Revenge of Rakazel von Enisocs ================================================================================ Kapitel 4: Auf eigenen Beinen ----------------------------- Er war zu spät gekommen! Lourde betrachtete den Weg vor sich mit leeren Augen. Erst vor wenigen Stunden hatte ihn hier das rege Treiben feiernder Menschen begrüßt und in seinen Bann gezogen, nun lag eine fast leergefegte Straße vor ihm. Ein paar Leute und kleine Grüppchen gingen noch vereinzelt ihres Weges, als wäre heute ein Tag wie jeder andere. Nur die Spuren der Feier, der Festschmuck und zurückgelassener Unrat, erinnerten noch daran, dass hier zuvor eine Parade stattgefunden hatte. Lourde war schrecklich niedergeschlagen, als er einsah, dass er heute keinen Festwagen mehr zu Gesicht bekommen würde. Sein Blick wanderte hinauf. Letzte mysteriöse Schleier durchzogen den dunklen Nachthimmel und ließen ihn in den Farben Mafuus erscheinen. Mehr war von einem der spektakulärsten Feuerwerke dieses Jahres nicht übrig geblieben. Und auch davon hatte er nicht mehr mitbekommen, als das donnernde Grollen, das bereits verklungen war bevor Lourde den äußeren Ring erreicht hatte. Kaum mehr imstande dabei zu atmen war er gerannt, als säße ihm der Teufel im Nacken. Doch zu guter Letzt vergebens. Es war einfach nicht fair. Seine Gedanken waren seit Wochen von nichts anderem bestimmt worden, als diesen Tag zu erleben. Und das alles machten sie ihm kaputt, weil man die allgemeine Meinung teilte, er wäre sich nicht bewusst, welchen Gefahren man sich auf diesem Fest aussetzte? Aus diesem Grund hatten sie ihm schlussendlich für den Rest des Tages Hausarrest erteilt, wie sie sagten zu seiner eigenen Sicherheit. Normalerweise, wenn es zu solchen Diskussionen kam, akzeptierte er das Urteil der Älteren und gehorchte ohne Widerworte. Mit der Zeit hatte er sich einfach an seine überängstliche Behandlung gewöhnt und erntete lieber das Lob für Gehorsamkeit, als den Tadel wenn er aufbegehrte. Aber in dieser speziellen Angelegenheit war das alles anders, zumal er sich nichts zu Schulden kommen lassen hatte, sondern ganz alleine Mary. Ganz offensichtlich handelte es sich doch um ihren Fehler, ihn aus den Augen verloren zu haben. Doch als der Magier ihn nach Hause geführt hatte, waren die tadelnden Blicke allein ihm zuteil geworden. Selbst Mary hatte ihn gescholten, ihr fortgelaufen zu sein und eine gefühlte Ewigkeit lang musste er die Standpauken seiner Erziehungsberechtigten dafür über sich ergehen lassen. Alles hatte er mit demütiger Ruhe ertragen und widersprach auch kein einziges Mal den Rügen der Älteren. Doch das Maß der Ungerechtigkeit erreichte seine Spitze, als man ihm neben dem Hausarrest auch noch den Ausgang auf alle folgenden Festlichkeiten außerhalb des Dentriums verbot. Er hatte es restlos satt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, aber noch viel mehr hatte er Mary satt. Es schürte die Wut in ihm, wenn er darüber nachdachte, wie seine Zofe ihn in seinem Zimmer abgesetzt und so getan hatte, als wäre alles beim Alten. Als sie das Zimmer betraten, verlor Mary kein weiteres Wort über den Vorfall. Sie schimpfte jetzt nicht einmal mehr mit ihm, sondern schien regelrecht erleichtert, vermutlich darüber ihrer Pflicht entgangen zu sein ihn auf das Fest zu begleiten. Sie half ihm noch dabei das Festgewand auszuziehen um ihn wieder in eine schlichte, schwarze Tunika zu stecken und wand sich dann von ihm ab. Mit den Worten „Ich werde mich jetzt wieder der Arbeit widmen“ ließ sie ihn mit seinen Gedanken und der Wut in seinem Bauch alleine, abgestellt wie ein Möbelstück das an seinen Platz gehörte. Für Mary war die Ordnung somit scheinbar wieder hergestellt und sie konnte sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hingeben. Eifrig machte sie sich daran sein Zimmer auf Hochglanz zu putzen, fand dabei auch komischerweise immer eine Stelle, die ihr nicht sauber genug erschien. Lourdes Augen brannten, doch er versuchte mit aller Macht die Tränen, die seine Frustration