rei, der ihn anstarrte, sein Blick schweifte zurück zur schwarzen Kreatur, die den Arm hob. Er konnte schnell genug sein, er musste sich nur beeilen. Seine Schritte wurden länger, kräftiger stieß er sich vom Boden ab. Er hob das Schwert und stieß zu und er hörte einen Schrei, der ihm in den Ohren schmerzte. Doch es war Reis Schrei, direkt neben seinem Ohr und er fühlte warmes Blut über seine Hand strömen. Irritiert blickte er nach unten und sah sein Schwert, wie er es Rei bis zum Ansatz in den Bauch getrieben hatte. Entsetzt ließ er es los und wich einige Schritte zurück. Das wollte er nicht. Er sah, wie Rei an sich hinunterblickte, sich an den Bauch fasste, sah, wie er einsackte und sein Körper ohnmächtig zu Boden ging. Er hatte Rei umgebracht. Nicht das schwarze Wesen war es gewesen, sondern er hatte ihn umgebracht. Alleine wegen ihm war Rei gestorben. Er hatte ihn abgelenkt. Es war seine Schuld. Immer mehr solche Gedanken strömten in sein Bewusstsein und verzweifelt fiel er auf die Knie und griff sich an den Kopf, der unglaublich schmerzte. „Was hast du getan, Kai“, hörte er Makkusu anklagend schreien und er sah die beschuldigenden Augen der anderen Wächter, die ihn verachtend anstarrten. Die schwarzen Gestalten um ihn herum kamen immer näher, bildeten einen Kreis und kesselten ihn ein und die anderen Wächter wandten sich ab, überließen ihm seinem Schicksal, das er verdient hatte. ‚Der Tod ist der einzige Ausweg aus einem Traum’, hörte er plötzlich Reis Stimme in seinem Kopf widerhallen. Das hier musste ein Traum sein. Das konnte nichts anderes sein. Er blickte zu Rei, der tot am Boden lag, die Wächter um ihn herum und seine Faust verkrampfte sich um den Griff seines Dolches. Es war die einzige Möglichkeit. Er musste sich selbst töten. Er biss sich auf die Lippen und rammte sich den Dolch in den Bauch. Stockend atmend blickte er nochmal zu Rei, sah, wie die Welt um ihn herum langsam unscharf und dunkel wurde. Dann war alles schwarz. Als er die Augen wieder aufschlug, saß er auf der Wiese der heiligen Lichtung, Rei lag vor ihm und Makkusu kümmerte sich mit konzentriert angespanntem Gesicht um seine Wunden. Die anderen Wächter standen um sie herum und warteten. „Es war zu spät“, hörte er plötzlich Makkusu verzweifelt flüstern und er schlug mit den Fäusten ins Gras. Bittere Tränen strömten über sein Gesicht. „Aber sieh doch, sein Gesicht.“ Kai starrte auf Reis Gesicht, sah, wie es langsam wieder etwas Farbe annahm, seine Wangen und Lippen wieder durchblutet wurden. „Nein, ihr versteht das nicht“, schrie der Schamane und er klang furchtbar verzweifelt, „sein Körper lebt, aber seine Seele ist gefangen-“, fing er an, wurde jedoch unterbrochen. „Im Limbus“, hörte Kai sich selbst sagen und Makkusu nickte. Als er in die Runde fragte, wer etwas über den Limbus wusste, meldete sich Kyojou eingeschüchtert zu Wort und erzählte ihm die Geschichte, die er schon gehört hatte. Irgendwo hatte er sie schon einmal gehört, doch er konnte sich nicht erklären wo und von wem. Rei war es nicht gewesen, er hätte sich an die Stimme erinnern können. Willenlos wie eine Marionette fühlte er sich aufstehen und zur kleinen Baumgruppe gehen, hörte sich wütend nach Brooklyn brüllen. Hasserfüllt blickte er ihn an, als er endlich zu ihm heran schritt und er packte ihn sogleich am Kragen, doch Brooklyn lächelte ihn nur an. Dieses widerliche, naive Lächeln. Sein Blick fiel auf den Ring an seiner Hand, die roten Funken leuchteten, viel stärker als die anderen farbigen Splitter im weißen Stein und genau das war es, was ihn verriet. Kais Erinnerung kam zurück. Wutentbrannt schnappte er den Dolch, schubste Brooklyn von sich weg, nicht ohne ihm einen wütenden Blick entgegen zu schleudern. Nur zu gerne hätte er ihn umgebracht. Doch er traute sich nicht, wusste er schließlich nicht, was passieren würde. Mit gezücktem Dolch rannte er zurück zu den anderen Wächtern und wollte sich gerade auf Rei stürzen, da sah er, wie dieser ihn verwirrt anblinzelte. Er sah, wie sich sein Mund zu einer stummen Frage öffnete, doch es war zu spät. Kai konnte nicht mehr anhalten. Mit irren Augen bohrte er die Klinge in Reis Brust, genau dort, wo das Herz war. Bevor er weiter denken konnte, hörte er einen wütenden Schrei und die heilige Lichtung zerfiel. Funkelnde Kristalle regneten von der Decke herunter, der Boden unter ihm löste sich auf, die Tore verschwammen und alles zerbrach in kleine Splitter, die ins schwarze Nichts entschwebten. Er war müde. So unglaublich müde. Er wollte schlafen. Und doch wusste er, wenn er aus diesem Albtraum entfliehen wollte, musste er es noch einmal schaffen. Er hob den Dolch. Ein letztes Mal. Kapitel 27: Die Artefakte der Zeit: Die Hüter der Legende --------------------------------------------------------- „Kai?“ Ganz leise hörte er seinen Namen an sein Ohr dringen. Langsam nur tröpfelte Gesagtes in sein Bewusstsein und es dauerte lange, bis er erkannte, welche Stimme seinen Namen ausgesprochen hatte. Mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, zwang er sich, die Augen zu öffnen. Es war alles verschwommen und die plötzliche Helligkeit trieb ihm Tränen in die Augen. Doch er erkannte das Gesicht, das sich über ihn gebeugt hatte. „Rei“, flüsterte er und seine Stimme klang krächzend und beim Versuch, sich aufzurichten, spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Bauch. Gleich mehrere Hände drückten ihn sofort wieder zu Boden. Wütend blinzelte er, bis er wieder einigermaßen scharf sehen konnte und blickte endlich in Reis Gesicht, das ihn verstört anstarrte. Die pure Sorge stand darin geschrieben. „Was hast du nur getan?“, flüsterte Rei heiser und seine Stimme klang ebenso rau, verzweifelt und erleichtert zugleich. Kai hustete und schmeckte Blut. Makkusu reichte ihm etwas zu Trinken. „Hat es geklappt?“, fragte er angestrengt. Rei nickte und biss sich auf die Unterlippe. Sorgenfalten legten sich auf seine Stirn und der Krieger merkte, dass etwas nicht stimmte. Doch Rei würde es ihm schon sagen, wenn er es für richtig hielt. „Du dummer, eingebildeter Idiot, du hättest sterben können“, flüsterte Rei. Er war einfach nur schrecklich erleichtert, dass es Kai gut ging. Doch die Wunden, die er davon getragen hatte, waren furchtbar. Kai lächelte grimmig und hob die Hand, die er an Reis Wange legte. „Was wäre das für ein Leben ohne dich“, murmelte er so leise, dass nur Rei es hören konnte. Doch alleine die intime Geste ließ diejenigen, die zu ihnen sahen, den Kopf abwenden. Sie war nicht für aller Augen bestimmt. „Du wärst selber beinahe umgekommen!“, warf Rei ihm vor und klatschte sich seufzend die Hand vors Gesicht, „schau dir nur an, was du angerichtet hast.“ Er nahm die Hand von seinem Gesicht und legte mit ganz wenig Druck die Fingerspitzen auf Kais Bauch, dort, wo zwei große Wunden geblutet hatten. Er selbst war zu schwach gewesen, als dass er sich um ihn hätte kümmern können und zum Glück hatte Makkusu sich seiner angenommen. Kai hob angestrengt den Kopf und betrachtete sich die Wunden. Er erkannte sie wieder. Er hatte sie sich selbst zugefügt. Im Limbus. Murrend ließ er den Kopf zurück fallen. Er starrte die kristalline Decke an, die ihr warm funkelndes Licht auf die Lichtung streute. „Kai, du hast deine Kräfte aufgegeben. Wieso hast du das getan?“, fragte Rei und klang leicht erstickt. Der Krieger drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können. Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. „Ist das nicht offensichtlich, Rei? Ich dachte, du weißt immer alles.“ Rei fühlte die Wärme in die Wangen steigen, doch der Ernst der Lage traf ihn erneut wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich meine es ernst, Kai, du hättest das nicht tun sollen.“ „Du warst es mir wert, Rei. Für niemand anderen hätte ich das getan“, brummte Kai und wandte stur den Kopf ab. Ein Lächeln legte sich auf Reis sorgenvolles Gesicht. „Idiot“, seufzte er, konnte nicht umhin, dass es liebevoll klang, und ließ sich langsam und vorsichtig nach vorne fallen, legte die Arme um Kais Schulter und vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel. Auf Kais blassem Gesicht zeigte sich ein kaum bemerkbares schiefes Lächeln und er hob einen Arm, um ihn Rei um die Schultern zu legen. Er hatte es geschafft. Rei lebte. Er würde wieder gesund werden. Er drückte ihn an sich und hörte fast gleichzeitig ein unterdrücktes Stöhnen. Sofort lockerte er wieder seine Umarmung. Rei hielt sich den Bauch und krümmte sich. Makkusu, der das mitbekommen hatte, drückte Rei empört zurück auf den Rücken. „Du solltest doch liegen bleiben! Deine Wunden sind noch zu frisch. Unter keinen Umständen darfst du dich zu fest bewegen!“, zischte er wütend, „das gilt auch für dich, Kai!“ Kai verzog das Gesicht. „Ich kann kämpfen“, versuchte er ihn zu überzeugen. „Wie denn, ohne deine Kräfte?“, mischte sich nun auch Yuriy ein, der das Gespräch mit angehört hatte. Wütend blickte Kai zwischen den beiden hin und her. „Ich bin Krieger, ich werde auch ohne Kräfte kämpfen können!“ „Ohne deine Kräfte bist du nutzlos“, stellte Yuriy kühl fest und drehte sich nach einem kurzen, aber schmerzhaft prägnanten, eiskalten Blick wieder weg. Makkusu seufzte. „Es tut mir leid, aber er hat Recht. Ohne deine Kräfte kannst du in unserer Welt nicht viel ausrichten. Tut mir Leid“, wiederholte er und seine Schultern sackten nach unten. Kopfschüttelnd und vor sich hin seufzend folgte er Yuriy zu den anderen, die ihr weiteres Vorgehen besprachen. Ein wütender Laut entglitt Kais Kehle, doch dann fühlte er eine warme Hand, die sich auf seine legte. Es war lange her, dass er eine Hand spürte, die wärmer war, als seine eigene. Er presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf zu Rei, welcher aufmunternd lächelte und seine Augen schimmerten ihn beruhigend an. Kai wurde warm ums Herz und er drückte Reis Finger. „Wir werden nach Hause gehen“, flüsterte Rei, „der Krieg geht uns nun nichts mehr an.“ Kais Augenbrauen zogen sich tief zusammen, als er den Sinn hinter diesen Worten verstand. „Wieso wir? Was ist mir dir? Willst du nicht weiterkämpfen?“ Er war hin und her gerissen zwischen der Freude, dass Rei mit ihm kommen würde und er sich nicht verrückt machen musste durch den Gedanken, Rei während eines Kampfes, bei dem er nicht mal dabei sein konnte, verlieren zu können, und der Verwirrung, wieso er denn nicht mehr kämpfte. Seine Kraft war enorm und vielleicht war er sogar die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen. „Ich würde, wenn ich könnte“, seufzte Rei und sein Blick wurde frustriert. Ernst schaute Kai ihn an. „Sind die Wunden noch so schlimm?