Revenge of Rakazel von Enisocs ================================================================================ Kapitel 9: Auf der Rakazel -------------------------- Die Feder wurde in das Tintenfass getaucht und dann über das Papier geführt. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, schwarze Tinte die sich in die faserige Oberfläche des Blattes saugte und dort Zeilen bildete. Die Striche weich und ordentlich, die Bögen mit tadelloser Handschrift verfasst. Lourde führte die Feder geschickt in der Hand, während er sich auf die Worte in seinem Kopf konzentrierte. Dies war sein erster Versuch seine Gedanken in einem Tagebuch zusammenzufassen. Eigentlich war er kein Freund solcher Andenken vergangener Tage. Er hatte es immer für kitschig gehalten und wunderte sich, dass er jetzt, wo er 17 Jahre zählte, plötzlich den Drang verspürte seine Erlebnisse festzuhalten. Vielleicht war es der Wunsch, sich daran zu erinnern, was ihn glücklich machte oder was ihn beschäftigt hielt. Er konnte es nicht genau deuten. Zurzeit fühlte er sich nicht besonders gut in seiner Haut. Irgendetwas stimmte ihn unruhig und besorgte ihn auf unerklärliche Weise. Also schrieb er einen Beweis nieder. Ja, der Beweis dafür, dass alles in Ordnung war und es keinen Grund zum Zweifeln gab. Dass er gern den wunderschönen Klängen der Harfen lauschte, die die Mädchen in den Gärten spielten und wie sehr ihn der Unterricht beschäftigt hielt. Er befand sich in seinem Zimmer. Vor ihm sein Schreibtisch aus geschliffenem, poliertem Edelholz, von dem aus er einen herrlichen Blick durch das großzügig geschnittene Fenster hinaus auf den ordentlich angelegten Garten hatte. Zu beiden Seiten der weit geöffneten Fensterflügel wogen sich durchsichtige Vorhänge aus leichten Stoffen im herbstlichen Wind. Lourde wurde unbehaglich zumute, als er das schmale Fensterbrett betrachtete, das kaum mehr Platz als eine Fußbreite bot. Ein schauerliches Gefühl des Fallens ließ ihn zusammenzucken, ehe er sich wieder seiner Tätigkeit widmete. Neben dem Stapel von weißem Papier, das einmal ein Tagebuch werden sollte, befanden sich ebenfalls diverse andere Schreibutensilien wie Federhalter, farbige Tinte und Kreide auf dem Tisch. Daneben, am Tischrand, Bücher mit verschiedensten, farbigen Einbänden aus Stoff oder Leder, deren säuberlich beschrifteten Titel über ihre Lehren Auskunft gaben: Runenzeichen, Philosophie, Mathematik und Völkerkunde. Rhetorik, Ethik, Etikette, Religion, Diplomatie, gemischt mit den Anleitungen zu Fremd- und Eigensprachgebrauch, höfischen Tänzen und Fechten. Eigentlich sollte er sich randvoll fühlen, bei all dem was man ihm täglich beibrachte, aber beim Anblick seines unfertigen Tagebuches fühlte er sich selber wie ein halbleeres Blatt Papier. Er konnte in den Zeilen keine Genugtuung finden. Ein Beweis, dass alles in Ordnung war? Das alles wie immer war? Wie jeder Tag war? Innerlich keimte der Wunsch in ihm auf, das Papier schnellstmöglich zu zerreißen, nur schnell fort aus seinem Blick und seinen Gedanken. Etwas daran ärgerte ihn, doch er konnte es nicht in Worte fassen. Er stellte sich vor, wie der Stapel Papier vor ihm aussehen mochte, wenn alle Seiten beschriftet wären. Randvoll gefüllt mit leerem Inhalt, der sich von Tag zu Tag zu wiederholen anfing und nichts als eine Verschwendung von Zeit und Tinte darstellte. Eine quälende Erinnerung daran, dass das Selbe was er heute getan hatte und was er die letzten Tage getan hatte, das Selbe sein würde, wie das, was er morgen und die nächste Zeit tun würde. Jetzt aber war es erst mal fort, im Papierkorb verschwunden und brachte das nächste unbeschriebene Blatt Papier zum Vorschein. Weiß und leer sagte es nichts aus und bewirkte trotzdem, dass sich sein Magen verkrampfte. Vielleicht war er aber auch nur krank? Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, denn er wollte ja unbedingt auf Mafuus Fest gehen. Er würde mitten in dem bunten Rummel aus Menschen und Festtagsschmuck stehen und eine Menge erleben. Oh ja, er stand schon dort und konnte den würzigen Duft von ausgelegtem Heu und die süßen Früchte der Verkaufsstände riechen. Ein in bunten Farben schillernder Festzug wurde beim Vorbeifahren von Feuerwerksfontänen begleitet, die laut surrend in Lourdes Ohren widerhallten. Alles um ihn herum schien sich zu drehen und die tanzenden Schönheiten trieben ihn an sich ihnen anzuschließen. Schneller und schneller, bis ihm regelrecht schlecht wurde und er den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubte. Ihm wurde schwindelig und das dröhnende Feuerwerk bohrte sich tiefer in seinen Verstand, bis es ihm Kopfschmerzen bereitete. Er konnte nicht aufhören sich zu drehen, konnte nicht schnell genug wegrennen, geschweige denn sich überhaupt bewegen. Zwei unheimliche Gestalten drohten immer näher zu kommen. Der eine Verfolger hatte stechendblaue Augen, den anderen konnte er unter seiner düsteren Maskierung nicht erkennen. Ein Schnabel ragte aus der Maske auf seinem Gesicht. Nein, es WAR sein Gesicht. Er riss den Schnabel auf, als wolle er Lourde verschlingen. Und plötzlich erinnerte er sich. Er war bereits auf dem Fest gewesen und er hatte sich im Fuorium befunden. Dort war er geflohen vor dem maskierten Mann und seinem Gehilfen und…und dann? Sein Kopf fühlte sich an wie ein altes, knarrendes Mühlwerk. Lourde wurde allmählich gewahr, dass er geträumt haben musste, denn als sich der trügerische Schleier von seinen Augen löste, musste er feststellen, dass er sich nicht in seinem Zimmer und schon gar nicht auf einem Fest befand. Er lag seinem Urteilsvermögen nach auf einem Holzboden in unvertrauter Umgebung. Das Dröhnen und Surren, welches er für die Explosionen des Feuerwerks gehalten hatte, war nicht verstummt, sondern schien von überall her zu kommen und fachte seine Kopfschmerzen weiter an. Lourde schluckte, doch sein Hals war trocken und der Geschmack in seinem Mund schal. Bei den Göttern, der maskierte Mann musste ihn entführt haben. Er versuchte sich zu erinnern, doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nichts von dem, was nach seiner Flucht auf dem Müllplatz geschehen war, ins Gedächtnis rufen. Da klaffte ein riesiges, dunkles Loch in seinen Erinnerungen. Wahrscheinlich hatten ihn seine Entführer irgendwo ins Fuorium verschleppt. Wenn seine Theorie stimmte, war es nur eine Frage der Zeit und die ohnehin schon alarmierten Ritter der Garde würden ihn bald ausmachen und wieder mitnehmen. Er musste nur seine Ruhe und Haltung bewahren und abwarten. Zuerst einmal galt es sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Sein Körper fühlte sich steif an und es machte ihm Mühe sich zu bewegen. Die Hände hatten sie ihm vorne mit einem Seil zusammengebunden und er konnte noch so daran zerren, es gelang ihm nicht sich davon zu befreien. Die rauen Fasern schnitten ihm nur fester in die Haut und hinterließen rote, schmerzende Streifen, also gab er es frustriert auf. Ansonsten konnte er keine Anzeichen von Gewalt feststellen. Den Göttern sei Dank, er schien zumindest unversehrt, aber er wollte nicht hier liegen bleiben und darauf warten, dass einer der Entführer kam, um