Revenge of Rakazel von Enisocs ================================================================================ Prolog: Die Rache der Rakazel ----------------------------- Gerissene Krähe! Zu schlau um sich töten zu lassen. Dieses Biest stamme aus dem Totenreich, so sagt man. Zu Recht gaben wir unserem Kapitän den Namen dieses Vogels. "Bloßer Aberglaube", sagt Käpt'n Balbaris. Er behauptet, dass er Krähen töten kann. Nicht einer von uns hat es gewagt darüber zu lachen. Es war still geworden. Nur das Knistern der Flammen, die träge an den Überresten des Kampfes leckten, war zu hören. Für ihn würde dieses Geräusch bei einem Lagerfeuer nie mehr eine beruhigende Wirkung haben. Balbaris versuchte seine brennenden, verklebten Augen zu öffnen. Einen Moment lang war er fest davon überzeugt erblindet zu sein, doch langsam blinzelte er sich durch den rußigen Schleier, der an seinen Augäpfeln haftete und erkannte allmählich die Konturen des Schlachtfelds. Die schwarzen Silhouetten seiner gefallenen Kameraden hoben sich flackernd als dunkle Flecken vom grellen Rot des Feuers ab. Balbaris ging die Möglichkeiten durch, ob es einigen seiner Männer vielleicht gelungen war zu entkommen, aber es war beinahe unmöglich, dass jemand diesem gewaltigen Angriff entgangen sein konnte. Nein, nicht ganz, wurde es ihm bitter bewusst. Einer hatte überlebt. "Krähen lassen sich nicht töten." Vielleicht war doch etwas Wahrheit daran, aber mit diesem lächerlichen Spitznamen, den seine Crew ihm gegeben hatte und mit dem er schließlich auch noch berühmt geworden war, hatte er sich nie wirklich anfreunden können. Zu amüsant, dass seine Männer damit nun recht behalten sollten. Balbaris widerstand dem Drang verzweifelt aufzulachen und verharrte mucksmäuschenstill in seinem Versteck. Seine langen Haare hingen ihm strähnig und wirr im Gesicht und die stinkende Packung aus Ruß, Schweiß und Blut, zum Teil das seiner Gegner und zum Teil sein eigenes, klebte unangenehm auf der Haut. Was für eine Laune des Schicksals, dass er den Angriff lebend überstanden hatte. Zwar war er verletzt und am Ende seiner Kräfte, aber er war mit versengten Haarspitzen und leichten Brandverletzungen auf der Haut davongekommen. Mehr tot als lebendig hatte er sich mit letzter Kraft ein ausgebranntes Wrackteil gesucht in dem er geradeso Platz fand, war hineingeklettert und somit den wachsamen Augen der Rittergarde entgangen, die nach möglichen Überlebenden Ausschau hielten. Er fühlte sich wie ein Feigling, aber zumindest ein lebender Feigling. Außerdem, hatte er sie nicht verwegen bekämpft? Mit dem Degen in der Hand war er tollkühn und es machte ihm keiner so schnell etwas vor, auch kein großspuriger Ritter der Lackaffenarmee, aber auf einen derartigen Angriff waren sie einfach nicht vorbereitet gewesen. Selbst er musste sich eingestehen, dass er in die Falle gegangen war und alle List und Schläue, für die Balbaris bekannt war, hatten ihm nichts mehr genutzt, als der Magier mit ins Spiel gekommen war. Eine einzige Feuerwalze und der Kampf war innerhalb von Sekunden entschieden gewesen. Jelester nannten Sie dieses hochrangige Schwein aus der Oberschicht. Den Namen würde er sich gut einprägen, genau wie sein schwammiges, fettes Gesicht. Jelester hatte vorhin einen Haufen Männer getötet, aber sein Gesicht drückte dabei weder Freude noch Ekel aus, noch verriet es irgend etwas anderes. Die Mimik war hart, geradezu ausdruckslos gewesen. Entlockte es ihm kein Hochgefühl, dass er seine Crew niedergebrannt hatte? Entlockte es ihm überhaupt ein Gefühl? Wo blieb die gottverdammte Schadenfreude? Diesem Kerl würde er noch zeigen, wie man gebührend über die Niederlage seines Feindes triumphierte. Das Knistern des Feuers wurde allmählich ruhiger, bis die Flammen schließlich fast erloschen waren. Bei seinem Versuch aus dem Wrackteil zu steigen, brachen die Wände ein und bröckelten auf ihn herab. In Gedanken fluchend, klopfte Balbaris sich den Dreck ab und schwankte ein paar Schritte über den rußgeschwärzten Boden. Erneut wirbelte Asche, aufgewühlt durch eine Windböe, in sein Gesicht. Seine Augen brannten bestialisch, aber es war als zwänge ihn eine innere Macht dazu den Blick nicht abzuwenden. Noch empfand er keine Wut über das Ausmaß der Zerstörung, nur Fassungslosigkeit. Doch das würde sich bald ändern. Das Bild musste sich nur tief genug in ihn hineinfressen, um den späteren Wunsch nach Rache zu schüren. Diejenigen, die hierfür verantwortlich waren, würden dafür büßen. Irgendwann. Es war auszuschließen, dass auch nur einer der zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichname noch am Leben war, also verschwendete Balbaris keine Zeit damit sie nochmals wie ein Narr zu untersuchen. Einen melancholischen Augenblick lang überlegte er, ob er Steine und Äste in der nahegelegenen Gegend suchen sollte, um ein kleines Denkmal für seine gefallenen Männer auf dem Schlachtfeld zu bauen. Im nächsten Moment verwarf er die Idee wieder, da er sich nicht mit solch einer sentimentalen Geste verraten wollte. Keiner sollte wissen, dass einer der Rakazel überlebt hatte. Seine Rache musste genügen, um die Ehre seiner gefallenen Kameraden wieder herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt legte er einen Schwur ab, den ihm die Geister seiner Crew abnahmen. Balbaris, Kapitän der Rakazel, würde eine Zeit in Vergessenheit geraten, aber nicht verschwinden. Die Krähe zog sich nur für eine Weile ins Totenreich zurück, um ihre gebrochenen Flügel zu regenerieren und schließlich wieder neu zu erwachen. Kapitel 1: Lourde ----------------- In den letzten Tagen spielte sich in den Köpfen der Menschen nur ein und dasselbe Thema ab. Mit großen Erwartungen und Freude wurde das diesjährige Stadtfest zu Ehren des Herbstgottes Mafuu herbeigesehnt. Die Sorgen und Alltagsprobleme der Menschen schienen für die Dauer der Festlichkeiten davongetragen zu werden, wie die letzten goldroten Blätter, die Mafuus stürmischer Wind mit sich trug. Das Straßenfest zog sich durch Gassen und Wege des unteren Stadtteil Grisminas, der als Fuorium bezeichnet wurde. Bösen Zungen, zumeist die der reichen Bevölkerungsschicht, war der Stadtteil allerdings unter dem Namen Unterschichtenring bekannt. Die Straßen des Fuoriums zogen sich wie ein weitläufiger Ring um das hochangesehene Zentrum Grisminas, das Dentrium. Auf einer erhöhten Plattform gebaut und von einer magischen Kuppel umgeben, schien das Dentrium nicht nur auf Grund seiner mit Wohlstand gesegneten Bevölkerungsschicht, sondern alleine durch die Bauweise auf die kläglichen Häuser des Fuoriums herabzusehen. Eine raffinierte Aussage der Bauherren, die keinen Zweifel über die Mächteverteilung innerhalb Grisminas offen ließ. Wer Geld und Macht besaß, führte hier ein sorgenloses Leben, dessen Alltag durch den Einfluss magischer Energiequellen namens Äther bequem gehalten wurde. Wer allerdings nichts davon sein Eigen nennen konnte, war gezwungen sein Leben in den tristen, wenig eindrucksvollen Straßen der Unterschicht zu verbringen und den angesehenen Herrschaften zu dienen, um sich ein besseres Dasein zu ermöglichen. Nur für die Dauer der Jahreszeitenwenden kamen Fuorier und Dentrianer zusammen, um dem Festzug des jeweiligen vorherrschenden Gottes beizuwohnen, da das Dentrium alleine, durchzogen von imposanten Bauwerken und riesigen Türmen, keinen Platz für die Größe des Festes bot. Die Häuser und Tore waren bereits festlich geschmückt. Da prangten Girlanden aus herbstlichen Blättern und bunten Bändern an den Fassaden der Geschäfte oder wurden über die Straßen von einem Dach zum anderen gespannt. Fahnen wurden gehisst und Ballen von Gerste und Hafer am Wegesrand geschichtet. Reisende Händler boten ihre Ware feil und zeigten eine nicht enden wollende Auswahl an Obst und Früchten dieses Landes oder exotischer Natur, Spirituosen und Säfte, Dekorationen und Statuen Mafuus, Kleidern, Schmuck oder wertvollen Edelsteinen. Barden und Musikanten spielten ihre Weisen und junge Mädchen, gekleidet in leichter Seide und dekorativen Blüten und Blättern, tanzten zu Ehren Mafuus, der ihnen reiche Ernte einbringen sollte. Bald würden die prachtvollen Festwagen des Dentriums den Platz erreichen und die Herrlichkeit und den Reichtum ihrer Besitzer demonstrieren und die Danksagung an den Herbstgott einleiten. Die Tore, die aus dem Stadtzentrum auf den äußeren Ring führten, standen den heutigen Tage über alle offen. Allerdings nicht um den Pöbel hinter die Grenzen zu lassen. Sie wurden streng bewacht und man gab Acht darauf, dass nur Dentrianer hier passierten konnten. So wie Lourde, der die Pforte gerade durchschritten hatte und sich nun aufgeregt dem nahen Fest zuwandte. Er trug ein festliches Gewand in dunklen Farben, geschmückt von aufwendigen, goldenen und blauen Stickereien, die Blätter und Äste darstellten. Ein Gürtel lag locker um die Taille gebunden. Sein dunkelblondes Haar war glatt gekämmt und reichte ihm bis in den Nacken, umrahmte sein feines hellhäutiges Gesicht und formte über seiner Stirn einen akkuraten Seitenscheitel. Niemand würde übersehen, von welchem Stand er war. Begleitet wurde er von einer jungen Zofe, die ihm gehetzt nacheilte. Sie lief so schnell es ihr festliches Gewand zuließ, um ihren jungen Herren einzuholen. Es war ihre Aufgabe ihn nicht aus den Augen zu lassen. „Mary, nun beeil dich doch bitte! Das Fest hat bereits begonnen. Ich möchte an diesem Tag auf keinen Fall etwas verpassen!“, rief er ihr zu und war dann bereits auf dem Weg die Straße zu passieren und den belebten Schauplatz des Festes zu betreten. „Ja, junger Herr, sofort. Wartet auf mich…“, das schnelle Laufen war ihr sichtlich unangenehm, doch Lourde wollte darauf einfach keine Rücksicht mehr nehmen. Die Menschenmengen brachten ihn zum Staunen und als er sich in das Geschehen stürzte, fühlte er sich wie von einer neuen, fremden Welt verschluckt. „Es ist ein Jammer, Mary. Das Fest ist nur einmal im Jahr. Und dieses ist erst das Zweite zu dem mir der Ausgang gewährt worden ist. Die anderen Feste können es mit diesem nicht aufnehmen.“ Es ärgerte ihn, dass er erst jetzt den Festplatz erreicht hatte. Mary, die wie immer zu sehr um sein Aussehen bemüht gewesen war, hatte ihn dreimal umziehen müssen, ehe sie ihn für vorzeigbar erklärt hatte. Vorher hatte sie ihn einfach nicht aus dem Haus gehen lassen wollen. Jetzt war er voller Ungeduld und machte es Mary nicht leicht ihm durch das Gedränge zu folgen. „Wenn Ihr das sagt, Herr…“, pflichtete Mary ihm bei. „Aber bitte rennt doch nicht so…." Vom Trubel der Stadt eingenommen war die Zofe bald zur Nebensächlichkeit geworden, denn nun lichtete sich das Meer aus Menschenleibern und gab den ersten freien Blick auf den bunten Marktplatz preis. Der junge Adlige blieb stehen und atmete tief durch. Ein Hochgefühl stieg in ihm auf. Er, Lourde Deviresh, hatte so lange diesem Tag entgegengefiebert, hatte alle Register gezogen, um an diesem Fest teilhaben zu dürfen. Immerhin war er dieses Jahr siebzehn geworden, fast schon ein Erwachsener. Und nun stand er hier, inmitten dieser Pracht und Menschen, als wäre er ein Teil von ihnen. Die hellen, olivgrünen Augen funkelten vor Spannung und sogen alle Eindrücke in sich auf, die er erhaschen konnte. Die Luft roch nach gebratenem Fleisch und Gebäck und eine Vielzahl anderer, wunderbarer Düfte versüßten seine Festlaune. Lourdes Blick tastete über die Händlerstände, folgte dem bunten Treiben der Musiker und Tänzer und dann etwas abseits wurde sein Interesse plötzlich auf eine Mutter mit ihrem Kind gezogen. Die Frau trug schlichte, verlumpte Kleider am dürren Leib, die Haare sahen ungepflegt aus, fast stumpf. Das Kind hielt sie in den Armen, als wolle sie es schützen, es machte einen ebenso kränklichen wie ärmlichen Eindruck. Der Glanz der Festlichkeit schien an den beiden abzuprallen. „Sieh, Mary, ist das nicht schrecklich...?" murmelte Lourde und drehte sich suchend zu Mary um, die hinter ihm zurückgeblieben war. „Ja, ganz furchtbar, Herr“, entgegnete Mary mit der unbeteiligten Stimme einer Dienerin, die es gewohnt war immer zuzustimmen, egal was gefragt wurde. „Ja…, das ist es wirklich. Das hier soll ein schönes Fest sein, aber diese Menschen machen die Straße zu einem Schandfleck. Warum bleiben sie nicht Zuhause, wenn sie keinen Spaß haben wollen? Ich verstehe sie nicht, Mary. Heute ist ein Fest zu Ehren Mafuus und sieh, wie sie aussehen. Solche Personen sollte man vom Fest verbannen.“ Er schüttelte darüber nur den Kopf. „Lass uns weitergehen. Ich möchte eine Statue Mafuus erwerben. Und Sara möchte ich auch etwas mitbringen.“ Er zog den Kragen seines Gewandes fester zusammen, um Mafuus kaltem Atem zu entgehen. Zu dieser Jahreszeit konnte einem der Wind schon bis in die Knochen fahren. „Herr, wenn Ihr die Statue gekauft habt, können wir dann zurück nach Hause? Es wird schnell dunkel und kalt, das ist nicht gut für Euch,“ bettelte Mary. „Das ist Unsinn, Mary, ich möchte doch den Festzug sehen. Mir ist nicht danach schnell zurück zu kehren. Wenn du nicht mehr magst, kannst du ja schon mal vorgehen.“ Dabei wusste er, dass das leichter gesagt als getan war. Marys Aufgabe bestand darin ihm nicht von der Seite zu weichen, sei es nun innerhalb seiner Gemächer oder hier draußen auf dem Fest. Sie folgte ihm wie sein eigener Schatten. Manchmal störte ihn das, so wie jetzt, da sie dauernd einen Grund fand ihn zu bevormunden. An ihrem missmutigen Blick erkannte er, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Sie würde ihn nicht alleine lassen und wenn sie dieses Fest noch so hasste. Das verschaffte ihm auf eine kindische Art Genugtuung. So zogen sie von Stand zu Stand weiter und Lourde warf flüchtige Blicke über die angeworbene Ware. Allerdings war es nicht was er sich erhofft hatte, so langweilte ihn die Suche rasch. Lieber würde er sich jetzt in die Tiefen der Feierlichkeit stürzen, dort wo Tanz und Gesang ausgelassen stattfanden. Die Zofe betrachtete mit deutlichen Unbehagen, wie es an den Straßenrändern zu Raufereien und Handgemenge kam und der Gedanke noch länger auf diesem Fest zu bleiben, gefiel ihr immer weniger. Sie konnte Lourdes Interesse an diesem Menschenpulk einfach nicht nachvollziehen. Jetzt war ihr junger Herr vorgerannt und betrachtete Schmuck und Tücher, die ihm ein Händler anbot. Sie hatte sich schon ausgemalt, dass sich das Fest als lästig erweisen sollte. Dabei hatte sie den jungen Herrn vorher extra zur Gehorsamkeit ermahnt. Es widerte sie an, wie sich die Menschenmassen zu Trauben sammelten und stoßweise von Stand zu Stand schwappten. War ihr gerade jemand auf die Röcke getreten? Sie hielt es hier nicht mehr aus, zumal sie ihr neues Gewand nicht noch mehr beschmutzen wollte. Weiter hinten würde der Platz leerer sein und die Fortbewegung weit angenehmer. Sie sah auf und wollte ihren jungen Herren rufen. Doch von diesem fehlte bereits jede Spur. Hastig wandte sie sich in alle Richtungen um und verfluchte sich für den Moment der Unachtsamkeit. Wie konnte man diesen Jungen überhaupt raus lassen? Mit dem Einsatz ihrer Ellenbogen bahnte sie sich eiligst einen Weg durch die Menschen und hoffte einfach darauf den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Auch nachdem sie wieder freie Sicht hatte, hastete Mary weiter voran, immer noch kein Anzeichen von Lourde. Langsam mischte sich Panik in ihr Unbehagen. Was würde man mit ihr tun, wenn sie den Jungen nicht wiederfand? Wenn es sie nur die Anstellung kostete, konnte sie sich glücklich schätzen. Dann, nahe des Brunnens der die Mitte des Marktplatzes zierte, sah sie zwei Männer stehen. Der eine trug eine reichlich verzierte Kutte mit dem Wappen der Magiergilde. Der andere, ein großer, stattlicher Mann, trug eine Rüstung aus gegerbten Leder mit Brustpanzer und ein Schwert ragte seitlich hinter seinem samtenen Umhang hevor. Darauf war das Wappen der Rittergarde gestickt. Sie atmete erleichtert auf. Jetzt hatte sie zumindest Verstärkung gefunden. Lourde war indes von dem stetigen Fluss der Menschenmassen mitgerissen worden. Hier herrschte ein regelrechter Rummel von Gauklern und Straßenkünstlern, die Zaubertricks vollführten und Mädchen, die lebhaft tanzten. Von einem wurde er beinahe mitgezogen, doch er konnte sich erschrocken aus dem lockeren Griff befreien. Schon fesselte ihn das viel versprechende Lächeln einer anderen Tänzerin. Die Mädchen machten sich anscheinend einen Spaß daraus, ihn für sich zu gewinnen um an ein paar Goldmünzen zu kommen. Er taumelte benommen zur Seite, nachdem eine Tänzerin ihn zu einem schnellen Tanz heranzog. Er war zu erschlagen und überrascht um all das verarbeiten zu können, so strauchelte er noch ein paar Schritte rückwärts und stieß mit einer anderen Gestalt zusammen, die er nicht bemerkt hatte. Die Person, die gerade noch laut gelacht hatte, fing nun an zu husten. Lourde erlangte sein Gleichgewicht zurück und drehte sich überrumpelt um. Das Mädchen war im selben Augenblick vergessen. Er war verlegen um seine Unachtsamkeit und hoffte auf das Verständnis der anderen Person. „Verzeihen Sie…bitte…bitte vielmals...ich...oh“, stammelte er. Dann fiel ihm auf mit wem er es zu tun hatte. Ein junger Kerl, nicht viel älter als Lourde selber, der auf einem Fass saß und ihn ebenfalls überrumpelt anblickte. Sein schmuddeliges, gräuliches Hemd verriet ihn. Ein Fuorier aus der Unterschicht. Lourde verstummte abrupt. „Hey, was heißt’n hier "oh"? Du Schnösel blamierst mich hier vor meinen Freunden, klar?