“, fragte er leise. „Nein, nein das ist es nicht, sie werden schnell weg sein dank Makksis Medizin und des heiligen Wassers, aber“, er stockte und biss sich auf die Unterlippe. Kais Augen verengten sich, doch er wartete geduldig, dass Rei weitersprach. „Du bist nicht der einzige, der nun ohne Fähigkeiten ist. Sie wurden mir entrissen“, flüsterte er und er wandte den Blick von Kai ab, als würde er sich schämen. Kai wusste nicht, was er sagen sollte. Wie er darauf reagieren sollte. Das einzige, was er tun konnte, war, seine Hand noch etwas fester zu drücken und sich leicht auf die Seite zu drehen, um ihn mit der anderen Hand über die Wange zu streicheln. „Was sind das nur für Wächter, die nicht einmal mehr im Besitz ihrer Kräfte sind“, sagte plötzlich eine Stimme über ihnen spöttisch. Beide blickten hoch und erkannten vier Gestalten, die zu allen Seiten um sie herum standen und sie mit verschränkten Armen musterten. „Was wollt ihr?“, knurrte Kai verärgert und setzte sich auf so gut es ging. „Leg dich wieder hin, du Dummkopf“, tadelte der junge Mann, der direkt vor ihm stand. „Wenn ihr hier seid, um uns zu beleidigen, oder euch über uns lustig zu machen, dann könnt ihr gleich wieder verschwinden“, knurrte Kai und hielt sich den Bauch, wo die Wunden schmerzten von der Aufregung beim Reden. „Was wollt ihr von uns?“, fragte sie jedoch Rei und setzte sich ebenfalls vorsichtig auf. „Nun, wie ihr sicher wisst, gibt es eine Legende über die Wächter“, sagte das Mädchen, von dem Kai wusste, dass sie Miriam hieß. Rei nickte. „Natürlich“, bestätigte er. „Nun“, fuhr Miriam fort, „es existiert noch viel mehr als lediglich eine Legende. Irgendwo auf der Erde liegt versteckt ein Ort, der ein Buch beherbergt. In diesem Buch steht alles über die Wächter geschrieben seit Anbeginn der Zeit. Dieses Buch wird gemeinhin als ‚die Legende der Wächter’ bezeichnet, obwohl es viel mehr ist als das.“ Fasziniert hatte Rei ihr zugehört und mit großen Augen starrte er sie an. „Was willst du damit sagen? Warum weißt du das?“ „Nun, wir vier sind die Hüter dieser Legende“, sagte sie mit einem verschwörerischen Unterton und zeigte der Reihe nach auf Ozuma, Jusuf und Dunga. „Soll das heißen, ihr wisst, wo dieses Buch ist?“, fragte Rei ungläubig und sah mit großen Augen in die Runde. „Die Scharfsinnigkeit deiner Auffassungsgabe ist bemerkenswert“, sagte Miriam und wirkte sichtlich amüsiert. Rei wurde etwas verlegen. „Und was wollt ihr uns damit sagen?“, fragte er deshalb, um abzulenken. „In diesem Buch gibt es ein Kapitel, das erzählt von Wächtern, die ihre Fähigkeiten verloren hatten“, antwortete Genbu mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen. „Nun ja, wir wissen jetzt, wie sich das anfühlt, also was wollt ihr nun wirklich?“, fuhr Kai ungeduldig dazwischen. Er hasste es, wenn mit ihm gespielt wurde. „Immer langsam mit den jungen Pferden, Kai“, beschwichtigte Ozuma und lachte. „Das Buch erzählt nicht nur davon, dass sie ihre Kräfte verloren, sondern auch, dass sie sie wiederfanden“, erzählte Genbu weiter und seine Stimme senkte sich verschwörerisch. „Wie?“, wollte Kai sofort wissen. Wenn tatsächlich eine Möglichkeit bestand, seine Kräfte wiederzubekommen, dann wollte er dies ohne Umschweife erfahren. „Da liegt das Problem, wir wissen es nicht“, meinte Ozuma und verzog entschuldigend das Gesicht, zuckte mit den Schultern. Kai stöhnte genervt auf und Rei seufzte. Das wäre auch zu schön gewesen. Doch wann war jemals etwas einfach im Leben eines Wächters. „Was sollte dann das Ganze?“, fragte Kai angesäuert. „Wir haben lediglich gesagt, dass wir es nicht wissen, nicht, dass es nicht im Buch steht“, meinte Jusuf plötzlich und blickte ihn durchdringend an. „Bringt und dort hin“, sagte Rei und schaute sie mit großen runden Augen an, „bringt uns dort hin!“ Die vier Hüter der Legende der Wächter tauschten Blicke aus und lächelten. Sie hatten keine andere Reaktion erwartet vom wissbegierigen Heiler. Doch Kai funkte dazwischen. „Sagt uns einfach, wie wir dort hin kommen, wir werden das auch alleine schaffen“, sagte er grimmig. Doch Miriam schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Nur wir können diesen Ort finden“, widersprach sie. „Dann kommt einer von euch mit, die anderen bleiben hier und kämpfen“, blieb Kai stur. „Du verstehst nicht, wir müssen zu viert sein. Jeder einzelne von uns würde den heiligen Ort zwar finden, doch ohne Ozuma bleibt das Buch unauffindbar, ohne Miriam kann es nicht geöffnet und ohne Jusuf nicht gelesen werden und ohne mich würdet ihr alles wieder vergessen haben noch ehe ihr den Ort verließet“, erklärte Genbu. „Das hat natürlich einen Grund. Würde dieses Wissen in falsche Hände geraten, wären die Konsequenzen fatal“, ergänzte Jusuf nickend. „Ich bitte euch, bringt uns dort hin“, bat Rei beinahe schon flehend. Ozuma lächelte. „Natürlich werden wir das.“ Ihre Wunden waren noch nicht verheilt und schmerzten bei jeder ruckartigen Bewegung. Makkusu war alles andere als begeistert gewesen, dass sie trotzdem schon aufbrechen wollten, obwohl er ihnen wenigstens noch eine Nacht einreden konnte, doch sie waren alle der Meinung, dass je schneller sie gehen würden, desto eher sie zurück waren, um ihnen zu helfen. Denn auch wenn es schmerzte, so etwas zu hören, so hatte Yuriy natürlich recht gehabt, mit dem was er gesagt hatte. Ohne ihre Kräfte waren sie absolut nutzlos. Makkusu hatte ihnen die Medizin mitgegeben, mit der sie ihre Wunden mindestens dreimal täglich einreiben, und einen Beutel mit dem heiligen Wasser der Lichtung, von dem sie regelmäßig trinken sollten. Als sie dann endlich, ausgeruht, mit Proviant versorgt, und mit einigen frischen Klamotten ohne eingetrocknete Blutspuren, aufbrachen, blickten ihnen einige nach, wie sie durch eines der Tore verschwanden, um in einer anderen Welt wieder aufzutauchen. Rei blinzelte gegen das Tageslicht. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Die nackten Felsen wirkten trostlos und abgesehen von einem kleinen ausgetrockneten Busch konnte er weit und breit nichts Lebendes ausmachen. Es war keine Gegend, in die jemand gerne ging. Doch genau hier durch führte sie ihr Weg. Durch verklüftete Felsspalten und über gefährlich unstabile Steine. Nicht, dass sie einem Pfad folgen würden, denn etwas dergleichen war nirgendwo zu entdecken, doch die vier Hüter der Legende wussten offensichtlich genau, wo lang sie mussten und Rei gestand sich ein, dass er darüber sehr erleichtert war. Kai hatte sich bestimmt auch oft so gefühlt, als er ihm blindlings gefolgt war, und mit großem Respekt dankte er ihm im Stillen dafür, dass er ihn nie ausgefragt oder angezweifelt hatte. Auch Kai hatte viel Zeit zum Nachdenken, denn sie sprachen kaum. Aus den Augenwinkeln beobachtete er jede von Reis Bewegungen und er war jederzeit bereit, sofort zu ihm zu springen, sollte etwas nicht stimmen. Denn ihm war aufgefallen, dass Reis Wunde weniger schnell heilte als seine eigene und er bemerkte, dass er sich oft an den Bauch fasste und mit geballter Faust auf die Wunde drückte, als wolle er den Schmerz betäuben. Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete er, wie Rei etwas taumelte und vor Schmerz die Augen zusammenpresste. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er war unglaublich blass um die Nase. Blitzschnell schlang er seine Hand um Reis Arm, als dessen Fuß von einem losen Stein abrutschte und einknickte. „Pass auf“, warnte er. Rei atmete heftig. Ihm war leicht schwindelig und der Schmerz seiner Wunde war schlimmer geworden. Er konnte nicht sagen, wie lange sie schon unterwegs waren, aber es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen und an der felsigen, öden Landschaft hatte sich nicht viel verändert. Besorgt bemerkte Kai, dass Reis Griff um seinen Oberarm ungewöhnlich schwach war. „Ozuma. Rei braucht eine Pause“, wandte er sich an die anderen, die vor ihnen gegangen waren, nun aber stehen blieben. Ozuma nickte und hastig zogen sie eine Decke aus der Tasche, die sie dabei trugen, worauf Rei sich setzen konnte. Die anderen ließen sich um ihn herum auf größeren Steinen nieder. Rei krümmte sich mittlerweile, doch er gab keinen Laut von sich. Miriam streckte ihm den Beutel mit dem heiligen Wasser entgegen. „Hier, trink.“ Dankbar nahm er es an und trank einige Schlucke. Die Flüssigkeit war kühl und er spürte sie in seinem fiebrigen Körper, spürte, wie sie ihn kühlte, wie sie die Anspannung etwas lockerte und die Schmerzen linderte. Tief atmete er durch. Das Schwindelgefühl flackerte noch einmal kurz auf, dann ließ auch das nach und erschöpft ließ er sich endgültig zu Boden gleiten, legte den Kopf auf die dünne Decke und schloss die Augen. „Warum heilen seine Wunden so schlecht?“, fragte Kai, bewusst, dass Rei ihn wahrscheinlich hörte. „Nun ja, er wurde vom puren Bösen selbst verletzt. Das ist keine normale Wunde. Sie ist vergiftet mit böser Energie. Da hilft auch das heilige Wasser nur mäßig, alle Heiligkeit in Ehren“, sagte Miriam und seufzte. Auch sie machte sich Sorgen. Normalerweise war es etwa ein Tagesmarsch bis zur kleinen Stätte, in der das Buch versteckt war, doch mit zwei Verletzten, besonders mit Rei, würden sie viel länger brauchen. Doch nach kurzer Zeit, viel kürzer als sie erwartet hatten, richtete sich Rei auf. Er wollte weitergehen. Und nachdem sie sorgenvolle Blicke ausgetauscht und ihm das Versprechen abgenommen hatten, dass er sofort sagen solle, wenn er eine Pause brauchte, setzten sie ihre Reise fort. Kai hatte Rei noch nie so gesehen. Verwundet, verletzlich, schwach, am Ende seiner Kräfte. Und ahnungslos. Bis jetzt war er es immer gewesen, der alles gewusst hatte, doch anscheinend gab es Wächter, die mehr wussten als er. Und das schien ihn irgendwie menschlicher zu machen, wie Kai mit einem gezwungenen Lächeln feststellte. Doch das vergrößerte seine Angst um ihn, die Sorge, dass Rei doch verletzbar war und sterben konnte. Kopfschüttelnd versuchte er, diese hässlichen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Er mochte nicht daran denken. Rei so zu sehen war schlimm genug. „Genug für heute. Wir schlagen hier unser Lager auf. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir weitergehen, dann sollten wir bis Mittag dort sein.