diesen Zustand doch noch zu ändern. Dann fielen ihm wieder die beiden Geschwister ein. Hoffentlich war Lian nichts zugestoßen. Er hatte sich töricht verhalten und sogar zugelassen, dass ein unschuldiges Mädchen mit hinein gezogen wurde. Jetzt strafte Mafuu ihn dafür. Zu Recht. Lourde hatte seine Lektion gelernt. Er wollte nie wieder einem Menschen mit seinem Starrsinn Ärger einhandeln und wenn er erst einmal wieder Zuhause im Dentrium war, würde es in Zukunft keine Ausreißerpläne mehr geben. Aber noch war er nicht Zuhause. Er würde vorerst nicht erfahren, ob es Lian gut ging. Nicht, solange er hier festsaß. Möglicherweise gab es ja einen Weg seinen Entführern eigenständig zu entkommen. Den Rittern war er immerhin auch zweimal geschickt entwischt. Er ließ es auf einen Versuch ankommen und setzte sich vorsichtig auf. Beim Abstützen spürte er wie der Boden unter seinen Händen kaum merklich vibrierte und Lourde überkamen Zweifel, in was für ein merkwürdiges Verlies man ihn verschleppt hatte. Träge blinzelte er sich die letzten, trüben Schleier der Ohnmacht aus den Augen und musterte sein Umfeld. Die gegenüberliegende Wand war aus einfachem Holz und machte einen schlichten ersten Eindruck. Über ihm ragten undefinierbare, mit Ventilen bestückte Rohre aus den Wänden, die sich unter der Decke entlang schlängelten und in der nächsten Wand wieder verschwanden. Über eines der Rohre waren fleckig aussehende Laken geworfen worden und darunter in der Ecke lagen einige verschnürte Säcke. Lourde vermutete, dass dieser Ort eine Art Fabrik oder ähnliches war, anders konnte er sich das mechanische, gedämpfte Surren und den öligen Geruch nicht erklären. Über sich erblickte er ein Fenster, welches spärliches Licht in den Raum einließ. Doch auch wenn Lourde es versuchen wollte, das Fenster war zu klein, um hindurchzuschlüpfen, außerdem ungewöhnlich rund geformt und ohne Griff. Er konnte an dem zartrosafarbenen Licht erkennen, dass es vermutlich bereits morgens war und er die Nacht über ohnmächtig gewesen sein musste. Plötzlich mischte sich ein anderer Laut in das Surren ein. Dieser klang nicht mechanisch, eher weich und wohlklingend, so wie das Summen eines Menschen. Lourde fuhr erschrocken zusammen und suchte nach dem Ursprung der fremden Stimme. Gut sechs Schritt von ihm entfernt, verborgen in einer schattigen Ecke, lehnte ein Mann zwischen den Säcken an der Wand und summte jene Melodie. Mit halb offenem Mund starrte Lourde ihn an. Er war der Annahme aufgesessen gewesen alleine zu sein und hatte dabei nicht bemerkt, dass sich noch jemand mit ihm im selben Raum befand. Vielleicht war es der hinterhältige Kerl, dieser Leander, von dem er sich zu seinem Entführer hatte lotsen lassen, wie eine dumme, naive Göre. Doch obwohl er sich fürchtete, überwog die Neugier und so versuchte Lourde mehr zu erkennen. Der Fremde saß krumm, mit nacktem, nach vorn gebeugtem Oberkörper auf dem Boden, die Hände auf den Rücken gefesselt und die Beine in einem lockeren Schneidersitz. Sein Gesicht war zur Hälfte von einem Gewirr langer, dunkler Haare verdeckt, die in dieser Position fast bis an seine Knie reichten. Wie er so eingesunken da hockte, wirkte er schmächtig und ausgemergelt. Lourde konnte weder eine Bewegung ausmachen, noch stellte der Mann das Summen ein. Schweigend verharrte er in Erwartung einer Reaktion, doch die blieb aus. Der Mann schien so vertieft in seine Melodie, dass er Lourdes misstrauischen Blick überhaupt nicht bemerkte. Die sanfte Stimme hatte einen angenehmen, melancholischen Klang und wahrscheinlich half ihm das Summen, um sich von seiner misslichen Lage abzulenken. Auch auf Lourde hatte es eine beruhigende Wirkung. Wer immer das war, Lourde glaubte nicht, dass ihm Gefahr von diesem Mann drohte. Leander hätte man sicher nicht gefesselt hier zurückgelassen und wenn doch, dann war er nun ein Gefangener, genau wie er. Sie saßen im selben Boot. Vielleicht wusste der Fremde sogar, wohin man sie verschleppt hatte und sie konnten gemeinsam einen Plan zur Flucht austüfteln. „Ihr da“, startete er einen zaghaften ersten Versuch die Aufmerksamkeit des anderen auf sich zu ziehen, war sich im selben Moment aber unsicher, ob der Mann ihn überhaupt hören konnte. Möglicherweise war er taub, denn er reagierte immer noch nicht. „Entschuldigung?“ Wieder nichts. Kurzerhand stand Lourde auf, um sich dem Mann zu nähern, als die Tür zu seiner Linken aufflog. Lourde hielt den Atem an und starrte entsetzt in Leanders rattenhaftes Gesicht. „Na sieh mal einer an. Bist ja endlich aufgewacht.“ Auf seinen Händen balancierte Leander ein Tablett mit einem Krug voll Wasser nebst einem schlichten Tonbecher und einer Schüssel mit Kartoffelsuppe, das er auf einem kleinen Tisch an der Wand abstellte. „Hier, ich hab dir was zum Futtern mitgebracht. Hast bestimmt ordentlich Kohldampf. Dann hau mal rein.“ Für einen Moment war Lourde bar aller Worte, dann jedoch packte ihn eine innerliche Wut auf diesen Mistkerl, die jede Scham überwand. Er wollte Antworten. „Ihr…. Ihr seid es! Ich verlange sofort zu erfahren, warum ich hier festgehalten werde.“ Leander lächelte unbeeindruckt, während er sich von dem Tisch zurückzog und mit dem Rücken gegen die Tür drückte, um diese hinter sich zurück ins Schloss zu schieben. „Ganz ruhig. Ist nichts Persönliches, aber du bringst mir nun mal ne Menge Kohle. Das verstehst du doch sicher, oder?“ „Nein, ich verstehe gar nichts. Lasst mich sofort mit den Verantwortlichen sprechen“, protestierte Lourde. Leander antwortete nur mit einem amüsierten Achselzucken. „Wie Ihr wollt! Ihr wisst ja, die Ritter sind bereits auf der Suche nach mir. Früher oder später werden sie mich hier finden und dann geht es Euch Verbrechern an den Kra…“ Noch bevor Lourde zu Ende gesprochen hatte, marschierte Leander gelassen auf ihn zu und schnappte sich mit einer harschen Handbewegung den Kragen seiner Tunika, um ihn heran zu ziehen. Lourde erstarrte, ob dieser unerwarteten Handlung. „Und da erstarben die kühnen Worte in seinem Mund auch schon wieder.“ Ein hämisches Grinsen verriet, dass der Bastard ihn nur foppte. Doch es war ihm gelungen, Lourde einen ordentlichen Schreck einzujagen, dessen er sich schämte, versuchte seine Verlegenheit jedoch mit einem bösen Starren zu überspielen. „Die Ritter kommen also, um dich zu holen, ja?“, höhnte Leander. „Ich bin gespannt wie sie das anstellen wollen. Dürfte nämlich schwierig werden, dich hier abzuholen.“ Während Lourde versuchte dem stechenden Blick weiter Stand zu halten, fiel ihm plötzlich auf, dass der gefesselte Mann immer noch summte. Er hatte ungerührt von der Situation eine heitere Melodie angestimmt, die dem Ganzen eine absurde Komik verlieh. Leander schob den Kopf an Lourde vorbei und herrschte den Mann mit einem genervten Tonfall an: „Du dahinten, gib endlich Ruhe oder ich stopf dir das Maul.“ Die Melodie verstummte abrupt. „Na herzlichen Dank auch.“ Leander blickte wieder zu Lourde zurück. „Und für dich gilt das gleiche, Knirps. Glaub bloß nicht, dass mir das Ganze hier Spaß macht. Also halten wir jetzt einfach mal alle eine Runde die Klappe und machen das Beste draus.