“, die Stimme des anderen Jungen war laut und herausfordernd. Neben ihm stand ein Hüne von einem Mann, der sich lässig an einen Spirituosenwagen lehnte und dem fremden Jungen nun eine Flasche undefinierbaren Inhaltes reichte. Der freche Junge nahm einen langen Zug aus dem Flaschenhals und setzte dann wieder schnaubend ab, hielt die Flasche Lourde entgegen. „Hier trink! Und wehe ich seh dich einmal husten, Schnösel! Dann soll dir verziehen sein.“ Lourde war schockiert. Er hatte schon viele Geschichten über die verschlagenen und verräterischen Fuorier gehört. Jetzt und hier einem über den Weg zu laufen und mit ihm zu sprechen kam ihm eigenartig unrealistisch vor, obgleich er ja im Fuorium war. Es fehlten ihm die Worte um den Frechheiten des anderen Parade zu bieten. Hatte es dieser Fremde wirklich gewagt ihn als Schnösel zu bezeichnen? Er konnte es auch jetzt noch nicht glauben. Dennoch stieg Wut in ihm auf. So redete man nicht mit ihm. Er war immerhin ein Deviresh. Dann platze es aus ihm heraus. „Passt auf Eure Worte auf, Fuorier! Wisst Ihr überhaupt mit wem Ihr hier redet?!“ Als Antwort darauf, erhielt Lourde nur albernes Gelächter seitens des Jungen und seines riesenhaften Freundes. Sie machten sich offenbar lustig über ihn. Vor Empörung und Verlegenheit schoss ihm das Blut in den Kopf. Was erlaubten sich diese Leute vor ihm? Zu allem Überfluss lehnte sich der Junge nun vor und drückte Lourde die Spirituosenflasche gegen die Brust. Reflexartig schloss dieser die Hände darum, um sie abzuwehren. „Hab ich nicht gesagt, du sollst trinken? Oder kann Eure Hochwohlgeborenheit keinen Alkohol vertragen, eh? Das ist doch wohl das Mindeste was du als Entschuldigung tun kannst!“, schwatzte der Fuorier. Lourde konnte auf der Entfernung den beißenden Alkoholatem seines Gegenübers riechen und ihm wurde schlecht. Verwirrt wandte er den Blick ab und betrachtete nun die Flasche in seiner Hand. Die zähe Flüssigkeit schwankte geheimnisvoll darin. Nun war es genug. Am liebsten hätte er die Flasche kräftig zu Boden geschmissen um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Wie hatten diese Menschen es geschafft, dass er sich plötzlich so hilflos vorkam? „Keinen einzigen Schluck würde ich aus dieser Flasche trinken, Gesindel“, echauffierte er sich und war bemüht, dass sich seine Worte nicht überschlugen. „Nehmt Eure dreckige Flasche und ertränkt Euer vorlautes Mundwerk damit, statt mich zu belästigen! Ihr zieht mit Eurem Verhalten noch den Zorn der Götter auf dieses Fest! Und ihr Unterschichtler habt der Stadt ja schon genug Unheil gebracht.“ „Ich glaube der Typ spinnt“, stellte der Junge verblüfft fest. „Hörst du das, Raffa, der aufgeblasene Snob glaubt ich erzürne die Götter. Ich krieg mich nicht!“ Raffa, dabei musste es sich um den Riesen handeln, pflichtete dem Jungen bei und lachte dann lauthals los, dass es Lourde eiskalt den Rücken runter lief. So musste ein Löwe aussehen, wenn er den Rachen aufriss um sein Opfer zu verschlingen. „Nehmt Eure dreckige Flasche und ertränkt Euer vorlautes Mundwerk damit, statt mich zu belästigen!“, äffte ihn der Prahlhans übertrieben nach und untermalte sein Getue mit wilden Gesten. „Na komm, lass den Stift doch. Wir suchen uns jetzt `n gemütliches Plätzchen, von wo wir den Umzug gut überblicken können, Kumpel.“ Mit diesen Worten stieß sich das Untier vom Wagen ab und drückte seine große schwere Hand auf die Schulter seines schmächtigen Freundes. Dieser grinste zustimmend und erhob sich ebenfalls von seiner Sitzgelegenheit, bereit zu folgen. Lourde war froh, dass die beiden verschwinden würden. Er hatte keine Lust mehr sich mit ihnen auseinander zu setzen. Alleine die Ausdrucksweise dieser Fuorier musste doch auf ihre niedere Herkunft schließen. Nun erst kam ein dritter Mann in sein Sichtfeld, den der freche Fuorier die ganze Zeit verdeckt hatte. Eine große, hagere Gestalt mit eingefallenem, schmutzigen Gesicht und trägen schwarzen Augen, der dem Schauspiel bislang schweigend beigewohnt hatte. Aus irgendeinem Grund wich er Lourdes fragendem Blick aus. Und doch reichte der Moment, da sich die Augenpaare trafen, und Lourde wurde das Gefühl nicht los, dass er den Mann kannte. Die Ähnlichkeit, war sie noch so gering, ließ keinen Zweifel zu. Erkenntnis schlich sich in seine Gedanken, doch wie hätte er diese Person an diesem Ort antreffen können? Mit einem Mal wurde er aus seiner Trance gerissen. Der fremde Junge hielt ihn an der Schulter fest und grinste ihn forsch an. „Hey, glaub mal nicht, ich überlass dir meine Flasche. Trink einen Schluck und dann verzieh dich, du armseliger Tropf. Lauf schnell zu deiner Mami, klar?“ Lourde klappte vor Erstaunen der Kiefer runter, als der Junge es wagte ihn anzufassen. Bisher hatte er versucht seine Ruhe zu bewahren, doch nun stieg Ekel und Wut in ihm auf und bildeten einen Klumpen in seinem Hals, der ihm die Stimme versagen ließ. Die Flasche entglitt seinen Händen und zerbarst krachend vor seinen Füßen. Die Flüssigkeit ergoss sich zu einer Pfütze und sickerte in die Asphaltritzen. Hätte er sich nicht seiner guten Kinderstube besonnen, wäre ihm vielleicht sogar die Hand ausgerutscht. Diesem Fuorier musste man eine Lektion erteilen. „Verschwinde einfach, Lourde", mahnte ihn jetzt eine tiefe dunkle Stimme von der Seite. Sie gehörte dem schweigsamen, dunkelhaarigen Mann mit den schwarzen Augen, die jetzt auf ihn gerichtet waren. Er wusste Lourdes Namen. Nun war er sich sicher, dass er den Mann tatsächlich kannte. Kapitel 2: Seik --------------- Beim besten Willen. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches Argument ihn am Ende umgestimmt hatte doch noch auf das Fest zu gehen, um sich anrempeln, herumstoßen und von aufdringlichen Händlern und Gauklern belagern zu lassen. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen den Tag Zuhause zu verbringen, mit der besten Gesellschaft die er sich vorstellen konnte, nämlich sich selbst. Jetzt stand Seik mit wirrem, ungemachten Haar und einer Zigarette zwischen den Lippen inmitten der feiernden Menschenmasse und überlegte wann er dieses Fest jemals als Spaß empfunden hatte. Irgendwann nachdem er heute Morgen die frischen Hinterlassenschaften seiner kleinen, pelzigen Mitbewohner von der Fensterbank geschoben und hinaus auf die Straße geblickt hatte, war vielleicht ja ganz unverhofft ein Hauch nostalgischer Sehnsucht über ihn gekommen, dessen er sich nicht deutlich bewusst gewesen war. Vielleicht hatten aber auch nur die leeren Flaschen, die sich in seinem Zimmer häuften, den richtigen Ausschlag dafür gegeben und der dringende Wunsch den Tag nicht auf dem Trockenen zu verbringen, während andere Leute fernab seiner Behausung ausgelassen auf den Straßen feierten, ihre Sorgen vergaßen und das Fest genossen. Selbst der ärmste, beinlose Krüppel erfreute sich heute an dem ach so herzlichen Beisammensein. Für einen Tag waren alle gut drauf. Für einen Tag war das Fuorium ein Ort der Freude. Nur leider ging dieser Funke immer noch nicht auf Seik über. Er war nicht fröhlich und schon gar nicht in Feststimmung. Wie konnte es sein, dass er kein bisschen den euphorischen Freudentaumel verspürte? Da war kein Zauber, der ihn plötzlich wie all die anderen packte, seine grimmigen Mundwinkel nach oben schnellen und ihn den dringenden Wunsch zu singen und zu tanzen verspüren ließ. Stattdessen zog er ein Gesicht wie Dreitageregenwetter, dessen Anblick Kinder automatisch zum Flennen bringen konnte. Ihm selber war ebenfalls zum Heulen zumute. Es war das erste Mafuufest, das er im Fuorium feierte, oder besser gesagt war er dazu gezwungen es hier zu verbringen. Die Tatsache war ebenso erbärmlich wie sein Aussehen. Eigentlich war er ein hoch gewachsener Mann mit schmalen Schultern und dunklen Mandelaugen, der sicherlich auch attraktiv aussehen konnte, aber er war schrecklich abgemagert, seine Haut ungesund blass und die Wangen eingefallen. Unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Ringe gebildet und die schwarzen, ungekämmten Haare glänzten vor Fett. Vor ein paar Wochen hatte deswegen auch der alte, gesplitterte Spiegel verschwinden müssen, den er in einem Anfall von Selbstmitleid zerstört hatte. Der Anblick des Mannes darin war einfach nicht mehr zu ertragen gewesen. Die Menschen im Fuorium nahmen kaum mehr Notiz von dieser schäbigen Erscheinung. Seik konnte es immer noch nicht ganz einsehen, aber er war mit der Zeit zu einem unauffälligen Schatten geworden, der sich dem Leben im Fuorium angepasst hatte. Vor ein paar Monaten hatte das noch anders ausgesehen, aber da war er auch noch ein stolzer Mann gewesen und nicht dieses Abbild von Gevatter Tod. Er hatte sich bis auf die Knochen blamiert gefühlt, als sie ihn noch erkannt, ausgelacht und ihm wüste Beschimpfungen hinterhergeschrien hatten. Danach durfte er sich jedes Mal darum bemühen, das faule Obst und die rohen Eier wieder von Gesicht und Kleidung zu bekommen. Jetzt flogen ihm nur noch selten Nahrungsmittel hinterher, denn irgendwann hatten die Fuorier begrüßenswerterweise damit aufgehört ihm zu signalisieren, was sie von ihm hielten und seine Anwesenheit einfach akzeptiert. Niemand interessierte sich mehr für ihn, sondern übersah ihn für gewöhnlich. Er war ein elendiger Fuorier geworden, der einen abgenutzten, dunkelbraunen Mantel trug, der seine besten Tage längst hinter sich hatte, und der in einer verlassenen Behausung lebte, die er Rattenloch nannte. Es war eine schäbige, verwahrloste Kneipe um die sich niemand mehr kümmerte und inzwischen war sie so heruntergekommen, dass sich sowieso kein Mensch mehr dafür interessierte. Er besaß nicht genügend Geld, um sich eine anständige Wohnung zu leisten, also nutze er stattdessen diesen Unterschlupf als behelfsmäßige Unterkunft. Mit all ihren kleinen Nachteilen. Dach und Fenster waren undicht und ständig der Witterung ausgesetzt, dementsprechend sah es im Inneren aus und genauso klamm und modrig roch es auch. Dazu kam, dass es dank dieser lästigen Mäuse und Ratten ständig nach Kot stank. Die verfluchten Viecher schafften es immer aus den Fallen zu entkommen, die Seik für sie aufstellte. Am Ende hatte er es aufgegeben und sich damit abgefunden in Mäusemist herumzutreten. Was das Dach anging, so hatte er einmal versucht die Lücken auszubessern, war nach seinem recht dürftigen Bemühungen, die Nerven und verschlissene Hände gefordert hatten, mit einem Bein durch das morsche Holz eingebrochen und hatte ein noch größeres Loch als vorher in die Decke gerissen. Danach hielt er es nicht mehr für sinnvoll einen neuen Versuch zu starten. Wenn doch die verdammten Mäuse nicht so gute Schwimmer wären, dann würden sie wenigstens ersaufen, wenn das Haus mal wieder unter Wasser stand. „Was für eine Farce“, murmelte Seik aus den Gedanken gerissen. Mit starrem Blick sah er sich in der Menge um. So sehr man sich das alles hier auch für einen Tag schön redete und auch wenn die Gassen noch so übersäht mit billigem Festschmuck waren, dieser Ort blieb trotzdem ein elendes Loch und er verachtete es. Mafuu konnte ihn mal. Das Fuorium konnte ihn mal. Und alle anderen auch. Seik beschloss diesem einfältigen Denken schnell ein Ende zu setzen. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte den abgebrannten Stummel dann ins feuchte Laub vor seinen Füßen, als er sich den Verkaufsständen näherte. Seine Finger waren bereits steif vor Kälte und er schob sie in die Manteltaschen, um sie wieder aufzuwärmen. Beim Überfliegen des breiten Angebotes der Kaufleute wurde er plötzlich auf die laute, raue Stimme eines riesigen Kerls aufmerksam, der ganz in der Nähe stand. Ein Wunder, dass ihm der Mann nicht schon eher aufgefallen war, immerhin konnte man ihn kaum übersehen mit seiner merkwürdigen Aufmachung und dem lauten Organ. Dieser breitschultrige Kerl maß locker über zwei Meter. Anhand seiner Körpergröße und der Mähne rotbraunen Haares, das in gewaltigen Rastern von seinem Kopf hing, schloss Seik, dass es ein Mann aus den Bergen sein musste. Die Bewohner dort waren bekannt für ihren groben, kräftigen Körperbau. Scheinbar handelte es sich bei dem Hünen ebenfalls um einen Händler und der Spirituosenwagen, an dem er lehnte, gehörte zu seinem Stand. Er unterhielt sich gerade mit einem jungen, schmächtigen Burschen mit frechem Gesicht, neben dem er erst recht riesig wirkte. Seik konnte zwar nicht verstehen was sie zusammen redeten, aber es musste eine recht amüsante Unterhaltung sein, denn der breite Mund des Riesen verzog sich gerade zu einem Grinsen. Er konnte spitze, raubtierhafte Eckzähne aufblitzen sehen, ehe der Mann herzhaft auflachte. Seine Faust traf dabei auf eine Kiste und brachte das Holz bösartig zum Knacken. Wenn dieser Mann zuschlug, konnte er mit Sicherheit Knochen zum Zerbersten bringen. Seik warf einen skeptischen Blick auf die Kiste, während er ganz nebenbei im Kopf die Personen durchging, denen er so einen Schlag ins Gesicht wünschte, und fragte sich was solch ein Kerl wohl darin aufbewahrte. Ohne sich dessen genauer bewusst zu sein, hatte er sich den beiden ungleichen Gestalten genähert und bekam auch den regen Wortwechsel mit. „Was haste denn eigentlich da drinnen, hä?“ Scheinbar war nicht nur Seik, sondern auch der Junge, am Inhalt der Kisten interessiert. Der Hüne lachte abermals. „Ein Blick in die Wunderkiste kann so manchem das Leben kosten. Dann wird es zappenduster. Aber ich kann dich beruhigen, Kleiner, heute gibt es nur faule Pelze und nen feinen Schluck aus der Nachbarschaft. Den anderen Fusel der hier verkauft wird kann man genauso gut benutzen um den Ofen am Brennen zu halten. So, pass mal auf!“ Mit einem kräftigen Ruck riss der Mann den Kistendeckel, der mit Nägeln versiegelt worden war, einfach auf und schmiss ihn achtlos hinter sich. Offensichtlich fasziniert von den übernatürlichen Bärenkräften des Hünen, sah der Bursche dem Deckel nach, der knapp vor Seiks Füßen krachend auf dem Boden landete. Seik starrte benommen hinunter. Ein wenig mehr Schwung und das Ding hätte ihn glatt getroffen. Er schluckte den Schrecken schnell runter und warf einen Blick auf den offen gelegten Inhalt der Kiste. Neben einer Vielzahl pelziger Kleidungsstücke, die wohl für die kalte Zeit Isgrids gedacht waren, konnte er auch einige Flaschen mit fremdländischem Etikett entdecken. Der Hüne zog gerade eine Fellmütze heraus, die er dem Burschen über den Kopf stülpte. „Mit so nem Fussel auf deinem Kopf wird Isgrids Atem zu nem Klacks“, sagte der Riese. Der Bursche riss sich die Mütze schnell wieder herunter und musterte sie abfällig. „Ich will nicht wissen, was das früher mal war. Stinkt ja furchtbar der alte Fetzen.