“ Rei war froh über diese Nachricht. Er hatte seine ganze Kraft und seinen ganzen Willen zusammengekratzt und versucht, sich möglichst nichts anmerken zu lassen, doch er war todmüde und erschöpft ließ er sich einfach zur Seite kippen. Ohne dass er noch etwas hätte sagen können, war er schon weggedöst und nur im Halbschlaf merkte er, wie ihn jemand hochhob und auf eine Decke legte, seine Wunde mit der Medizin bestrich, ihm einen frischen Verband anlegte und ihn schließlich zudeckte. Er spürte die vertrauten Hände, roch den vertrauten Geruch. Kai würde über ihn wachen. Ein verkrampftes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, er wollte sich bedanken, doch die Worte wollten nicht herauskommen. Er war froh, dass er wenigstens die Hand austrecken und Kais Finger greifen konnte, die sich mit seinen verhakten. Kai war da. Und er würde die ganze Nacht nicht von seiner Seite weichen. Er hörte, wie sein Herz langsamer schlug, ruhiger. Die Geräusche um ihn herum verschwanden. Eingebettet in Stille entschwand er in einen traumlosen, schweren Schlaf. Kapitel 28: Die Stätte der Erinnerungen --------------------------------------- Als die kleine Gruppe früh am nächsten Morgen aufbrach, ging es Rei nicht besser als am Tag zuvor. Zwar konnte er durch den beinahe ohnmächtigen Schlaf und das Wenige zu Essen, das er zu sich genommen hatte, wieder etwas Kraft tanken, doch die Wunde schmerzte ihn noch immer bei jedem Schritt und ließ ihn krampfhaft die Zähne aufeinander beißen. Kai musste sich stark zusammenreißen, ihn nicht einfach über die Schulter zu werfen und keinen Widerstand zuzulassen, doch nachdem er ihm seine Hilfe angeboten hatte und diese dankend abgelehnt wurde, wollte er ihm seine Würde lassen. Zumindest, bis Reis Beine ihn plötzlich nicht mehr trugen und unter ihm wegsackten. Reflexartig packte Kai ihn am Arm. Rei schaute keuchend auf und erkannte die stumme Bitte in Kais Augen, ihn tragen zu dürfen. Zaghaft nickte er und ließ den Kopf hängen, während er seine flache Hand auf die pochende Verletzung presste und versuchte, ruhig zu atmen. Nicht, dass die Wunden an den Armen nicht schmerzen würden, doch im Vergleich dazu waren sie kaum erwähnenswert. Vorsichtig hob Kai ihn auf den Rücken und hakte seine Arme unter Reis Kniekehlen ein, sodass er ihn festhalten konnte. Rei schlang seinerseits einen Arm um Kais Schulter und presste sich an ihn. Kai erschrak, als er die fiebrige Hitze von Reis Körper durch den dünnen Stoff ihrer Hemden spürte. Fieber war immer ein schlechtes Zeichen bei einer Verletzung. Ein sehr schlechtes. Besorg versuchte er, seine Schritte so gut es ging abzufedern, um es Rei so leicht wie möglich zu machen. Die Stunden zogen sich elendig lange dahin und Kai schleppte sich mühsam voran. Natürlich hatte sich irgendwann Reis zusätzliches Gewicht bemerkbar gemacht und zu allem Übel hatten seine eigenen Wunden ebenfalls wieder angefangen zu schmerzen. „Wir können nicht zwei wie Rei brauchen“, sagte Miriam und Dunga war einverstanden, ihn Kai abzunehmen. Auch wenn er sich anfangs sträubte und stark sein wollte, so musste er sich doch eingestehen, dass es niemandem von Nutzen war, zumal er immer langsamer geworden war, und so überließ er es Dunga, Reis entkräfteten Körper zu tragen. Miriam schüttelte verständnislos den Kopf und legte Kai eine Hand auf die Schulter. „Bei Anima, du hast genug getan.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und tätschelte seine Schulter. Kai zwang sich, verkorkst zurück zu lächeln. Seufzend ließ sich Miriam zurückfallen, wo sie mit Ozuma das Schlusslicht bildete. So konnte sie Kai im Blick behalten. Der Krieger war ihr ein Rätsel. Sie hatte ihn zu Anfang als kalten, distanzierten Einzelbrodler eingeschätzt, der sich für nichts und niemanden interessierte, eingebildet nur sich selbst traute. Und doch spürte sie deutlich das liebevolle Band, das ihn mit Rei verband. Verwundert hatte sie festgestellt, dass er ihm gegenüber sehr wohl Sorge empfand. Sorge und ganz bestimmt gehörte dazu ein gewisser Grad an Zuneigung. In Kais Fall bestimmt eine Menge. Wenn sie das so sagen könnte, dann würde sie behaupten, dass er ihn sogar wirklich gerne mochte und sich nicht nur um ihn bemühte, weil er das Gefühl hatte versagt zu haben, als er ihn eigentlich beschützen wollte. Sie lächelte, als sie bemerkte, mit welch weichem Blick er Rei bedachte, der schlaff an Dungas Rücken hing. Ja, Rei hatte es wohl tatsächlich geschafft, Kais vereistes Herz im Sturm zu erobern. Sie konnte es ihm nicht verübeln, Rei hatte nun mal eine herzerweichende Wirkung auf Menschen. Abermals entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Es sah nicht gut aus mit Rei. Ozuma sah sie fragend an, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie wollte niemanden unnötig verängstigen. Doch wenn sie nicht bald eine Lösung fänden, würde Rei sterben. Diesmal richtig. Nach weiteren schweigsamen Stunden des über Geröll Marschierens, passierten sie endlich den Äußeren Kreis. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und warf ihre heißen Strahlen mit voller Wucht auf ihre Schädel. Normalsterbliche konnten den Äußeren Kreis nicht wahrnehmen, doch sie als Wächter sahen deutlich das schwache Glühen der ansonsten unauffälligen Steine, die im Kreis angeordnet waren. Von hier aus konnten sie die Schritte zählen. Dreihundertdreiunddreißig waren es bis zum Mittleren Kreis, weitere zweihundertzweiundzwanzig bis zum Inneren Kreis und dann nochmal hundertelf bis vor den Eingang der Stätte. Die Wächter der Legende spürten deutlich die Spannung in sich aufsteigen, die sie immer verspürten, wenn sie in die Nähe eines heiligen Ortes kamen. Abrupt blieben Dunga und Jusuf, die zuvorderst gegangen waren, stehen. Kai, Ozuma und Miriam stellten sich neben sie. „So, da wären wir“, stellte Ozuma überflüssigerweise klar, „stellt euch bitte auf.“ Dunga legte Rei Kai in die Arme, doch dieser war der Meinung, wenigstens alleine stehen zu können, und so stellte Kai ihn auf die Füße, nicht ohne ihn jedoch am Arm festzuhalten. Mit genügend Abstand sahen Kai und Rei neugierig zu, wie sich die anderen vier abwechselnd mit ihren Wächtertieren im Kreis aufstellten. Traurig blickte Kai auf die Wächtertiere. Durch seine waghalsige Aktion, Rei aus dem Limbus zu retten, hatte er nicht nur seine Kräfte verloren, sondern auch Suzaku. Genau wie Byakko war sie selbst nun auch im Limbus gefangen, lediglich ihre Körper lebten noch und Kai wusste nicht, ob er die Kraft noch einmal aufbringen könnte, in den Limbus zu gehen. Er hatte es sich nicht anmerken lassen, doch sein Aufenthalt im Limbus hatte tiefe seelische Schmerzen hinterlassen. Es hatte ihn schier wahnsinnig werden lassen, am liebsten hätte er jedes einzelne, verfluchte Mal, wo Rei ihn geküsst oder auch nur berührt hatte, alles hingeworfen und sich der wohllüsternen Illusion der Vorhölle hingegeben. Ihn dann auch noch umbringen zu müssen, hatte ihn beinahe den Verstand gekostet. Noch nie in seinem Leben war er seinen Grenzen so nah gekommen wie da. Aber er durfte sich jetzt nicht noch eine Schwäche leisten. Er musste stark sein und das alles ignorieren. Und in dem war er schließlich schon immer gut gewesen. Ein selbstbewusster Ausdruck zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er schaute hinüber zu den anderen vier Wächtern, die die Arme ausgestreckt hatten und in einem unverständlichen Singsang vor sich hin murmelten. Die Worte, die sie sprachen, war die alte Sprache der vergessenen Wächter. Die ersten, die die Erde betraten. Über die Jahrtausende hinweg hatte sich diese Sprache verändert, Wortfetzen der Menschen hatten sich mit hineingeschlichen und die Sprache zu einer komplett Neuen gemacht. Die Hüter der Legende waren die einzigen, die diese uralte Sprache gelernt hatten. Niemand hatte je hinterfragt, wieso sich Wächter, die aus den verschiedensten Winkeln der Erde kamen, verstanden. Nicht einmal Rei. Er hatte zwar aus purer Neugierde einige der Sprachen ein wenig gelernt, doch auch für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass sie sich auch so verstanden. Sie konnten nicht sagen, ob dieses Wissen vielleicht unterbewusst existierte, doch die Wächter hatten ihre eigene Sprache, die alle beherrschten, ohne es zu wissen und die sie nur sprechen konnten, wenn andere Wächter dabei waren. Und diese Sprache hatte ihren Ursprung in der Zunge, die sie gerade sprachen. Plötzlich fing der Boden unter ihren Füssen an zu beben und Staub wirbelte auf. In der Mitte des Kreises, den die vier Wächter bildeten, erhob sich eine breite Säule aus der Erde, als würde sie von einem Mechanismus hinausgedreht. Um die Säule herum bildeten sich Stufen, die kreisförmig nach unten führten und gerade breit genug waren, dass eine Person hinuntergehen konnte. Ozuma ging voraus, hinter ihm Miriam, dann Rei, dicht gefolgt von Kai, und schließlich Jusuf und Dunga, jeweils hinter ihnen ihre Wächtertiere. Die Treppe führte sie tief ins Innere der Erde und die kühle Luft bildete einen krassen Kontrast zu der Hitze draußen. Die uralten Fackeln an den Wänden über ihren Köpfen flackerten erst auf, kurz bevor Ozuma an ihnen vorbeischritt und erloschen gleich wieder, als Dunga vorüber war. Kai und Rei konnten nicht sagen, wie viele Umdrehungen sie gemacht hatten, doch als sie unten ankamen, war ihnen leicht schwindelig. Es war stockduster. Nicht die eigene Hand vor Augen konnten sie erkennen. Das Tageslicht fiel nicht bis zu ihnen herunter und sie waren noch zu wenig weit in den Raum hineingetreten, als dass die Fackeln entflammt wären. Doch Ozuma war stehen geblieben. „Etwas stimmt nicht“, flüsterte er leise und streckte den Arm aus, um sie am Weitergehen zu hindern. Besorgte Blicke lagen auf ihm. Ganz langsam bückte er sich, um einen Stein aufzuheben, der mit hinunter gefallen war, und warf ihn in den vollkommen dunklen Raum. Gebannt lauschten sie in die Stille, die nur vom knackenden Aufprall des Steins auf Stein durchbrochen wurde, dann hörten sie, wie er noch etwas weiterrollte. Ganz allmählich entzündeten sich die ersten Fackeln links und rechts von ihnen, dann die zweiten wenige Schritte weiter, dann die nächsten, bis der ganze Raum vom flackernden Licht des Feuers in ein sanftes Gelborange getaucht war. Und dann sahen sie ganz deutlich, was nicht stimmte. Fluchtartig stoben sie auseinander, als ein Schatten auf die zu stürzte. Sie hatten keine Zeit gehabt, sich zu wehren und stattdessen prallte das Dunkle Wesen mit dem Kopf direkt in die Wand. Doch es brauchte nicht lange, um sich zu erholen, es schüttelte kurz den hässlichen Kopf und blickte sie dann abwechselnd an, als wüsste es nicht, wo es zuerst angreifen sollte. Und dann legte es plötzlich den Kopf in den Nacken und spie diesen ohrenbetäubenden grellen Schrei aus und von da, wo es hergekommen war, tauchten noch weitere auf. „Diese Mistviecher!