“ Mit diesen Worten ließ Leander Lourdes Kragen los und ging zurück zur Tür. „Wohin geht Ihr?“, rief Lourde ihm nach. „Was hab ich grad gesagt?“ „Aber!“ „Nichts aber. Kannst froh sein, dass es dir nicht so ergeht, wie deinem Kumpel da.“ Er deutete auf den Mann, der traurig an der Wand kauerte. „Alles klar? Dann bis später.“ Lourde blieb nicht die Zeit noch irgendetwas zu erwidern, da knallte Leander die Tür auch schon wieder hinter sich zu, schloss ab und ließ ihn mit all den unbeantworteten Fragen zurück. Mutlos sackten seine Schultern herab. Was hatten die bloß mit ihm vor? „Ganz schön mieser Geselle, was?“ Überrascht blickte sich Lourde um. Der fremde Mann drehte ihm den Kopf zu. „Wie geht’s dir, Junge? Du hast solange geschlafen, dass ich schon dachte, sie hätten dich umgebracht.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Aber hab bisher noch keine Leiche gesehen, die schnarcht.“ Lourdes Bauch kribbelte vor Aufregung, endlich die Aufmerksamkeit seines Leidensgenossen gewonnen zu haben und Leanders Auftritt geriet wieder in den Hintergrund. „Ich denke, es geht mir gut“, antwortete er wahrheitsgemäß, nachdem er erneut einen kraftlosen Versuch daran verschwendete, seine Handfesseln zu lösen. Wie erwartet ohne Erfolg. „Wie steht es um Euch?“ Jetzt, da der Mann den Oberkörper aufrichtete, streiften schmale Lichtfetzen seine Haut und ließen Lourde ein paar genauere Züge erkennen. Er sah gar nicht so schlimm ausgemergelt aus, wie Lourde zunächst angenommen hatte, nur etwas müde und zerzaust. Auf seinem gewitzten Gesicht zeigten sich erste Anzeichen des Alters. Im Schatten wirkte es scharf geschnitten und verlieh ihm zusammen mit seiner langen Nase und den schmalen, schräg gestellten Augen das Aussehen eines listigen Fuchses. Er trug eine dunkelgraue, eng anliegende Hose und abgenutzte Stiefel aus braunem Leder. Sein unbekleideter Oberkörper enthüllte einen dünnen, schlaksigen Leib und drahtige Arme, ebenso bemerkte Lourde die Vielzahl verschiedener Narben, die über seine Brust, an seiner Schulter und den Armen verliefen. „Bei den Göttern, seid Ihr verletzt?“, keuchte er und eilte näher an ihn heran. „Keine Sorge, bei mir ist alles in Ordnung. Den Umständen entsprechend jedenfalls“, entgegnete der Mann, dann verlagerte er sein Gewicht und streckte die Beine durch, um seine Muskeln zu entspannen. „Aber ich gebe dir einen guten Ratschlag, mach die Brüder besser nicht zornig. Ich denke, ich muss dir nicht erst noch erklären warum?“ „Aber wer sind diese Leute? Und warum haben sie uns hierher gebracht?“ Lourde fühlte wie die Fragen nur so auf seiner Zunge brannten, zu viele um sie alle auf einmal zu stellen. „Was für ein Ort ist das hier überhaupt?“ „Sachte, sachte. Eins nach dem anderen. Also lass mal sehn…“ Der Mann wandte den Kopf hinauf und ließ den Blick prüfend an der Decke entlang laufen. „Das hier scheint mir eine Art Lagerraum zu sein.“ Nicht gerade die Antwort, die Lourde sich erhofft hatte. Wenn der Mann nicht mehr wusste, als er selber, war er vermutlich gar keine so große Hilfe. Man musste ihm die Gedanken wohl vom Gesicht ablesen können, denn der Mann setzte eine versöhnliche Miene auf. „Es tut mir wirklich leid, dir das zu sagen, aber wir wurden von einer Bande Piraten geschnappt. Und eine ziemlich üble noch dazu“, sagte er. „Piraten? Heißt das, dieser Kerl von eben ist ein Pirat?“ Sofort wichen seine Gedanken weiter, von Leander zu dem maskierten Unbekannten, dem er auf der Müllhalde begegnet war. War er auch in der Nähe? „Der? Achwas. Das ist irgend so ein Lakai, der sich von den Piraten schmieren gelassen hat. Und jetzt spielt er das Kammermädchen für uns. Geschieht ihm ganz recht.“ „Ihr kennt also die Leute, die uns entführt haben?“ fragte Lourde. Misstrauen stieg in ihm auf. Vielleicht hatte die Hoffnung auf einen Verbündeten seine Wahrnehmung getrübt. „Mehr oder weniger. Ich sitze hier schon eine gefühlte Ewigkeit, da unterhält man sich schon mal miteinander. Nun, um ehrlich zu sein rede meistens ich, die Jungs sind ein bisschen mundfaul was das angeht. Aber wehe du kommst ihnen blöd, dann fletschen sie die Zähne“, plauderte der Mann munter aus dem Nähkästen, in der erkennbaren Absicht, ihn ein wenig aufzumuntern. Oder vielleicht versuchte er auch nur, sich selber aufzumuntern, denn sein Blick senkte sich allmählich wieder zu Boden. Wenn seine Worte der Wahrheit entsprachen, dann musste das Fuchsgesicht wirklich schon länger der Gefangene widerlicher Piraten sein und Lourde hätte ihn um ein Haar verdächtigt, selber dazu zu gehören. Er schämte sich und sein Misstrauen wandelte sich zu Mitleid für den Mann. Ob die vielen Narben auf seiner Haut Zeugnis davon waren, wie es aussah, wenn diese Piraten die “Zähne fletschten“? Jetzt war es an ihm aufmunternde Worte zu finden. „Glaubt mir, Leander hat Unrecht. Die Ritter des Dentriums werden mich finden. Und dann werden sie den Halunken das Handwerk legen. Ich weiß, dass es so ist.“ Zumindest war es bisher immer so, fügte er in Gedanken hinzu. Die Mundwinkel des Mannes zuckten mutlos. „Ich würd dir ja gern glauben, aber wie sollen die Ritter uns hier oben finden? Es sei denn, sie haben inzwischen gelernt wie man fliegt.“ „Fliegen?!“ Lourde sah den Mann verständnislos an, doch anstelle einer Erklärung verwies der nur mit einer knappen Kopfbewegung gen Fenster. „Sieh selbst, Junge.“ Wie geheißen machte Lourde kehrt, um einen neugierigen Blick durch das Fenster zu werfen. Er musste sich strecken, um überhaupt etwas durch das kleine Guckloch zu sehen…und konnte plötzlich seinen Augen nicht trauen. Keuchend strauchelte er ein paar Schritte vor dem Fenster zurück, als hätte es ihn böswillig zurückgestoßen. Mit offenen Mund und weiten Augen starrte er wieder zurück. Der Mann zuckte ungerührt mit den Schultern. Lourde atmete durch, ehe er sich dem Fenster wieder nähern konnte. Was er da draußen sah, war so unwirklich, so verrückt, dass er es einfach nicht glauben konnte. Von hier aus konnte er nur den klaren Himmel sehen, so hell und blau, dass es ihn in die Augen stach. Inmitten dieses endlosen Himmels trieben weiße Wolkengebilde gleich einer gemächlich trottenden Schafsherde, genau auf seiner Augenhöhe. Lourde hatte noch nie Wolken gesehen, die so zum Greifen nahe schienen, dass eine ausgestreckte Hand aus dem Fenster genügt hätte, um den weichen Leib zu berühren. Tiefer konnte Lourde eine nicht enden wollende Landschaft aus Wald und Feldern erkennen, die sich unter ihnen erstreckte. Mit einem ehrfürchtigen Staunen überflog sein Blick die kleinen, in herbstlichen Farben getauchten Feldabschnitte, die Kästchen an Kästchen nebeneinander lagen und in seinem Kopf das Bild einer Flickendecke entstehen ließen. Alles erweckte den unrealistischen Schein einer Modellwelt, so detailreich und winzig wie das Miniaturabbild Grisminas, welches es im Dentrium zu bewundern gab. Doch von der Stadt, wie er sie kannte, war keine Spur, egal wie angestrengt er in die Ferne starrte. Obwohl ihn allmählich ein ungutes Gefühl beschlich, konnte er den gefesselten Blick nicht von dem dargebotenen Bild abwenden. Dort unten waren Pferdekarren, winzig klein wie Ameisen, zu erkennen, die sich auf einem Adernetz aus erdigen Pfaden ihren Weg bahnten. Vermutlich gehörten sie zu den Bauernhäusern, die vereinzelt in der Landschaft standen. Widerstrebend löste Lourde sich wieder vom Fenster und schaute ungläubig zurück zu seinem Zimmergenossen. Dieser beobachtete ihn immer noch und hob verwundert die Brauen. „Wenn ich deine Reaktion richtig deute, dann hattest du also wirklich keine Ahnung davon“, sagte er. Mit vor Erstaunen geweiteten Augen versuchte Lourde wieder zu Worten zu kommen. Er hatte nicht nur keine Ahnung gehabt, er hatte dergleichen noch niemals zuvor gesehen. „Das – ist unglaublich! Habt Ihr das gesehen?