schürte, zurückzuhalten. Er fühlte sich wie nie zuvor als ein Gefangener im eigenen Zimmer und das obwohl er völlig unschuldig war. So konnten sie nicht mit ihm umspringen. Wieso musste er sich überhaupt immer alles gefallen lassen? Sollten sie schon noch sehen, was sie davon hatten, denn er würde diesmal nicht klein bei geben. Scheinheilig bat er Mary darum Tee zuzubereiten und wartete ungeduldig darauf, dass sie das Zimmer dafür verlassen würde. Lourde hatte einen Entschluss gefasst, dem er nicht dem Zufall überlassen durfte, daher ließ er sich noch ein paar Minuten mehr Zeit, auch nachdem die Zofe außer Sicht war. Als er sich endlich sicher sein konnte, dass Mary nicht mehr unerwartet kehrt machen würde, griff er sich den schweren Samtmantel von der Garderobe und riss die Fensterläden weit auf. Wie er es auch drehte und wendete: Der Weg durch das Fenster war die einzige Alternative die ihm blieb, denn auf dem Flur konnten ihm massenweise Menschen entgegenkommen, die das Ende seines Ausfluges bedeutet hätten. Der Abstieg vom Fenster erwies sich jedoch schwieriger als gedacht. Die Steine waren von Nässe überzogen und eiskalt und der Wind zerrte an seiner Kleidung, als wäre es Mafuu selber der ihn aufhalten wollte. Von der jetzigen Position aus konnte er auf die Baumkronen hinabsehen, die sich in Reihe neben der Hauswand erstreckten. In ihrer imposanten Höhe ragten sie fast bis zu seinem Fensterbrett auf, aber leider eben nur fast. Es musste einfach zu bewältigen sein, sich mit etwas Geschick zu den Ästen herunter zu hangeln um auf den Baum zu gelangen. Er stemmte die Hände gegen den Fensterrahmen und ging langsam in die Hocke. Vielleicht wenn er es bis zum unteren Fenster schaffte um den Baum von dort aus zu erreichen, doch seine Kräfte würden für solch eine Aktion nicht ausreichen. Er verfluchte es, dass man ihm nicht erlaubt hatte der Rittergarde beizutreten. Für Hauptmann Sabik war solch eine Herausforderung wie diese sicherlich ein Kinderspiel. Er rutschte ein Stück zum Rand der Fensterbank vor, um seine Möglichkeiten abzuschätzen, verdammt war das tief, doch als er gerade wieder zurück in den Schutz seines Zimmers treten wollte, war es bereits zu spät. Feuchtigkeit und Schwerkraft forderten ihren Tribut und seine Füße verloren den Halt auf dem glitschigen Stein. Er rutschte tiefer, seine Knie stießen hart gegen die Fensterbank und Sterne flackerten vor seinen Augen. Doch der Schmerz reichte um seine Instinkte zu wecken, gerade noch rechtzeitig um sich an den Fenstersims zu klammern, bevor er in die Tiefe fallen konnte. Sein Herz hämmerte vor Aufregung, denn jeder weitere Fehler konnte jetzt schlimm enden. Er wusste nicht in welcher Verfassung er enden würde, wenn er das ganze Stück aus dem oberen Stockwerk hinunterstürzte und wollte es auch keineswegs herausfinden. Die Hände brannten bereits schrecklich und als er sich wieder versuchte hochzuziehen, musste er feststellen, dass seine Kraft dazu nicht ausreichte. Er strampelte mit den Füßen und hoffte irgendwo an der Mauer Halt zu finden, um seine Situation zu entschärfen. Die Angst davor sich Arme und Beine zu brechen löste Panik in ihm aus. Irgendwo unter ihm musste das Fensterbrett des unteren Fensters sein, doch er konnte es nicht fühlen, egal wie weit er die Füße streckte. Loszulassen und darauf zu vertrauen, dass er es schon erreichen würde, kam nicht in Frage. Seine Nerven lagen blank, noch länger und er konnte sein Gewicht nicht mehr halten…. Endlich! Da war ein hervorstehender Mauerstein, auf dem sein Fuß Platz fand. Erleichtert holte er tief Luft und für einen Moment war selbst der Schmerz vergessen, der in seinen Gliedern pochte, denn Konzentration war angesagt. Er lockerte seinen Klammergriff und ließ sich langsam tiefer sinken, streckte dabei den noch in der Schwebe befindlichen Fuß soweit er konnte nach unten. Noch ein Stück, dann erreichte er endlich das andere Fensterbrett und setzte mit dem zweiten Fuß nach, bevor er den oberen Stein losließ, den Körper drückte er so dicht er konnte