“ Er schmiss das Ding über die Schulter und wühlte dann in der Kiste, bis er mit einem zufriedenen Blick eine der Flaschen herausholte. „Na, was haben wir denn hier?“ „Ahh, du hast ein gutes Näschen, mein Kleiner. Hast gleich den guten Tropfen entdeckt.“ Seik konnte noch immer nicht fassen, dass er nun zu Typen wie denen gehörte. Aber noch mehr als seinen Ärger über das unachtsame Verhalten des Hünen, der ihm gerade einen Riesenschrecken eingejagt hatte, interessierte ihn nun seine Ware. Er brauchte jetzt wirklich einen guten Schluck, egal mit welcher rüpelhaften Gesellschaft er sich dabei abgeben musste. Er ignorierte seine Abneigung und gesellte sich zu den beiden dazu, um sich schließlich an den Hünen zu wenden, der mit dem Rücken zu ihm stand und gerade wieder in die Unterhaltung mit dem Burschen vertieft war. „Was ist Euer stärkster Tropfen?“, fragte Seik mit ruhiger Stimme und merkte wie ihm allmählich etwas mulmig zumute wurde. Er war wirklich nicht klein, aber direkt neben dem Kerl kam selbst er sich wie ein Hänfling vor. Der Händler drehte sich prompt zu ihm um, als er Seiks Murmeln hörte und begann ihn zu mustern. Er trug eine Brille mit getönten Gläsern, wohinter seine Augen nicht zu sehen waren. Nur Seiks eigenes, blasses Gesicht spiegelte sich darin und blickte reglos zu ihm zurück. „Hey, Freund. Meinste mich, oder willst du mit meinem Rücken sprechen?“ „Entschuldigung, wie unhöflich von mir. Ich möchte eine Eurer Flaschen kaufen.“ „Kannst du überhaupt was vertragen, Bübchen? Du siehst ja aus, als wenn du mir umkippst, bevor du das Glas angesetzt hast.“ Er taxierte Seik mit einem leichten Stoß an der Schulter. Diese eigentlich lustig gemeinte Geste löste bei Seik allerdings mittlere Empörung aus. „Zeigt Ihr mir nun Eure Ware?“, versuchte es Seik erneut, denn er hatte keine Lust das Gespräch weiter zu vertiefen. Der Händler schien dies wohl unhöflich aufzufassen, denn selbst ohne in seine Augen sehen zu können, war ihm die Skepsis deutlich vom Gesicht abzulesen. „Wenn du gute Ware haben willst, dann biste hier bei mir genau richtig. Aber pass mal auf das auf, was der gute Raffa dir hier sagt. Heut ist ein Fest und da sollte man ein bisschen feiern. Mach dich mal locker und zieh nicht so ein langes Gesicht, sonst stolperst du beim Gehen noch über deine eigenen Mundwinkel.“ Besagte Mundwinkel schienen sich nochmal eine Idee tiefer zu ziehen. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte Seik tonlos. Auf Ratschläge dieses Kerls konnte er nun wirklich herzlichst verzichten. Neben sich hörte er nun ein lautes Klappern. Von dem jungen Burschen waren nur noch sein Hinterteil und die Füße zu sehen, nachdem er in der großen Kiste abgetaucht war. Seik blickte schweigend zu dem Jüngling, der nach Herzenslust mit seinen schmutzigen Griffeln in den Waren herumwühlte und dabei vergnügt gluckste, während ein Kleidungsteil nach dem anderen den Weg zum Boden fand. Schließlich hatte er einen breiten Schal gefunden den er sich sogleich um den Hals legte. „Der gefällt mir! Den nehm ich mit. Nem netten Kerl wie mir gibst du das Ding doch umsonst, oder?“ „Hey, halt mal den Schnabel, Bambino, ich hab hier zahlende Kundschaft.“ Erst jetzt schien der ungehobelte Bursche auf Seik aufmerksam geworden zu sein und blickte interessiert herüber, während er wieder aus der Kiste stieg. Kaum dass er sich dazu gesellt hatte, verzog er in Seiks Anwesenheit auch schon frech grinsend den Mund. „Uhh, meine Güte. Hast du nicht irgendein Duftwasser, das du dem anbieten kannst, Raffa?“ Was für ein dämlicher Idiot, dachte sich Seik und wiederholte nochmal sein eigentliches Anliegen. „Was ich möchte ist ein guter Tropfen.“ Er war überrascht wie ruhig und geduldig seine Stimme blieb, obwohl er einen eindeutig schärferen Tonfall eingeschlagen hatte. „Ein STARKER Tropfen, verstehen wir uns?“ Raffa lachte selbstsicher und legte seinem frechen Kumpanen den Arm über die Schulter. „Sicher! Willst du was zum Saufen haben, musst du Meister Raffa fragen. Ich sags immer wieder. Und mit dem Duftwasser hat mein Freund hier gar nicht so unrecht. Du riechst wie ein Wiesel nach dem Erbrechen. Demian, schau mal nach der Flasche mit dem großen, roten Etikett und bring sie her. Das Zeug brennt einem die Zunge raus.“ „Alles klar!“ Der Junge wand sich unter dem schweren Arm hervor und machte sich wie ihm geheißen worden war auf die Suche. Mit stolz geschwellter Brust und einem albernen Grinsen auf dem Gesicht kam er schon bald mit der besagten Flasche zurück und reichte sie Seik mit einer übertriebenen Verbeugung. „Hier, der Herr, nur für unsere besten Kunden. Ich empfehle Euch dazu ein ordentliches Bad in ner Eselstränke oder dem Brunnen da drüben.“ „Oh man, Kumpel, sei nicht so hart mit unserem Stinktier. Der Kerl hats auch nicht leichter als ihr alle hier. Die erste Flasche geht aufs Haus. Lasst uns zusammen anstoßen und auf Mafuu trinken bis wir zu den Sternlein singen.“ Seik blickte den Riesen unbeeindruckt an. Sie hatten recht, er roch wirklich streng, aber dass es ihm dieser Kerl noch unter die Nase reiben musste, zeugte nur davon wie erbärmlich die beiden selber waren. Und dann noch dieses scheinheilige Mitgefühl des Händlers. Auf die Schippe nehmen konnte er sich selber sehr gut, dafür brauchte er dieses Pack nicht. Ohne Selbstironie hielt man es hier auch nicht aus. Nur die Aussicht auf einen guten Schluck und noch mehr darauf die Flasche nicht bezahlen zu brauchen, machte die beiden erträglich für ihn. Ansonsten hätte er wohl keine weitere Minute freiwillig mit ihnen verbracht. „Also dann, auf Mafuu“, sagte Seik, nahm die entkorkte Flasche von Demian entgegen und prostete den beiden kurz zu, ehe er einen kleinen Schluck daraus nahm. Der scharfe, würzige Geschmack war überwältigend und trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Schon jetzt spürte er wie sich eine leichte, angenehme Taubheit in seinem Kopf ausbreitete. Er nahm schnell einen zweiten Schluck und gab die Flasche dann Demian zurück, der nur darauf zu warten schien, dass sich erste Anzeichen von Ekel auf Seiks Gesicht bemerkbar machten und nun enttäuscht war, dass er sich nicht weiter die Blöße gab. Misstrauisch schnüffelte der Bursche nun selber am Flaschenhals und kniff, vom beißenden Geruch überrascht, die Augen zusammen. „Was für ein Hexengemisch ist das denn? Naja, wenns den Kerl da nicht aus den Latschen haut… Prost!“ Der Idiot kippte sich das Gebräu einfach so den Hals herunter. Nicht zu fassen, dachte Seik. Es wunderte ihn nicht, dass der Kopf des Jungen plötzlich eine merkwürdige Farbe bekam, während er schwerlich versuchte sich ein Husten zu verkneifen. Natürlich misslang es ihm kläglich und Raffa musste ihm ein paarmal beherzt auf den Rücken klopfen ehe wieder Ruhe herrschte. „Du verträgst meine Medizin wohl nicht, was, Kleiner?“ „Hey, lach nicht! Ich… ich sauf euch noch untern Tisch, warts ab.“ Seik sah gelangweilt zu wie die beiden lauthals miteinander feixten, bis sein Blick wieder an den Ständen entlang zur feiernden Masse glitt. Am Rand einer Gasse stand ein Feuerspucker, der die Schaulustigen mit seinen einfältigen Tricks begeisterte. Manche dachten wirklich dieser Humbug zeuge von Zauberei, aber die lausige Vorführung hatte mit wahrer Magie nichts gemein. Seik sah zu wie sich der Mann gerade wieder eine seiner brennenden Fackeln zwischen die Lippen hindurch, tief in den Rachen schob, da fiel ihm die Zofe auf, die völlig aufgelöst weiter hinten in der Menge herumirrte. Er fragte sich gerade, was ein Dienstmädchen hier alleine zu suchen hatte, als sie schon wieder in der Menge untergegangen und somit aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Die Antwort auf seine Frage ließ nicht lange auf sich warten, denn kurz darauf wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf seine derzeitige Gesellschaft gelenkt. Zu der nun noch eine weitere Person dazugekommen, oder besser gesagt gestolpert, war. Und zwar genau gegen Demian, der auf einem großen Fass mit Met Platz genommen hatte. „Verzeihen Sie…bitte…bitte vielmals...ich...oh“, stammelte der Neuling. Seine Körperhaltung und die edle Kleidung verrieten Seik, dass es sich zweifellos um einen Dentrianer handelte. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass er hier auf den Spross der Familie Deviresh treffen würde. Schnell wand er den Kopf wieder ab. Seit wann ließen sie ihn ohne Beaufsichtigung auf das Fest? Das hier war kein Ort für Lourde Deviresh. Seik hatte in sehr kurzer Zeit erfahren müssen wie anders das Leben in dieser Schicht war und dass Raufbolde und Diebesgesindel nur darauf warteten ahnungslosen Bürgern aufzulauern und sie zu überfallen. Da fiel Seik die Zofe wieder ein. Sie musste ihn verloren und nach ihm gesucht haben. Mit einem Mal fühlte er sich extrem unwohl in seiner Haut. Ob Lourde ihn auch erkannt hatte? Anstatt es herauszufinden, stand er nur da, den anderen den Rücken zugewandt und hoffte nicht angesprochen zu werden. Mit etwas Glück verschwand der Junge gleich wieder und ersparte beiden eine peinliche Situation. Der Junge konnte nicht wissen, was wirklich vorgefallen war und Seik hatte keine Lust sich unangenehmen Fragen zu stellen. Sicher hatten sie ihm ohnehin, wie allen im Dentrium, ihre fein zurechtgelegte Version des wirklichen Geschehens präsentiert, die in den Köpfen der Menschen die Wahrheit ersetzte. Selbst wenn der Junge ihm glaubte, würde das nichts an seiner jetzigen Situation ändern. Zwischen den beiden jungen Männern war derweil ein kleiner Streit ausgebrochen. Demian machte sich über Lourde lustig und versuchte ihn mit Sticheleien davon zu überzeugen einen Schluck aus der Flasche mit dem roten Etikett zu nehmen, was dieser zu Seiks Erleichterung beharrlich verweigerte. Wäre er tatsächlich darauf eingegangen, hätte er vermutlich mehr Feuer als der Straßenkünstler gespuckt. Die frechen Sprüche mussten ihm dennoch ziemlich zusetzen, denn an Lourdes Stimme konnte Seik erkennen, wie aufgebracht der Junge wirklich war. Die Worte sprudelten ungelenk aus seinem Mund und gerieten dabei in eine zu hohe Tonlage, die seinen Gebärden etwas Lächerliches anhaften ließ. Es war kein Wunder, dass es Demian köstlich amüsierte Lourde damit aufzuziehen. Dieser Zirkus schien ewig anzudauern, bis der Spirituosenhändler endlich eingriff und vorschlug einen besseren Platz zu suchen um das Fest anzusehen. Seik konnte gar nicht sagen wie sehr er diese Entscheidung begrüßte. Er wollte sich gerade unbemerkt aus dem Staub machen, da sprang Demian von seinem Sitzplatz und bot Lourde damit freie Sicht auf Seik. Für einen kurzen Moment blickte er ihm geradewegs ins Gesicht. Schnell wich er dem fragenden Blick aus und verfluchte sich dafür, aufgesehen zu haben. Ob Lourde ihn erkannt hatte, vermochte er allerdings nicht zu sagen und ehe der Junge ein weiteres Wort verlieren konnte, war Demian auch schon wieder bei ihm und griff nach seiner Schulter. Kurz darauf hörte Seik wie die Flasche auf dem Asphalt zu Bruch ging. Lourde stand reglos mit geöffnetem Mund da und wie es aussah fehlten ihm schlicht die Worte um seiner Empörung über Demian Ausdruck zu verleihen. Einerseits hatte Seik schon fast Mitleid mit ihm, anderseits strapazierte Lourdes Anwesenheit allmählich wirklich seine Nerven. „Verschwinde einfach, Lourde.“ Im gleichen Moment verwünschte er es den Mund aufgemacht zu haben. Natürlich zog er augenblicklich wieder Lourdes Aufmerksamkeit auf sich, der ihn verwirrt anstarrte und ganz offensichtlich versuchte den Mann zu identifizieren. Er konnte sich wohl keinen Reim daraus machen, woher Seik seinen Namen kannte und auch Raffa und Demian schienen recht irritiert. Einen ausgemergelten Kerl wie ihn mit einem jungen, adligen Mann in Verbindung zu bringen, bedurfte schon einer tollkühnen Vorstellungskraft. „Kenne ich Euch nicht?“ fragte Lourde unsicher, während er langsam näher kam. Dann war der Groschen endgültig gefallen und Seik konnte ihm die Erkenntnis deutlich aus den Augen ablesen. „Bei den Göttern. Ihr?“ Seik seufzte tief und rieb sich mit der Hand über das Gesicht, über Kinn, Wange, Nase und schließlich über die gerunzelte Stirn. Jetzt musste er sich doch der Situation stellen, die er lieber vermieden hätte. „Seid Ihr es wirklich?“ Freudlos starrte er in das fragende Gesicht vor sich und fühlte wie er allmählich im Erdboden versank. Das hier war um einiges demütigender als die Sticheleien des frechen Burschen. Lourde verkörperte für ihn die unliebsamen Erinnerungen an das Dentrium und die Erniedrigung die man ihm beigebracht hatte. Das die Fuorier ihn wie Dreck ansahen, daran hatte er sich gewöhnt, Lourde dagegen kannte ihn nur als den Mann, der er einmal gewesen war. Die Gestalt die jetzt vor ihm stand musste anwidernd für ihn sein und das traf Seik auf eine so beklemmende Art, dass er sich zurück versetzt fühlte an die ersten Tage seines Lebens im Fuorium. „Die Zofe sucht nach Euch. Seid Ihr etwa weggelaufen?“ sagte er trocken und versuchte so über seine Situation hinwegzutäuschen. Der letzte verbliebene Hauch von Stolz verbot ihm, seine Niederlage vor Lourde zu zeigen. Tatsächlich fühlte sich sein Mund jedoch mit einem Mal trocken an und ein dumpfes Pochen rührte sich schmerzhaft hinter seiner Stirn. „So ein Unsinn. Ich sehe mich nur auf dem Fest um und Mary ist dicht hinter…oh?“ Lourde drehte sich um, doch von der Zofe nach der er Ausschau hielt fehlte jede Spur. Was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien. „Egal, ich kann schließlich selber auf mich aufpassen. Aber Ihr…“ Sein erstaunter Blick wanderte wieder an Seik herauf und hinunter. Es ließ keinen Zweifel offen, dass Lourde sein Anblick äußerst unangenehm war. „Ihr seht ekelerregend aus. Es muss furchtbar sein in der Unterschicht zu leben.“ Seik blickte Lourde ruhig an, auch wenn sich innerlich etwas in ihm zusammenzog. Er tat sich selber gerade unendlich leid und ihm fiel nichts weiter ein als zu sagen: „Man gewöhnt sich dran. So schlimm ist es gar nicht.“ „Wirklich? Kann ich mir gar nicht vorstellen“, murmelte Lourde träge und versetzte Seik damit unbeabsichtigt einen weiteren Stich. Der Junge war tatsächlich naiv genug zu glauben, dass er die Wahrheit sagte. In seinen Augen konnte Seik nicht mehr sein als ein abgewrackter Kerl von der Straße, der sich in Gesellschaft großmäuliger Volltrottel betrank. Glaubte er allen Ernstes, dass er sich das selber ausgesucht hatte? Die Ironie, die über dem ganzen lag, war perfekt. „Du solltest gehen und das Fest genießen“, riet er Lourde, da fiel ihm schon Raffas raue Stimme ins Wort. „Wir bekommen Besuch.“ Seik blickte auf, um zu sehen was Raffa meinte und schluckte. Die Zofe war wieder aufgetaucht, diesmal allerdings nicht alleine sondern in Begleitung zweier Männer. Den einen erkannte Seik als rangloses Mitglied der Magiergilde, an dessen Namen er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Mehr Sorge bereitete ihm der andere Mann. Es handelte sich um Gillermo Sabik, der Hauptmann der Rittergarde, und es war unschwer zu erkennen, dass seine Laune im Augenblick nicht die Beste war. Sie mussten Lourde entdeckt haben, denn sie liefen geradewegs auf Raffas Stand zu. „Was haben wir denn hier für einen Haufen stinkender Ratten? Nehmt mal schnell die dreckigen Griffel von Deviresh oder ich vergess, dass heut ein netter Festtag ist.“ Demian zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern, ihm machte die Drohung scheinbar keine Angst. Ganz im Gegensatz zu Lourde, der leicht zusammen schreckte, als er den tiefen Bass des Hauptmanns vernahm. Dieser baute sich nun in der offensichtlichen Absicht Eindruck zu schinden, übertrieben imposant vor ihnen auf, die Schultern aufrecht gestrafft und mit einem überheblichen Grinsen auf seinem fiesen, kantigen Gesicht. Sein stechender Blick fixierte die kleine Gruppe mit unverhohlener Abfälligkeit und machte unmissverständlich klar, dass er nicht bereit war Kompromisse einzugehen. Lourde trat mutig einen Schritt nach vorn und wandte sich an den Magier, der bislang nur still daneben gestanden hatte. „Es ist alles in Ordnung. Können wir nun bitte gehen? Die Parade fängt gleich an.