“ Seine Zunge klebte beim Reden am Gaumen. „Das kann doch nur eine Täuschung sein, nie und nimmer können wir uns so hoch in der Luft befinden!“ Der Mann rang sich ein schiefes Lächeln ab. “Natürlich wusstest du es nicht. Woher auch? Du warst ohnmächtig, als sie dich auf das Schiff gebracht haben.“ „Ihr wollt mir nicht auch noch erzählen, wir wären auf einer Art „Schiff“? Der Mann nickte. Obwohl der Raum sich kaum mehr bewegte, als das leichte Vibrieren, wurde Lourde bei dem puren Gedanken an die Höhe schwindelig. „Das ist nicht möglich!“ „Doch, ist es. Sag bloß, du hast noch nie etwas von Kapitän Balbaris’ fantastischem Flugschiff gehört?“ Lourde schüttelte benommen den Kopf. „Sagt dir denn „die Krähe“ etwas?“ Bei Erwähnung dieses Namens durchfuhr es ihn wie ein Blitzschlag. „Die Rakazel…“, flüsterte Lourde ehrfürchtig, verstand endlich worauf der Mann hinauswollte. „Aha, kaum hört jemand von der Krähe, fallen die Groschen. Aber nicht bei Kapitän Balbaris. Was lernt man bei Euch im Dentrium eigentlich?“ Der Mann lehnte sich mit einem tiefen Seufzen zurück an die Wand, so dass die herumliegenden Säcke Lourdes Sicht auf ihn wieder einschränkten. „Aber die Rakazel wurden bezwungen!“, rief Lourde sich ins Gedächtnis. „Wie bei den Göttern kann das sein?“ Ein kalter Schauer rieselte über die angespannten Schultern seinen Rücken hinab. Es gab nur eine Erklärung. „Es stimmt also wirklich – das Schiff IST verflucht. Die Krähe steht im Pakt mit einem Dämon, der ihn unsterblich macht.“ „Ja, ja“, hörte er den Mann zwischen den Säcken murmeln. Im Gegensatz zu Lourde wirkte er immer noch gänzlich gefasst, so als wäre ihm ihre missliche Lage gar nicht bewusst. Oder vollkommen egal. „Die Krähe befehligt ein Heer aus brutalen und unmenschlichen Piraten, von denen jeder so groß und stark sein soll wie ein Bär. Wenn du einem von denen begegnet wärst, sähst du sicher nicht mehr so ordentlich gepudert aus.“ Als er sich wieder zu Lourde vorbeugte, war sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen und er senkte bedeutungsvoll die Stimme: „Und der Kapitän soll anstelle eines normalen Hauptes einen schrecklichen Krähenkopf haben, der einem beim puren Anblick in den Wahnsinn treibt.“ Er machte eine Pause und räusperte sich kurz. “So munkelt man jedenfalls.“ Wie von alleine sackte Lourdes Unterkiefer ein gutes Stück tiefer. Sein Albtraum sollte sich bewahrheiten. Er befand sich tatsächlich in der Gewalt eines verfluchten Piraten. Der immer größer werdende Kloß in seinem Hals ließ seine Stimme zu einem Flüstern schwinden. Und wer wusste schon, ob die Wände keine Ohren hatten. „Und was machen wir jetzt?“ „Nichts.“ „Nichts?!“ Aus dem ernsten Gesicht des Mannes wurde ein entwaffnendes Lächeln. „Nur Spaß, Junge. Ich ziehe dich bloß ein bisschen auf.“ Er stieß Lourde aufmunternd mit der Spitze seines Stiefels an. „Lass den Kopf nicht hängen, solange er noch auf deinem Hals sitzt. Wie wärs, setz dich erstmal zu mir und erzähl mir, was passiert ist. Solange wir hier in der Luft sind, können wir nichts gegen sie ausrichten.“ Spaß? Das nannte er Spaß? Lourde konnte daran keinen Funken Humor entdecken. Hoffentlich hatte der Mann nicht bemerkt, dass er seiner Gruselgeschichte komplett auf den Leim gegangen war. Nichtsdestotrotz hatte die Situation eine unglaubliche Wendung genommen und er war froh über seine Gesellschaft. Es machte es zwar nicht besser, wenn sie hier zusammen festsaßen, aber zumindest erträglicher. Also setzte er sich an dessen Seite. „Erlaubt Ihr mir dann Euren Namen zu erfahren?“ „Johann“, sagte der Mann offen heraus. „Ich würde dir ja gerne die Hand geben, aber wie du siehst…“ Er wackelte schelmisch mit den Fingern auf seinem Rücken. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Lourde Deviresh. Es freut mich, auch wenn wir uns unter widrigen Umständen kennen lernen müssen, Herr Johann.“ „Nichts für ungut“, erwiderte Johann unbekümmert. Er wollte ihm gerne helfen, doch leider waren Lourde die helfenden Hände genauso gebunden. Zu allem Überfluss rebellierte nun auch noch seine Armmuskulatur gegen die unangenehme Haltung. Trotzdem machte es ihm in Johanns Gegenwart nicht mehr so viel aus. Er schenkte ihm ein wenig Zuversicht. Statt eines verschmitzten Grinsens, zu dem seine Lippen wohl gern aufgelegt waren, zeigte sich jetzt ein freundliches Lächeln auf Johanns Gesicht und kleine Lachfältchen bildeten sich an seinen Augen. Aus der Nähe konnte Lourde sehen, dass sie von einem dunklen Grau waren. Ein warmes, sanftes Grau. Und In seinem Blick lag eine ungewohnte Herzlichkeit, die nichts als aufrichtiges Interesse bekundete. „Du kommst also aus dem Dentrium. Hab ich mir gleich gedacht, so wie du aussiehst. Was mich allerdings wundert, kleine Fische wie Geiselnahme und Lösegeldforderungen passen so gar nicht zum Stil der Rakazel. Bevor die sich den Ärger mit `ner Geisel machen würden, brechen die vermutlich eher durchs Dach des Dentriums und holen sich das Gold selber da raus.“ „Bei Mafuu. Nach allem was ich über die Rakazel gehört habe, kann ich mir das sehr gut vorstellen.“ Eine Weile waren die Rakazel-Piraten in aller Munde gewesen, es war kein Tag vergangen an dem im Dentrium nicht über sie gesprochen worden war und die Angst hatte sich auch unter den restlichen Bürgern von Grismina verbreitet. Meistens hatten seine Vormünder furchtsam vom Thema abgelenkt, wenn er Fragen gestellt hatte, aber manchmal hatte Lourde mitbekommen, wenn sich die Adligen entrüstet darüber unterhalten hatten, dass die Piraten wieder mal Kutschen überfallen und die wehrlosen Fahrer darin grausam ermordet hatten. Oder sie hatten andere unheimliche Dinge erzählt, zum Beispiel, dass sie wie lautlose Schatten aus der Luft angriffen und ihr Anführer, die Krähe, solle über unmenschliche Fähigkeiten verfügen. Oft hatte Lourde mit pochendem Herzen wach im Bett gelegen und nach jedem Geräusch in seinem Zimmer gelauscht, wenn die schaurigen Geschichten des Nachts auf sein Bett gekrochen gekommen waren und seine Fantasie angefangen hatte ihm Streiche zu spielen. Was für frohe Kunde, als vor zwei Jahren die Rittergarde zusammen mit Magus Jelester ihren Sieg über die Piraten verkündet hatten. Endlich konnten die Menschen in Grismina wieder aufatmen und in Ruhe und ohne Angst vor Überfällen leben. Bis heute…? Er hörte Johanns Stimme: „Ich frage mich wirklich, was sie von einem jungen Burschen wie dir wollen. Wie ein weit gereister Abenteurer, der einen Haufen Schätze angehäuft hat, die so ein Piratenherz höher schlagen lassen würde, siehst du mir jedenfalls nicht aus.