an das Fensterglas und hielt sich am Rahmen fest. Ein Blick auf seine zitternden Handflächen offenbarten ihm viele gerötete Abschürfungen, doch vor Taubheit und Angst spürte er es kaum. Zwar waren es nur noch wenige Zentimeter, die ihn von den stämmigen Ästen trennten und doch zog ihn der Wunsch, die Fensterläden zu öffnen und in den Schutz des warmen sicheren Zimmers dahinter zu gelangen, zurück. Wie schlimm konnte es schon sein, nicht mehr auf die Feste zu dürfen, die er gerade mal seit zwei Jahren besucht hatte? Als wäre dies ein Stichwort gewesen ertönte plötzlich ein lautes Krachen aus der Ferne und ließ Lourde zusammen schrecken. Was war passiert? Hatte man sein Verschwinden bemerkt und Alarm geschlagen? Nein, das Geräusch war zwar laut, klang aber weit entfernt. Dann begriff er endlich und biss sich gequält auf die Lippen. Das Pfeifen und Krachen musste das Feuerwerk sein, das bereits begonnen hatte. Hier zwischen den Mauern der Gebäude, hatte er keinen freien Blick auf den Himmel, also konnte er es nur ahnen. Das hieß, er hatte keine Zeit mehr! Im Nachhinein, so dachte er, kam dieser Anstoß genau im richtigen Moment um den Mut zu fassen sich todesmutig von seinem Halt zu lösen um nach den dicken Ästen des Baumes zu greifen und die Beine darum zu schlingen. Der verschachtelte Wuchs des Giganten bot viele Möglichkeiten sich festzuhalten um nach unten zu klettern. Dabei war Lourde sehr langsam und vorsichtig. Die raue Oberfläche der Rinde war ebenfalls mit Nässe überzogen und kleinere Äste sowie das übrig gebliebe rötliche Laub machten es ihm nicht leichter, sondern versperrten ihm den Weg oder blieben an seiner Kleidung hängen. Er hatte schreckliche Angst nochmal abzustürzen, aber jetzt kam auch noch das bereits begonnene Feuerwerk und seine Sorge dazu, dass Mary schon wieder zurückgekehrt war und das offene Fenster bemerkte, also trieb er sich obgleich seiner schmerzenden Glieder weiter an. Als er den Abstieg endlich hinter sich gebracht hatte, stahl er sich durch den Vorgarten. Hier waren Büsche dicht an dicht gewachsen und groß angelegte Blumenbeete säumten Statuen und Obstbäume. Lourde nutze die säuberlich geschnittenen Büsche als Deckung und konnte so seinen Weg unbehindert fortsetzen. Das einzige Problem stellten somit die bewachten Tore da. Er hoffte inständig, dass man ihn nicht erkannte oder die Wachen bereits über sein Verschwinden informiert worden waren. Er atmete tief ein und stülpte sich die Kapuze seines Mantels tief über den Kopf, bevor er mit so viel Ruhe und Gelassenheit an der Torwache vorbei schritt, wie er in dieser Situation aufbringen konnte. Sein Herz flatterte in seiner Brust wie ein panischer Vogel in einem Käfig und er fürchtete darum, es würde ihn verraten. War der Mantel vielleicht noch mit Laub und Ästen bedeckt oder beim Klettern so nass geworden, dass es auffällig wirkte? Er war schon fast an der Wache vorbei und auch nachdem er den Posten passiert hatte, wurde er nicht aufgehalten. Die Torwachen schenkten ihm gar keine Aufmerksamkeit, sondern waren ganz auf das leuchtende Spektakel am Himmel konzentriert. Lourde wollte das Feuerwerk ebenso gerne bewundern, aber er hatte keine Zeit, er wollte es ja aus nächster Nähe sehen. Ein Gefühl von Triumph durchflutete ihn, wie das krachende, flimmernde Zischen der explodierenden Raketen und vertrieb die Kälte zumindest für den Moment aus seinem Körper. Klar, er war erschöpft und seine Hände brannten dort wo er sie verschrammt hatte, doch von alldem merkte er jetzt nichts mehr. Er hatte einen Funken Freiheit gewonnen, den er zutiefst genoss. Sein Ziel war es den restlichen Abend auf dem Fest zu verweilen und Spaß zu haben. Sollten seine Aufpasser nur krank vor Sorge um ihn sein. Er hatte nicht vor das Dentrium so eilig wieder aufzusuchen und wenn, dann würde er mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht heimkehren und bewiesen haben, dass er sehr wohl alleine auskommen konnte. Aber damit noch nicht genug, denn danach würde er mindestens zwei Tage lang