“ Als Antwort wurde der Junge am Ärmel gepackt und grob mitgezerrt. Die Stimme des Magiers klang alt und zitternd, aber seine Worte waren deutlich. "Ihr kehrt auf der Stelle ins Dentrium zurück." Für Lourde war das Fest hiermit vorbei. Sie würden ihn auf der Stelle wieder in sein Anwesen führen. Der Junge blickte den Magier erschrocken an und machte Anstalten zu widersprechen, aber dann senkte er nur betrübt den Blick und folgte anstandslos. Es war schade für Lourde, dass sein Ausflug nun ein so jehes Ende fand, aber Seik verstand die Gründe nur zu gut, weshalb man ein so strenges Auge auf ihn hielt. Er war für das Dentrium von unschätzbarem Wert. Ihn selber brauchte es allerdings nicht mehr zu interessieren was in der Oberschicht vor sich ging, also beschloss er, dass ihm dieser Zwischenfall egal sein konnte. Was ihn aber nicht davon abhielt dem Ritter, der zurückgeblieben war, nochmals höflich darauf hinzuweisen, dass sie in ihrer Aufsichtspflicht versagt hatten. „Ich würde vorschlagen dem Jungen das nächste Mal einen gewissenhafteren Bewacher an die Seite zu stellen“, sagte er und machte keinen Hehl aus seinem Spott, den er für das unachtsame Verhalten übrig hatte. Gillermo zog als Antwort auf Seiks Kommentar blitzschnell sein Schwert und hielt es in seine Richtung. Seine feisten Lippen formten ein heuchlerisch galantes Lächeln. „Lieber Seik.“ Er lachte höhnisch. „Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, dass deine erbärmliche Erscheinung hier unerwünscht ist. Ich würde dir raten nicht aufzufallen, sonst sorge ich höchstpersönlich dafür, dass eine ekelhafte Ratte weniger im Fuorium herumlungert. Konntest du mir folgen oder muss ich deutlicher werden?“ Seik nickte langsam und beschwichtigend. Er hatte sehr wohl verstanden und war schlau genug nun besser die Klappe zu halten. Der Hauptmann wusste, dass Seik in dieser Verfassung nur den Kürzeren ziehen konnte und das reizte der Mistkerl selbstverständlich schamlos aus. „Schon gut. Ich habe verstanden.“ Seik antwortete gelassen und begegnete, ungerührt von der Schwertspitze des Hauptmanns, weiterhin provokant seinem Blick. Erst Raffas lautes Organ schaffte es der Situation wieder die Schärfe zu nehmen und dafür war er ihm sogar dankbar. „Heute kein Stress, Bruder. Kommt, Leute, wir verziehen uns endlich. Greift euch was eure schlappen Arme tragen können und dann saufen wir uns woanders ungestört die Hucke voll.“ Raffa lud unbeeindruckt vom Gehabe des Ritters die übrigen Kisten wieder zurück auf seinen Wagen und setzte sich dann in Bewegung. „Los, Seik. So heißt du doch? Beeil dich. Wir müssen den Pegel bis zur Parade noch steigern, dann kommt das Feuerwerk viel besser rüber.“ „Hast Recht. Hier stinkts. Auf zur Parade!“ pflichtete ihm Demian bei. Seik blieb noch einen Moment stehen, ehe er den verächtlichen Blick wieder abwendete und langsam, das letzte bisschen Stolz bewahrend, an dem gezogenen Schwert vorbei lief um den beiden zu folgen. Gillermo ließ ihn ziehen, doch Seik ahnte, was jetzt in seinen Gedanken vor sich ging. „Geh nur mit deinen stinkenden, verlausten Freunden. Du bist jetzt einer von ihnen. Du bist Dreck“, rauschten die imaginären Worte hämisch durch seinen Kopf. Kapitel 3: Die Parade --------------------- „Hey, Großer, schwenk mal weiter nach rechts. Bei dem Brunnen da hinten ist noch alles frei. Schnell!“ Seik hob träge den Blick. Demian saß auf Raffas Schultern und ließ sich wie ein Kleinkind von ihm herumtransportieren. Nach Ansicht des Jungen sollte es so viel schneller gelingen einen freien Platz für die drei ausfindig zu machen. Was natürlich unglaublich clever von ihm war, da Raffa ohnehin alle Menschen hier um mindestens einen Kopf überragte. Aber warum sollte man sich selbstständig durch den Wust an Menschen kämpfen, wenn man sich doch bequem vom Riesen tragen lassen konnte? Mit wild fuchtelnden Händen lotste Demian seinen Kumpanen in die richtige Richtung. Der Rothaarige hob seinen von Rasterlocken überwucherten Kopf empor, um nach seinem lebenden Gepäck zu sehen, das ungeduldig mit den Füßen gegen seine Brust trommelte, um ihn anzutreiben. „In Ordnung, Sportsfreund. Halt dich fest, wir schlagen uns durch das Getümmel.“ Raffa ging voran und trieb die Menschenmenge mir nichts dir nichts auseinander. Wer nicht kuschte wurde einfach mit dem Wagen, den er vor sich her schob, angerempelt. Dicht hinter ihm hatte Seik alle Mühe Schritt zu halten. Jetzt galt es sich zu beeilen, solange der Weg frei war und die Lücke sich nicht wieder schloss. Wäre er doch Demian zuvorgekommen und hätte den Posten auf Raffas Schultern als erster für sich beansprucht, aber im Gegensatz zu diesem Hohlkopf hatte er so etwas wie Würde. Davon wollte er sich ein wenig bewahren. Er war schon tief genug gesunken, auf das Niveau musste er sich nicht auch noch herablassen. Daher ließ er Demian und Raffa gütigst den Vortritt, Hampelmänner aus sich zu machen. Es stand außer Frage, dass die beiden nicht ganz dicht waren. Demian bekleidete den Rang eines Dummschwätzers, der sich wichtiger nahm als er eigentlich war und der Händler trat als gutmütiger Riese auf, der weit weniger gefährlich war als es sein wildes Äußeres auf den ersten Blick vermuten ließ. Zumindest waren sie harmlos und er zog ihre Gesellschaft jederzeit der des Ritterhauptmanns vor. Das hielt sie aber nicht davon ab, ihm mit ihrem kindischen Gelaber und dem ständigen Gelächter auf die Nerven zu gehen. Langsam aber sicher war er es überdrüssig, aber immerhin unterließen sie es, ihn in ihre Gespräche mit einzubeziehen. Nachdem sie ihr neues Lager beim Brunnen aufgeschlagen und sich mit Raffas Empfehlungen eingedeckt hatten, begann wieder eine unheimlich tief schürfende Diskussion, derer sich Seik dezent enthielt. Raffa war der Meinung, dass die Bewohner des Fuoriums seit seinem letzten Besuch sichtlich geschrumpft seien, woraufhin Demian ihn mit seiner eigenen riesenhaften Größe aufzog. „Du passt ja nichtmal in ein richtiges Bett und musst bei den Schweinen pennen, so groß bist du.“ „Na, immerhin sind Schweine wohlriechender als mancher Mensch, das muss mal gesagt sein“, war die gelassene Antwort des Händlers, und Seik hätte schwören können, dass er ihn dabei mit einem kurzen Seitenblick streifte. „Ihr kleinen Erdferkel seids bloß nicht anders gewohnt. Wenn du mal in meine Region kommst, schnitz ich dir ein Kinderbettchen, verdammtes Schlitzohr.“ „Also ICH rieche gut. Hab erst Anfang des Jahres gebadet“, scherzte Demian. Seik fand keinen Anreiz sich irgendwie an der sinnlosen Unterhaltung zu beteiligen. Auch wenn er jetzt offiziell mit diesem Gesindel auf einer Stufe stand, seine gute Erziehung hatte er nicht vergessen und diese lehrte ihn nur dann zu sprechen, wenn man es von ihm erwartete. Außerdem hatte das unerwartete Treffen mit dem Dentrium ihm den ohnehin schon miesen Tag ordentlich versaut. Seine derzeitige Laune hatte somit ihren Tiefpunkt erreicht und vor seinem inneren Auge spulte sich immer wieder die Begegnung mit Lourde, dem alten Magier sowie dem Ritterhauptmann in einer Endlosschleife ab. Lustlos betrachtete er die kleinen, mit Blättern verzierten Papierschiffe, die im Brunnenwasser segelten. Wenn er ehrlich war, hielt er immer noch an der Hoffnung fest, irgendwann ins Dentrium zurück zu kehren. Das Fuorium fühlte sich wie ein Gefängnis an. Er hatte sich notgedrungen an das Leben hier angepasst und war dabei abgestumpft, das machte es aber nicht besser. So sehr er auch versuchte sich damit abzufinden, jede noch so unbedeutende Kleinigkeit rief schmerzliche Erinnerungen in ihm wach, die sich nicht verdrängen ließen. War es kälter geworden? Ungefragt griff er sich eine weitere von Raffas Flaschen und setzte sich damit auf den Rand des Brunnens, den Rücken gekrümmt, den Kopf gesenkt auf Höhe seiner hängenden Schultern, nahm einen Schluck des Trost spendenden Inhalts. Was war doch für eine traurige Gestalt aus ihm geworden, die in Alkohol die einzige Lösung sah vor der der bitteren Wirklichkeit zu fliehen. „Was hat nen Kerl wie du eigentlich mit dem Dentrium zu schaffen?“ Das war Raffas Stimme, die Seik aus seinen Gedanken riss. Er hob den schlaffen Kopf und blickte irritiert in das Gesicht des Hünen, der neben ihm auf dem Brunnenrand Platz genommen hatte. „Was?“ „Hab mal gehört, die hohen Herrschaften suchen sich die Mädels hier unten um Spaß zu haben, weil ihnen ihre feinen Ladies zu prüde sind. Aber du siehst jetzt nicht gerade wie jemand aus, den man sich für ein Schäferstündchen mitnimmt, was, Kumpel?“ „Da muss er erst noch seinen Augenaufschlag üben.“ Demian setzte noch einen drauf. „Jetzt mal ohne Flachs. Du kanntest den Knirps vorhin doch?“ Herrlich! Man hatte ihn in letzter Zeit ja allem Möglichen bezichtigt, aber dass man ihn jetzt schon mit Nutten in einen Topf warf, war was boshafte Kreativität anging mit Abstand das Meisterstück. Er zollte den beiden all seinen Respekt für diesen überaus geistreichen Ideenreichtum. Aber sollten die beiden doch denken was sie wollten, ihnen war er keiner Erklärung schuldig. „Wie dein Freund schon sagt. Ich war denen als Hure wohl nicht mehr gut genug. Das ist auch schon die ganze Geschichte.“ „Du Geheimniskrämer willst wohl nicht damit rausrücken, hm?“ „Nein.“ Und damit war die Diskussion für ihn beendet. Er war froh, dass Raffa einsichtig genug war daraufhin keine weiteren Fragen zu stellen. Allmählich verdichtete sich die Menge zu beiden Seiten der Hauptstraße und steigende Aufregung machte sich unter den Menschen breit, die sich nun nach vorne drängten um den besten Platz für sich zu beanspruchen. Das Zeichen, dass das Spektakel begann. Es wurde gerempelt was das Zeug hielt. Man jubelte. Kinder zappelten aufgeregt auf den Schultern ihrer Eltern. Dann ein gewaltiges Staunen, das durch die Menge ging, als der erste Festwagen heranrollte. Der durch Ätherenergie angetriebene Wagen zeigte eine üppige Baumlandschaft in sattem Grün. Ganz vorne stand ein verkleideter, junger Mann, der Mafuu repräsentieren sollte, und hob feierlich seine Hände über das staunende Publikum. Kaum, dass er den Leuten mit dieser eindrucksvollen Pose ein stupides „Ohhh“ entlockt hatte, verfärbten sich wie durch Zauberhand die grünen Blätter an den Bäumen und segelten in den Farben Mafuus zu Boden. Das berüchtigte „Ahhh“ folgte und die Leute versuchten wie gebannt nach den nutzlosen Blättern zu greifen, die der Wind vom Wagen ins Publikum trug, nur um zu sehen wie der Trick funktioniert hatte. Raffa und Demian amüsierten sich derweil köstlich darüber, warum man so einen Hanswurst ausgewählt hatte, um einen Gott darzustellen und ernteten dafür böse Blicke aus dem Publikum. Man mochte Ihnen vergeben, immerhin sprach der Alkohol aus ihren Mündern. Während Seik die Darbietung auf dem Wagen weiter beobachtete, fiel ihm ein Kerl auf, der unweit von ihnen aus der Menge auftauchte und zum Brunnen schlenderte. Er stufte ihn ohne weiteres in die Kategorie der zwielichtigen Personen ein, denn es hätte ihn schon sehr gewundert, wenn dieser Mann mit dem schmal zulaufenden Rattengesicht und den stechenden Augen nicht irgendwelchen Dreck am Stecken hatte. Kommentarlos setzte sich der Kerl mit an den Brunnen und ging darin über, den Inhalt seines Geldbeutels auszuloten, zeigte sich dabei wenig erfreut über die paar Münzen, die daraus zum Vorschein kamen. Offensichtlich genervt ob seiner momentan kritischen, finanziellen Lage, mischte er sich einfach in das Gespräch von Raffa und Demian ein. „Hey, Riesenbaby. Vertickerst du die Flaschen da?“ Raffa schob sich die Brille tiefer ins Gesicht und lächelte breit zu dem Kollegen. Mit der großen Hand deutete er auf sich selber. „Ja, der Laden gehört mir. Aber hör mal, du Zwerg, mich nennt man hier immer noch Meister Raffa.“ „Der Große bunkert den Alk nur so. Musst nur nett lächeln, dann gibt er dir auch was ab.“ Demian konnte es wieder nicht lassen, ebenfalls seinen Senf dazu zu geben, wurde aber gleich wieder von Raffas Hand zum Schweigen gebracht, die ihm locker auf den braunen Wuschelschopf drückte. „Nett lächeln ist ja ganz schön, Demian, aber das Zauberwort heißt immer noch Bargeld. In meiner, wie auch in eurer Heimat.“ „Das Lächeln hebe ich mir auch lieber für anderes auf“, sagte der Kerl mit einem verschlagenen Schmunzeln. Raffas Angebot wurde kurz in Augenschein genommen, dann hielt er ihm eine der Münzen hin. „Was bekomme ich dafür?“ Seik sah zu wie die Münze ihren Besitzer wechselte und Raffa kurz darauf seine Ware herausrückte. Das Rattengesicht löste den Korken kurzerhand und nahm einen Schluck, bei dem er augenblicklich erschauderte. „Bei Mafuu…“ Er trank weiter, diesmal vorbereitet auf das geschmacklose Brennen. Prompt wurde auch Leander, so stellte er sich ihnen vor, in die Runde der armen Säufergemeinschaft aufgenommen, da es sich nach Raffas Meinung auf einem Fest so gehörte, in guter Gesellschaft zu trinken. Dagegen schien er keine Einwände zu haben und mit jedem weiteren Schluck lockerte sich seine Stimmung, bis auch er geschwätziger wurde und sich an dem Gespräch der beiden anderen beteiligte. Seik bekam mit, dass die zweifelhafte Anwesenheit dieses Mannes auf dem Fest mit einem Auftrag zusammenhing, den er hier erledigen sollte. Wobei unklar blieb, welche Art von Aufträgen das Rattengesicht annahm. Seik traute ihm die Tätigkeit eines Meuchelmörders zu, der nur darauf wartete das Messer in den Rücken seines ahnungslosen Opfers zu rammen. Die beiden anderen scherte das wohl einen Dreck. Es war jedoch nicht zu übersehen, dass Demian Leander nicht ausstehen konnte. Der Junge nutzte jede Möglichkeit um ihn zu reizen, doch anstatt sich dadurch provozieren zu lassen, drehte Leander den Spieß locker um. Hier bewies Demian eindrucksvoll, anders als bei dem leicht einzuschüchternden Lourde, dass hinter seiner großen Klappe nichts weiter steckte als heiße Luft. Seik konnte nicht behaupten, dass er ihm leid tat. Leander hatte heimlich seine Sympathie, denn trotz seiner etwas herben Aussprache schien er, im Gegensatz zu Demian, ein wenig Intelligenz gepachtet zu haben. Raffa machte sich keine große Mühe zwischen den beiden zu schlichten. Es war sicher auch besser sich raus zu halten, wenn zwei Jungspunde dabei waren sich die Köpfe einzuschlagen. Dafür wusste er die beiden Streithähne geschickt mit Geschichten aus seiner Heimat, den Bergen, oder anderen Ländern abzulenken. Darunter einige, so musste Seik zugeben, selbst für ihn interessante Erzählungen. Wie es aussah hatte der Mann seine Augen und Ohren überall und während seiner Händlerreisen, die ihn von Stadt zu Stadt brachten, einiges was in der Welt vor sich ging aufgeschnappt. So abenteuerlich wie manche dieser Geschichten ausschweiften, konnte Seik sich förmlich ausmalen, wie der tatsächliche Inhalt von Mund zu Mund immer weiter ausgeschmückt worden war, nur damit ein jeder sie noch spannender erzählen konnte. Doch seine Zweifel behielt er für sich. Als Raffa schließlich aber von Geschehnissen berichtete, die er über Grismina gehört hatte, wusste er nur zu gut, dass es sich um die Wahrheit handelte. „…Also“, begann Raffa, „Ich hab die Geschichte von nem Mädel gehört, das früher mal mit ihrem Mann hier gewohnt hat. Ich kenn die Kleine ganz gut, ist die Tochter von nem Handelskollegen. Die beiden waren damals kurz nach ihrer Hochzeit in eine nette, kleine Behausung nahe der Grenze zum Dentrium gezogen um sich ne gemeinsame Existenz aufzubauen. Sie haben kein schlechtes Leben geführt, das Mädel war sogar bei irgendeinem hohen Herren angestellt gewesen. Jedenfalls hab ich sie vor einiger Zeit mal in dem kleinen Dorf außerhalb der Stadt wieder getroffen. Hab sie gefragt, warum sie nicht mehr in Grismina lebt und ihr glaubt nicht, was das arme Ding dort erlebt hat. Da klopfts doch eines Tages ganz unverhofft an ihre Wohnungstür. Sie hatte mit Besuch gerechnet, aber nicht damit einer ganzen Truppe bewaffneter Ritter gegenüber zu stehen, die sie aufforderten das Haus zu verlassen. Von jetzt auf gleich. Einfach so. Aber nicht, dass das Paar etwas ausgefressen hätte, nein, anscheinend hatte man sich in Kreisen des Ministeriums einfach dazu entschieden, das Haus zum Eigentum des Dentriums zu erklären. Da stand nämlich, lass mich lügen, etwa zehn Meter entfernt so ein Denkmal zu Ehren der Rittergarde und denen war plötzlich eingefallen, dass das einfache Fuorierhaus die Aussicht auf ihren schönen Ritterstolz verschandeln könnte. Gesagt getan, das Haus musste weg. Ich sag euch, sie musste sich ganz schön zusammenreißen, als sie mir erzählt hat, wie die Ritter rücksichtslos in ihr Haus eingedrungen sind und sie und ihren Mann raus getrieben haben, als seien sie das letzte Gesindel. Die hatten sogar einen von der Magiergilde mitgeschickt, um den Einsatz zu überwachen, an den konnte sich das Mädel besonders gut erinnern. So ein mieser, fetter Kerl. Hatte verächtlich von oben auf sie herab geschaut, als sie ihr von den Rittern freundlicherweise hinterher geschmissenes Hab und Gut vom Boden aufsammeln mussten. Als wären sie Dreck zu seinen Füßen. Kein Wort hat er während der ganzen Aktion an sie verschwendet, sondern nur dagestanden wie so ein Bonze und Befehle erteilt. Die beiden haben soviel zusammen gekratzt wie sie tragen konnten und erstmal das Weite gesucht. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Als sie später noch mal zurückgekommen sind, um ihre restlichen Sachen zu holen, war das Haus bereits abgerissen und die beiden standen ohne jede Entschädigung auf der Straße. Scheiß Geschichte, aber davon gibt’s leider ne ganze Menge. Dieser Magiertyp, so und so Jelester heißt dieser Mistkerl, ist jedenfalls kein unbeschriebenes Blatt. Der muss immer ganz vorn mitmischen, wenn es um die Exekutive des Ministeriums geht…“ Raffa schien vom vielen Reden eine trockene Kehle bekommen zu haben. Er entkorkte die Flasche unter Einsatz seiner Zähne, es machte Plopp und der Korken landete ausgespuckt im Brunnen. „Manchmal denke ich mir, wäre gar nicht verkehrt wenn die Rakazel noch da wären. Das war zumindest mal ein Haufen, der den Mistkerlen aus dem Dentrium ordentlich ans Bein gepinkelt hat.“ „Die Rakazel? Wer soll das denn sein?“ fragte Leander, der Raffas Geschichte scheinbar mit Interesse gelauscht hatte. „Häh? Woher kommst du eigentlich? Wer hat denn noch nicht von den Rakazel gehört?“ neckte Demian sofort, anscheinend schon wieder auf Streit aus. Seik gefiel es immer weniger, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelte. Nervös fischten seine knochigen Finger nach den Zigaretten in seiner Manteltasche und er steckte sich eine davon zwischen die Lippen. Nachdem er sie an einer der entlang des Brunnens aufgestellten Fackeln entzündet hatte, inhalierte er den vertrauten Geschmack von Nikotin tief ein. Es beruhigte ihn. „Die Rakazel nannte sich eine ziemlich berüchtigte Gruppe von Piraten. Es gibt viele Geschichten über diese Bande, aber das eindruckvollste ist wohl ihr legendäres Luftschiff von dem die Leute ehrfurchtsvoll berichten. Kein Witz, das Schiff konnte fliegen. Und dem Kapitän dieser Crew wurde nachgesagt, dass er mit Dämonen im Bunde sei. Vollkommener Schwachsinn, wenn ihr mich fragt, aber der Typ hats eindeutig verstanden von sich Reden zu machen. Die Rakazel haben Kutschen der Adligen überfallen, Handelsschiffe geplündert und, um das ganze noch auf die Spitze zu bringen, sollen sie sich auch an den Äthervorräten des Dentriums vergriffen haben. Klar, dass die hohen Tiere da keinen Spaß verstehen und irgendwann zurückschlagen. Sie haben die Kerle wohl in eine Falle gelockt und aus die Maus. Danach hat die Neuigkeit ihrer Vernichtung hier für ein riesiges Spektakel gesorgt. Tja, und seitdem hats hier keiner mehr gewagt dem Dentrium auf der Nase herumzutanzen.“ Raffa nahm zwei kräftige Schlucke aus der Flasche ehe er wieder zum Sprechen ansetzte. „Ich trinke jetzt jedenfalls auf die Rakazel. Prost“, grölte er um die allgemeine Stimmung wieder zu heben und als wolle er dem Abschluss seiner Rede Nachdruck verleihen, folgte ein beherzter Rülpser. Seik störte es nicht mehr. Er konzentrierte sich auf die immer dünner werdenden Rauchschwaden, die von dem verbliebenen Zigarettenstummel aufstiegen. Während Raffas Erzählungen hatten sich Bilder der Vergangenheit vor seinem inneren Auge abgespielt, doch der ansteigende Alkoholpegel ließ die Erinnerungen wieder verdämmern, zurück blieb nur die benebelnde Schwere seines Rausches. Konturlose Gebilde aus bunten, leuchtenden Farben, die gerade noch Festwagen gewesen waren, huschten an ihm vorbei und zogen Seik tiefer und tiefer in eine angenehme Trance. Auch Raffas Stimme, obwohl er sich nicht von der Stelle bewegt hatte, schien sich immer weiter von ihm zu entfernen und es fiel ihm zunehmend schwerer das Geschehen um sich herum wahrzunehmen. Seine Sinne kehrten erst wieder zu ihm zurück, als er die Flut roter Farbe, die sich über den Platz bewegte, als das erkannte was sie war. Eine gigantische rote Flagge auf der das Wappen der Rittergarde prangte. Darunter stand, in würdevoll aufrechter Haltung, ihr Hauptmann und winkte dem Pöbel von seinem Podest aus zu. Hinter dem Schleier seiner Trunkenheit durchfuhr Seik eine tief aufgestaute Welle der Wut, die er auf diesen arroganten Dreckskerl verspürte. Er konnte es nicht mehr ertragen, untätig dazusitzen, diesen Typen seine Show genießen zu lassen, während er selber nur im Selbstmitleid zerging. Hätte er doch wenigstens ein faules Ei griffbereit, das er nach ihm werfen konnte, um seinem Ärger Luft zu machen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als den Rittern dabei zuzusehen, wie sie in Reih und Glied vor dem Wagen hermarschierten und ihre Formation präsentierten. Alle im Gleichschritt und keiner der annährend aus der Reihe tanzte. Sicher hatten sie es bis zum Erbrechen so einstudiert. Nachdem die Garde vorbeigezogen war, folgte das Schlusslicht der Kolonne und läutete somit das große Finale ein. Eine beeindruckende Plattform aus reinem Kristall, die ganz ohne den Gebrauch von Rädern knapp über dem Boden schwebte. Die Massen staunten entrückt über das Phänomen, wie sie es all die Jahre taten. Seik konnte sich dem Staunen nicht anschließen, denn er hatte von dem Auftritt der Magiergilde des Dentriums nichts Geringeres erwartet. Ein Auftritt wie es der zweiten großen Machthaber Grisminas gebührte. Die Männer und Frauen auf der Plattform waren in lange, schillernde Roben gekleidet und spiegelten alle Ehre und Würde ihres Ranges wieder, während sie mit ihren Stäben einen Takt auf den Kristallboden klopften, der wie ein dumpfer Trommelschlag über die Straße hallte. Mit der Ankunft der Magier auf dem Fest zog ebenfalls ein eisiger Windhauch auf, der Seik tief bis ins Mark traf. Aber nicht nur die Kälte machte ihm zu schaffen, es war der Anblick der Person, die die Spitze der Magier bildete, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. „Das ist Xerophes Intrivaria, der Hierophant der Magiergilde“, hörte er Raffas gedämpfte Stimme. Die erhabene Gestalt des mächtigsten Würdenträgers Grisminas musste selbst bei seinen Begleitern Eindruck hinterlassen. Der Hierophant starrte reglos in die Menge der Menschen, durch die ein ehrfürchtiges Raunen ging. Er trug ebenfalls eine edle, fließende Robe, aber anders als bei seinen Genossen war sie tiefschwarz und blieb von dem starken Wind völlig unberührt. Seik hatte das beunruhigende Gefühl die Zeit würde langsamer laufen, als sich der Magier mit ihm auf gleicher Höhe befand. Ob Xerophes von seiner Anwesenheit Notiz nahm? Seik bildete sich ein, dass die Kälte die seinen Körper zittern ließ, nur für ihn bestimmt war. Dann ging der Moment jedoch vorbei und alles lief wieder seinen gewohnten Gang. Das Publikum schrie und jubelte, denn das Feuerwerk hatte endlich begonnen. Aus den Stäben der Magier sprühten Funken aller Farben, die empor in den abendlichen Himmel schossen und dort unter tosendem Lärm in hunderte von bunten Sternen explodierten. Goldener Regen sprühte herab auf die begeisterten Menschen, die ihre Arme gen Himmel streckten. Wie hingerissen sie doch alle waren… „Ich scheiß auf das Dentrium“, entwanden sich die Worte ungehemmt seinen Lippen. „Ich hätte auch dort oben stehen sollen!“ Kapitel 4: Auf eigenen Beinen ----------------------------- Er war zu spät gekommen! Lourde betrachtete den Weg vor sich mit leeren Augen. Erst vor wenigen Stunden hatte ihn hier das rege Treiben feiernder Menschen begrüßt und in seinen Bann gezogen, nun lag eine fast leergefegte Straße vor ihm. Ein paar Leute und kleine Grüppchen gingen noch vereinzelt ihres Weges, als wäre heute ein Tag wie jeder andere. Nur die Spuren der Feier, der Festschmuck und zurückgelassener Unrat, erinnerten noch daran, dass hier zuvor eine Parade stattgefunden hatte. Lourde war schrecklich niedergeschlagen, als er einsah, dass er heute keinen Festwagen mehr zu Gesicht bekommen würde. Sein Blick wanderte hinauf. Letzte mysteriöse Schleier durchzogen den dunklen Nachthimmel und ließen ihn in den Farben Mafuus erscheinen. Mehr war von einem der spektakulärsten Feuerwerke dieses Jahres nicht übrig geblieben. Und auch davon hatte er nicht mehr mitbekommen, als das donnernde Grollen, das bereits verklungen war bevor Lourde den äußeren Ring erreicht hatte. Kaum mehr imstande dabei zu atmen war er gerannt, als säße ihm der Teufel im Nacken. Doch zu guter Letzt vergebens. Es war einfach nicht fair. Seine Gedanken waren seit Wochen von nichts anderem bestimmt worden, als diesen Tag zu erleben. Und das alles machten sie ihm kaputt, weil man die allgemeine Meinung teilte, er wäre sich nicht bewusst, welchen Gefahren man sich auf diesem Fest aussetzte? Aus diesem Grund hatten sie ihm schlussendlich für den Rest des Tages Hausarrest erteilt, wie sie sagten zu seiner eigenen Sicherheit. Normalerweise, wenn es zu solchen Diskussionen kam, akzeptierte er das Urteil der Älteren und gehorchte ohne Widerworte. Mit der Zeit hatte er sich einfach an seine überängstliche Behandlung gewöhnt und erntete lieber das Lob für Gehorsamkeit, als den Tadel wenn er aufbegehrte. Aber in dieser speziellen Angelegenheit war das alles anders, zumal er sich nichts zu Schulden kommen lassen hatte, sondern ganz alleine Mary. Ganz offensichtlich handelte es sich doch um ihren Fehler, ihn aus den Augen verloren zu haben. Doch als der Magier ihn nach Hause geführt hatte, waren die tadelnden Blicke allein ihm zuteil geworden. Selbst Mary hatte ihn gescholten, ihr fortgelaufen zu sein und eine gefühlte Ewigkeit lang musste er die Standpauken seiner Erziehungsberechtigten dafür über sich ergehen lassen. Alles hatte er mit demütiger Ruhe ertragen und widersprach auch kein einziges Mal den Rügen der Älteren. Doch das Maß der Ungerechtigkeit erreichte seine Spitze, als man ihm neben dem Hausarrest auch noch den Ausgang auf alle folgenden Festlichkeiten außerhalb des Dentriums verbot. Er hatte es restlos satt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, aber noch viel mehr hatte er Mary satt. Es schürte die Wut in ihm, wenn er darüber nachdachte, wie seine Zofe ihn in seinem Zimmer abgesetzt und so getan hatte, als wäre alles beim Alten. Als sie das Zimmer betraten, verlor Mary kein weiteres Wort über den Vorfall. Sie schimpfte jetzt nicht einmal mehr mit ihm, sondern schien regelrecht erleichtert, vermutlich darüber ihrer Pflicht entgangen zu sein ihn auf das Fest zu begleiten. Sie half ihm noch dabei das Festgewand auszuziehen um ihn wieder in eine schlichte, schwarze Tunika zu stecken und wand sich dann von ihm ab. Mit den Worten „Ich werde mich jetzt wieder der Arbeit widmen“ ließ sie ihn mit seinen Gedanken und der Wut in seinem Bauch alleine, abgestellt wie ein Möbelstück das an seinen Platz gehörte. Für Mary war die Ordnung somit scheinbar wieder hergestellt und sie konnte sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hingeben. Eifrig machte sie sich daran sein Zimmer auf Hochglanz zu putzen, fand dabei auch komischerweise immer eine Stelle, die ihr nicht sauber genug erschien. Lourdes Augen brannten, doch er versuchte mit aller Macht die Tränen, die seine Frustration schürte, zurückzuhalten. Er fühlte sich wie nie zuvor als ein Gefangener im eigenen Zimmer und das obwohl er völlig unschuldig war. So konnten sie nicht mit ihm umspringen. Wieso musste er sich überhaupt immer alles gefallen lassen? Sollten sie schon noch sehen, was sie davon hatten, denn er würde diesmal nicht klein bei geben. Scheinheilig bat er Mary darum Tee zuzubereiten und wartete ungeduldig darauf, dass sie das Zimmer dafür verlassen würde. Lourde hatte einen Entschluss gefasst, dem er nicht dem Zufall überlassen durfte, daher ließ er sich noch ein paar Minuten mehr Zeit, auch nachdem die Zofe außer Sicht war. Als er sich endlich sicher sein konnte, dass Mary nicht mehr unerwartet kehrt machen würde, griff er sich den schweren Samtmantel von der Garderobe und riss die Fensterläden weit auf. Wie er es auch drehte und wendete: Der Weg durch das Fenster war die einzige Alternative die ihm blieb, denn auf dem Flur konnten ihm massenweise Menschen entgegenkommen, die das Ende seines Ausfluges bedeutet hätten. Der Abstieg vom Fenster erwies sich jedoch schwieriger als gedacht. Die Steine waren von Nässe überzogen und eiskalt und der Wind zerrte an seiner Kleidung, als wäre es Mafuu selber der ihn aufhalten wollte. Von der jetzigen Position aus konnte er auf die Baumkronen hinabsehen, die sich in Reihe neben der Hauswand erstreckten. In ihrer imposanten Höhe ragten sie fast bis zu seinem Fensterbrett auf, aber leider eben nur fast. Es musste einfach zu bewältigen sein, sich mit etwas Geschick zu den Ästen herunter zu hangeln um auf den Baum zu gelangen. Er stemmte die Hände gegen den Fensterrahmen und ging langsam in die Hocke. Vielleicht wenn er es bis zum unteren Fenster schaffte um den Baum von dort aus zu erreichen, doch seine Kräfte würden für solch eine Aktion nicht ausreichen. Er verfluchte es, dass man ihm nicht erlaubt hatte der Rittergarde beizutreten. Für Hauptmann Sabik war solch eine Herausforderung wie diese sicherlich ein Kinderspiel. Er rutschte ein Stück zum Rand der Fensterbank vor, um seine Möglichkeiten abzuschätzen, verdammt war das tief, doch als er gerade wieder zurück in den Schutz seines Zimmers treten wollte, war es bereits zu spät. Feuchtigkeit und Schwerkraft forderten ihren Tribut und seine Füße verloren den Halt auf dem glitschigen Stein. Er rutschte tiefer, seine Knie stießen hart gegen die Fensterbank und Sterne flackerten vor seinen Augen. Doch der Schmerz reichte um seine Instinkte zu wecken, gerade noch rechtzeitig um sich an den Fenstersims zu klammern, bevor er in die Tiefe fallen konnte. Sein Herz hämmerte vor Aufregung, denn jeder weitere Fehler konnte jetzt schlimm enden. Er wusste nicht in welcher Verfassung er enden würde, wenn er das ganze Stück aus dem oberen Stockwerk hinunterstürzte und wollte es auch keineswegs herausfinden. Die Hände brannten bereits schrecklich und als er sich wieder versuchte hochzuziehen, musste er feststellen, dass seine Kraft dazu nicht ausreichte. Er strampelte mit den Füßen und hoffte irgendwo an der Mauer Halt zu finden, um seine Situation zu entschärfen. Die Angst davor sich Arme und Beine zu brechen löste Panik in ihm aus. Irgendwo unter ihm musste das Fensterbrett des unteren Fensters sein, doch er konnte es nicht fühlen, egal wie weit er die Füße streckte. Loszulassen und darauf zu vertrauen, dass er es schon erreichen würde, kam nicht in Frage. Seine Nerven lagen blank, noch länger und er konnte sein Gewicht