“ Lourde schluckte. „Ich denke sie haben es auch auf etwas anderes abgesehen“, murmelte er plötzlich nachdenklich. Was den Grund seiner Entführung betraf, regte sich in ihm bereits ein leiser Verdacht, aber er entschied sich dagegen, ihn Johann gegenüber zu äußern. Genau genommen war es nicht das erste Mal, dass man versuchte ihn zu entführen. Als er noch jünger gewesen war, hatte sich ein gieriger Kammerdiener an Lourdes Gabe bereichern wollen und ihn deswegen versucht zu kidnappen. Allerdings war er nicht weit gekommen und die Ritter konnten die Entführung unterbinden und den Mann in Gewahrsam nehmen, noch bevor er seine Geisel aus dem Dentrium bringen konnte. Nur wie war es möglich, dass die Rakazel davon wussten? Johann legte den Kopf schief und einige dünne Strähnen seines kastanienbraunen Haares rutschten über seine Schulter. „Klingt ja, als wär’ das gar keine so große Überraschung für dich?“ „Nun…vielleicht. Aber das ist eine verrückte Geschichte. Das würdet Ihr mir nicht glauben.“ „Verrückt? Ich habe eine Menge verrückter Dinge gehört und gesehen, würde mich schon wundern, wenn du da mithalten kannst.“ „Seid Ihr denn ein Abenteurer, Herr Johann?“, fragte Lourde mit einem Blick auf Johanns Oberarm, über den sich eine helle Narbe gut sichtbar entlang schlängelte, die ihm sicher einst mit einer scharfen Waffe zugefügt worden war. Johanns Lippen formten die leichte Andeutung eines Lächelns. „Sagen wir, ich bin ein guter Zuhörer. Die Leute plaudern viel, wenn der Tag lang ist. Verbring den Tag in einer Bar voller Seebären und man schnappt früher oder später das ein oder andere interessante Gespräch auf.“ „Und Ihr glaubt diesen betrunkenen Männern, die in den Bars herumlungern?“ „Ich bin clever genug nicht jedem zu glauben, der mir das Blaue vom Himmel lügt. Das tun einige zu gern. Aber nicht hinter jeder unglaublichen Geschichte verbirgt sich bloß im Eifer der Trunkenheit zusammen gesponnener Blödsinn. Einige von ihnen sind wahr, ich habe es selbst erlebt.“ „Selbst wenn es die Wahrheit ist, was haben solche Leute denn schon zu erzählen?“, fragte Lourde skeptisch. „Willst du es wissen, um dir selbst eine Meinung zu bilden?“ „Na gut. Warum eigentlich nicht?“ Immerhin war er froh, das Thema damit von sich selbst abzulenken. Johann benutze seine Beine, um sich zu ihm herumzudrehen, damit war er Lourde genau zugewandt. „Also, gibt es etwas, dass dich besonders interessiert?“ „Ich weiß nicht“, druckste Lourde herum. Er wollte sich nicht vor Johann blamieren, wenn er ihn nach etwas weniger Spektakulären fragte. Daher sagte er: „Erzählt mir einfach das Unglaublichste, von dem Ihr bisher gehört habt.“ „Das Unglaublichste...“ Johann schien einen Moment zu überlegen, dann hellte sich sein Gesicht merklich auf, als wäre ihm ein guter Einfall gekommen. „Ich weiß! Das könnte dir gefallen. Hast du schon von den Nixen gehört?“ „Meint Ihr Meerjungfrauen?“ „Wie auch immer du sie nennen willst.“ „Ich kenn den Begriff aus Büchern, die von Fabelwesen und Legenden handeln, aber das sind Märchen, ausgedacht für Kinder.“ „Und was, wenn es nicht nur Märchen sind?“ Johann legte zur Stärkung seiner Theorie bedenklich die Stirn in Falten. „Das hat doch bloß jemand erfunden“, erwiderte Lourde. „Bist du dir sicher?“ „Ihr wollt mich nur wieder auf den Arm nehmen. Bitte erzählt mir jetzt nicht, Ihr glaubt wirklich an solche Märchengestalten.“ Johann schmunzelte. „Mir gefällt es, was spricht also dagegen, daran zu glauben? Einige erzählen es wären große Fische, andere wiederum berichten von atemberaubend schönen Frauen, deren Beine zu einer riesigen Flosse zusammengewachsen sind. Auf See soll man des Nachts manchmal ihre Gesänge im Brausen der Wellen hören können, glockenklar und so schön, dass es jedes Männerherz sofort betört. Einige soll es so verrückt gemacht haben, dass sie über Bord gesprungen sind, um den reizenden Klängen ihrer Stimmen zu folgen und sind daraufhin spurlos verschwunden.“ „Sind sie ertrunken?“, fragte Lourde, den eine leichte Gänsehaut überkam. „Vermutlich. Es ist nicht unüblich, dass ein armer Hund auf See den Verstand verliert und sich selbst ersäuft, nachdem er sich eingebildet hat, dass das Meer ihn ruft. Auf stürmischer See werden sie sofort von den Wellen verschluckt und hinunter gezogen und niemand findet jemals ihre Leiche. Aber es heißt, die Nixen hätten sie sich geholt und mit ins Meer gezogen. Wenn du mich fragst, ist das eine viel schönere Vorstellung. Ein lohnender Tod für einen Seemann.“ Lourde zog langsam und unbewusst die Beine enger an seinen Körper. „Ich finde es eher gruselig. Habt Ihr selber schon mal so etwas erlebt?“ „Ich habe auf meinen Seereisen oft nach dem Gesang der Nixen gelauscht, aber die einzigen, fremdartigen Klänge kamen von den anderen Matrosen und die waren alles andere als lieblich. Wobei ich mir einmal nicht sicher war, ob ich nicht doch einen hübschen Fischschwanz in der Gischt verschwinden gesehen habe.“ „Das habt Ihr Euch sicher nur eingebildet. Oder es war ein großer Fisch.“ „Ja, vielleicht. Mag auch sein, dass ich damals ein wenig zu tief in die Flasche geschaut habe. Aber eines Tages…Wer weiß.“ Er war schon ein seltsamer Kerl, dieser Johann. Lourde hatte noch nie erlebt, dass ein Erwachsener so viel Interesse an einem Ammenmärchen zeigte. Die Geschichte über die Nixen klang wirklich ziemlich verrückt, aber für solche Phänomene gab es doch schließlich immer irgendeine rationale Erklärung. Was ihn viel neugieriger machte, war das Meer, das er bislang nur auf Ölgemälden bestaunt hatte. „Ihr wart also auf der See. Ist es dort denn schön?“ „Es hat durchaus seine Reize. Warst du noch nie auf dem Meer?“, fragte Johann. „Nein“, gestand Lourde. „Leider hatte ich bislang keine Gelegenheit dazu.“ „Kommst nicht oft raus, hm?“ „Ich habe viele Pflichten im Dentrium, die ich nicht einfach vernachlässigen kann. Vermutlich machen sich alle gerade schreckliche Sorgen um mich.“ „Um dich, oder dass du deine Pflichten vernachlässigst?“, harkte Johann nach. „Wie bitte?“ Die Frage verunsicherte Lourde. „Vergiss es. Wenn du dich für das Meer interessierst, was hältst du dann davon, wenn ich dir erzähle, was ich auf meinen Reisen erlebt habe?“ „Gern.“ Er lehnte sich ein Stück weit vor, um Johann seine Aufmerksamkeit zu signalisieren und dieser fing an zu erzählen. Vom Meer. Von Seeräubern. Und von den vielen Städten und Inseln, die er schon bereist hatte. Von fernen Ländern, die Lourde aus dem Unterricht kannte, dort wo es Paläste und exotisches Essen gab und bildhübsche Frauen mit schokoladenbrauner Haut. Von Wäldern, die des Nachts so finster waren, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah und von seltsamen Kreaturen, die tief unter einem Netz unbeugsamer Wurzeln in unterirdischen Erdgängen hausten. Lourde betrachtete Johann mit großen Augen, während er aufmerksam zuhörte. Er kannte wirklich viele Geschichten und besaß noch dazu ein ausgesprochenes Talent dafür sie spannend zu erzählen. Wie ein Künstler verlieh er den Worten Spannung und Glaubwürdigkeit und Lourde hätte ihm am liebsten noch stundenlang zugehört. Alles was da draußen in der Welt geschah, kannte er nur aus Büchern und die waren allesamt alles andere als spannend. Die Adligen unterhielten sich nie über solche Themen mit ihm, bloß nicht, alles außerhalb des Dentriums war ja sowieso zu gefährlich für ihn. Lachend endete Johann mit der Pointe einer Geschichte, in der es um ein Liebesabenteuer zwischen ihm und…nun…mehreren Frauen ging, als er sich Versehens in das Badehaus eines Nonnenklosters verirrt hatte. Nach allem was der Mann erlebt hatte sicher nichts aufregendes, aber es genügte, um Lourde die Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Wie konnte er nur so unbefangen über so etwas reden? Johann machte eine kurze Pause. Als er wieder zu reden begann, hielt er seine Stimme plötzlich gesenkt, es war kaum mehr als ein Flüstern. „Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen, Lourde?