“, grollte Ozuma und er und die anderen drei stellten sich zusammen mit ihren Wächterpartnern schützend vor Rei und Kai, die ohne ihre Kräfte leichte Opfer gewesen wären. Zu acht traten sie den Schatten gegenüber. Sie wurden jeweils mit einem alleine fertig, doch es war eng im Raum und sie mussten aufpassen, dass sie sich nicht gegenseitig im Weg standen und gar verletzten. Und es wurden immer mehr, die sich mit geifernden Mäulern auf sie stürzten und sie in die Enge trieben. Kai drängte Rei in eine Ecke, seine Faust zuckte um den Griff seines Schwertes, mit den Augen stets das wilde Geschehen verfolgend, das sich vor ihnen abspielte. Er biss sich auf die Zähne. Er wusste, dass er ohne seine Kräfte nicht viel erreichen konnte, doch sollte eines der Viecher es wagen, durch den Schutzwall der anderen hindurch zu brechen, dann würde er nicht zögern, sein bestes zu geben und es aufzuhalten. Aufmerksam beobachtete er jede ihrer Bewegungen und ihm fiel auf, dass die vier ein merkwürdiger dunkler und heller Schimmer umgab. Die Magie, die sie nutzten, war anders als die der anderen. Etwas Geheimnisvolles lag darin. Wie sehr er auch überlegte, er konnte es nicht zuordnen. Nicht zu Wasser, nicht zu Luft und schon gar nicht zu Feuer. Dunga fluchte laut und zerriss zornig eines der Schattenwesen mitten in der Luft, um sich gleich dem nächsten zu widmen. Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Ozuma und Jusuf, die sich am nächsten standen, wurden von je zwei der dunklen Wesen angegriffen. Überfordert versuchten sie, sie sich vom Leib zu halten. Ein kleines, doch sehr flinkes Schattenwesen, das scheinbar etwas wie strategisches Denken beherrschte, bemerkte die Lücke und huschte zwischen ihnen durch, umging ihre Abwehr. Mit einem seiner langen Arme versuchte Dungas gorillaartiger Wächterpartner es noch aufzuhalten. Ohne Erfolg. Es wich ihm mit spöttischer Leichtigkeit aus. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte Vortex Ape zu Boden und das Schattenwesen auf Kai zu. Mit einer antrainierten reflexartigen Genauigkeit zog Kai sein Schwert und trieb es dem dunklen Wesen in der gleichen Bewegung bis zum Ansatz in die Brust. Es war ein Moment absoluter Leere in seinem Kopf, in dem er dem dunklen Wesen in die schwarzen Augen blickte, als ihm bewusst wurde, dass seine Klinge ihm nicht den geringsten Schaden zugefügt hatte. Ohne seine Fähigkeiten als Wächter, die sein Schwert mit feuriger Magie durchflutet und umsäumt hatte, war seine Waffe absolut unwirksam. Langsam ließ er den Griff los, den er bis eben fest umschlossen hatte, ohne den Augenkontakt abzubrechen. Das Schattenwesen öffnete den Mund, verhöhnte ihn mit einem Schnauben, das einem Lachen glich, und offenbarte mehrere Reihen spitzer, absolut todbringender Zähne. Kais Kiefer verspannte sich, als der heiße stinkende Atem seines Feindes ihm ins Gesicht blies. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt. Adrenalin wurde mit kräftigen Schlägen seines Herzes durch die Venen gepumpt. Kai war, als hätte er seinen Körper noch nie so deutlich arbeiten gespürt, sich vorbereiten auf einen Kampf ums Überleben. In seinen Ohren hörte er das Blut rauschen und seine Fingerspitzen zuckten. Und dann stürzte sich das dunkle Wesen mit wütendem Gebrüll auf ihn. Mit einem Laut der Anstrengung fing er den schwarz beschuppten Körper mit bloßen Händen auf. Nur mit größter Kraftaufbringung schaffte er es, das Wesen an den Schultern etwas auf Abstand zu halten, das wild fuchtelte und mit den Zähnen nach ihm schnappte. Geifer spritzte in sein Gesicht, der widerlich roch und auf der Haut brannte. Er spürte, wie die schwarze Haut seine Handinnenflächen verätzte und biss die Zähne aufeinander. Seine Arme schmerzten, seine Muskeln säuerten. Rei hinter ihm wollte ihm helfen und Kai konnte gerade noch genügend Atem entbehren, ihn anzuschnauzen, während er die Stellung zu halten versuchte. Und dann wurde das dunkle Wesen plötzlich weggerissen. Kai sackte erschöpft in sich zusammen, schaffte es, sich irgendwie auf den Beinen zu halten, und hob den Blick. Es war mehr ein violetter Schatten in seiner Aufmerksamkeit gewesen, und als er jetzt genau hinblickte, erkannte er Sharkrash, der sich im Schattenwesen festgebissen hatte und es kräftig schüttelte, bis er es zerfetzte. Kais Blick schweifte zu Miriam. Ihre grünen Augen, die aufmerksam auf ihn gerichtet waren, strahlten eine ruhige Stärke aus, die ihn zugegebenermaßen ungemein beruhigte. Er nickte und sie nickte zurück, dann musterte er noch einmal ihren Wächterpartner. Der Haifisch löste bei ihm jedes Mal, wenn er ihn sah, ein Schaudern aus. Wie er sich mit diesem Raubtierkörper durch die Luft bewegte wie im Wasser, hinterhältig und jederzeit zu einem tödlichen Angriff bereit, empfand Kai schlichtweg als gruselig. Kein anderes Wächtertier löste bei ihm solch ein bitteres Gefühl in seiner Magengrube aus, wie der Hai Sharkrash. Die Plage war schneller überstanden, als es den Anschein machte. Die toten Überreste der Eindringlinge brachten sie nach draußen und warfen sie etwas Abseits auf einen Haufen, den sie anzündeten. Es entstanden keine wirklichen Flammen, das schwarze Fleisch kokelte lediglich vor sich hin und verbreitete einen üblen Gestank, dem sie entflohen, indem sie zurück in die Stätte gingen. Nun endlich konnten sie sich dem widmen, weswegen sie hier waren. Während Ozuma in die Mitte des runden Teiles des Raumes trat, hielten sich die anderen im Hintergrund auf. Gebannt schauten sie ihm zu, wie er eine Hand hob und sie an sein linkes Ohr führte. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Worte, die er in der melodiösen Sprache der vergessenen Wächter sprach und löste den Ohrring von seinem Ohrläppchen, streckte langsam den Arm aus und hielt den Ohrring am oberen Ende zwischen Daumen und Zeigefinger fest. Der untere Teil des Ohrrings in der Form eines langgezogenen Oktaeders löste sich und begann, sich in der Luft schwebend um die eigene Achse zu drehen. Ein Pulsieren schien von ihm auszugehen, das dichter wurde, je schneller er sich drehte. Und dann ging plötzlich ein goldener Schimmer von ihm aus, der heller wurde und immer heller, bis er so grell strahlte, dass sie sich die Hände schützend vor die Augen hielten. Ein Luftzug durchfuhr dem Raum und wirbelte ihre Haare und Kleider auf. Rei zwang sich, die Augen zu öffnen. Er wollte es sich nicht entgehen lassen, was auch immer hier gerade geschah. Goldene Funken sprühten aus dem Ohrring hervor und überall, wo sie etwas berührten, begann es, sich zu verändern. Ganz allmählich verwandelte sich der Raum, in dem sie standen. War er zuvor steinig und etwas heruntergekommen wie eine ausgetrocknete Oase, so schlängelten sich nun Pflanzenranken die Wände empor, auf dem Boden wurde ein geschwungener Weg, von Gras und Vergissmeinnicht gesäumt, sichtbar. Die Fackelhalter, zuvor trostlose Gestelle aus Eisen, verwandelten sich in formschöne geschwungene. An der Decke funkelte ein kristallines Dach, unverwechselbar wie dasjenige auf der Heiligen Lichtung und warf schimmernde Lichtreflexe auf Wände und Boden. Direkt vor Ozuma an der runden Wand materialisierte sich aus glitzerndem Staub ein Ständer und darauf, als sein Ohrring sich emporhob, sich in das kristalline Dach eingelassen hatte und einen konzentrierten Strahl von goldenem Licht darauf sendete, ein Buch. Dick und schwer und mit dunklem Leder bespannt war es. In das Leder war ein Symbol eingebrannt, das die Form eines zehneckigen Stern hatte und in jedem Ecken war ein anderer geschliffener Stein eingelassen. Ehrfurchtsvoll traten sie näher. Reis Mund stand leicht offen und seine Augen waren riesengroß und rund, so fasziniert war er von dem Geschehen, das er gerade miterleben durfte und der Tatsache, dass dieses Buch wirklich existierte. Das uralte Buch der vergessenen Wächter lag zum Greifen nah. Die Neugierde gewann beinahe Überhand und die Versuchung war groß, einfach die Hand danach auszustrecken, mit den Fingerspitzen über den Umschlag zu gleiten. Um sich davon abzuhalten, suchte er nach Kais Hand, um sich bei ihm festzuhalten. Kais Mundwinkel zuckte. Er konnte Rei neben sich deutlich mit sich selbst ringen und zappeln spüren. Er selbst war nicht minder neugierig, vor allem, weil er endlich wissen wollte, wie er seine Kräfte wiederbekommen konnte, doch er zeigte es nicht. Stattdessen blieb er etwas versetzt hinter Rei stehen und hielt seine vor Erwartung zitternde Hand. Sofort trat Rei einen halben Schritt zurück, als Miram vor das Buch schritt. Als Hüterin des Buches war sie als Einzige in der Lage, es zu öffnen. Sie schloss kurz die Augen, um sich konzentrieren zu können, und öffnete den Mund, aus dem sogleich abermals Worte in der Sprache der vergessenen Wächter drangen. Erfüllt von dem melodischen Singsang führte sie ihre Hände zu ihren Ohren. Kapitel 29: Rätsel aus der Vergangenheit ---------------------------------------- Die Hüterin des Schlüssels hielt mit einer fließenden Bewegung einen ihrer Ohrringe senkrecht über das uralte Buch. Die untere Spitze zeigte in die Mitte des zehnzackigen Sterns. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, formten die Worte einer klingenden Beschwörung. Wie zuvor bei Ozuma löste sich der goldene Oktaeder vom Ohrring und senkte sich langsam nieder zum Umschlag, wo er rotierend zwei Fingerbreite darüber schwebte. Dann führte sie ihre Hand mit dem zweiten Ohrring zwischen Daumen und Zeigefinger in einer galanten Bewegung nach vorne, streckte den Arm aus, sodass die untere Spitze des Oktaeders genau an die Wand hinter dem Buch zeigte und dort ebenfalls einen Moment um sich selbst drehend verharrte. Tief atmete Miriam zweimal durch, bevor sie fortfuhr, weiter in der Sprache der vergessenen Wächter zu sprechen. Beide ihrer Handflächen zeigten nach oben, die Arme vom Körper abgewinkelt, den Kopf hatte sie leicht gesenkt. Als sie ihre Hände jedoch hob und umdrehte, bemerkte Rei voller Erwartung, wie sich die Oktaeder auf ihren jeweiligen Untergrund senkten, bis sie mit der Spitze Leder und Stein berührten. Strahlend hell leuchteten sie auf, was jedoch gleich wieder zu einem goldenen Glühen verebbte. Dann ließ Miriam ihre gestreckten Hände langsam sinken, als würde sie etwas Unsichtbares nach unten drücken und die goldenen Körper drangen bis zur Hälfte in Buch und Wand ein, als wäre ein Tropfen Wasser darauf gefallen und alsbald sie nicht mehr rotierten, leuchteten die zehn eingefassten Steine im ledernen Einband kurz auf. Nur noch einzelne Wörter verließen Miriams Mund, doch mit jedem Wort, das sie sprach, leuchtete an der Wand vor ihr im Uhrzeigersinn ein Licht auf. Rei war sich sicher, dass es die gleichen Edelsteine waren, die auch auf dem Umschlag in das Leder eingelassen waren und stellte mit einem erhaschenden Blick auf das Buch fest, dass jeweils die gleichen Steine aufleuchteten und diesmal nicht wieder erloschen. Kaum erglühte der letzte Edelstein, zogen sich feine Linien über die steinerne Wand, verbanden die Steine zu einem Stern. Miriam verstummte und ließ die Hände sinken. Bedächtig drehte sie sich zu den anderen um und musste unwillkürlich lächeln, als sie Rei erblickte, dessen Augen beinahe aus ihren Höhlen zu fallen schienen, so fasziniert betrachtete er den Stern an der Wand und auf dem Buch. „Die zehn Elemente, mit der Anima die Erde erschuf. Die Acht der Wächter und Licht und Schatten, die Leben und Tod symbolisieren. Ohne einander würde das Universum in sich zerfallen“, erklärte sie mit sanfter Stimme und folgte Reis Blick mit ihrem. „Wir alle sind miteinander verbunden“, schlussfolgerte Rei heiser und trat einen Schritt auf das Buch zu, sodass er mit seinen Fingerspitzen sachte über den Umschlag streichen konnte. Er zögerte etwas, sein Respekt war schlichtweg zu groß, als dass er unüberlegt damit umgehen würde. „Anima“, flüsterte er ehrfurchtsvoll und beinahe unverständlich, als er über den glitzernden Diamanten streichelte, „und Nex.“ Seine Stimme nahm einen unheilvollen Ton an, als er kurz das schwarze Gegenstück antippte und die Hand dann sinken ließ. „Du begreifst schnell“, lächelte Miriam, „aber kaum erstaunlich, wenn man den Stern etwas versteht. Siehst du? Das hier“, erläuterte sie aufgrund Reis fragenden Blicks und tippte auf den Stein, der gleich neben dem schwarzen Diamanten eingelassen war und als zweites aufgeleuchtet hatte, ein goldgelb leuchtender Citrin, „symbolisiert dich. Du bist direkt mit Anima verbunden.“ Rei vergaß beinahe zu atmen. Die Vorstellung, er selbst war direkt mit Anima verbunden war einfach atemberaubend. Doch da war schließlich noch ein zweiter Stein, der ebenfalls eine direkte Linie zu Anima besaß und das hieß, dass er selbst auch indirekt mit denjenigen in Verbindung stand. Er zeigte auf einen dunkelvioletten, eher unheilvoll schimmernden Amethyst. „Kiki, Ming-Ming, Jusuf und Dunga.“ Rei wollte bereits erleichtert aufatmen, als noch ein weiterer Name fiel. „Und Brooklyn. Sie symbolisieren das Chaos.“ Rei schluckte. Ausgerechnet mit ihm stand er in indirekter Verbindung zu Anima. Ausgerechnet mit demjenigen, der seinen Schutzstein zerstört und ihn somit verwundbar gemacht hatte. Wegen demjenigen Kai seine Fähigkeiten aufgegeben hatte. Er biss sich auf die Unterlippe. Bestimmt hatte alles seinen Grund. Er wollte die elementaren Verbindungen nicht anzweifeln. Und doch verpasste es ihm ein Stich ins Herz, dass ausgerechnet Brooklyn derjenige sein sollte, der auch mit Anima verbunden war. Eigentlich hatte er erwartet, dass Brooklyn eine direkte Linie zu Nex besaß, doch das Chaos brachte alle seine Gedankengänge durcheinander. „Schau“, fuhr Miriam fort, „Yuriy, der das Eis verkörpert, ist dein Gegenstück, er ist mit Nex verbunden. Kyojou, Mao, Moses, Ozuma und ich verkörpern das Gegenstück zum Chaos, die Harmonie, und wir sind auch mit Nex verbunden. Alles hat seinen Sinn, Rei. Es ist Brooklyns Schicksal, andere Leute ins Verderben zu stürzen. Möglicherweise hatte er es sogar mit einer Absicht dahinter getan, die nicht so schlecht ist, wie du glaubst.“ Er hatte zugegebenermaßen schwer damit zu kämpfen, dies einfach zu akzeptieren. Der Gedanke, Brooklyn könnte dies letzten Endes aus einem guten Grund getan haben, ließ seinen Magen sich verkrampfen. „Außerdem“, flüsterte sie plötzlich leise in seine Richtung und fuhr mit dem Zeigefinger die Linie von seinem Stein zu einem blutroten Rubin entlang, „bist du mit Kai verbunden. Das starke Band kommt nicht von nirgendwo.“ Sie zwinkerte und wandte sich dann zu den andern, während Rei noch einen Blick auf die Linie warf. Tatsächlich. Er und Kai standen direkt in Verbindung zueinander. Sein Mundwinkel zuckte, während er sich ebenfalls zu ihnen zurück gesellte, um nun Jusuf Platz zu machen. „Was habt ihr beide besprochen?“, raunte Kai, dem Reis Gefühlstal- und Bergfahrt nicht entgangen war. „Ich erzähl es dir bei Gelegenheit“, meinte Rei jedoch lediglich. Kai musste das nicht unbedingt jetzt erfahren. Vielleicht auch nie. Mit einem Lächeln im Gesicht drehte er sich zu Jusuf, um ihm zuzusehen, wie er seinerseits nun seinen Teil beitrug. Er öffnete das Buch, das Miriam zuvor entsiegelt hatte. Es war leer. Blanke Seiten aus dickem Pergament. Neugierig kamen die Anderen näher, lugten über Jusufs Schultern, während er seinen Ohrring löste und ihn wie ein Pendel über das Buch hielt. Leise murmelte er Worte. Seine Aufgabe war bei weitem nicht so spektakulär mit anzusehen wie Ozumas und Miriams. Doch wie sich die Seiten langsam mit Linien und Zeichen füllte, war nicht minder interessant. Gebannt starrte Rei auf die Buchstaben, die sich bildeten und er verstand kein einziges der Worte der alten Sprache, doch noch ehe er vier Worte weiter las, hatte er die ersten drei bereits wieder vergessen, obwohl ihr Klang in seinen Ohren widerhallte. Rei konnte nicht von sich sagen, dass er vergesslich war oder sich Dinge nicht merken konnte. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, doch in seinem Kopf herrschte bloß absolute Leere. Ungläubig schüttelte er den Kopf und betrachtete stattdessen ein Bild. Es schien Anima darzustellen, zeigte sie, wie sie die Erde erschuf. Als Jusuf seinen Ohrstecker zurückzog und verstummte, blickte Rei auf. Und das Bild war aus seinem Kopf verschwunden. Frustriert versuchte er sich daran zu erinnern, was abgebildet war, doch da war nichts, absolut nichts. Er blickte zurück auf die aufgeschlagene Seite und betrachtete ein Bild. Anima, wie sie die Erde erschuf. Er war sich absolut sicher, dieses Bild noch niemals zuvor gesehen zu haben und doch sagte ihm sein Verstand, dass niemand die Seiten umgeblättert hatte. Abermals schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf. Es war zum verrückt werden. „Das Buch wurde geöffnet und dank Jusuf kann es nun gelesen werden. Ich werde euch nun erlauben, das Wissen, das dieses Buch beherbergt, in Erinnerung zu halten. Ihr werdet euch an alles erinnern, auch wenn ihr die Stätte der Erinnerung verlasst.“ Rei blickte zu Dunga, der eben gesprochen hatte und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das war schließlich der Grund, wieso sie alle mitgekommen waren. Ohne Ozuma, der die Fähigkeit besaß, die heilige Stätte in die Zeit zurückzuversetzen, in welcher das Buch existierte, ließ es sich nicht finden, ohne Miriam konnte es nicht geöffnet und ohne Jusuf nicht gelesen werden. Und ohne Dunga hätten sie alles bereits vergessen, ehe sie die Stätte wieder verließen. Ohne Vorwarnung streckte Dunga zwei Finger aus und tippte auf Reis, danach auf Kais und schließlich auf Ozumas, Miriams und Jusufs Stirn, dabei unablässig diese melodiösen Worte sprechend. Er hatte ihnen somit die Erlaubnis erteilt, das Wissen zu behalten. Rei knabberte an seiner Unterlippe herum, so angespannt und kribbelig fühlte er sich. Auch Kai neben ihm zeigte endlich eine Regung. Beinahe ungeduldig zog er die Augenbrauen tief hinunter. Er wollte nun endlich wissen, wie er seine Kräfte zurück erlangen konnte. Es war zwar schön und gut, dass dieses Wissen und alles drum und dran so gut geschützt wurde, doch seiner Meinung nach hätte das viel schneller von Statten gehen können. Bei solchen Dingen konnte er einfach kein Verständnis dafür aufbringen, dass es so lange dauerte. „Nun denn, schauen wir, was hier so drin steht“, sagte Ozuma und trat näher, blätterte behutsam die Seiten durch, bis er auf einer Seite angelangte, die ein Bild zeigte, das einen offensichtlich leidenden Wächter sah, dessen Fähigkeiten gerade bildlich aus ihm herausgesogen wurden. „Hier steht“, sagte Dunga und tippte mit dem Finger auf den Text, „Wer die heiligen Kräfte verloren erhalte die Möglichkeit sie wiederzufinden. Stärker sie werden nachdem sie für Gutes gegeben oder vom Bösen entrissen. Zur Quelle der Kraft wo Magie ward gegeben ohne Gier nach Macht Nur wessen Herz bereit trete zur Prüfung der Seele am Rückgrat der Welt. Doch ohne die Kraft der Acht niemand wird betreten die Regenbogenküste unbedacht.“ Schweigend lauschten sie den Worten, die Dunga für sie übersetzte und ihre Stirne legten sich in Falten, als sie angestrengt versuchten den Inhalt zu verstehen. Rei biss sich erneut auf die Lippen. „Der Anfang ist verständlich. Diejenigen, die ihre Kräfte verloren haben, seien sie entrissen vom Bösen, so wie bei Rei, oder für eine gute Tat gegeben, so wie bei Kai, der erhalte die Möglichkeit, sie wieder zurück zu bekommen. Und sie werden sogar stärker als zuvor. Gute Voraussetzungen also“, analysierte Dunga mit einem schiefen Grinsen. Rei und Kai warfen sich einen Blick zu. Erleichterung durchströmte sie. Dass sie stärker sein würden als zuvor war zwar ein hübscher Nebeneffekt, doch für sie zählte einzig, dass sie überhaupt eine Chance bekamen, ihre Kräfte wiederzuerlangen. „Aber wie?“, fragte Kai und blickte nun doch neugierig auf die für ihn unverständlichen Worte, „die ‚Quelle der Kraft’, was soll das sein?“ „Ich vermute, dass es sich dabei tatsächlich um eine Quelle handelt. Dort hat alles ihren Ursprung. Deshalb ist es auch nur dort möglich, seine Kräfte wiederzuerlangen. Möglich, dass die vergessenen Wächter selbst einen Teil ihrer Kräfte dort versiegelt hatten“, überlegte Ozuma, sein Finger tippte gegen sein Kinn, sein Blick schien sich im Nichts zu verfangen. „Und laut diesem Text befindet sich diese Quelle am ‚Rückgrat der Welt’, wo auch immer das sein mag. Und euch erwartet eine harte Prüfung, so wie es scheint“, fügte Jusuf hinzu und hob beide Augenbrauen an. Kais Haupt hob sich stolz. „Das werden wir schon schaffen. Wie gelangen wir dort hin?