Warten von Ur (Jeder wartet auf irgendetwas) ================================================================================ Kapitel 1: Warten ----------------- Eine kleine Ode an ein paar meiner Mädchen, die leider, leider meistens zu kurz kommen. Ich habe sie aus verschiedenen Geschichten gepickt :) ___________________________________ SINA hält den Kopf immer ein wenig höher, als es sein müsste. Sie will der ganzen Welt demonstrieren, dass keine Meinung für sie wichtig ist – außer ihrer eigenen. Das ist eine Lüge und Sina weiß das. Aber solange alle anderen es nicht wissen, macht es ihr nichts aus. Jeden Morgen gibt sie sich eine Menge Mühe damit, sich so hübsch zu machen, wie es nur geht. Denn das ist das, was sie am besten kann. Hübsch aussehen. Die Mädchen können sie deswegen nicht leiden, die Jungs rennen ihr nach wie Motten einer Straßenlaterne. Sina ist schon mit vielen von ihnen in einer dunklen Ecke gewesen und hat geknutscht. Eigentlich nicht wirklich, weil es ihr so viel Spaß macht, sondern eher, um den Mädchen eins auszuwischen. Den Mädchen, die sie immer so böse ansehen, als könnte sie etwas dafür, dass sie hübscher ist, als sie. Sina weiß, dass sie gut aussieht und vielleicht ist sie auch ein wenig arrogant. Aber hat nicht jeder Mensch seine Macken? Sie hat im Theaterstück des Jahrgangs die Julia spielen dürfen, obwohl viele andere Mädchen das auch wollten. Sie hat umwerfend ausgesehen in diesem altertümlichen Kostüm. Dafür haben die Mädchen sie noch mehr gehasst. Die beliebtesten Jungs rennen ihr nach. Sie kann jeden um den Finger wickeln. Aber was Sina eigentlich möchte, ist eine beste Freundin, mit der sie über alles reden kann. Mit der sie Spaß haben und Mädchensachen machen kann. Und sie möchte einen Freund, der in ihr nicht nur große Brüste und lange Beine sieht. Sie ist fünfzehn und einsam. Hübsch und einsam. Und sie wartet auf den Tag, an dem das Mädchen kommt, dem es egal ist, dass sie hübsch und arrogant ist und an dem der Junge kommt, der sie durchschaut und nicht nur ansieht. ALEX belügt ihre Eltern. Ganz gewaltig. Weil ihre Eltern wollen, dass sie Ballett tanzt und irgendwann heiratet und bis dahin keinen Sex hat und weil sie wollen, dass Alex ein vorbildliches Mädchen ist. Alex tut so, als wäre sie eine gute Tochter, aber eigentlich ist sie das nicht. Sie macht kein Ballett, sondern geht heimlich zum Karateunterricht. Zwar spielt sie gern Querflöte, aber wenn sie nicht Flöte spielt, dann hört sie gern laute Rockmusik. Alex hat nicht vor, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Allein schon, weil ihre Eltern das wollen. Auch wenn Alex niemanden hat, mit dem sie Sex haben wollen würde. Außer vielleicht Elias. Aber der ist ihr bester Freund und das würde sie für nichts in der Welt hergeben. Also wartet Alex auf den Richtigen, denn wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, dann glaubt sie daran, dass es so etwas wie Schicksal gibt. Sie glaubt tatsächlich an etwas. An Romantik und Liebe und all den Kinderkram, den sie nur ihrem besten Freund anvertraut, weil der sie niemals auslacht. Alex möchte einen Freund, der nicht darüber lacht, dass sie mit sechzehn noch Jungfrau ist und dass sie noch ungeküsst ist und dass sie irgendwie an Gott glaubt, auch wenn sie sich dagegen wehrt. Alex ist keine gläubige Katholikin. Aber sie kann den anerzogenen Glauben auch nicht abstellen. Er ist