“, fragte er. Lourde blickte ihn überrascht an. Johann hatte also ein Geheimnis, dass er mit ihm teilen wollte. Eins, das so wichtig war, dass er auf Nummer sicher ging, damit kein unerwünschter Zuhörer auf der anderen Seite der Wand heimlich ihre Unterhaltung belauschte. Von einer älteren Person ins Vertrauen gezogen zu werden, fühlte sich gut an. Daheim vermittelte man ihm zumeist das Gefühl außen vorgelassen zu werden, natürlich unter dem Vorwand seines eigenen Schutzes. Er war schon fast erwachsen und wurde trotzdem immer wie ein Kind behandelt. „Ein Geheimnis?“, fragte er. „Ja, sieh dir diese Kette mal genauer an.“ Lourde beugte sich etwas vor und betrachtete die zierliche, vergoldete Kette, die um Johanns Hals hing. Das Band hielt ein kleines, ovales Amulett, in dem ein türkiser Stein eingefasst war. Beim näheren Hinsehen konnte Lourde etwas darin erkennen, was wie eine smaragdgrüne Flüssigkeit aussah. Sie bewegte sich stetig innerhalb des Steins, als wäre sie lebendig. Lourde wusste sofort, um was es sich dabei handelte. Johann schaute ebenfalls auf den Anhänger hinab. „Das da drin ist eine verdammt seltene Substanz. Man nennt es Äther“, erklärte er. „Wie seid Ihr denn daran gekommen?“ „Ich habe es von einem alten Mann geschenkt bekommen, der mich in Magie unterrichtet hat.“ „Ihr seid ein Magier?“ Für einen Moment stutzte Lourde. Damit hatte er nicht gerechnet. Johann, der das Aussehen eines gewöhnlichen, mittellosen Landstreichers hatte, war weder angemessen gekleidet, noch besaß er die edle Ausstrahlung, die ein Magier in Lourdes Augen ausmachte, ganz zu schweigen von seiner schlichten Art zu reden. Selbst die Geschichte über die Meernixen kam ihm da glaubwürdiger vor. „Aber dann könnt Ihr Euch doch gegen die Piraten verteidigen.“ Hoffnung wallte in Lourde auf, aber Johann zerschlug sie mit bedauernder Miene. „Leider ist es zu wenig, um gegen Sie anzukommen. Weißt du, die Piraten suchen schon ewig nach einer Ätherquelle und sie zwingen mich, Ihnen dabei behilflich zu sein. Ich sage diesen Schwachköpfen immer wieder, dass ich keine Ahnung habe, aber auf dem Ohr sind die Brüder taub.“ Also doch. Damit war Lourdes Verdacht endgültig bestätigt. „Ich wusste es.“ „Was wusstest du?“ „Die Piraten sind auf Äther aus und haben mich deswegen entführt. Ich frage mich nur, wie sie davon erfahren haben.“ Johann blickte ihn fragend an. „Bei Mafuus haarigem Hintern, bist du etwa auch ein Magier, Junge?“ „Nein, das versteht Ihr nicht! Die glauben tatsächlich, dass ich das Äther für sie finde, aber da haben sich diese Harlunken geschnitten“, rutschte es ihm in der Aufregung heraus. „Tja, das wäre auch zu schön um wahr zu sein. Wenn die Piraten endlich eine Quelle finden würden, könnte ich mit einem guten Fluchtplan zuerst an das Äther herankommen, um etwas gegen sie auszurichten. Aber so wie es im Moment läuft, segeln wir vermutlich noch bis an unser Lebensende durch die Luft.“ Lourde musste eingestehen, dass Johanns Idee gute Ansätze enthielt. Mit dem Äther im Besitz eines Magiers hatten sie eine Chance gegen die Piraten. Dafür musste Lourde aber eine Entscheidung treffen, die zum einen bedeutete Johann einzuweihen und außerdem die Gefahr enthielt, das Äther direkt in die Hände der Rakazel zu spielen. Was die kostbare Substanz in den Händen dieser verfluchten Bande verursachen konnte, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Er würde Johann einfach vertrauen müssen und darauf hoffen, dass er einen handfesten Plan daraus machte. Mit aller Ernsthaftigkeit sagte er: „Ich kann Ätherquellen spüren, Herr Johann.“ Die Augen seines Gegenübers blitzten ihn erwartungsvoll an. „Ist das wahr?“ Lourde nickte. „Dann ist das die verrückte Geschichte, die du mir nicht erzählen wolltest? „Es ist etwas kompliziert, vermutlich sollte ich es eine Gabe nennen. Manchmal würde ich es eher als Fluch bezeichnen. Es gibt eine Art Verbindung zwischen mir und dem Äther. Sie macht es für mich sichtbar, ohne dass ich es so richtig kontrollieren kann. Obwohl sichtbar nicht das richtige Wort ist, jedenfalls nicht für die Augen. Ich spüre es einfach irgendwie. Und ich kann es finden. Egal, wo es sich befindet…“, stammelte er. Warum war es so schwierig Dinge zu erklären, die ihm doch von klein auf vertraut waren? „Mir wurde streng verboten, darüber zu sprechen, weil sonst so etwas passieren könnte wie jetzt. Machthungrige Banditen versuchen sich einen Vorteil daraus zu verschaffen. Aber ich vertraue Euch und halte es für richtig, Euch einzuweihen. Vielleicht finden wir so einen Weg, die Piraten zu besiegen.“ Als er zu Johann aufsah, hatte dieser ein bedächtiges Gesicht aufgelegt, beinahe mitfühlend. „Wenn das stimmt, hast du da ein sehr besonderes Talent, Lourde.“ „Dieses Gespür habe ich seit meiner Geburt, ich bin es gewohnt. Es ist mein Beitrag für das Wohl der Stadt Grismina, so wie alle anderen auch ihre Arbeiten erfüllen.“ „Hört sich für mich nach einer großen Bürde an.“ „Ja, deshalb muss ich auch schnell wieder zurück“, antworte Lourde pflichtbewusst und Johann gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er begriffen hatte. Wie ein Verschwörer, der gerade im Begriff war einen Plan auszuhecken, rückte er seinen Kopf nah an Lourde heran. „Wir sollten das auf jeden Fall zu unserem Vorteil nutzen. Kannst du mir erzählen, wie genau wir das Äther finden?“ „Nun, meistens hilft mir ein Magier dabei mich besser zu konzentrieren, indem er mich in Trance versetzt. Dann kann ich spüren wo sich die Quelle befindet. Allerdings weiß ich nicht genau, ob es ohne die Hilfe funktionieren wird. Vielleicht kann…“ Gerade wollte Lourde zu einer weiteren Erklärung ausholen, als ein schrilles Kreischen von oberhalb des Raumes ihn jäh zusammen fahren ließ. So einen scheußlichen, verzerrten Laut hatte er noch nie gehört. Er saß stocksteif da, den Blick starr auf die Zimmerdecke geheftet und lauschte. Sein Herz hatte von der einen zur anderen Sekunde panisch zu klopfen begonnen. „Was war das?“, hauchte er. Johann reckte besorgt den Kopf empor und horchte ebenfalls nach dem Geräusch, aber es blieb still, als hätte es den Schrei nie gegeben. „Hm“, flüsterte er. „Was auch immer es war, jetzt ist es jedenfalls weg.“ „Seid Ihr sicher?“ „Ja, sieht so aus. Wahrscheinlich hat sich bloß jemand beim Rasieren geschnitten.