“ „Alleine? Gar nicht“, erwiderte Miriam und zeigte mit dem Finger auf eine ganz bestimmte Stelle auf dem Rätsel. „Die ‚Kraft der Acht’“, schlussfolgerte Rei, worauf sie nickte. „Genau. Die ‚Kraft der Acht’ ist sinngemäß gleichzustellen mit den Elementen der Wächter. Donner und Eis, Erde und Feuer, Wind und Wasser, Harmonie und Chaos. Wir brauchen also alle, um zu der Regenbogenküste zu gelangen.“ „Regenbogenküste“, schnaubte Kai, „dieser Name wurde wohl nicht zur Abschreckung Unerwünschter gewählt.“ „Wir wissen nicht, was das bedeutet“, widersprach Miriam und funkelte ihn an. „Es klingt wie ein schlechter Piratenwitz“, war sich Kai jedoch sicher und verschränkte die Arme vor der Brust. „Werde bloß nicht abfällig“, fauchte Miriam und ihre Augen wurden zu Schlitzen. Während Miriam und Kai sich gegenseitig anfunkelten und darauf warteten, dass der jeweils andere sich zuerst zurückzog, schauten Rei und die anderen drei sich weiterhin das Buch an. „Ich habe das letzte Mal etwas Interessantes entdeckt, habe mich dann aber nicht weiter damit beschäftigt, da es nicht von Bedarf war. Sieh“, meinte Dunga und blätterte weiter nach hinten, wo ihnen gleich eine Zeichnung ins Auge stach. Darauf abgebildet waren vier Tiere zusammen mit ihren Wächtern, doch offenbar schienen hier die Tiere wichtiger zu sein. Reis Augen weiteten sich verwundert. Sein Byakko war darauf zu sehen, Kais Suzaku und dann noch Takaos Seiryuu und Makkusus Genbu, in einem Quadrat angeordnet und mit filigranen Linien miteinander verbunden. „Als Wächter des Wissens kann ich euch sagen, dass es sich bei diesen vier Wächtertieren um die Sternentiere handelt. In der Neuzeit werden sie vor allem in China als die vier großen Sternenkonstellationen bekannt sein. Es ist wohl doch etwas unserer Legende im Wissen der Menschen vorhanden.“ Dunga zwinkerte zu Rei, welcher ihn jedoch nur fragend ansah. „Was soll das heißen, Sternentiere?“ „Den Wächtern dieser Tiere stehen besondere Artefakte zu, mit denen, so glaube ich, sie die wahre, uralte Macht der vergessenen Wächter in sich wiedererwecken können.“ „Byakko und Suzaku sind im Limbus gefangen“, sagte Rei, als wäre dies der Grund, weshalb das, was Dunga von sich gab, nicht stimmen konnte. „Ja, aber nur so lange, bis ihr eure Kräfte wiederhabt“, lächelte er beruhigend. „Was ist mit Suzaku?“, fragte Kai plötzlich und trat neben sie. Rei konnte auf Miriams Lippen ein triumphierendes Lächeln feststellen, das sie nicht wirklich versuchte zu unterdrücken. Kai hingegen schien verärgert. „Sie wird aufwachen, in dem Moment, in dem du deine Kräfte wiederhast“, wiederholte Dunga, worauf Kais Gesicht in einem seltenen Ausdruck zurückhaltender, aber wahrer Freude erstrahlte. Rei währenddessen sinnierte noch immer über Dungas Worte nach. „Was sind das für Artefakte, von denen du gesprochen hast?“, fragte er geradeheraus an Dunga gewandt. Miriam, die ihr Gespräch zuvor nicht mitbekommen hatte, blickte ihn überrascht an. „Was für Artefakte?“, fragte nun auch sie. Dunga räusperte sich und zeigte dann auf das Bild. „Die vergessenen Wächter dieser Sternentiere hatten einst etwas auf der Erde hinterlassen, womit es ihren Reinkarnationen möglich sein würde, ihre wahre Macht in sich zu erwecken. Und dieses Rätsel hier“, er tippte auf den Text, der daneben stand, „gibt an, wo sich diese Gegenstände befinden könnten. Die Artefakte der Zeit liegen verborgen für die Wächter der vier Himmelsgeister um den Schatten des Dunkel zu trotzen. Die Ersten sie sicher versiegelten wo kein Sterblicher sie zu finden vermag verstreut auf Animas Planet der Erden. Der blaue Drache des Frühlings Der rote Vogel des Sommers Der weiße Tiger des Herbsts Der schwarze Krieger des Winters.“ Stumm blickten sie sich an. „Das bringt uns nicht wirklich weiter. Hier stehen keine Anhaltspunkte, wo wir diese Orte finden könnten. Es steht nicht einmal geschrieben, um was für Gegenstände es sich bei diesen Artefakten handelt, es könnte alles sein“, fasste Miriam zusammen, was sie alle dachten. „Rei, du als Chinese, hast du noch nie etwas davon gehört?“, fragte Dunga an Rei gerichtet. Aller Augen starrten ihn erwartungsvoll an. Er fühlte sich unwohl. In seinem Kopf schwirrte so viel Neues herum, das er noch nicht eingeordnet hatte, dass er kaum einen Gedanken fassen konnte. Leise schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht.“ Seufzer drangen an seine Ohren. Es tat ihm leid, sie alle enttäuschen zu müssen, doch er hatte keine Ahnung, wo er dies einordnen sollte. „Dunga, erlaubst du mir, dieses Wissen zu behalten, bis wir das Rätsel gelöst haben?“, fragte er. Dunga nickte schief grinsend. „Natürlich.“ Rei lächelte unglücklich zurück. „Danke“. Nachdem Dunga ihre aller Stirne nochmal berührt hatte und somit bestätigte, dass sie ihr Wissen behalten durften, Jusuf die Schrift und Linien verschwunden lassen und Miriam das Buch wieder versiegelt hatte, versetzte Ozuma den Raum in den Zustand zurück, in dem er war, den die Zeit mit sich bringen würde. Ihr kurzer Aufenthalt in einem Raum, der sich ganz den Erinnerungen widmete und sich eigentlich in der Vergangenheit befand, hatte mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet hatte. „Eine Karte wäre hilfreicher gewesen“, brummte Kai und sprach damit genau das aus, was Rei sich dachte, vor Respekt aber nichts gesagt hatte. „Rückgrat der Welt, wer soll schon ahnen, was damit gemeint ist?“, schimpfte der Krieger leise vor sich hin, darauf bedacht, dass Miriam ihn nicht hören konnte. „Wir fragen Kyojou, sobald wir zurück sind, vielleicht weiß er etwas. Oder Brooklyn“, meinte Rei zögernd, worauf Kai ihn mit einem Blick würdigte, der nicht versteckte, was er vom Wächter der Dimensionen hielt. Rei seufzte. Es wäre wohl besser ihm noch eine Weile zu verschweigen, dass ihn das Schicksal nicht nur mit Kai, sondern auch mit Brooklyn verband, zwar indirekt, doch der Stern hatte gezeigt, dass sie miteinander in Beziehung standen, ob er es nun wollte oder nicht. „Wie geht es deiner Wunde?“, fragte Kai, als Rei sich plötzlich an den Bauch fasste. „Ich hatte die Schmerzen vollkommen vergessen“, entgegnete er wahrheitsgetreu und zog die Mundwinkel nach unten, „gefiel mir besser. Ich bin nicht gerne ein Klotz am Bein.“ Kais Gesichtsausdruck wurde sanft, während er die Hand nach ihm ausstreckte und ihn am Weitergehen hinderte. Die anderen vier unterdessen bekamen nichts mit, zu beschäftigt waren sie damit, darüber nachzugrübeln, was das alles bedeuten könnte und so fielen die beiden etwas zurück. „Du bist niemandes Klotz am Bein“, stellte Kai klar und streichelte mit den Fingern zärtlich über Reis Wange. Rei lächelte und schloss kurz die Augen, um die sanfte Berührung zu genießen. Seit Anfang der Mission, seit der Krieg begonnen hatte, hatten sie ihre Intimitäten viel zu selten austauschen können. Wortlos schob er eine Hand in Kais Nacken und zog ihn zu sich, legte seine Lippen an Kais, sie berührten sich kaum, doch das Kitzeln ließ ihre Körper erschaudern. Kai seufzte und schlang seine Arme um Reis Taille, zog ihn an sich, sachte, darauf bedacht, ihm keine Schmerzen zu bereiten und zog ihn in einen intensiven, sehnsüchtigen Kuss. Plötzlich blieb Miriam stehen. Ihr war gerade etwas in den Sinn gekommen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen und drehte sich um, um Rei und Kai zu rufen, da fiel ihr Blick auf die beiden Liebenden, die bereits viele Schritte zurückgefallen waren, und klappte ihren Mund wieder zu. Stattdessen verzogen sich ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln und sie wandte sich wieder um. Wie die beiden so verloren in der weiten Einöde standen, sich aneinander festklammerten, schien es ihr falsch, sie in ihrer Zweisamkeit zu stören. Die Liebe war etwas, was in diesen Momenten des Krieges schlichtweg viel zu kurz kam und sie mochte es ihnen gönnen, dass sie sich gefunden hatten. Denn die Liebe, das war etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte, dachte sie lächelnd und blickte in den weiten blauen Himmel, der sich wie ein schützender Mantel über sie alle erstreckte, über Raum, sogar über die Zeit hinweg. *~_____________________________________________________________~* Für den Stern der Elemente, bitte schaut euch das erste "Charakterbild" an, um eine genauere Vorstellung davon zu bekommen! Kapitel 30: Das Rückgrat der Welt --------------------------------- In dieser Nacht fanden einige Wächter keine Ruhe. Mariam lag wach auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die nächtliche Kristalldecke der heiligen Lichtung, die leise glitzernde Lichtfunken auf die Schlafenden warf wie Sterne. Ohne Unterbruch grübelte sie nun seit ihrer Ankunft über das Rückgrat der Welt nach, fragte sich, welches Puzzleteilchen es noch war, das ihr fehlte, dass sie nicht zu einem Schluss kommen konnte. Eigentlich, dachte sie frustriert, wusste sie gar nicht, wo sie anfangen sollte, welches Teilchen sie zuerst legen sollte. Würde dies einmal liegen, fiele es ihr sicherlich leichter, die Restlichen zu finden. Kyojou war keine Hilfe gewesen und das hatte sie unglaublich enttäuscht. Und doch wollte sie nicht glauben, dass er so ahnungslos war, wie er vorgab zu sein. Da er aber nicht mit der Sprache rausrücken wollte, musste sie einen anderen Weg finden, an Informationen zu kommen. Und sie wusste auch schon genau wie. Lautlos erhob sie sich von ihrer Decke, tappte vorsichtig durch die vom Schlaf gelähmten Körper, darauf bedacht, niemanden aufzuwecken. Gerade jetzt, wo es so unumgänglich war, miteinander zu arbeiten, würde es niemand für gut empfinden, dass sie die anderen ausschloss. Und sie wusste, dass ihr Vorhaben nicht auf begeisterte Gemüter treffen würde, weshalb sie sich anstrengte, kein Geräusch zu machen. Kai jedoch wurde schlagartig wach, als er bemerkte, wie jemand durch ihr Lager schlich. Er hatte seine Sinne für Außergewöhnliches und potenziell Gefährliches während so vielen Schlachten geschärft, dass sie ihn auch im Schlaf warnten. Und nachts im Lager herumzuschleichen gehörte zu den Auslöser von Warnsignalen, die ihn sofort in einen vollkommen wachen Zustand versetzten. Er öffnete die Augen einen Spalt breit, doch alles, was er entdecken konnte, war ein Schatten, der sich durch die am Boden Liegenden schlängelte. Er konnte aus diesem Winkel nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch es war nicht böse. Rei hatte ihm zwar versichert, dass die dunklen Wesen nicht zur heiligen Lichtung vordringen konnten, doch immerhin hatten sie es auch in die heilige Stätte der Erinnerung geschafft. Seiner Meinung nach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie herausfinden würden, dass sie mithilfe des Labyrinths durch Raum und Zeit reisen konnten und die ganze Welt über die Zeiten verstreut verpesteten. Sicherheitshalber hatte er die Hand um den Griff seines Schwertes gelegt, das neben ihm im Gras lag. In der falschen Überzeugung, unbemerkt geblieben zu sein, tapste sie durch das kühle Gras, hinüber zu den goldenen Bäumen. Zwischen den Stämmen blieb sie stehen und verweilte eine Weile, bevor sie seinen Namen rief. „Brooklyn“, flüsterte sie in die Nacht, doch es rührte sich nichts. „Brooklyn“, sagte sie nun etwas lauter, schielte dabei ins Lager hinüber, um sich zu bestätigen, niemanden damit aufgeweckt zu haben. Stirnrunzelnd starrte Kai auf das Gras zwischen Rei und ihm. Auch wenn er Mariam nicht verstehen konnte, so wusste er doch nur zu gut, wer an diesem Ort aufzutauchen pflegte. Es gefiel ihm nicht, doch er hatte gelernt, nicht vorschnell zu urteilen und so wartete er still ab, betrachtete währenddessen Reis entspanntes Antlitz, das ihm zugewandt war. Ein leises Lachen erfüllte die Luft mit einer merkwürdig unangenehmen Spannung, die Mariam die Härchen auf ihren Unterarmen zu Berge stehen ließ. Doch dann sah sie eine Gestalt auf sich zukommen, ganz in Weiß und das Orange seiner Haare leuchtete im Dunkeln. Nur knapp konnte sie einen Gesichtsausdruck der Abscheu verhindern, als sein Näherkommen ihr seine grausamen Taten in die Gedanken rief. Tief atmete sie durch, als der Wächter der Dimensionen vor ihr stand, sie mit einem unschuldigen Lächeln abwartend musterte. „Brooklyn, ich brauche deinen Rat.