da. Und Alex möchte, dass jemand ihr sagt, dass das ok ist, auch wenn sie Sex vor der Ehe hat. Sie wartet auf jemanden, der ihr sagt, dass sie richtig ist, genau so wie sie ist. NICCI fühlt sich wie der schüchternste Mensch auf der Welt. Sie ist nett zu jedem und sie hilft immer, wenn man sie fragt. Nicci kann nicht ›Nein‹ sagen. Sie weiß, dass sie wahrscheinlich leicht auszunutzen ist, aber sie kann sich nicht so einfach umkrempeln. Wenn sie vor vielen Menschen steht und was sagen soll, dann bringt sie kein Wort heraus. Referate sind ihre Hölle. Sie ist sechzehn und will irgendwann studieren. Sie sollte bis dahin gelernt haben, vor vielen Leuten zu reden. Aber sie kann das einfach nicht. Wenn Leute Nicci komisch ansehen, weil sie ein Piercing hat und gern durchlöcherte Jeans trägt, dann wird sie jedes Mal rot. Sie hat keine große Klappe und sie ist nicht selbstbewusst. Wenn sie in den Spiegel schaut, dann ist sie sich nicht sicher, ob sie hübsch ist, oder nicht. Ihre beste Freundin Lara predigt ihr ständig, dass sie toll aussieht, aber Nicci ist sich nicht sicher, ob Lara das als beste Freundin nicht vielleicht sagen muss. Aus Solidarität. Als Nicci in der siebten Klasse Leon kennen gelernt hat, hätte sie nie gedacht, dass sie beide mal beste Freunde sein könnten. Aber Leon hat mit ihr zusammen und Lara eine Band gegründet. Und wenn Leon ihr Komplimente macht – auch wenn er darin nicht allzu gut ist, Nicci weiß, wie er es meint, sie kennt ihn jetzt schon seit einigen Jahren – dann glaubt Nicci ihm das. Sie kann nicht vor vielen Leuten reden. Aber sie kann singen. Wenn sie singt, dann vergisst sie einfach, dass da viele Leute sind, dann ist sie in ihrer eigenen Welt und Leon redet für sie, wenn sie einen Auftritt haben. Durch die Band und Leon ist Nicci ein bisschen selbstbewusster geworden. Sie wartet noch auf den Tag, an dem sie sich endlich selbst richtig leiden kann, ohne immer in den Spiegel zu sehen und unsicher zu sein. LILLI ist eine von Drillingen. Sie hat schon mit fünf Jahren versucht, sich von ihren Schwestern abzugrenzen. Aber wenn man klein ist, dann geht das nicht so gut. Also hat Lilli aus Protest angefangen, immer zwei verschiedene Socken zu tragen. Sie zieht nie die Sachen an, die ihre Mama im Doppel- oder Dreierpack kauft. Mit acht schneidet sie sich mit Mamas Küchenschere die Haare selber, sie will keine Zöpfe haben, die genauso aussehen wie die von ihren Schwestern. Lilli liebt ihre Schwestern. Aber sie möchte nicht immer verglichen werden und sie möchte jemand sein, den man erkennt. Mit dreizehn geht sie zum Friseur und lässt sich die Haare färben. Die sind jetzt blau und keiner hat mehr Probleme damit, sie und ihre beiden Schwestern auseinander zu halten. Denn die haben keine bunten Haare. Lilli ist nicht sauer auf ihre Eltern, weil die immer noch versuchen, manchmal gleiche Pullover zu besorgen. Wenn sie auf Feiern gehen zum Beispiel. Lilli kommt mit ihren Eltern und ihren Schwester super aus. Sie würde keine andere Familie haben wollen. Sie hat immerhin ihre eigenen Freunde und die können sie nicht nur durch ihre bunten Haare unterscheiden. Und ihre Schwestern und ihre Eltern wissen auch, dass diese Drillinge abgesehen von ihrem Äußeren nicht viel gemeinsam haben. Lilli will immer die Beste sein bei dem, was sie tut. Sie will hervorstechen. Sie muss sich immer beweisen und wartet auf den Tag, an dem