Reden ist Silber - Schreiben ist Gold! von Sydney (Wettbewerbs- und Challengebeiträge) ================================================================================ Kapitel 4: Mona Lisa -------------------- Mona Lisa: Langsam erhob sich Marcus aus seiner unbequemen Position. In der Dunkelheit des Raumes tat er dies vorsichtig, denn das Zimmer war fast vollständig mit diversen Arbeitsutensilien vollgestellt. Die schmerzhafte Begegnung mit dem Spachtel vor einigen Tagen hatte er nicht vergessen. Ein blassrosa Streifen zierte immer noch seine Stirn und machte sein Ungeschick für jeden der ihm ins Gesicht sah deutlich sichtbar. Diese Schmach wollte er kein weiteres Mal erleben. Lächerlichkeit war etwas, das er ganz und gar nicht vertrug. Marcus war es gewohnt in der Finsternis zu arbeiten, aber in dieser Nacht war Neumond und die vereinzelten Straßenlaternen schafften es nicht genug Helligkeit zu erzeugen um sein Arbeitsfeld nahe dem Fenster ausreichend zu beleuchten. Nur eine einzige kleine Leuchtstoffröhre, die an seine Leinwand geklemmt war strahlte kaltes, bläuliches Licht direkt auf die Zeichenfläche. Alles rund herum blieb schwarz und dem Auge verborgen. Dennoch waren Neumondnächte Marcus Favoriten. Alles war einfacher in der Dunkelheit. So konnte er ohne gestört zu werden an seinen Bildern arbeiten. Niemand tauchte unvermittelt auf und wollte, dass der gelernte Dachdecker einen Sturmschaden ausbesserte. Auch seine nervtötende Familie von der er sich seit Jahren zu distanzieren versuchte wollte um diese Uhrzeit keinen Kontakt. Er holte tief Luft. Die frische, kühle Luft, die durch das weit geöffnete Fenster hereinströmte unterschied sich völlig von dem Gasgemisch, das er tagsüber gezwungen war einzuatmen. Hier in dem abgelegenen Wohngebiet herrschte kein starker Verkehr. Nachts senkte sich der Staub, der in den Stunden zuvor aufgewirbelt war. Es war allgemein ein ruhiges Viertel, unter anderem deshalb hatte er sich diese Gegend ausgesucht. Gerade eben hatte er seinen letzten Entwurf verworfen. Ohne Modell ging ihm die Arbeit einfach nicht von den Händen. Es war zum Verzweifeln! Haareraufend starrte er auf die Leinwand. Ein Hass brodelte in ihm, der so gar nicht zu dem sonst so beherrschten Handwerker passte. Oft genug schon hatte er, in Ermangelung einer Inspiration, einfach darauf los gemalt. Jedes Mal war es ein Fiasko geworden. Marcus brauchte keine zweite Meinung einholen – niemals bekam jemand anders die Gemälde zu sehen – der Dachdecker wusste auch so, dass es totale Reinfälle waren. Auch, oder gerade weil er nur für sich selbst malte, war er nicht zufrieden. Die Emotionen, die eigentlich aus dem Bild sprechen sollten fehlten gänzlich. Nichts war so, wie er es wollte! Er wusste, dass er es besser konnte, aber dazu fehlt ein entscheidender Faktor. Seit mehr als zwei Wochen schon hatte ihm dieses eine Detail zu seiner Arbeit gefehlt. Irgendwo draußen lief jemand mit einem Trolley vorbei. Eine Haustür ganz in der Nähe wurde geöffnet. Mit einem Mal fühlte er sich wie ausgewechselt. Durfte er hoffen? Energie strömte durch seinen Körper. Eine Energie, die er umsetzen musste, mit Pinsel und Farbe. Mit einem schnellen Blick aus dem Fenster versicherte er sich, dass seine Euphorie nicht wieder in ein tiefes, depressives Tal fallen würde. Während er hinaus in die Nacht sah, wurde die Tür geschlossen. Nicht besonders laut, aber trotzdem deutlich hörbar. Keine fünf Sekunden später flackerte das Licht im Haus gegenüber auf. Es war ein Volltreffer! Marcus entspannte sich etwas. Sein Hochgefühl hatte die Chance noch etwas länger anzuhalten. Als das Licht im Wohnzimmer von Frau Steiner anging war er sich seines Triumphes sicher. Nichts würde den heutigen Erfolg verhindern. Im Geiste zählte er die Sekunden. Frau Steiner war berechenbar. Wenn sie nachhause kam brauchte sie zwischen fünf und zehn Sekunden um das Licht im Wohnzimmer anzumachen – abhängig davon, welche Schuhe sie trug und ob sie mit Einkauftüten beladen war, oder ohne schwere Taschen kam. Abends, wenn sie das Licht im Wohnzimmer löschte, brauchte sie ziemlich genau eine halbe Minute um im Schlafzimmer anzukommen und dort auf den Schalter für die kleine Lampe zu drücken, manchmal war sie auch schneller. 30, 31, 32, 33 – mit etwas Verspätung durchlief sie ihren typischen Handlungsablauf auch an diesem Tag. Sie musste ziemlich müde sein, andernfalls wäre sie schneller im ersten Stock gewesen. Marcus lehnte sich weiter vor. Er konnte die Frau klar und deutlich durch die penibel geputzten Fensterscheiben sehen, aber sie würde den Dachdecker nicht einmal erblicken, wenn sie direkt in seine Richtung sehen würde. Gott, der liebte Neumondnächte! Er beobachtete sie wie sie ihren Koffer auf das große Doppelbett wuchtete, dass sie seit fast drei Jahren alleine nutzte. Sie holte nur einige wenige Gegenstände aus dem Trolley, bevor sie ihn wieder von dem Bett hinunter beförderte und begann sich umzuziehen. Marcus betete, dass sie sich beeilen würde. Er brauchte jetzt dringend Erlösung! Alles in ihm lechzte danach, endlich von dieser angestauten Energie befreit zu werden. Fest umklammerte seine Rechte den Pinsel. Und dann war es endlich so weit. Frau Steiner legte sich ins Bett. Marcus griff nach den Farben, die er bereitgestellt hatte. Schon griff sie nach dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Marcus wusste nicht, was sie da immer las, aber es bereitete ihm Verzückung sie zu sehen, wenn sie in ihrer spärlichen Wäsche allabendlich begann zu lesen. Der Moment war gekommen. Endlich konnte er beginnen. Es war für ihn die größte Erfüllung. Sie lächelte. So wie sie es immer tat, wenn sie las. Darauf hatte er gewartet! Nie hatten sie mehr als ein paar freundliche Worte unter Nachbarn gewechselt. Doch sie war es. Sie war seine Inspiration, seine Mona Lisa! Einzig ihr Lächeln lies ihn wahre Kunst erschaffen und dafür liebe er diese Frau, die ihm doch eigentlich fremd war, so sehr wie ein Mann, der nachts in fremde Fenster sah und dadurch seine Kraft gewann eine Frau nur lieben konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)