“ „Die Hüterin des Schlüssels“, stellte er amüsiert fest, „was magst du nur von mir wollen?“ „Was weißt du über das Rückgrat der Welt?“, fragte Mariam ohne Umschweife und starrte ihn an, selbstbewusst und keinen Rückzug duldend. „Ah, das Rückgrat der Welt“, sagte Brooklyn und seine Stimme klang entzückt, während sein Körper zu dem eines alten Mannes alterte. Mariam nickte und fragte sich, ob er als alter Mann an Demenz leiden würde. „Was weißt du darüber?“, fragte sie sicherheitshalber nochmal nach. „Die Zeit vergeht, die Zeit verändert. Das Rückgrat der Welt in der Gegenwart ist nicht das Rückgrat der Welt der Vergangenheit. Die Ersten wussten das, sie handelten nie unüberlegt.“ „Was soll das heißen?“, fragte Mariam, wollte sich ihre Verwirrung aber nicht anmerken lassen. Doch Brooklyn lächelte nur und das kindliche Lächeln eines Jungen verschwieg weitere Worte. Mariam bedankte sich und Brooklyn verschwand. Etwas verärgert schnaubte sie auf. Eigentlich hätte sie wissen sollen, dass er ihr lediglich noch mehr Rätsel vortragen würde. Über seine Worte nachgrübelnd wandte sie sich zurück zum Lager und merkte nicht, wie ein Schatten vor ihr auftauchte. „Hattest du Erfolg?“ Ihr Herz sank ihr unmittelbar, nachdem es kurz aussetzte, in die Hose. Überrumpelt blickte sie auf und direkt in Kais hartes, unzufriedenes Gesicht und sie fühlte sich ertappt und schuldig. „Bei Anima, Kai! Erschreck mich doch nicht so!“, fauchte sie und hielt eine Hand an die Stelle, wo ihr Herz heftig gegen ihre Rippen schlug. „Und?“, hakte Kai jedoch erbarmungslos nach und seine zu Schlitzen verengten roten Augen glühten unheilvoll. Mariam schluckte. „Nun, mehr oder weniger“, meinte sie, selbst nicht ganz sicher. „Er ist ein Verräter“, knurrte er und Mariam bemerkte, wie sich seine rechte Hand noch fester um den Griff seines gezogenen Schwertes schloss. „Meine Güte, Kai! Du willst ihn doch nicht etwa umbringen?“, fragte sie, mehr herausfordernd als erschrocken. „Wenn er mir noch einen Grund gibt, werde ich nicht zögern, ihm den Kopf abzuschlagen“, knurrte er und seine Augen blitzten voller Hass auf. „Brooklyn ist nicht so schlecht, wie du glaubst! Es gibt für alles einen Grund, auch für das, was er getan hat“, versuchte sie ihn zu besänftigen, verfehlte die beabsichtigte Wirkung jedoch um Längen. „Wegen ihm ist Rei fast gestorben!“, fauchte er, „er ist ein Verräter und ein Betrüger.“ Mariam seufzte, als sie merkte, dass sie es nicht schaffen würde, ihn umzustimmen. Offensichtlich hatte auch Rei ihm noch nichts von der Bande erzählt, aus gutem Grund, wie sie sich dachte. „Ich hab ihn lediglich gebeten, mir beim Lösen des Rätsels zu helfen“, erklärte sie ihr Handeln und ihr entging nicht das Zucken seines rechten Auges. „Und hat er im Gegenzug dafür deine Kräfte verlangt?“, schnaubte Kai. „Nein, aber mehr als ein weiteres Rätsel hat er mir nicht anvertraut“, seufzte Mariam und dachte an die eher verwirrenden als verständlichen Worte. Kai ließ einen abfälligen Laut hören und Mariam konnte es ihm nicht übel nehmen, dachte sie manchmal doch auch nicht anders über Brooklyns merkwürdiges, alles andere als soziales Verhalten. „Was hat er denn diesmal gesagt?“, fragte Kai jedoch nach, schließlich lag es in seinem Interesse, dass diese Rätsel gelöst wurden, und Mariam wiederholte die rätselhaften Worte. Kai murrte. „Ich werde morgen mit Rei darüber reden, aber jetzt sollten wir weiterschlafen.“ „Nein, ich muss noch etwas erledigen“, meinte Mariam jedoch. Kai zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging zurück zu seinem Schlafplatz, legte sich wieder hin und streckte einen Arm aus, den er um Reis Oberkörper schlang. Rei wurde wach, als er ihn zu sich hinzog und blickte ihn fragend an, den Schlaf aus den Augen blinzelnd. „Was ist los?“ Kai legte sich einen Finger auf die Lippen, um ihm zu signalisieren, leise zu sein und beugte sich dann vor, um ihn in einen trägen, verschlafenen Kuss zu verwickeln. Reis Verstand war noch nicht wach genug, um sofort zu realisieren, was geschah. Doch der Kuss erfüllte ihn mit solch einem hitzigen Kribbeln, dass er jeglichen Funken dieses Verstandes verdrängen wollte. Er fühlte sich angenehm konfus, als er spürte, wie Kais Hände sich unter die Decke und unter sein Hemd schlichen, seine Haut liebkosend begannen zu streicheln. Seufzend ließ er sich in das Gefühl fallen, gerade einfach nichts anderes auf der Welt zu wollen und zu brauchen und schlang seine Arme um Kais Nacken, um ihn näher, tiefer in den Kuss zu ziehen. Angespornt von Reis Erwiderung, zog Kai ihn sachte auf sich, ohne den Kuss zu unterbrechen, und ihre Beine schoben sich ineinander. Berauscht von dem besitzergreifenden Kuss stützte sich Rei mit den Ellbogen zu beiden Seiten von Kais Kopf am Boden ab und ließ zu, dass Kais Hände, groß und rau, unter seinem Hemd weiterhin auf Wanderschaft gingen. Bedächtig fuhr Kai Reis Seite entlang, die Wirbelsäule hinunter, platzierte beide Hände auf seinem festen Hintern. Beherzt schob er Rei nach oben, was diesem ein unterdrücktes Keuchen entlockte. „Übertreib es nicht“, raunte Rei und blickte ihn warnend, jedoch mit lustverhangenen Augen an. „Ist doch niemand wach“, log Kai und zog seine heruntergerutschte Decke über sie, „du musst halt einfach leise sein.“ Rei wusste nicht genau, was er darauf erwidern sollte, wollte er die Stimmung schließlich auch nicht verderben, und seine Mundwinkel zuckten, als er Kais Zunge an seinem Hals spürte. Wie sollte er dem wiederstehen können, fragte er sich und ließ sich in einen erneuten, gierigen Kuss ziehen. Ungeduldig rüttelte Mariam an Kyojous Schultern. Der Kerl wollte sich einfach nicht wecken lassen. Sie überlegte gerade, ob sie Sharkrash mal an ihm knabbern lassen sollte und versuchte es ein letztes Mal auf die sanfte Weise, als er plötzlich aus dem Schlaf schreckte. Verschlafen und mit verklebten Augen starrte er Mariam an. Als ihm bewusst wurde, dass er gar nichts erkennen konnte, kniff er die Augen zusammen und streckte den Kopf etwas nach vorne. Mariam verkniff sich einen Lacher und drückte ihm seine Brille in die Hand, die er sich unkoordiniert aufsetzte. Kaum erblickte er sie durch die Gläser, war er schlagartig wach. „Mari-“, wollte er gerade ausrufen, doch diese hinderte ihn daran, indem sie ihm eine Hand über den Mund legte. „Nicht so laut!“, zischte sie. Kyojou nickte und Mariam nahm die Hand wieder runter, bedachte ihn jedoch mit einem warnenden Blick. „Ich war gerade bei Brooklyn“, begann sie zu erzählen, doch Kyojou war zu ungeduldig. „Bei Brooklyn? Was hat er gesagt?“, wollte er wissen. „Nicht viel“, sagte sie wahrheitsgetreu, „aber irgendwie glaube ich nicht, dass du nichts über das Rückgrat weißt. Du verheimlichst uns irgendetwas.“ „Nun ja“, zögerte der Braunhaarige. „Sag schon“, stellte Mariam ihn zur Rede. „Muss das jetzt sein?“ „Nein, aber du und ich, wir gehen jetzt irgendwohin und lösen dieses verfluchte Rätsel.“ Mariam ließ keine Widerrede zu und so schlüpfte Kyojou unter seiner Decke hervor und griff nach seiner Tasche. „Na schön“, seufzte er und folgte ihr durch das Lager, um ihre Sachen zu holen, bevor sie in die reale Welt gehen würden, denn da dort die Zeit langsamer verlief als auf der heiligen Lichtung, würden sie mehr davon zur Verfügung haben. Irritiert bemerkte er, dass sich unweit von ihnen etwas unter einer der Decken bewegte. Sie war gewölbter als alle anderen und drei Füße lugten unter der Decke hervor. Doch bevor die Erkenntnis in sein Gehirn tröpfeln konnte, wurde er an der Schulter zurückgezogen. „Spann nicht“, zwinkerte Mariam ihm zu und zog ihn dann zielbewusst in die Richtung einer der Pforten. „Wo wollen wir denn hin?“, erlaubte sich Kyojou zu fragen, etwas zu laut. Neben ihnen rührte sich Oribie. „Ich dachte an eine Bibliothek.“ Der Franzose schlug bei diesem Wort die Augen auf. Verwundert schaute er auf. „Was wollt ihr in einer Bibliothek?“, fragte er mit leichtem Akzent. „Nachforschungen anstellen“, antwortete Mariam knapp, leicht angesäuert, dass Kyojou es geschafft hatte, jemanden aufzuwecken. „Es gibt eine Bibliothek gleich bei einem Ausgang des Labyrinths, ich bin da schon oft gewesen“, plauderte Oribie und streckte sich, murmelte etwas, von wegen hartem Boden und schlecht schlafen. „Wo?“, fragte Mariam schroff, aber hoch interessiert. „In Wien, die Nationalbibliothek.