kein einziges Wort mit ihnen sprechen. Er zog den Mantel fest um sich und wusste nicht, wann er das letzte Mal so guter Dinge war. Von der anfänglichen Euphorie war ihm nun nicht mehr viel geblieben. Sein Körper zitterte unkontrolliert, denn selbst der warme Samtmantel konnte ihn nicht gänzlich vor der abendlichen Kälte schützen. Er blieb alle paar Schritte stehen und rieb sich die Hände. Vermutlich würde er sich noch erkälten, aber die Aussicht darauf war ihm nicht einmal unangenehm. Spätestens wenn er totkrank im Bett lag und vor Fieber glühte, würden Mary und die anderen ihren Fehler einsehen und sich bei ihm für die Unannehmlichkeiten entschuldigen müssen. Doch erst einmal würde er den Abend auf dem Fest verbringen, oder das was davon übrig geblieben war. Zumindest befanden sich immer noch viele Menschen auf dem Marktplatz, doch auch deren Interesse hatte sich verlagert. Die Parade, um die sich zuvor noch alles voller Begeisterung gedreht hatte, war vorbei und das Leben brummte nun laut und lallend an den Unmengen von Weinhändlerständen, die noch geöffnet hatten. Unter die Betrunkenen wollte sich Lourde weiß Gott nicht mischen, also trottete er ohne jeden Antrieb an den vielen Händlerwagen vorbei. Er hätte daran denken sollen Geld mitzunehmen, aber dafür hatte er während seiner spontanen Flucht keinen Kopf gehabt. Allmählich verlor er das Vergnügen an diesem Fest und sogar an seinem Aufstand. Seine neugewonnene Freiheit war bisher ernüchternd ausgefallen. Er fror, langweilte sich und nun bekam er auch noch Hunger, dagegen konnte es kaum schlimmer sein den Hausarrest Zuhause abzusitzen, wo ihn seine Zofe umsorgte. Es war enttäuschend, hätte er doch sein Zimmer nie verlassen, aber dafür war es jetzt zu spät und sein Trotz und sein verletzter Stolz waren nunmal stärker als seine Vernunft. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Menschen gelenkt, oder vielmehr auf ein Mädchen, welches gerade lautstark von einem scheinbar angetrunkenen älteren Mann bedrängt wurde. Dieser ungehobelte Typ war selbst über das Gelächter und Gerede der anderen Personen um ihn herum deutlich zu hören und drückte sich obendrein auch noch schrecklich unpfleglich aus. Was das Mädchen betraf, sie wirkte wirklich fehl am Platz. Mit ihrem Rücken zu ihm gewandt konnte er zwar nicht viel von ihr erkennen, aber alleine ihre schmale Statur und geringe Körpergröße, ließ sie in Lourdes Augen äußerst zerbrechlich erscheinen und der Rüpel war gewiss nicht der richtige Umgang für sie. Jetzt griff der große Kerl auch noch ihre Schulter und hielt sie fest, während er auf sie einredete. Noch immer keine Spur eines Aufpasser oder einer Zofe, um ihr zur Hilfe zu kommen und auch die anderen Männer nahmen von dem ganzen Geschehen wohl gar keine Notiz. Lourde fühlte sich plötzlich schuldig ihr zu helfen. Jetzt wo er das mit angesehen hatte, konnte er nicht einfach weiterziehen und sie ihrem Schicksal überlassen. Man konnte nie wissen, welchen Gefahren man sich auf diesem Fest auslieferte, hallten die mahnenden Worte in seinem Kopf wieder. Penetrant genug war der laute Kerl auf jeden Fall, also konnte er auch gefährlich für das Mädchen werden. Entschlossen zu handeln ging Lourde auf die beiden zu und räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. „Bitte lasst sie in Ruhe! Sehr Ihr nicht, dass Ihr sie belästigt?!“ Das zeigte Wirkung und die beiden drehten verwundert die Köpfe zu ihm. Jetzt konnte er auch ihre Gesichter sehen. Der Betrunkene hatte ein breites rotes Gesicht und wässrige Augen, die Lourde einen Schauer über den Rücken jagten. Das Mädchen dagegen hatte hübsche, blaue Augen, die sich als Kontrast von ihrem dunkelbraunen, geflochtenen Zopf abhoben, der ihr über den Rücken reichte. Die Haut ihres mädchenhaften Gesichtes besaß eine reizende Blässe und auf ihren Lippen lag noch der Hauch eines Lächelns. Lourde war irritiert darüber, dass das Mädchen ganz ruhig war und gar keine Anstalten machte den Griff des Mannes abzuschütteln. Jetzt fühlte er die fragenden Blicke