sie das endlich sein lassen kann – auf den Tag, an dem sie sich selbst genug ist. JESS hat eine schöne Kindheit gehabt. Sie ist die Prinzessin ihrer Eltern. Sie hat das größte Zimmer im Haus und darf Klavierstunden nehmen und zum Standardtanzen gehen. Sie kriegt alles bezahlt und bekommt von allen Seiten Lob und viele Komplimente. Jess ist froh, dass sie deswegen nicht abgehoben ist. Sie ist auf dem Teppich geblieben und still und heimlich dankt sie dafür dem Jungen, der dafür gesorgt hat. Der kann mit diesem Überschuss nämlich nichts anfangen. Seine Eltern sind nicht so nett wie ihre. Er schaut immer so ernst. Und Jess befindet, dass sie sich ein Beispiel an ihm nehmen sollte, er wirkt so erwachsen. Sie ist sechzehn und zum ersten Mal verliebt in den Sohn der Hofstetters, mit denen ihre Eltern öfter Mal arbeiten. Sie freut sich jedes Mal, wenn ein Geschäftsessen ansteht und sie mit Jannis reden kann. Wenn sie zusammen im Garten sitzen und reden, dann fühlt sie sich wie seine Königin in diesem großen Garten voller Rosen. Sie nimmt es ihm nicht übel, als das mit dem Sex nicht so richtig funktioniert. Sie würde wahrscheinlich alles machen für den ernsten Jungen mit Brille, der ihr nie Komplimente macht und sie nicht so verhätschelt und der sich in dieser Welt – in ihrer Welt – fremd fühlt und unsicher. Als er sie küsst, ist sie das glücklichste Mädchen der Welt. Bis er ihr den Antrag macht, dann ist sie sogar noch glücklicher. Und dann geht er einfach und ein paar Jahre später wird ihr klar, dass sie den Jungen, den sie schon so lange liebt, niemals haben kann. Sie trauert der Zeit hinterher und dankt ihm trotzdem, weil er sie am Boden gehalten hat, wie ein Kind, das einen Luftballon nicht fliegen lässt – damit er nicht irgendwo in der Atmosphäre zerplatzt. Trotzdem wartet sie auf den Tag, an dem der Eine kommt, der sie genauso liebt, wie sie ihn, und der ihr irgendwann einen ehrlichen Antrag macht. FENJA kommt mit sich selbst und der Welt gut aus. Sie liebt ihre Familie und ihre Tiere und ihr zu Hause, ihre Freunde und sie liebt sich selbst. Sie ist unkompliziert, auch wenn sie manchmal Probleme mit Entscheidungen hat. Darin ist sie nicht so gut. Aber was macht das schon, sie hat andere Talente. Sie ist sportlich, kann gut mit Tieren, sie kommt mit den meisten Menschen gut aus, hat gute Noten. Man kann eben nicht alles können und damit kann Fenja gut leben. Sie legt sich ungern fest, hat hier mal ein Date mit dem Jungen vom Nachbarshof und dort mal ein Date mit dem Mädchen, das in der Bäckerei drei Straßen weiter als Aushilfe arbeitet. Da kann sie sich auch nicht so gut festlegen. Ob sie lieber Jungs oder Mädchen mag. Sie mag einfach beides und hält sich alles offen. Das muss für etwas gut sein. Fenja war noch nie verliebt. Gefühle würden sie festnageln, darauf ist sie nicht so scharf. Deswegen datet sie die meisten Leute nur ein oder zwei Mal. Sie ist ihren Kaninchen und ihrem Pferd und ihren Freunden und ihrer Familie treu. Da muss sie sich ja nicht noch an jemanden binden. Aber manchmal ertappt sie sich dabei, dass sie gern jemanden hätte, bei dem sie sich sofort festnageln lässt, ohne, dass sie wieder weglaufen will. Fenja wartet insgeheim darauf, dass jemand kommt, der ihr die Entscheidung einfach abnimmt und sie an sich bindet, ohne, dass sie groß darüber nachdenken kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)