nicht mehr halten…. Endlich! Da war ein hervorstehender Mauerstein, auf dem sein Fuß Platz fand. Erleichtert holte er tief Luft und für einen Moment war selbst der Schmerz vergessen, der in seinen Gliedern pochte, denn Konzentration war angesagt. Er lockerte seinen Klammergriff und ließ sich langsam tiefer sinken, streckte dabei den noch in der Schwebe befindlichen Fuß soweit er konnte nach unten. Noch ein Stück, dann erreichte er endlich das andere Fensterbrett und setzte mit dem zweiten Fuß nach, bevor er den oberen Stein losließ, den Körper drückte er so dicht er konnte an das Fensterglas und hielt sich am Rahmen fest. Ein Blick auf seine zitternden Handflächen offenbarten ihm viele gerötete Abschürfungen, doch vor Taubheit und Angst spürte er es kaum. Zwar waren es nur noch wenige Zentimeter, die ihn von den stämmigen Ästen trennten und doch zog ihn der Wunsch, die Fensterläden zu öffnen und in den Schutz des warmen sicheren Zimmers dahinter zu gelangen, zurück. Wie schlimm konnte es schon sein, nicht mehr auf die Feste zu dürfen, die er gerade mal seit zwei Jahren besucht hatte? Als wäre dies ein Stichwort gewesen ertönte plötzlich ein lautes Krachen aus der Ferne und ließ Lourde zusammen schrecken. Was war passiert? Hatte man sein Verschwinden bemerkt und Alarm geschlagen? Nein, das Geräusch war zwar laut, klang aber weit entfernt. Dann begriff er endlich und biss sich gequält auf die Lippen. Das Pfeifen und Krachen musste das Feuerwerk sein, das bereits begonnen hatte. Hier zwischen den Mauern der Gebäude, hatte er keinen freien Blick auf den Himmel, also konnte er es nur ahnen. Das hieß, er hatte keine Zeit mehr! Im Nachhinein, so dachte er, kam dieser Anstoß genau im richtigen Moment um den Mut zu fassen sich todesmutig von seinem Halt zu lösen um nach den dicken Ästen des Baumes zu greifen und die Beine darum zu schlingen. Der verschachtelte Wuchs des Giganten bot viele Möglichkeiten sich festzuhalten um nach unten zu klettern. Dabei war Lourde sehr langsam und vorsichtig. Die raue Oberfläche der Rinde war ebenfalls mit Nässe überzogen und kleinere Äste sowie das übrig gebliebe rötliche Laub machten es ihm nicht leichter, sondern versperrten ihm den Weg oder blieben an seiner Kleidung hängen. Er hatte schreckliche Angst nochmal abzustürzen, aber jetzt kam auch noch das bereits begonnene Feuerwerk und seine Sorge dazu, dass Mary schon wieder zurückgekehrt war und das offene Fenster bemerkte, also trieb er sich obgleich seiner schmerzenden Glieder weiter an. Als er den Abstieg endlich hinter sich gebracht hatte, stahl er sich durch den Vorgarten. Hier waren Büsche dicht an dicht gewachsen und groß angelegte Blumenbeete säumten Statuen und Obstbäume. Lourde nutze die säuberlich geschnittenen Büsche als Deckung und konnte so seinen Weg unbehindert fortsetzen. Das einzige Problem stellten somit die bewachten Tore da. Er hoffte inständig, dass man ihn nicht erkannte oder die Wachen bereits über sein Verschwinden informiert worden waren. Er atmete tief ein und stülpte sich die Kapuze seines Mantels tief über den Kopf, bevor er mit so viel Ruhe und Gelassenheit an der Torwache vorbei schritt, wie er in dieser Situation aufbringen konnte. Sein Herz flatterte in seiner Brust wie ein panischer Vogel in einem Käfig und er fürchtete darum, es würde ihn verraten. War der Mantel vielleicht noch mit Laub und Ästen bedeckt oder beim Klettern so nass geworden, dass es auffällig wirkte? Er war schon fast an der Wache vorbei und auch nachdem er den Posten passiert hatte, wurde er nicht aufgehalten. Die Torwachen schenkten ihm gar keine Aufmerksamkeit, sondern waren ganz auf das leuchtende Spektakel am Himmel konzentriert. Lourde wollte das Feuerwerk ebenso gerne bewundern, aber er hatte keine Zeit, er wollte es ja aus nächster Nähe sehen. Ein Gefühl von Triumph durchflutete ihn, wie das krachende, flimmernde Zischen der explodierenden Raketen und vertrieb die Kälte zumindest für den Moment aus seinem Körper. Klar, er war erschöpft und seine Hände brannten dort wo er sie verschrammt hatte, doch von alldem merkte er jetzt nichts mehr. Er hatte einen Funken Freiheit gewonnen, den er zutiefst genoss. Sein Ziel war es den restlichen Abend auf dem Fest zu verweilen und Spaß zu haben. Sollten seine Aufpasser nur krank vor Sorge um ihn sein. Er hatte nicht vor das Dentrium so eilig wieder aufzusuchen und wenn, dann würde er mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht heimkehren und bewiesen haben, dass er sehr wohl alleine auskommen konnte. Aber damit noch nicht genug, denn danach würde er mindestens zwei Tage lang kein einziges Wort mit ihnen sprechen. Er zog den Mantel fest um sich und wusste nicht, wann er das letzte Mal so guter Dinge war. Von der anfänglichen Euphorie war ihm nun nicht mehr viel geblieben. Sein Körper zitterte unkontrolliert, denn selbst der warme Samtmantel konnte ihn nicht gänzlich vor der abendlichen Kälte schützen. Er blieb alle paar Schritte stehen und rieb sich die Hände. Vermutlich würde er sich noch erkälten, aber die Aussicht darauf war ihm nicht einmal unangenehm. Spätestens wenn er totkrank im Bett lag und vor Fieber glühte, würden Mary und die anderen ihren Fehler einsehen und sich bei ihm für die Unannehmlichkeiten entschuldigen müssen. Doch erst einmal würde er den Abend auf dem Fest verbringen, oder das was davon übrig geblieben war. Zumindest befanden sich immer noch viele Menschen auf dem Marktplatz, doch auch deren Interesse hatte sich verlagert. Die Parade, um die sich zuvor noch alles voller Begeisterung gedreht hatte, war vorbei und das Leben brummte nun laut und lallend an den Unmengen von Weinhändlerständen, die noch geöffnet hatten. Unter die Betrunkenen wollte sich Lourde weiß Gott nicht mischen, also trottete er ohne jeden Antrieb an den vielen Händlerwagen vorbei. Er hätte daran denken sollen Geld mitzunehmen, aber dafür hatte er während seiner spontanen Flucht keinen Kopf gehabt. Allmählich verlor er das Vergnügen an diesem Fest und sogar an seinem Aufstand. Seine neugewonnene Freiheit war bisher ernüchternd ausgefallen. Er fror, langweilte sich und nun bekam er auch noch Hunger, dagegen konnte es kaum schlimmer sein den Hausarrest Zuhause abzusitzen, wo ihn seine Zofe umsorgte. Es war enttäuschend, hätte er doch sein Zimmer nie verlassen, aber dafür war es jetzt zu spät und sein Trotz und sein verletzter Stolz waren nunmal stärker als seine Vernunft. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Menschen gelenkt, oder vielmehr auf ein Mädchen, welches gerade lautstark von einem scheinbar angetrunkenen älteren Mann bedrängt wurde. Dieser ungehobelte Typ war selbst über das Gelächter und Gerede der anderen Personen um ihn herum deutlich zu hören und drückte sich obendrein auch noch schrecklich unpfleglich aus. Was das Mädchen betraf, sie wirkte wirklich fehl am Platz. Mit ihrem Rücken zu ihm gewandt konnte er zwar nicht viel von ihr erkennen, aber alleine ihre schmale Statur und geringe Körpergröße, ließ sie in Lourdes Augen äußerst zerbrechlich erscheinen und der Rüpel war gewiss nicht der richtige Umgang für sie. Jetzt griff der große Kerl auch noch ihre Schulter und hielt sie fest, während er auf sie einredete. Noch immer keine Spur eines Aufpasser oder einer Zofe, um ihr zur Hilfe zu kommen und auch die anderen Männer nahmen von dem ganzen Geschehen wohl gar keine Notiz. Lourde fühlte sich plötzlich schuldig ihr zu helfen. Jetzt wo er das mit angesehen hatte, konnte er nicht einfach weiterziehen und sie ihrem Schicksal überlassen. Man konnte nie wissen, welchen Gefahren man sich auf diesem Fest auslieferte, hallten die mahnenden Worte in seinem Kopf wieder. Penetrant genug war der laute Kerl auf jeden Fall, also konnte er auch gefährlich für das Mädchen werden. Entschlossen zu handeln ging Lourde auf die beiden zu und räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. „Bitte lasst sie in Ruhe! Sehr Ihr nicht, dass Ihr sie belästigt?!“ Das zeigte Wirkung und die beiden drehten verwundert die Köpfe zu ihm. Jetzt konnte er auch ihre Gesichter sehen. Der Betrunkene hatte ein breites rotes Gesicht und wässrige Augen, die Lourde einen Schauer über den Rücken jagten. Das Mädchen dagegen hatte hübsche, blaue Augen, die sich als Kontrast von ihrem dunkelbraunen, geflochtenen Zopf abhoben, der ihr über den Rücken reichte. Die Haut ihres mädchenhaften Gesichtes besaß eine reizende Blässe und auf ihren Lippen lag noch der Hauch eines Lächelns. Lourde war irritiert darüber, dass das Mädchen ganz ruhig war und gar keine Anstalten machte den Griff des Mannes abzuschütteln. Jetzt fühlte er die fragenden Blicke der beiden auf sich und konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was er an der Situation falsch verstanden haben könnte. Der ältere Mann gluckste amüsiert und auch das Mädchen stimmte bald in sein Lachen ein. Wie peinlich, gehörten die beiden etwa zusammen und er selber hatte sich als Störenfried herausgestellt? Lourde war die Situation allmählich ziemlich unangenehm. „Keine Bange, der ist harmlos. Er hat mich nur nach einem Drink gefragt“ antworte sie und erlöste ihn endlich aus dem verlegenen Schweigen, dann wand sie sich mit einem Zwinkern an den anderen Mann. „Aber für heute hast du genug, was?“ In Lourdes Gesicht explodierte die Schamesröte. Auf was für einen närrischen Fehler war er hier nur hereingefallen? Sicherlich hielt sie ihn für einen vorlauten Idioten, der nicht alle beisammen hatte. Noch schlimmer aber war, dass sich jetzt auch noch die Köpfe der nahestehenden Leute zu ihnen herumdrehten um mitzubekommen, was geschehen war. „Entschuldigung, ich habe mich wohl geirrt“ stammelte er und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass er beschämt war. Um dieser Peinlichkeit nur möglichst schnell wieder zu entgehen, wand sich Lourde hastig ab um das Weite zu suchen. „Warte doch mal.“ Das war die Stimme des Mädchens. Meinte sie ihn etwa? Er hielt in der Bewegung inne und drehte sich wieder zu ihr um. Tatsächlich war sie vorgetreten und wollte ihn wohl gerade an der Schulter fassen, zog die Hand aber gerade wieder zurück als er stehen blieb. Musste er sich von den beiden jetzt etwa auch noch eine Standpauke anhören, dass er ihre Feier gestört hatte? Er konnte doch nicht ahnen, dass sich ein junges Mädchen wie sie mit solchem Gesindel herumtrieb. „Trotzdem danke, dass du dir Sorgen gemacht hast. Süß von dir.“ Lourde traute seinen Ohren kaum. Sie lächelte nett und schien auch kein bisschen sauer auf ihn zu sein. Selbst der betrunkene Typ grinste über beide seiner roten Ohren. „Danke. Keine Ursache. Ich wollte Euch sicher nicht stören, Mylady.“ „Euch? Mylady?“ Das Mädchen schien einen Moment verdutzt, dann lachte sie abermals, diesmal klang es herrlich erfrischend und vergnügt. Was an seiner Aussage so witzig war, konnte er allerdings nicht sagen. „Weißt du, nenn mich doch einfach Lian“, lenkte sie ein, als sie sich wieder gefangen hatte. Lian, das war dann wohl ihr Name, komisches Mädchen, dass sie sich an seiner Anrede störte. Aber er wollte nicht unerzogen wirken, also nickte er höflich. „Siehst nicht danach aus, als wenn du zum Trinken hierher gekommen bist. Vermutlich um die Tänzerinnen gleich zu sehen, oder?“ „Tänzerinnen?“ Lourdes innere Anspannung legte sich mit einem Mal. Es gab heute Abend noch Tänze zu bewundern, die er nicht verpasst hatte, welch ein Glück. Vielleicht war der Abend doch noch nicht gelaufen und sein kleiner Ausbruch nicht umsonst gewesen. Langsam kehrte sein Enthusiasmus zurück und er war doch noch froh, sie angesprochen zu haben. „Ja, genau, ich möchte mir sogar sehr gerne die Tänze ansehen. Wisst Ihr zufällig, wo ich sie finden kann, Lian?“ „Ja, weiß ich. Ich wollte auch gleich hingehen und sie mir ansehen. Für heute habe ich nämlich Feierabend. Wenn du willst, nehm ich dich mit.“ erklärte Lian und klopfte ihrem betrunkenen Bekannten auf die Schulter. „Und für dich wird’s auch langsam Zeit.“ Was, sie wollte ihn direkt begleiten? Es kam überraschend, wie vertraulich sie sich plötzlich ihm gegenüber gab. Mit einem Mal fühlte er sich wieder unwohl in seiner Haut und sein Misstrauen war geweckt. Wie oft hatte man Lourde schon vor den Machenschaften gewarnt, die hier in der Unterschicht ihr Unwesen trieben, von Mördern und Kidnappern und sonstigem Gesindel? Allerdings machte das Mädchen nicht den geringsten Anschein eines verruchten Schurken und eigentlich hatte er sie ja auch zuerst auf die Idee gebracht ihn mitzunehmen. Kein Grund zur Sorge. Wenn er nicht direkt wieder nach seinen Babysittern schreien wollte, musste er endlich lernen seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und er wollte diese Tänzerinnen unbedingt sehen. Auf dem Weg dorthin erzählte ihn Lian viel Interessantes über das Mafuufest. Er hatte wirklich Glück gehabt eine hübsche und obendrein kluge Wegführerin zu finden. Außerdem erzählte sie, dass sie für den Eigentümer des Weinstandes arbeitete und seine Gäste bewirtete, wie auch den lauten betrunkenen Rüpel. Abermals behauptete sie, dass er ganz nett und harmlos sei, aber Lourde wollte dem nicht ganz glauben. Leider hatte sich damit seine Hoffnung, sie sei eine Dentrianerin, ebenfalls in Rauch aufgelöst, denn die würde niemals für einen Verkäufer arbeiten. Es war kaum zu glauben, doch er war hier mit einer Fuorierin unterwegs, eine die sich zwar benehmen konnte aber trotzdem jemand aus dem Unterschichtenring. Er hoffte nur, dass Lian sein Unbehagen nicht mitbekommen hatte. Bei näherer Betrachtung war Lian nicht mit den Fuoriern, denen er vorher begegnet war, in einen Topf zu werfen. Die waren laut und ungehobelt, Lian dagegen war recht wortgewandt und ihr dunkles Kleid strahlte eine schlichte Eleganz aus. Lourde fiel auf, dass besagtes Kleidungsstück kaum mehr Schutz vor der Kälte bieten konnte, als ein dünnes Sommerkleid. Bestimmt fror sie schrecklich und sagte kein Wort, um nicht zimperlich zu erscheinen. Kurzerhand zog er sich den Mantel von den Schultern und reichte ihn zu ihr herüber, deutete dabei eine höfliche Verbeugung an. „Lian, darf ich Euch meinen Mantel anbieten?“ Ein angenehmes, zurückhaltendes Auftreten und eine adrette Art sich zu artikulieren, dass war es worauf man in der Gesellschaft Wert legte und was Lourde Tag ein, Tag aus eingetrichtert wurde. Was gutes Benehmen anging, machte ihm so schnell keiner etwas vor. Darauf war er selber sehr stolz, denn hinter seiner Etikette fühlte er eine Art von Sicherheit, auf die er sich stützen konnte. Immerhin war er ein wichtiger Bestandteil des Dentriums und es war seine persönliche Pflicht seine Aufgaben für den Wohlstand seiner Heimat zu erfüllen. Jetzt aber musste er sich erst mal um das Mädchen kümmern, das von seiner entgegenkommenden Art sehr angetan wirkte und ihm ein freundliches Lächeln schenkte. Sie bedankte sich erleichtert und zog den Mantel schnell über, um sich zu wärmen. Jetzt fror Lourde zwar, aber das Gefühl dem Mädchen einen Gefallen getan zu haben, wärmte ihn zumindest ein wenig von innen. „Das ist sehr nett von dir, ehm… Wie ist eigentlich dein Name?“ Lourde sah unschlüssig zu ihr rüber und suchte nach den richtigen Worten. Natürlich war es unhöflich, sich ihr nicht vorzustellen, aber seinen Namen preis zu geben konnte seinen Plan gefährden. Das Mädchen war vermutlich eine Fuorierin, aber sicher war er sich jetzt doch nicht, er konnte sich auch vertun und sie war doch aus dem unteren Adel des Dentriums. Wenn sie ihn nun vom Namen her kannte, hieße dass im schlimmsten Falle, dass sie ihm in den Rücken fallen könnte indem sie die Wachen verständigte. Noch dazu hatte man ihn dazu ermahnt, keinem Fremden gegenüber je Informationen über sich preiszugeben, nicht einmal seinen Namen und auf gar keinen Fall etwas über seine Fähigkeiten. Ach was, jetzt dachte er schon wieder an seine Vormundschaft. Dabei waren die schuld, dass er die Parade verpasst hatte. Diese überwollende Vorsicht war mehr als lästig und völlig unbegründet, also was sollte ihm schon von dem jungen Mädchen für eine Gefahr drohen? „Verzeihung, wie unhöflich. Mein Name ist Lourde Deviresh!