der beiden auf sich und konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was er an der Situation falsch verstanden haben könnte. Der ältere Mann gluckste amüsiert und auch das Mädchen stimmte bald in sein Lachen ein. Wie peinlich, gehörten die beiden etwa zusammen und er selber hatte sich als Störenfried herausgestellt? Lourde war die Situation allmählich ziemlich unangenehm. „Keine Bange, der ist harmlos. Er hat mich nur nach einem Drink gefragt“ antworte sie und erlöste ihn endlich aus dem verlegenen Schweigen, dann wand sie sich mit einem Zwinkern an den anderen Mann. „Aber für heute hast du genug, was?“ In Lourdes Gesicht explodierte die Schamesröte. Auf was für einen närrischen Fehler war er hier nur hereingefallen? Sicherlich hielt sie ihn für einen vorlauten Idioten, der nicht alle beisammen hatte. Noch schlimmer aber war, dass sich jetzt auch noch die Köpfe der nahestehenden Leute zu ihnen herumdrehten um mitzubekommen, was geschehen war. „Entschuldigung, ich habe mich wohl geirrt“ stammelte er und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass er beschämt war. Um dieser Peinlichkeit nur möglichst schnell wieder zu entgehen, wand sich Lourde hastig ab um das Weite zu suchen. „Warte doch mal.“ Das war die Stimme des Mädchens. Meinte sie ihn etwa? Er hielt in der Bewegung inne und drehte sich wieder zu ihr um. Tatsächlich war sie vorgetreten und wollte ihn wohl gerade an der Schulter fassen, zog die Hand aber gerade wieder zurück als er stehen blieb. Musste er sich von den beiden jetzt etwa auch noch eine Standpauke anhören, dass er ihre Feier gestört hatte? Er konnte doch nicht ahnen, dass sich ein junges Mädchen wie sie mit solchem Gesindel herumtrieb. „Trotzdem danke, dass du dir Sorgen gemacht hast. Süß von dir.“ Lourde traute seinen Ohren kaum. Sie lächelte nett und schien auch kein bisschen sauer auf ihn zu sein. Selbst der betrunkene Typ grinste über beide seiner roten Ohren. „Danke. Keine Ursache. Ich wollte Euch sicher nicht stören, Mylady.“ „Euch? Mylady?“ Das Mädchen schien einen Moment verdutzt, dann lachte sie abermals, diesmal klang es herrlich erfrischend und vergnügt. Was an seiner Aussage so witzig war, konnte er allerdings nicht sagen. „Weißt du, nenn mich doch einfach Lian“, lenkte sie ein, als sie sich wieder gefangen hatte. Lian, das war dann wohl ihr Name, komisches Mädchen, dass sie sich an seiner Anrede störte. Aber er wollte nicht unerzogen wirken, also nickte er höflich. „Siehst nicht danach aus, als wenn du zum Trinken hierher gekommen bist. Vermutlich um die Tänzerinnen gleich zu sehen, oder?“ „Tänzerinnen?“ Lourdes innere Anspannung legte sich mit einem Mal. Es gab heute Abend noch Tänze zu bewundern, die er nicht verpasst hatte, welch ein Glück. Vielleicht war der Abend doch noch nicht gelaufen und sein kleiner Ausbruch nicht umsonst gewesen. Langsam kehrte sein Enthusiasmus zurück und er war doch noch froh, sie angesprochen zu haben. „Ja, genau, ich möchte mir sogar sehr gerne die Tänze ansehen. Wisst Ihr zufällig, wo ich sie finden kann, Lian?“ „Ja, weiß ich. Ich wollte auch gleich hingehen und sie mir ansehen. Für heute habe ich nämlich Feierabend. Wenn du willst, nehm ich dich mit.“ erklärte Lian und klopfte ihrem betrunkenen Bekannten auf die Schulter. „Und für dich wird’s auch langsam Zeit.“ Was, sie wollte ihn direkt begleiten? Es kam überraschend, wie vertraulich sie sich plötzlich ihm gegenüber gab. Mit einem Mal fühlte er sich wieder unwohl in seiner Haut und sein Misstrauen war geweckt. Wie oft hatte man Lourde schon vor den Machenschaften gewarnt, die hier in der Unterschicht ihr Unwesen trieben, von Mördern und Kidnappern und sonstigem Gesindel? Allerdings machte das Mädchen nicht den geringsten Anschein eines verruchten Schurken und eigentlich hatte er sie ja auch zuerst auf die Idee gebracht ihn mitzunehmen. Kein Grund zur Sorge. Wenn er nicht direkt wieder nach seinen Babysittern schreien wollte, musste er endlich lernen seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und