“ „Ihr macht wieder Scherze! Das soll ein Mensch gewesen sein? Nie im Leben!“ Lourde schüttelte fassungslos über Johanns Gelassenheit den Kopf. „Die machen ständig seltsame Geräusche“, verteidigte sich Johann und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Also, wo waren wir gerade?“ Lourde beneidete Johann fast um seine Ruhe. Ihm saß immer noch ein Überbleibsel des Schrecks von vorhin in den Gliedern und es fiel ihm schwer sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Johann sprach ihm jedoch gut zu und machte es somit leichter den Faden wieder zu finden. „Was ich sagen wollte, es wäre möglich, dass…“ Wieder lenkte ein Geräusch ihn ab. Schritte. Jemand näherte sich zügig dem Lagerraum und machte sich von der anderen Seite am Türknauf zu schaffen. Lourde übermannte eine böse Vorahnung, als die Tür aufgestoßen wurde und Leander herein kam. Er wirkte angespannt. „Was gibt’s?“, fragte Johann gelassen. „Probleme“, knurrte Leander. „Ach, der Herr hat Probleme. Siehst du nicht, dass du störst, du Holzkopf? Wir unterhalten uns gerade.“ Auf Leanders Gesicht zeigte sich ein grimmiges Lächeln. Jetzt erst bemerkte Lourde, dass er wirklich außer Atem war und gar nicht mehr so lässig wie zuvor. „Ich bedaure, aber das Plauderstündchen ist hiermit beendet. Ich hab da oben Gesellschaft bekommen und das liegt eindeutig außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Kümmer dich darum.“ Lourde entging nicht der seltsame, ernste Blick, den die beiden miteinander wechselten. Dann tat Johann einen langen, resignierten Seufzer. „Verdammte Biester, tauchen gerade jetzt auf und vermasseln alles. Und wer lenkt das Schiff?“ „Vergiss es. Ich setz keinen Fuß mehr nach draußen, bevor die Aasgeier da wieder verschwunden sind.“ „Wenn man nicht alles alleine macht. Dann steh da nicht nur rum. Komm her und mach mich los“, zischte Johann. Seine Stimme klang nicht mehr freundlich wie die eines gutmütigen Geschichtenerzählers, sondern kühl und berechnend. Irgendetwas Beunruhigendes hatte sich wie ein unausgesprochenes Übereinkommen zwischen den beiden verändert, von dem Lourde nicht mit eingeschlossen war. Leander gehorchte und die Holzbretter unter seinen Stiefeln ächzten, als er zu ihnen herüber kam. Johann hielt still, während er sich zu ihm herunter beugte und nach den gefesselten Armen griff. Dann sah Lourde das Messer. Fast so lang wie ein Unterarm und zwei Finger breit. Der Anblick der riesigen Klinge trieb ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. „Nein“, schrie Lourde und wich so weit zur Seite wie möglich, sah dann aber fassungslos zu, wie das Seil hinter Johann zu Boden fiel und dieser die Arme hinter seinen Rücken hervorzog, um sich die geröteten Handgelenkte zu reiben. Leander hatte es durchgeschnitten. Warum in alles auf der Welt machte er das? Kaum, dass er frei war, stand Johann auch schon mit einem Satz auf den Beinen und Lourde war erstaunt wie anders sein neu gewonnener Freund plötzlich wirkte. Seine Haltung war aufrecht, selbstbewusst und keineswegs so geschwächt, wie Lourde den schlaksigen Mann eingeschätzt hätte. Die Sanftmütigkeit seiner grauen Augen schien mit einem Mal völlig aus seinem Gesicht verschwunden zu sein. Er sah Lourde nicht einmal mehr an. „So, Lourde. Dann bis gleich.“ „Was geht hier vor?“, stammelte Lourde ungläubig, als Johann Leander bis zur Tür folgte. „Johann, wartet!“ Der wollte sich gerade noch einmal umdrehen, doch Leander stieß ihn leicht mit der Schulter an. „Komm schon, Johann“, drängte er, wobei er den Namen mit offensichtlichem Spott betonte. Johann lächelte und erwiderte die Geste grob. „Nach Euch, Lakai.“ „Oh, nichts für ungut, aber ich bleib lieber hier unten und pass auf, dass der Kleine nicht durchdreht.“ „Heißt das, du willst mir gar nicht helfen?“ „Du machst das schon.“ Johann lachte spöttisch. „Da hab ich mir ja wirklich einen exzellenten Gehilfen angelacht. Der Mutigste deiner Zunft bist du ja nicht grad, Lea. Spielst lieber die Zofe.“ „Besser das, als da draußen meinen Hals hinzuhalten.“ „Wie du meinst.“ Johann huschte durch die Tür und ließ Lourde mit Leander zurück. Das Rattengesicht bezog Wachposten am Tisch. „Und weg ist er! Traurig? Ihr könnt euch ja gleich weiter unterhalten.“ Lourde weigerte sich zu antworten. Die Kerle waren das Allerletzte und er würde kein einziges Wort mehr reden, weder mit Leander, noch mit Johann. Das nahm er sich fest vor. Von diesem betrügerischen Gesindel würde er sich nicht unterkriegen lassen, immerhin war er aus angesehenem Hause, ein stolzer Deviresh. Er straffte die Schultern und blickte so lange stur an Leander vorbei, bis dieser das Interesse verlor und ebenfalls das Gesicht abwandte. So ignorierten sie sich eine Weile lang gegenseitig und warteten, dass irgendetwas passierte. Johann kam gar nicht wieder zurück, doch von Zeit zu Zeit glaubte Lourde wieder einen Schrei in der Ferne zu hören und ihn beschlichen Zweifel, was dort oben vor sich gehen mochte. Er blickte nachdenklich zu der Tür, wo er Johann das letzte Mal gesehen hatte. Da fiel ihm auf, dass sie immer noch einen winzigen Spalt offen stand. Johann hatte sie nicht wieder verschlossen, nachdem er aus dem Raum verschwunden war. Lourde versuchte nicht zu offensichtlich in die Richtung zu starren, stattdessen beobachtete er Leander, der mit verschränkten Armen am Tisch lehnte und den Blick gelangweilt durch den Raum schweifen ließ. Er erkannte seine Chance. Ohne groß zu überlegen, sprang er auf und war überrascht, wie schnell es ihm gelang auf die Beine zu kommen. Er achtete nicht weiter auf Leander und rannte los. Die offene Tür kam immer näher. Gleich hatte er es geschafft. „Hey!“ Nein! Eine Hand erwischte ihn an der Seite und zerrte an dem Stoff seiner Tunika. Einen Sekundenschlag lang dachte Lourde, er müsse aufgeben, aber das Adrenalin versetzte ihm einen neuen Schub Kampfgeist. Er drängte weiter, riss sich mit aller Kraft los und zwängte sich schnell, die Schulter voran, durch die Tür. Ein schmaler Gang, der an einer Reihe geschlossener Türen vorbeiführte, verlief in Richtung eines geöffneten Durchgangs. Ein wenig helles Tageslicht strömte von dort in den Flur und verriet Lourde, dass es der Ausgang sein musste. Er wusste nicht, was er tun sollte, sobald er draußen war, soweit reichte sein spontaner Plan nicht, aber eine innere Stimme riet ihm diesen Weg zu nehmen. Also eilte er weiter, bevor Leander ihn wieder packen konnte. Hinter sich hörte er seinen Verfolger fluchen, davon angetrieben rannte er noch schneller, die Tür fest im Blick. Er stolperte den Treppenaufsatz hoch, nahm im Sprint je zwei der schmalen Stufen auf einmal, ehe er endlich hinaus war und frische Luft einatmen konnte. Wirklich frische. Der Wind blies ihm derart kalt entgegen, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Sofort krabbelte eisige Luft unter die leichten Stoffe seiner Kleidung und er hob die gefesselten Hände zum Schutz vor die zitternde Brust. Wundersamerweise war niemand auf dem Deck. Lourde vermutete zumindest, dass es eines war, wenn er Johann glauben konnte und er sich tatsächlich auf einem Schiff befand. Doch auch von