“, stellte er sich vor. „Gut, Lourde, auf zu den großen, abendlichen Mafuutänzen. Glaub mir, die Tänzerinnen sehen aus wie Elfen und die Sänger singen besser als jede Nachtigall“, verkündete sie stolz, als wäre sie persönlich an dem Spektakel beteiligt. „Dann müssen wir uns unbedingt beeilen, damit wir die nicht auch noch verpassen“, gab Lourde zu Bedenken. Wenn er wieder nur auf einem verlassenen Platz ankäme, wäre das doch zum Verrückt werden. Doch seine Sorge war unbegründet, denn vom Weiten drangen schon die harmonischen Klänge von Flöten- und Harfenspiel an ihre Ohren. Ehe sich Lourde versah, war Lian am ihm vorbeigelaufen und erklomm nun Stufe für Stufe einer reichlich mit Früchten und Strohballen dekorierten Treppe, von wo aus man schon die ersten tanzenden Menschen und Musikanten erkennen konnte. Lourde hatte alle Mühe ihr zu folgen, denn nach wenigen Stufen rasselte wieder einmal sein Atem vor Anstrengung. Oben angekommen musste er schon keuchend Luft holen. Verdammte Treppenstufen, dachte Lourde, doch obwohl er noch nach Atem rang, wurde er direkt wieder in den Bann des bunten Treibens gezogen, das auf dem Vorplatz hinter der Treppe auf sie wartete. Da waren immer noch viele Mädchen und Jungen in festlichen Kostümen, die zu lauter fröhlicher Musik tanzten. In ihren Händen hielten sie Stäbe, reich verziert mit Bändern und großen Sonnenblumen, die sie zum Takt bewegten. Einige Tänzerinnen klatschten auf Tamburinen und wiederum andere trugen lange wallende Schleier, die sich wie Schlangen hinter ihren tanzenden Leibern bewegten. Schaulustige standen am Bühnenrand und betrachteten das Schauspiel mit großem Interesse, teilweise wurde zum Klang der Melodie mitgesungen. Man reichte Körbe voll von Obst und Gemüse von Mann zu Mann weiter von denen jeder nahm was er kriegen und essen konnte. Lourde war wieder völlig hin und weg, so begeisterte ihn der Anblick der Leute, die wie Ameisen durcheinander liefen, tanzten und rannten und der ganze Platz schien vor Leben zu erbeben. Ganz anders wie die Festlichkeiten, die im Dentrium abgehalten wurden. Dort gab es ein festliches Bankett und getanzt wurde nur auf einer zugewiesenen Tanzfläche. Auch die Art wie man sich hier zur Musik bewegte hatte wenig mit den Tänzen gemein, die er am Hofe lernen musste. Er hasste es zu tanzen, aber hier draußen schien es sogar Spaß machen zu können. Jetzt kam eine Früchteträgerin zu ihnen und lächelte auffordernd. Lian nahm sich einen Apfel und biss herzhaft hinein. Lourde musterte das Obst in dem Korb. Ob es gewaschen war? Er musste daran denken wie viele Leute ihre Finger in dem Korb gehabt hatten und wie viel Schmutz jetzt wohl daran haftete. Noch dazu waren sie ungeschält, umso verwunderter musste er feststellen, dass Lian die Schale einfach mitaß. War das nicht ungesund? „Lourde, Lust zu tanzen?“ fragte Lian mit vollem Mund. „Wir zusammen? Ich weiß nicht…hier in der Öffentlichkeit. Ich glaube nicht, dass ich…“ Lourde war über sein eigenes Gestammel verlegen. Er wollte nicht unhöflich wirken, aber andererseits war es ihm peinlich sich unter die tanzenden Menschen zu mischen. Was wenn er etwas falsch machte? Oder ihn jemand anrempelte? Er wollte sich gerade eine passende Ausrede einfallen lassen um vom Thema abzulenken, als seine Aufmerksamkeit je auf etwas anderes gelenkt wurde und ein kalter Schauer durchlief seinen Rücken. Waren die Gestalten am Rande des Geschehens dort etwa Ritter der Garde? Plötzlich verstummten die Musiker und auch die tanzenden Artisten hielten in ihrer Bewegung inne, als die Soldaten gesammelt auf den Platz traten. Die Menschen stoben zu allen Seiten auseinander um ihnen Platz zu machen, Beschwerderufe wurden auf dem Platz laut. Warum kamen sie um das Fest zu stören? Die Gesichter der Gardisten waren mürrisch verzogen und sie suchten die Menge mit ihren Augen ab. „Lass uns schnell verschwinden, Lian, bitte“, presste Lourde zwischen seinen Lippen hervor, denn es gab mit Sicherheit nur einen Grund warum sie hier sein konnten. Lian reagierte schnell, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich die Treppenstufen hinunter und zurück auf den Marktplatz. Er war sich nicht sicher, ob man ihn noch gesehen hatte, wäre er noch eine Minute länger geblieben wäre es aber bestimmt der Fall gewesen. Lian musste ahnen, dass Lourdes Hektik etwas mit dem Erscheinen der Wachen zu tun hatte. Kaum hatten sie wieder den Marktplatz erreicht, erschienen auch dort Ritter und verkündeten das Ende der Festlichkeiten. Lourde wusste beim besten Willen nicht mehr wohin, doch Lian lotste ihn weiter in die Gassen der nahe liegenden Häuser und tiefer in die Siedlungen des Fuoriums hinein. Am Ende einer Häuserreihe bogen sie ab und Lian führte ihn weiter die Straße runter. Als sie sich endlich in Sicherheit wägten, zog Lourde seine Hand zurück und rang nach Luft. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so viel am Tag gerannt zu sein. „Suchen die etwa nach dir, Lourde?“ Es war zu erwarten gewesen, dass das kommen musste. Lian war sicher neugierig, was diese Flucht zu bedeuten hatte. Lourde schämte sich fast, dass es so niedere Gründe waren, die ihn dazu bewegten die Soldaten zu meiden. Er wusste, wenn sie ihn fanden, würden sie ihn mitnehmen und sein Abenteuer wäre vorbei. So wie beim letzten Mal. Das er Lian in seinen kindischen Aufstand mit hineingezogen hatte, gefiel ihm nicht, aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern. Während er noch darüber nachdachte, wurde ihm eines klar. Sie waren mitten in die Slums des Fuoriums geflüchtet. Hier waren die Straßen verlassen und alles wirkte schmutzig und grau. Die Häuserfronten waren nicht gestrichen und teilweise klafften bloße Löcher anstelle von Fenstern in dem Mauerwerk. Sie boten Einblick in das schäbige Innere der Häuser, das genauso karg und verwahrlost aussah wie die Straßen außerhalb. Lourde hatte sich noch nie an solch einem Ort aufgehalten und es erfüllte ihn mit Abscheu und weckte doch auch seine Neugierde. „Das ist jetzt schwierig zu erklären, aber im Moment dürfen mich die Ritter hier auf keinen Fall finden. Lian, geht jetzt besser, bevor Ihr auch noch in Schwierigkeiten geratet.“ „Achwas, ist doch nichts Neues, dass die für Unruhe sorgen. Wenn du willst kannst du erstmal bei mir untertauchen. Heute ist Mafuus Fest, da werden die Ritter bestimmt schnell wieder verschwinden und die Leute in Ruhe feiern lassen.“ Tatsächlich schockierte ihn das freundlich gemeinte Angebot. Er hatte Lian jetzt schon einiges Vertrauen entgegen gebracht, aber der Gedanke in ihre Wohnung, die Wohnung eines Fuoriers, mitzukommen, war unmöglich. Doch wenn er es nicht tat, wohin sollte er dann gehen? Alternativ blieb ihm nur die Wahl entweder alleine durch das Fuorium zu irren oder sich auf dem Fest von den Rittern aufgreifen zu lassen. Und er würde es noch nicht ertragen, jetzt schon zurückzukehren, um die neu errungene Freiheit gegen die Ödnis seines Zimmers einzutauschen. Lian musste unter den Fuoriern sicher eine Ausnahme darstellen, so jemand wohnte nicht in einem schäbigen, runtergekommenen Loch, also beschloss Lourde das Wagnis einzugehen. Er hatte sich fest vorgenommen, dem gesamten Dentrium noch länger böse zu sein und da lag es nahe, die Zeit tief im Fuorium zu verbringen wo ihn niemand finden würde. Er wusste, früher oder später musste er zurückkehren aber dann zog er zumindest das „Später“ vor. „A…also gut. Vielen Dank.“ Ein paar Häuserreihen weiter führte Lian ihn zu einer schlichten, grauen Behausung. Auch hier lag der triste Schleier des Fuoriums über allem was Lourde sehen konnte. Die Fassade des Hauses war alt und bröckelte, das Holz der Eingangstür war am Verrotten und es quietschte erbärmlich als Lian sie öffnete. Der Eingangsbereich war bis auf ein paar Blumen in einer Vase schmucklos und nur ein großer Holztisch und zwei alte Stühle bildeten das Herzstück des Raumes, den Lourde plötzlich als Wohnzimmer identifizierte. So klein wie es hier war, hatte er gedacht, es wäre vielleicht ein Vorflur, doch das konnte niemals mit der bescheidenen Größe des Hauses übereinstimmen, wie er es von außen gesehen hatte. Am Ende des schmalen Raumes stand noch eine kleine Küchenzeile und daneben war eine Nische, in der sich eine hölzerne Truhe und zwei ausgelegene Matratzen mit ein paar Decken befanden. „Sicher bist du besseres gewohnt, aber hier kann ich dir leider nicht viel bieten.“, sagte Lian. Lourde ersparte sich einen Kommentar. Es war ihm bewusst, dass sie ihm den Ekel vom Gesicht ablesen konnte. Er befand sich nun in einer Wohnung der Unterschicht und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit. Kapitel 5: Verhaftet -------------------- „Ich scheiß auf das Dentrium. Ich hätte auch dort oben stehen sollen!“ Raffa traute für einen Moment seinen Ohren nicht. Hatte ihm das tosende Feuerwerk einen Streich gespielt oder kamen die Worte tatsächlich aus dem Munde des selben Mannes, der den ganzen Abend lang kaum etwas über die wortkargen Lippen gebracht hatte? So einen trockenen Spruch hätte er höchstens von Demian erwartet, der selbst im nüchternen Zustand eine Klappe bewies, die größer war als der übrige Rest von ihm. Dieser vor Würde fast platzende Hierophant, die tobende Menge, das imposante Feuerwerk und zum Höhepunkt des Festes dann so etwas. Der freche Knabe hätte damit sicherlich für einen Lacher gesorgt, der Raffa die Tränen in die Augen getrieben hätte. Doch die Umstände wollten nun mal nicht, dass es Demian war, sondern Seik. Der Alkohol mochte seinen Beitrag dazu geleistet haben, aber Raffa konnte in seinem Blick lesen, dass er keinen Scherz gemacht hatte. Während Seiks teilnahmslose Miene weiterhin einen unbestimmten Punkt am Boden fixiert hielt, vermittelte seine deprimierte Haltung und sein aschfahles, hohlwangiges Gesicht Raffa geradezu den Eindruck, neben einem krummen, umgeknickten Ast zu sitzen. Er bezweifelte stark, dass Seik das Fest auch nur ansatzweise genoss. Der Kerl hatte noch kein einziges Mal gelächelt. Ob er wohl überhaupt schon mal die steifen Lippen zum Lächeln benutzt hatte? Raffa schätzte ihn auf irgendwas Mitte Dreißig, zu jung um so verbittert zu sein. Irgendwelche Mistkerle hatten Seik ziemlich ans Bein gepinkelt, wozu wohl auch der Ritterhauptmann seinen Beitrag geleistet hatte, und nun schien das Fass bis zum Überlaufen voll und kurz vorm Zerbersten zu sein. So wie er gerade aussah befürchtete Raffa sogar fast, dass es mit ihm noch ein böses Ende nehmen würde. In Gedanken malte er sich schon aus, wie Seiks aufgeknüpfter Leichnam von irgendeinem Baum oder Dach herunterbaumelte. Zumindest wenn sich nicht bald jemand seiner annahm. Raffa spülte sich den restlichen Spiritus die Kehle runter und stellte die Flasche zu den übrigen am Boden. „Da oben auf dem Wagen hättest du sicher ne bessere Figur gemacht, als hier unten wie ein Schluck Wasser in der Kurve rumzuhängen, nicht Seik? Wieso lassen die ihre eigenen Leute hier im Regen stehen?“, versuchte es Raffa möglichst nebensächlich klingen zu lassen. Seik nahm einen Zug von seiner Zigarette. Raffa konnte die Rauchschwaden schemenhaft durch die Luft tänzeln sehen, die er in die kalte Luft blies. „Von wem redest du?“, murmelte er gleichgültig. „Na, die vom Dentrium. Du kommst doch aus dem Dentrium, oder nicht?“ Auf Seiks Gesicht zeigte sich endlich eine Regung, die Raffa zwar nicht ganz einschätzen konnte, aber als gutes Zeichen deutete. Endlich hatte er seine Aufmerksamkeit, jedenfalls so viel davon, wie es die Wirkung des Alkohols noch zuließ. Die dunklen Augen blickten ihn träge an. Sie waren vollkommen trüb, Raffa konnte darin keine Reflektion von Licht erkennen. „Soweit ganz nett kombiniert, aber ich muss dir leider widersprechen.“ Seik’s Worte klangen bitter und Raffa spürte, dass ein Hauch von Seiks Zynismus jetzt gegen ihn gerichtet war. „Ich gehöre nicht mehr zum Dentrium…. Niemand dort würde sich jetzt noch mit mir auf eine Stufe stellen, geschweige denn auf einen Festzug….“ Sowas hatte Raffa sich schon gedacht. In seinem Leben war er vielen Leuten begegnet, hatte unterschiedlichste Kontakte und Freundschaften knüpfen können und leider auch immerzu miterleben müssen, wozu Menschen fähig waren, um anderen Menschen Schaden zuzufügen. Allzu oft lastete Kummer auf den Seelen der Leute, die mit ihren Sorgen alleine dastanden und die meisten warteten nur darauf, dass jemand ein offenes Ohr für sie hatte. Es fehlte vielen einfach eine Person, der sie sich anvertrauen konnten. Zum Beispiel so einem Kerl wie Raffa, denn er war ein guter Zuhörer und als Ratgeber offenbar sehr geschätzt. Über die Jahre konnte er behaupten, dass er sich so eine ganz gute Menschenkenntnis angeeignet hatte. Oft konnte man allein von der Körperhaltung oder Gestik ablesen, was für ein Mensch sich dahinter verbarg. Seik verkörperte, obwohl er mit seinem ausgemergelten Aufzug selbst für einen aus der Unterschicht extrem schäbig aussah, wunderbar das Klischee des waschechten, dreckigen Fuoriers. Er erinnerte ihn an das alte Bärenfell, das Zuhause vor seinem Kamin lag. Es war hunderte Male darauf herumgetrampelt und selbstverständlich auch schon in angenehmen Stunden nackt darüber gewälzt worden, dementsprechend abgenutzt und verfilzt sah es aus. Dennoch verrieten Seiks Augen etwas anderes. Raffa hatte schon unzählige heruntergekommene Penner wie ihn gesehen, aber in keinem derer Augenpaare hatte er bislang diesen Ausdruck gesehen. Das war nach seiner Auffassung feinster, verletzter Stolz. So sah keiner aus der in der Gosse aufgewachsen war, so jemand war von weit oben ganz tief gefallen. Vielleicht war es ihm ähnlich ergangen wie der Händlertochter, oder noch schlimmer. Seitdem Grismina sich in Ober- und Unterschicht geteilt hatte, hörte man ständig von zerstörten Existenzen und nicht selten bekam Raffa den heimlichen Unmut der Menschen mit, wenn er hier in der Gegend war. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass Seik sein Mitgefühl vermutlich nicht verdient hatte, tat er ihm doch ein wenig leid. Was immer vorgefallen war, den Mann hatte das Dentrium durchgekaut und so richtig fies ausgespuckt. „Der Hauptmann hat jedenfalls deutlich demonstriert, was er von dir hält. Jetzt machen die Bastarde nicht einmal mehr vor ihrer eigenen Sippe halt.“ „Es spielt keine Rolle, was der Hauptmann denkt. Ist man in den Augen des Dentriums einmal ein Verbrecher, ist man immer ein Verbrecher. Oder schlicht gesagt…Abschaum.“ „Und? Bist du ein Verbrecher, Seik? Gibt es irgendeinen Grund, der rechtfertigt, dass dich diese feinen Kerle treten wie einen armen Köter?“ Seiks Antwort ließ auf sich warten, so dass Raffa schon befürchtete, er habe ins Schwarze getroffen. Was, wenn Seik ihm nun im trunkenen Zustand seine blutrünstigsten Taten offen legte? Raffa wusste, dass kaum jemand ein Engel war, aber es war keine Frage, dass auch hinter einem mageren Lamm wie Seik ein Wolf stecken konnte. Perversion hatte in diesen Zeiten viele Gesichter. Es würde ihm gar nicht schmecken, wenn das Ende vom Lied bedeutete, dass das Dentrium ihre Schwerverbrecher in das Fuorium ablud. „Ich habe rein gar nichts getan“, zerschlug Seik Raffas dunklen Gedanken und fuhr fort. „Aber wem sollte ich das erzählen? Ich bin jetzt nichts weiter als ein dreckiger Fuorier, ohne Rechte, der keinen Anspruch auf Anhörung hat. Und selbst wenn sich auch nur ein Mensch dafür interessieren würde, welches Gericht würde freiwillig sein Urteil widerrufen? Es ist sinnlos sich mit dem Dentrium anzulegen.“ „So etwas habe ich mir schon gedacht, Kumpel. Wie es aussieht ist das Dentrium wirklich gut darin wahllos Leben zu zerstören, um sich selber zu bereichern. Willst du mir erzählen, was genau passiert ist?“ „Nein.