er wollte diese Tänzerinnen unbedingt sehen. Auf dem Weg dorthin erzählte ihn Lian viel Interessantes über das Mafuufest. Er hatte wirklich Glück gehabt eine hübsche und obendrein kluge Wegführerin zu finden. Außerdem erzählte sie, dass sie für den Eigentümer des Weinstandes arbeitete und seine Gäste bewirtete, wie auch den lauten betrunkenen Rüpel. Abermals behauptete sie, dass er ganz nett und harmlos sei, aber Lourde wollte dem nicht ganz glauben. Leider hatte sich damit seine Hoffnung, sie sei eine Dentrianerin, ebenfalls in Rauch aufgelöst, denn die würde niemals für einen Verkäufer arbeiten. Es war kaum zu glauben, doch er war hier mit einer Fuorierin unterwegs, eine die sich zwar benehmen konnte aber trotzdem jemand aus dem Unterschichtenring. Er hoffte nur, dass Lian sein Unbehagen nicht mitbekommen hatte. Bei näherer Betrachtung war Lian nicht mit den Fuoriern, denen er vorher begegnet war, in einen Topf zu werfen. Die waren laut und ungehobelt, Lian dagegen war recht wortgewandt und ihr dunkles Kleid strahlte eine schlichte Eleganz aus. Lourde fiel auf, dass besagtes Kleidungsstück kaum mehr Schutz vor der Kälte bieten konnte, als ein dünnes Sommerkleid. Bestimmt fror sie schrecklich und sagte kein Wort, um nicht zimperlich zu erscheinen. Kurzerhand zog er sich den Mantel von den Schultern und reichte ihn zu ihr herüber, deutete dabei eine höfliche Verbeugung an. „Lian, darf ich Euch meinen Mantel anbieten?“ Ein angenehmes, zurückhaltendes Auftreten und eine adrette Art sich zu artikulieren, dass war es worauf man in der Gesellschaft Wert legte und was Lourde Tag ein, Tag aus eingetrichtert wurde. Was gutes Benehmen anging, machte ihm so schnell keiner etwas vor. Darauf war er selber sehr stolz, denn hinter seiner Etikette fühlte er eine Art von Sicherheit, auf die er sich stützen konnte. Immerhin war er ein wichtiger Bestandteil des Dentriums und es war seine persönliche Pflicht seine Aufgaben für den Wohlstand seiner Heimat zu erfüllen. Jetzt aber musste er sich erst mal um das Mädchen kümmern, das von seiner entgegenkommenden Art sehr angetan wirkte und ihm ein freundliches Lächeln schenkte. Sie bedankte sich erleichtert und zog den Mantel schnell über, um sich zu wärmen. Jetzt fror Lourde zwar, aber das Gefühl dem Mädchen einen Gefallen getan zu haben, wärmte ihn zumindest ein wenig von innen. „Das ist sehr nett von dir, ehm… Wie ist eigentlich dein Name?“ Lourde sah unschlüssig zu ihr rüber und suchte nach den richtigen Worten. Natürlich war es unhöflich, sich ihr nicht vorzustellen, aber seinen Namen preis zu geben konnte seinen Plan gefährden. Das Mädchen war vermutlich eine Fuorierin, aber sicher war er sich jetzt doch nicht, er konnte sich auch vertun und sie war doch aus dem unteren Adel des Dentriums. Wenn sie ihn nun vom Namen her kannte, hieße dass im schlimmsten Falle, dass sie ihm in den Rücken fallen könnte indem sie die Wachen verständigte. Noch dazu hatte man ihn dazu ermahnt, keinem Fremden gegenüber je Informationen über sich preiszugeben, nicht einmal seinen Namen und auf gar keinen Fall etwas über seine Fähigkeiten. Ach was, jetzt dachte er schon wieder an seine Vormundschaft. Dabei waren die schuld, dass er die Parade verpasst hatte. Diese überwollende Vorsicht war mehr als lästig und völlig unbegründet, also was sollte ihm schon von dem jungen Mädchen für eine Gefahr drohen? „Verzeihung, wie unhöflich. Mein Name ist Lourde Deviresh!