Johann fehlte jede Spur. Eigentlich hatte er befürchtet, dass hier draußen ein Kampf stattfand. Wenn es einen gab, dann übertönte das Pfeifen des Windes vermutlich das Handgemenge. Aber auf die Begegnung mit riesenhaften, brutalen Piraten war er ohnehin nicht scharf. Wenn es ihm gelungen war, Leander zu entwischen, dann nicht zu dem Preis, dem nächsten Piraten in die Arme zu laufen. Dieser hatte die Verfolgung anscheinend abgebrochen, warum auch immer. Vorsichtig trat Lourde weiter über das unbekannte Deck. Hier draußen wirkten die Wolkengebilde noch imposanter, als durch das kleine Guckloch und ihm wurde sofort wieder schwindelig. Es fiel ihm nicht leicht sich zusammenzureißen, aber er musste schnell nach einer Fluchtmöglichkeit suchen oder zumindest nach einem passenden Versteck, bis die Ritter kamen, um ihn zu retten. Er erblickte Fässer, Kisten und hoch aufgetürmte Seile, die ihm dazu vielleicht von Nutzen sein konnten, und er sah seinen eigenen, von der Mittagssonne in die Länge gezogenen, Schatten auf dem Holzboden. Mittags... Soviel Zeit war also schon vergangen. Aber das war nicht, was ihn daran störte. Irgendetwas stimmte nicht. Der Schatten, er schien zu wachsen. Zuerst hatte er es nicht bewusst wahrgenommen, doch sein dunkles Ebenbild schwoll zu einer immer größer werdenden Silhouette an, floss in die Breite, als wuchsen Lourde zwei riesige, schwarze Flügel. Wie um Himmels Willen war es möglich, dass sein Schatten ein Eigenleben entwickelte? Es sei denn, es war gar nicht sein Schatten. Sein Erstaunen schlug in Entsetzen um, als ihm dämmerte, dass sich etwas Gigantisches über ihm befinden musste. Er hob die Handfläche vor die Stirn, um gegen die grelle Sonne gen Himmel zu blinzeln. Und sah das Ungetüm. Es stieß einen lauten Schrei aus, genau so einer, wie sie ihn vorhin im Lagerraum gehört hatten. Nur, dass es sich aus der Nähe noch viel schrecklicher anhörte. Lourde war wie erstarrt. Ein erstauntes Stöhnen entwich seiner Kehle, als sich die Kreatur in einem steilen Bogen flatternd über ihn hinwegbewegte. Lourde hielt abwehrend die Arme hoch und duckte sich, als sie die Krallen nach ihm ausstreckte. Sie verfehlte ihre Beute um Haaresbreite und sauste wieder in den Himmel. „Bei Mafuu“, keuchte Lourde und starrte dem Biest fassungslos nach. Das war eine Art Vogel, aber von gewaltiger Größe, wie Lourde es nie für möglich gehalten hätte. Die Spannweite jedes Flügels maß sicherlich über zwei Meter. Er hatte ein zotteliges, rabenschwarzes Gefieder und einen langen, gelben Schnabel voller spitzer Zähne. Das war der Grund, weshalb Leander so ein Aufsehen gemacht hatte. Deswegen war er ihm nicht bis nach draußen gefolgt, um ihn wieder einzufangen. Der Vogel beschrieb eine anmutige Kurve und setzte erneut zum Steilflug auf Lourde an. Blitzschnell blickte er zurück zu dem rettenden Gang, von dem er gekommen war. Es blieb ihm keine andere Wahl, also machte er auf dem Absatz kehrt. Doch seine Füße verharkten sich ungeschickt miteinander und ließen ihn straucheln. Um Gleichgewicht ringend, ruderte er mit den verschnürten Armen und machte einen befreienden Satz nach vorne. Zum Glück war er nicht gefallen. Doch der durchbohrende Windschlag zweier gigantischer Flügel machte sein Glück bedeutungslos. Die Kreatur war bereits bei ihm, Krallen griffen nach seinen Schultern, ehe er ausweichen konnte. Er wurde zurückgezogen und plötzlich bestand alles um ihn herum nur noch aus ölig schimmernden, schwarzen Federn. Lourde kämpfte dagegen an, schlug wie ein Verrückter um sich. Das Biest riss seinen Schnabel auf. So nah ließ ihn der markerschütternde Schrei des Vogels für einen Moment taub werden. „Hilfe!“, kreischte er so laut er konnte, unfähig seine eigene Stimme durch das hohe Pfeifen in seinen Ohren zu hören, das der Taubheit folgte. Plötzlich ging ein Ruck durch den Leib des Tieres, dann ließ die Kreatur unerwartet von ihm ab und kippte der Länge nach zu Boden, der unter der gewaltigen Masse kurz erbebte. Lourde floh zurück zur Tür und hielt sich zitternd am Türrahmen fest, ehe er einen Blick zurück wagte. Die gefiederten Flügel des Giganten zuckten im Wind, die einzige Regung, die Lourde jetzt noch ausmachen konnte. Der monströse Kopf war zur Seite gekippt und aus dem geöffneten Schnabel hing eine dünne, blassrote Zunge. In seinem zerstörten Auge steckte der Grund für den plötzlichen Tod des Ungeheuers, ein dicker Pfeil oder Bolzen, der triumphierend aus dem Augapfel herausragte. Lourde hielt die Luft an. „Wusst ich doch, dass mir einer von den Biestern entwischt ist.“ Johann trat federnden Schrittes über den seitlichen Teil des Decks auf die Kreatur zu. „Du dachtest doch nicht im Ernst, du könntest mir meine Beute streitig machen, oder, du gewitztes Federvieh?“ Mit einem langen Schritt setzte er seinen Fuß über den Hals des Vogels hinweg und setzte sich rittlings auf die tote Kreatur. Er packte den Bolzen, schob ihn kurz nach links und rechts und zog ihn dann mit einem Ruck wieder aus dem Kopf heraus. „Hey Lourde, ich wette die Kerle hier hast du vorher auch noch nicht gesehen, stimmt’s?“, plauderte Johann heiter daher, während er sich den Bolzen zurück in eine dafür vorgesehene Halterung schob und seine Armbrust schulterte. Ein letzter prüfender Blick in den gekrümmten Schnabel wurde nur mit „Ahh, die Viecher stinken aber auch wie die Pest“ kommentiert, dann stand er wieder auf und versetzte dem Vogel einen letzten, gezielten Tritt unter eben diesen. Das knackende Geräusch ließ Lourde zusammenfahren. „Was ist los, Junge? Hast doch nicht etwa Angst vor dem hier gehabt? Der ist doch ganz harmlos.“ Grinsend packte Johann eine der kräftigen Schwingen und schob sich an ihr vorbei. „Aber wehe die scheißen hier aufs Deck. Der Fladen ist beängstigender als der ganze Vogel.“ Lourde bedachte den näher kommenden Mann mit finsterer Miene. Wie konnte er es wagen so zu tun, als sei alles bestens? „Hm? Willst du nicht mehr mit deinem guten Freund Johann sprechen?“ harkte Johann nach. Lourde schwieg. „In Ordnung, sieht so aus, als könnten wir unser nettes Gespräch von eben nicht einfach weiterführen?“ „Ihr habt mich angelogen!“, platze es aus Lourde heraus. „Ihr seid selber ein verdammter Pirat. Vermutlich heißt Ihr nicht mal Johann!“ Der Mann lehnte seufzend eine Hand an seine Stirn und rieb sich seine zerzausten Haare zurück über den Kopf. „Tja, das ist wirklich schade, Lourde, aber dir kann man einfach nichts vormachen. Wenn ich mich dann also vorstellen dürfte?“ Johann holte zu einer übertriebenen Verbeugung aus und legte sich die Hand an die Brust: „Mein Name ist Balbaris. Ich bin der Kapitän dieses einzigartigen Schiffes.“ „Gib nicht so an!“ Lourde konnte Leanders Stimme aus dem Gang hinter sich hören, der ihm den Weg abschnitt. Balbaris? Hatte Lourde das richtig verstanden? Johann hieß also in Wirklichkeit Balbaris. Es schlug ihm wie eine Faust in die Magengrube. Der Name war im Gespräch mit Johann bereits gefallen. Kapitän Balbaris und sein fantastisches fliegendes Schiff – die Rakazel. Der Mann vor ihm, Johann, war der Kapitän der Rakazel. Er war „die Krähe“! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)