“ Mariams Lippen breiteten sich zu einem triumphierenden Lächeln aus. Sich knapp bedankend, machte sie auf dem Absatz kehrt und zog Kyojou mit sich. „Hey wartet, ich komme mit“, versuchte Oribie die beiden aufzuhalten und machte sich schleunigst daran, sich die Schuhe anzuziehen, bevor er ihnen mantelüberstreifend hinterher lief. Es stellte sich als sehr leicht heraus, in die Bibliothek einzudringen. Die geschlossenen Türen stellten das größte Hindernis dar, doch als Wächterin des Schlüssels hatte Mariam schnell das Schloss geknackt. Sie mussten auch nicht aufpassen, dass jemand sie entdecken könnte, denn da sie sich noch immer in der Schattenwelt befanden, existierten die Menschen lediglich als schwach schimmernde Seelen, die sie nicht wahrnehmen konnten. Wie merkwürdig das ansonsten ausgesehen hätte, wenn drei junge Erwachsene mit einem schwebenden Hai und einem Pferd mit Horn auf der Stirn mitten in der Nacht die große Eingangstür der österreichischen Nationalbibliothek auf dem Heldenplatz aufbrachen. Mit seinem schwebenden Gang ging Oribie ihnen voraus durch die große Eingangshalle. „Was genau wollt ihr denn nun in Erfahrung bringen?“, fragte er, während er voller Entzücken seinen Blick über die prunkvolle Einrichtung gleiten ließ. „Brooklyn hat etwas gesagt, dass die Zeit verändert. Wir suchen nach dem Rückgrat der Welt, ich nehme an, es hat irgendetwas mit der Erde zu tun“, fasste Kyojou kurz zusammen. Oribie nickte fröhlich und winkte, ihm zu folgen. „Dann schauen wir uns doch am besten das Globenmuseum an“, zwitscherte er und schritt ihnen voran durch mehrere große Säle, wieder hinaus ins Freie, über einen großen, kreisrunden Platz mit Pflastersteinen und durch eine gerade Straße, gesäumt von gradlinigen Fassaden, die Unicolyons Hufgeklapper zurückwarfen. Das Gebäude, den Palais Mollard, den sie betraten, war hell und einladend und über dem Eingangstor ragte ein kleiner runder Balkon aus der Fassade. Oribie zögerte nicht und führte sie durch das Gebäude in den ersten Stock und egal wo sie hinschauten, der Raum war brechend voll mit Globen jeglicher Größe und Farbe. Karten hingen an Wänden oder waren fein säuberlich hinter schützendem Glas ausgestellt. Überwältigt schritt Mariam durch die Reihen. „Das ist wunderbar“, hauchte sie andächtig. Oribie lächelte zufrieden. Kyojou hingegen zog seinen Computer aus der Tasche und setzte sich an einen Tisch, klappte ihn auf. /Chef, da bist du ja endlich wieder/, ertönte sogleich eine weibliche Stimme aus dem Rechner und Mariam und Oribie zuckten erschrocken zusammen, fuhren herum und starrten Kyojou an. „Was war das gerade eben?“, fragte Oribie sichtlich verstört. /Chef, willst du uns nicht bekannt machen?/, fragte jedoch die Computerstimme, bevor er antworten konnte und so schnappte er den Mund zu und fühlte sich wie ein Fisch. Er seufzte und drehte den Laptop mit dem Bildschirm ihnen zu. Ein kleines grünes Licht leuchtete am oberen Rand des Bildschirms. „Mariam, Oribie, das ist Dizzy, Dizzy, das sind Mariam, die Hüterin des Schlüssels, und Oribie, ein Wächter der Erde.“ Mit aufgerissenen Augen und Mündern starrten die beiden in den Bildschirm, auf dem sich farbige Muster kringelten. Unglauben spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider. /Hallo ihr beiden, freut mich, euch kennenzulernen! Ich bin Kyojous Wächterpartnerin/, ergänzte sie. „Du?“, platzte Mariam heraus und zeigte mit dem Finger auf den Laptop. /Hey, ich kann dich sehen!/ Auf dem Bildschirm blinkte ein Bild auf von einem Gesicht, das vorwurfsvoll dreinschaute, auf. „Entschuldige, aber ich verstehe das nicht, ich dachte immer Kyojou sei wächtertierlos“, versuchte sie sich zu erklären. /Ich bin auch kein Tier, sondern ein menschlicher Verstand, gefangen in einem Computer./ „Aha“, machte Mariam, die das erstmals verdauen musste. Kyojou drehte den Laptop wieder zu sich. „Dizzara, es gibt etwas zu besprechen“ /Ach Chef, du weißt doch, dass du mich Dizzy nennen darfst./ „Dizzy, was weißt du über das Rückgrat der Welt?“ Gespannt rückten Mariam und Oribie näher, lugten dem Braunhaarigen gespannt über die Schultern. /Darüber muss ich im Internet recherchieren, aber die Verbindung ist nicht die beste, es könnte etwas dauern./ „Und wir versuchen hier etwas herauszubekommen, allzu weit kann die Lösung doch nicht sein.“ „Was ist Internet?“, fragte Oribie und schaute Kyojou mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Kyojou räusperte sich. „Das kannst du dir vorstellen wie eine riesige Bibliothek, in der all das Wissen dieser Welt in jeglicher Sprache gespeichert ist“, versuchte er verständlich zu erklären. „Und wo ist diese Bibliothek?“, fragte Oribie weiter, so entzückt von der Vorstellung, solch einen Palast, gefüllt mit Millionen und Abermillionen von Büchern, selbst sehen zu können, dass seine fliederfarbenen Augen aufleuchteten. „Oh, das ist nicht so, wie du dir eine Bibliothek vorstellst, das ist alles auf mehreren riesigen Rechnern gespeichert, das sind Daten, aber du kannst sie nicht anfassen. Wie dieser Computer hier“, bemerkte Kyojou und strich beinahe zärtlich über die Tastatur seines Laptops. Oribie ließ etwas die Schultern fallen. „Also bringt das gar nichts, wenn man keinen Computer hat“, meinte er enttäuscht. „Nein, aber zu deiner Zeit ist so etwas auch noch gar nicht erfunden, da hat es auch noch kein Internet gegeben, das mussten auch erst einige Menschen alles eingeben und in Daten abspeichern.“ „Warum kann Dizzy denn darauf zugreifen?“, fragte der Franzose und schob die Unterlippe leicht nach vorne. „Das ist Dizzys Fähigkeit als Wächterpartner, sie hat zwar keinen Körper, aber sie existiert in Daten. Und sie kann auf Netzwerke zugreifen, die mehrere hundert Jahre entfernt liegen. Das ist sehr nützlich.“ Stolz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und beinahe unmerklich hob sich seine Brust. „Warum hat sie das denn nicht schon auf der heiligen Lichtung gemacht?“, fragte Mariam dazwischen und es klang vorwurfsvoll. „Weil dort ein komplett anderes Raum-Zeit-Kontinuum herrscht. Dizzy kann nicht einfach nur nicht darauf zugreifen, und auch wenn sie es schaffen würde, was ich nicht bezweifle, dann würde sie in einen Strudel aus Metadaten gerissen, aus dem sie nicht mehr fliehen könnte und sie würde in die einzelnen Bestandteile der Daten zerfetzt, aus der sie besteht.“ Beinahe panisch hatte sich Kyojous Atem beschleunigt und er krallte die Hände in seine Hose. „Oh, na dann ist ja jetzt alles geklärt. Wir sollten uns nun auch nützlich machen und versuchen, etwas herauszufinden.“ Seufzend setzte sich Mariam neben einen Globus, der in einem Holzgestell ruhte und drehte ihn herum. „Brooklyn sagte, die Ersten hätten nie etwas Unüberlegtes getan. Kann es sein, dass sie wollten, dass wir hierher kommen?“, überlegte sie laut. „Das Globenmuseum ist weltweit das einzige seiner Art, und keine andere Bibliothek liegt so nah an einem Ausgang des Labyrinths von Raum und Zeit“, meinte Oribie. „Du bist ziemlich belesen“, bemerkte Mariam. „Ach, ich war in einer guten Schule und hatte genügend Zeit“, sagte der Franzose bescheiden, doch seine Wangen schimmerten rosa ob des Kompliments. Schließlich hatte er sehr viel dafür getan, sich viel Wissen anzueignen. Auch ohne Internet. In Gedanken versunken fuhr Mariam mit dem Finger über den Globus, die Linien der Grenzen der Kontinente entlang, da fiel ihr etwas ein, was Brooklyn gesagt hatte. „Sagt mal, war die Erde schon immer so?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Nein, wieso meinst du?“, fragte Kyojou und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Weil Brooklyn gesagt hat ‚die Zeit vergeht, die Zeit verändert. Das Rückgrat der Welt in der Gegenwart ist nicht das Rückgrat der Welt der Vergangenheit. Die Ersten wussten das, sie handelten nie unüberlegt’. Die Ersten kamen auf die Erde, nachdem Anima sie erschaffen hatte und ich frage mich, ob die Erde damals anders ausgesehen hat. Aber das würde auch bedeuten, dass das Rückgrat der Welt heute nicht mehr da ist, wo es damals war.“ /Chef, ich habe etwas zu berichten, was diese Annahme bestätigen könnte/, meldete sich die Computerstimme wieder und Mariam zuckte zusammen. „Du hast unsere ungeteilte Aufmerksamkeit“, sagte Kyojou, während sie näher rückten. Auf dem Bildschirm tauchte das Abbild der Erde auf. /So sieht die Erde heute aus. Und als Rückgrat wird in der Regel eine Aneinanderreihung der Wirbelknochen bezeichnet, jedoch kann diese Bezeichnung auch für eine Gebirgskette verwendet werden, die sich über den Globus zieht. Nun, die längste Gebirgskette auf der Erde befindet sich unter dem Wasser und zwar zieht sie sich vom Norden bis in den Süden senkrecht durch den atlantischen Ozean./ Wie von magischer Hand wurde eine rote Linie auf die abgebildete Erdkugel gezeichnet. /Anbetracht der Information, die Mariam gerade mitgeteilt hat, können wir annehmen, dass die ersten Wächter die Erde vor ungefähr fünfhundert bis zweihundertfünfundzwanzig Millionen Jahre betraten und die kambrische Explosion des Lebens auslösten, die die Erde zum Erblühen brachte. Also etwa zu der Zeit, als die Erde und deren Atmosphäre stabil wurden bis zur Zeit, in der die heutigen Kontinente noch im großen Pangäa verschmolzen waren./ Eine Animation veranschaulichte ihnen in Zeitraffer, wie die Kontinente zu einem Superkontinenten verschmolzen und wieder auseinanderdrifteten. Die rote Linie blieb genau dort, wo sie war. /Angenommen, sie wussten, was mit der Erde geschehen würde und suchten sich die atlantische Schwelle als Anhaltspunkt aus, würde dies, übertragen auf Pangäa, etwa so aussehen./ Die Animation hielt still und die rote Linie spaltete den Superkontinenten in zwei Hälften. „Das ist unglaublich“, flüsterte Mariam bewundernd. /Nun, leider kann ich euch nicht sagen, wo sich die Orte, die ihr sucht, befinden, ich schlage vor, dass ihr sie zusammen mit den anderen auf die Karte der heutigen Zeit übertragt, immerhin geht schon bald die Sonne auf und ihr solltet rechtzeitig zurück sein./ Dizzy gähnte herzhaft und blieb dann still. „Kaum zu fassen, was die Zukunft so mit sich bringt“, bemerkte Oribie und schaute sich dann suchend im großen Raum um. „Was tust du da?“, fragte Mariam skeptisch. „Ich suche eine Karte, die wir mitnehmen und verwenden können, um eben gehörtes Wissen einzutragen“, erklärte der Franzose sein Tun und hielt eine große Karte in die Luft um sie zu begutachten. „Du kannst doch nicht einfach etwas von hier entwenden!“, rief Mariam aus, beinahe etwas empört. „Oribie hat Recht, wir brauchen eine solche Karte, auch wenn es nicht ganz in Ordnung ist“, hängte der Braunhaarige noch an, als er Mariams unheilvoll funkelnde Augen sah. Doch sie musste sich geschlagen geben. Natürlich hatten sie Recht und so rollte Oribie mit einem zufriedenen Lächeln eine riesige Karte zusammen. Dann verließen sie das Globenmuseum und Wien und huschten zurück auf die heilige Lichtung, der sie im Gegensatz zur realen Welt nur kurze Zeit weggeblieben waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)