“, stellte er sich vor. „Gut, Lourde, auf zu den großen, abendlichen Mafuutänzen. Glaub mir, die Tänzerinnen sehen aus wie Elfen und die Sänger singen besser als jede Nachtigall“, verkündete sie stolz, als wäre sie persönlich an dem Spektakel beteiligt. „Dann müssen wir uns unbedingt beeilen, damit wir die nicht auch noch verpassen“, gab Lourde zu Bedenken. Wenn er wieder nur auf einem verlassenen Platz ankäme, wäre das doch zum Verrückt werden. Doch seine Sorge war unbegründet, denn vom Weiten drangen schon die harmonischen Klänge von Flöten- und Harfenspiel an ihre Ohren. Ehe sich Lourde versah, war Lian am ihm vorbeigelaufen und erklomm nun Stufe für Stufe einer reichlich mit Früchten und Strohballen dekorierten Treppe, von wo aus man schon die ersten tanzenden Menschen und Musikanten erkennen konnte. Lourde hatte alle Mühe ihr zu folgen, denn nach wenigen Stufen rasselte wieder einmal sein Atem vor Anstrengung. Oben angekommen musste er schon keuchend Luft holen. Verdammte Treppenstufen, dachte Lourde, doch obwohl er noch nach Atem rang, wurde er direkt wieder in den Bann des bunten Treibens gezogen, das auf dem Vorplatz hinter der Treppe auf sie wartete. Da waren immer noch viele Mädchen und Jungen in festlichen Kostümen, die zu lauter fröhlicher Musik tanzten. In ihren Händen hielten sie Stäbe, reich verziert mit Bändern und großen Sonnenblumen, die sie zum Takt bewegten. Einige Tänzerinnen klatschten auf Tamburinen und wiederum andere trugen lange wallende Schleier, die sich wie Schlangen hinter ihren tanzenden Leibern bewegten. Schaulustige standen am Bühnenrand und betrachteten das Schauspiel mit großem Interesse, teilweise wurde zum Klang der Melodie mitgesungen. Man reichte Körbe voll von Obst und Gemüse von Mann zu Mann weiter von denen jeder nahm was er kriegen und essen konnte. Lourde war wieder völlig hin und weg, so begeisterte ihn der Anblick der Leute, die wie Ameisen durcheinander liefen, tanzten und rannten und der ganze Platz schien vor Leben zu erbeben. Ganz anders wie die Festlichkeiten, die im Dentrium abgehalten wurden. Dort gab es ein festliches Bankett und getanzt wurde nur auf einer zugewiesenen Tanzfläche. Auch die Art wie man sich hier zur Musik bewegte hatte wenig mit den Tänzen gemein, die er am Hofe lernen musste. Er hasste es zu tanzen, aber hier draußen schien es sogar Spaß machen zu können. Jetzt kam eine Früchteträgerin zu ihnen und lächelte auffordernd. Lian nahm sich einen Apfel und biss herzhaft hinein. Lourde musterte das Obst in dem Korb. Ob es gewaschen war? Er musste daran denken wie viele Leute ihre Finger in dem Korb gehabt hatten und wie viel Schmutz jetzt wohl daran haftete. Noch dazu waren sie ungeschält, umso verwunderter musste er feststellen, dass Lian die Schale einfach mitaß. War das nicht ungesund? „Lourde, Lust zu tanzen?“ fragte Lian mit vollem Mund. „Wir zusammen? Ich weiß nicht…hier in der Öffentlichkeit. Ich glaube nicht, dass ich…“ Lourde war über sein eigenes Gestammel verlegen. Er wollte nicht unhöflich wirken, aber andererseits war es ihm peinlich sich unter die tanzenden Menschen zu mischen. Was wenn er etwas falsch machte? Oder ihn jemand anrempelte? Er wollte sich gerade eine passende Ausrede einfallen lassen um vom Thema abzulenken, als seine Aufmerksamkeit je auf etwas anderes gelenkt wurde und ein kalter Schauer durchlief seinen Rücken. Waren die Gestalten am Rande des Geschehens dort etwa Ritter der Garde? Plötzlich verstummten die Musiker und auch die tanzenden Artisten hielten in ihrer Bewegung inne, als die Soldaten gesammelt auf den Platz traten. Die Menschen stoben zu allen Seiten auseinander um ihnen Platz zu machen, Beschwerderufe wurden auf dem Platz laut. Warum kamen sie um das Fest zu stören? Die Gesichter der Gardisten waren mürrisch verzogen und sie suchten die Menge mit ihren Augen ab. „Lass uns schnell verschwinden, Lian, bitte“, presste Lourde zwischen seinen Lippen hervor, denn es gab mit Sicherheit nur einen Grund warum sie hier sein konnten. Lian reagierte schnell, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich die Treppenstufen hinunter und zurück auf den Marktplatz. Er war sich nicht sicher, ob man ihn noch gesehen hatte, wäre er noch eine Minute länger geblieben wäre es aber bestimmt der Fall gewesen. Lian musste ahnen, dass Lourdes Hektik etwas mit dem Erscheinen der Wachen zu tun hatte. Kaum hatten sie wieder den Marktplatz erreicht, erschienen auch dort Ritter und verkündeten das Ende der Festlichkeiten. Lourde wusste beim besten Willen nicht mehr wohin, doch Lian lotste ihn weiter in die Gassen der nahe liegenden Häuser und tiefer in die Siedlungen des Fuoriums hinein. Am Ende einer Häuserreihe bogen sie ab und Lian führte ihn weiter die Straße runter. Als sie sich endlich in Sicherheit wägten, zog Lourde seine Hand zurück und rang nach Luft. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so viel am Tag gerannt zu sein. „Suchen die etwa nach dir, Lourde?“ Es war zu erwarten gewesen, dass das kommen musste. Lian war sicher neugierig, was diese Flucht zu bedeuten hatte. Lourde schämte sich fast, dass es so niedere Gründe waren, die ihn dazu bewegten die Soldaten zu meiden. Er wusste, wenn sie ihn fanden, würden sie ihn mitnehmen und sein Abenteuer wäre vorbei. So wie beim letzten Mal. Das er Lian in seinen kindischen Aufstand mit hineingezogen hatte, gefiel ihm nicht, aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern. Während er noch darüber nachdachte, wurde ihm eines klar. Sie waren mitten in die Slums des Fuoriums geflüchtet. Hier waren die Straßen verlassen und alles wirkte schmutzig und grau. Die Häuserfronten waren nicht gestrichen und teilweise klafften bloße Löcher anstelle von Fenstern in dem Mauerwerk. Sie boten Einblick in das schäbige Innere der Häuser, das genauso karg und verwahrlost aussah wie die Straßen außerhalb. Lourde hatte sich noch nie an solch einem Ort aufgehalten und es erfüllte ihn mit Abscheu und weckte doch auch seine Neugierde. „Das ist jetzt schwierig zu erklären, aber im Moment dürfen mich die Ritter hier auf keinen Fall finden. Lian, geht jetzt besser, bevor Ihr auch noch in Schwierigkeiten geratet.“ „Achwas, ist doch nichts Neues, dass die für Unruhe sorgen. Wenn du willst kannst du erstmal bei mir untertauchen. Heute ist Mafuus Fest, da werden die Ritter bestimmt schnell wieder verschwinden und die Leute in Ruhe feiern lassen.“ Tatsächlich schockierte ihn das freundlich gemeinte Angebot. Er hatte Lian jetzt schon einiges Vertrauen entgegen gebracht, aber der Gedanke in ihre Wohnung, die Wohnung eines Fuoriers, mitzukommen, war unmöglich. Doch wenn er es nicht tat, wohin sollte er dann gehen? Alternativ blieb ihm nur die Wahl entweder alleine durch das Fuorium zu irren oder sich auf dem Fest von den Rittern aufgreifen zu lassen. Und er würde es noch nicht ertragen, jetzt schon zurückzukehren, um die neu errungene Freiheit gegen die Ödnis seines Zimmers einzutauschen. Lian musste unter den Fuoriern sicher eine Ausnahme darstellen, so jemand wohnte nicht in einem schäbigen, runtergekommenen Loch, also beschloss Lourde das Wagnis einzugehen. Er hatte sich fest vorgenommen, dem gesamten Dentrium noch länger böse zu sein und da lag es nahe, die Zeit tief im Fuorium zu verbringen wo ihn niemand finden würde. Er wusste, früher oder später musste er zurückkehren aber dann zog er zumindest das „Später“ vor. „A…also gut. Vielen Dank.“ Ein paar Häuserreihen weiter führte Lian ihn zu einer schlichten, grauen Behausung. Auch hier lag der triste Schleier des Fuoriums über allem was Lourde sehen konnte. Die Fassade des Hauses war alt und bröckelte, das Holz der Eingangstür war am Verrotten und es quietschte erbärmlich als Lian sie öffnete. Der Eingangsbereich war bis auf ein paar Blumen in einer Vase schmucklos und nur ein großer Holztisch und zwei alte Stühle bildeten das Herzstück des Raumes, den Lourde plötzlich als Wohnzimmer identifizierte. So klein wie es hier war, hatte er gedacht, es wäre vielleicht ein Vorflur, doch das konnte niemals mit der bescheidenen Größe des Hauses übereinstimmen, wie er es von außen gesehen hatte. Am Ende des schmalen Raumes stand noch eine kleine Küchenzeile und daneben war eine Nische, in der sich eine hölzerne Truhe und zwei ausgelegene Matratzen mit ein paar Decken befanden. „Sicher bist du besseres gewohnt, aber hier kann ich dir leider nicht viel bieten.“, sagte Lian. Lourde ersparte sich einen Kommentar. Es war ihm bewusst, dass sie ihm den Ekel vom Gesicht ablesen konnte. Er befand sich nun in einer Wohnung der Unterschicht und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)