“ Seiks Stimme verlor wieder an Klang „Es wäre bedeutungslos. Ich möchte mir nicht noch einmal selber vor Augen halten müssen, wie armselig mein Leben verlaufen ist. Ich habe mir jahrelang mühsam einen Posten erarbeitet, ohja, ein wahres Paradebeispiel an Disziplin, alles umsonst. Es war reine Zeitverschwendung.“ Raffa wartete geduldig und ließ Seik die Zeit, die er brauchte um sich wieder zu sammeln. Gerade als er dachte, dass nun ein guter Moment für ein paar aufbauende Worte war, legte ihm Demian von hinten schwungvoll die Arme um den breiten Nacken und spähte über seine Schulter. Anscheinend hatte all die Feierlaune und das Feuerwerk nicht verhindern können, dass er das Gespräch am Rande mitgehört hatte und sein schelmisches Grinsen verriet Raffa auch gleich, dass sein Freund nichts Gutes im Schilde führte. „Das Stinktier kommt echt aus dem Dentrium? Hey, Seik, man. Wusste ja gar nicht, dass wir hier mit einem vornehmen Aristokraten saufen." Man hörte seiner Stimme deutlich an, dass er längst nicht mehr nüchtern war. Er lallte wie ein alter Leierkasten. „Leck die Ziege, warum haste das nicht gleich gesagt? Wo bleibt denn da die Distiziplien, du Paradebeispiel?“ „Disziplin“, korrigierte Seik ihn. „Mal ehrlich!“ Demian beäugte Seik skeptisch von oben bis unten „Welchen Posten hatteste denn da? Hausmeister?“ Vor lauter Übermut gepackt, begann er über seinen eigenen Witz laut loszuprusten und schwenkte so weit herum, bis seine Schulter genau gegen die von Leander traf. Sofort blitzten Leanders Augen angriffslustig und er stieß den schwankenden Demian kräftig mit den Ellenbogen in die Seite, um sich von dem Störenfried Abstand zu verschaffen. Dieser gluckste zuerst nur unbeholfen, als ihm der Schmerz aber bewusst wurde, schimpfte er los. „Was soll das, du Lusche? Ich amüsier mich bloß.“ „Hey hey, Prinzessin. Pass auf, dass die Lusche dir nicht gleich das hübsche Gesicht verbeult“, warnte Leander und nahm ohne den Blick abzuwenden einen langsamen Schluck aus der Flasche. „Mach halblang.“ „Ich habe ja bloß meinen Kumpel Seik hier nach seinem Job gefragt. Wenn der ein furchtbar wichtiger Knacker aus der Oberschicht war, dann haben wir doch wohl ein Recht darauf das zu erfahren?“ „Interessiert mich ehrlich gesagt einen Dreck, wer oder was der Typ ist. Von mir aus kann er die Latrine geputzt haben. Der ist grad einfach auf nem ziemlich üblen Trip und labert wahrscheinlich eh nur Mist…“ „Die Latrine.“ Demian kicherte. „Damit kennst du dich wohl aus?“ Raffa, der das amüsante Gezanke seines Freundes gewohnt war, schenkte der Darbietung nur teilweise seine Aufmerksamkeit. Das Gespräch mit Seik war schon wieder in den Hintergrund gerückt und er machte sich Sorgen, dass der Faden jetzt verloren bleiben würde. Seiks Schicksal machte ihn nachdenklich. Er hasste es mit anzusehen, wie unschuldige Seelen immer wieder in den Staub getreten wurden, wenn es den hohen Tieren beliebte. Vielleicht war es an der Zeit das Fest zu verlassen. Das Feuerwerk war vorbei und auch die berauschte Traube staunender Menschenmassen hatte sich mit dem Verschwinden der Festzüge wieder aufgelöst. Es war an der Zeit sich einen gemütlicheren Ort zu suchen als diesen. Hier gab es in der Nähe ein paar nette Gasthäuser, wo einem der Wind weniger scharf um die Ohren pfiff. Doch gerade als er Seik den Vorschlag unterbreiten wollte, schnellte die dunkle Gestalt seines Sitznachbarn hoch und zeigte tatsächlich so etwas wie Haltung. Raffa konnte in den Gesichtern der zwei Streithähne dieselbe Verwunderung ablesen, die er selber grad verspürte. Das war das erste Mal, dass er Spannung in Seiks Körper zu sehen bekam. „Wenn ihr es genau wissen wollt, ich war Mitglied der Magiergilde." Seine Mundwinkel zuckten verächtlich. „Und im Gegensatz zu manch anderen Wichtigtuern dort habe ich einen ehrenwerten Posten bekleidet, aber was erzähle ich einem Kleingeistigen von Ehre?“ „Nen Ex-Magier! Ja klaaar!“, höhnte Demian und machte eine abfällige Geste mit der Hand. „Du bist doch echt hacke, man.“ Leanders Miene verdunkelte sich, im Gegensatz zu Demians Alberei sah er Seik scharf an: „Ehrenwerter Posten, ja? Ich habe da andere Sachen über die Magiergilde gehört.“ Seik starrte zurück. „Sieh an. Nach allem was du erzählt hast, frage ich mich, ob deine Arbeit hier denn so ehrenhaft ist.“ „Ah ah, Sonnenschein! Über mich reden wir hier ja gerade gar nicht, oder?“ Leander lächelte dünn. „Was muss man denn tun, um so tief zu sinken, hm, Ex-Magier?“ „Meine Wenigkeit hatte für dich doch gerade eben noch so viel Belang wie „Dreck“ oder möchtest du deine Aussage revidieren?“ „Ist bloß schlichtes, höfliches Interesse. Man nennt sowas auch Smalltalk.“ „Ich bin hier sowieso der Ehrenhafteste. Und ihr seid alle einfach nur stramm bis zum Geht-nicht-mehr“, mischte Demian weiter mit. „Ehrenhaft hin oder her. Wer hat hier schon ne weiße Weste an? Seik ist jetzt jedenfalls einer von uns, also beruhigt euch wieder“, versuchte Raffa zu schlichten. „Hey Moment, wenn Seik hier schon einen auf dicke Hose macht, dann will ich auch Beweise. Wenn der sagt er ist`n Magier, dann kann er uns doch mal was vorzaubern.“ „Das ist nicht möglich“, gestand Seik mit fester Stimme, ohne dabei peinlich berührt zu klingen. Demian verzog schon prahlerisch die Lippen. „Wußt ich’s doch. Angeber.“ „Was Seik damit sagen will, ist, dass ihm dazu wahrscheinlich das Äther fehlt.“ Raffa kannte sich nun auch nicht so explizit auf diesem Gebiet aus, aber ein paar grundlegende Dinge waren ihm dennoch geläufig. „Dieses Äther wird im Dentrium doch fast überall als Energiequelle verwendet. Es treibt nicht nur ihre Maschinen an und versorgt die Stadt bequem mit Licht, neben der Stange Geld die man für das Wundermittel auf dem Äthermarkt kassiert, ist die Essenz auch noch als Quelle für magische Energie nicht wegzudenken. Ohne Äther keine Magie, nicht wahr?“ „Korrekt“, Seik nickte zustimmend. „Versteh ich nicht. Ein Magier, der nicht zaubern kann. Das ist doch Mist.“ „Zaubern…“, Seik seufzte. „Genau genommen heißt es nicht zaubern, sondern beschwören. Magie zu wirken ist ein komplizierter Vorgang, der höchste Konzentration und vor allem einen Tribut fordert. Es bedeutet, dass ein energetischer Stoff durch das Zusammenspiel mit der medialen Fähigkeit eines Beschwörers in eine andere Form umgewandelt oder in einen anderen Zustand versetzt wird. Ähnlich wie bei der Alchemie. Mit deinen Worten gesagt, eine Beschwörung setzt einen bestimmten Tausch voraus.“ „Und gegen was wird getauscht?“ fragte Demian verwirrt. „Lebensenergie“, antwortete Seik. „Da einen Magier, vor allem einen ungeübten, dies erheblich schwächen oder sogar umbringen würde, benutzt man den Äther als Energiequelle. Wenn man viel davon absorbiert, ist es möglich Magie in kurzer Zeit öfter und viel intensiver einzusetzen. Leider besitze ich keinerlei Äther mehr, daher fürchte ich, musst du wohl auf einen Zaubertrick meinerseits verzichten.“ „Äh, das ist mir jetzt zu hoch. Dann halt nicht. Aber ich finde die könnten ruhig mal was davon abgeben. Die haben doch genug davon.“ „Ne, Demian, so einfach ist das nun auch wieder nicht“, sagte Raffa. „Das Zeug liegt ja nicht einfach so in der Gegend rum. Das ist extrem selten und schwer zu finden.“ „Ach, Blödsinn! Warum haben die im Dentrium denn dann soviel davon? Die wollen bloß alles für sich, das ist alles.“ Woher der plötzliche Wohlstand Grisminas durch das Äther herrührte wusste wohl keiner so genau. Hier und da munkelte man, sie hätten eine streng geheime Methode gefunden, mit der sich die Essenzen aufspüren ließen, aber das waren natürlich alles nur Vermutungen die niemand je wirklich bestätigt hatte. Vielleicht wusste Seik mehr darüber, immerhin war er als Magier ja ganz nah dran am Geschehen. Aber Raffa hielt es für keine gute Idee ihn jetzt direkt darauf anzusprechen. Das war wohl ein eher heikles Thema, mit dem er im Augenblick ganz bestimmt nicht konfrontiert werden wollte. „Würdest du rumgehen, und alles an die Armen verschenken, wenn du einen wertvollen Schatz entdeckt hättest, Demian?“, fragte er stattdessen, um Demian ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, auch wenn dieser vermutlich gar nicht so daneben lag mit seiner Behauptung. „Ehm…ja, na klar. Sicher würde ich teilen.“ „Oh…ganz sicher." Leander lachte. „Warum das teilen, was einem zu etwas Besonderem macht?“ „Pah! Alles viel zu kompliziert. Die sollen einfach die Mauern einreißen und alles wieder zusammenzulegen. Wenn es diese blöde Trennung nicht gäbe, müssten auch nicht alle Leute so unzufrieden sein. Wen wundert es denn noch, dass im Fuorium so viel geklaut wird? Wenn das Dentrium nicht aufpasst, gibt’s irgendwann die Retourkutsche. Und dann BAMM!“ Demian knallte die Fäuste zusammen. „Das ist Schwachsinn. Reichtum bedeutet nicht nur Wohlstand, sondern auch Macht. Und Macht gehört nicht in die Hände von denen, die nicht damit umzugehen wissen“, erklärte Seik, der sich allmählich wieder beruhigt hatte und mit nüchterner Stimme fortfuhr. „Seitdem sich die Schichten geteilt haben herrscht hier ein geordneter, disziplinierter Ablauf für den Grismina hohes Ansehen von außerhalb genießt. Würde man die Grenzen wieder verwischen, würde das System zusammen brechen. Kontrolle ist ausschlaggebend um eine Stadt wie Grismina, die so stark floriert, funktionieren zu lassen.“ „Und die Kontrolle haben doch die Minister?“ harkte Raffa nach. „Nach außen hin schon, zumindest wenn es um die Verabschiedung von Gesetzten geht. Aber der Einfluss der Magiergilde wächst stetig. Sie sind längst nicht nur Gelehrte und ausführende Kräfte, die im Wohle der Forschung arbeiten. Xerophes, als der höchste Würdenträger, genießt erstaunlichen Einfluss. Man könnte auch sagen, dass er dort einen Teil der Geschicke mit beeinflusst, wenn nicht sogar lenkt. Wenn es um das System und wichtige Entscheidungen geht, wird er vom Ministerium jedes Mal zu Rate gezogen. Seine Meinung ist von unschätzbarem Wert. Und wer nach seiner Meinung nicht ins System passt…“ „Wird ausrangiert.“ Raffa konnte sehen wie sich Seiks Schlucker unter der Haut bewegte. Er zuckte schwach mit den Schultern. „Ganz genau…“ „Wenn denen deine Nase nicht gefällt hat man wohl echt die Arschkarte gezogen“, sagte Leander mit seiner rauen Reibeisenstimme. „Tja, tut mir echt leid für dich.“ „Vielen Dank für das aufrichtige Mitgefühl…“, erwiderte Seik zynisch. „Mach dir nichts draus, Kumpel. Sei froh, dass du aus dem Affenstall raus bist. Bei uns bist du gut aufgehoben." Das war jetzt vielleicht ein ziemlich lausiger Versuch Seik wieder aufzumuntern, ein paar lauwarme Worte konnten auf die Schnelle wohl kaum wieder gerade biegen, was Seik passiert war, aber im Moment war es das einzige was er tun konnte. Und es fand zumindest Zustimmung bei Demian, der Mafuu sei Dank mit zog. „Genau, sollen die Penner aus der Oberschicht doch oben auf ihren Festwagen stehen und mit all ihrem Äther angeben. Dafür haben wir hier viel mehr Spaß.“ „Wenig überzeugend, Prinzesschen“, spottete Leander. „Aber immerhin ein Grund mehr sich ordentlich die Kante zu geben. Vergiss die Kerle und denk an was Nettes. Sieh dir die bezaubernden Elfen an!“ Leander warf den Tänzerinnen, die in bunten, leicht bekleideten Gewändern auf ihrem Weg zum Marktplatz an ihnen vorbei gingen einen verschmitzten Blick zu. „Ohja. Wirklich reizend“, entgegnete Seik trocken. Raffa lachte. „Ihr macht wohl Witze. Bei diesen mageren Weibern gibt’s ja nicht viel zu gucken. Wenn ich Spaß haben will, nehm ich mir eine üppige Frau, die auch was auf dem Kasten hat. Ich wette dir hat noch nie ein richtiges Frauenzimmer Feuer unterm Hintern gemacht, Leander. Siehst mir aus wie einer, der lieber hübschen Dummchen schöne Augen macht.“ Leander zuckte mit den Schultern, ganz so als hätte Raffa mit seiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen. „Also für ne Nacht muss sie nicht clever sein.“ „Den würd ich auf jedenfall nicht mit meiner Schwester alleine lassen“, zischte Demian verächtlich. Leander sah zu ihm herüber und hob lässig einen Mundwinkel. „Deine Schwester? Ist die denn auch ein hübsches Dummchen?“ „Du…!“ Raffa seufzte auf. Er wusste schon, was jetzt kommen würde, denn Leander hatte Demians wunden Punkt erwischt. Was seine Schwester anging, ließ der Junge nicht mit sich spaßen. Vorsichtshalber fasste er Demian bei der Schulter, bevor dieser Leander noch an die Gurgel gehen konnte und redete in ruhigem Ton auf den Hitzkopf ein. „Komm runter, Sportsfreund. Der Typ zieht dich doch nur auf. Wenn der gute Leander unsere süße Lian kennen würde, würd der seinen Frauengeschichten glatt abschwören, meinste nicht?" Demian hob trotzig die Schultern, ließ es aber anscheinend dabei bewenden. Die beiden Geschwister hatten es von Haus aus nicht gerade leicht gehabt und Raffa nahm es Demian nicht krumm, dass er seine einzige Verwandte wie ein Löwe verteidigte, selbst wenn er es manchmal damit übertrieb. Leander entlockte die Vorstellung nur ein süffisantes Grinsen. „Warum ist dein Augensternchen denn nicht hier, wenn du dir solche Sorgen um sie machst?“ „Lian arbeitet auf dem Festplatz um ein bisschen Geld zu verdienen, weißt du? Die Kleine ist keinesfalls so hilflos wie Demian meint“, nahm Raffa seinem Kumpel die Antwort ab. „Eigentlich könnte er sich mal eine Scheibe bei ihr abschneiden. Der hockt lieber faul auf dem Fest während sie schuftet.“ „Hey, fällst du mir in den Rücken, Kumpel? Gleich setzt es aber was!“, protestierte Demian und gab dem Händler einen spielerischen Treffer gegen die Schulter. „Ist ja nicht so, als würde ich gar nichts machen.“ „Ja ja, ist nicht so leicht hier überhaupt was zu finden, was? Nur gut, dass keiner Lians Augenaufschlag widerstehen kann.“ Raffa lachte herzhaft. In vielerlei Hinsicht war die niedliche Lian einiges raffinierter als ihr vorlauter Bruder. Auf einmal durchfuhr es Raffa wie ein Schlag und das Gespräch brachte ihn auf eine völlig andere Idee. „Sag mal, Seik, womit verdienst du dir eigentlich so das Geld hier unten?“ „Nichts was es wert wäre zu erzählen“, murrte dieser leise, als wolle er nicht gehört werden. Raffa konnte sich schon vorstellen, wie unangenehm es einem abgestürzten Dentrianer sein musste vom Betteln oder Stehlen zu sprechen. Aber wahrscheinlich lief es genau darauf hinaus. „Hast du dir schon mal überlegt irgendwas Sauberes zu machen? Ich meine ne Arbeit um Kohle zu verdienen und dann dem Drecksloch den Rücken zuzukehren? Was Nettes aufbauen?“ „Nein“, erwiderte Seik schlicht und Raffa hatte keinen Zweifel daran, dass er es bislang nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. „Ich habs, Sportsfreund!“, verkündete Raffa voller Elan und erhob sich von dem Brunnenrand, um dem Nachdruck zu verleihen. „Ich zieh bald in das nächste versoffene Örtchen, wo man meine Waren zu schätzen weiß. Wenn du willst, bist du dabei. Ich könnte jemanden gebrauchen, der mir hier und da mal unter die Arme greift.“ Die Vorstellung Seik seine schweren Kisten tragen zu lassen oder im schlimmsten Falle sogar auf seine Kundschaft loszulassen kam leider sogar ihm seltsam absurd vor, aber Raffa hielt an dem Glauben fest, dass ein gezielter Tritt in Seiks Allerwertesten diesem zu neuem Schwung in die richtige Richtung verhelfen könnte. „Ich halte das für keine gute Idee…und wenn du ehrlich bist, du auch nicht.“ „Ach, gib dir `nen Ruck. Das ist das günstigste Ticket aus diesem Sumpf das du kriegen kannst. Im Gegenteil, wirst sogar noch dafür bezahlt. In den Städten und Dörfern außerhalb feiert man Mafuu noch etwas länger als hier, da kann ich mit meinem Wagen noch gutes Geld machen. Ich denke ich steuer als nächstes Ziel mal Alet an und dann geht’s rüber zur hübschen Vogelstadt. So ein kleiner Tapetenwechsel wirkt wahre Wunder, vertrau mir, Kumpel. Das Handelsgeschäft wird dir gefallen. Nicht so bonzig wie ein Leben im Dentrium, das nicht, aber vielleicht findest du ein Dörfchen, das dir gefällt. Ein einfaches Leben ist auch kein schlechtes Leben. Oder du kommst mit zu mir in die Berge. Dann stell ich dir meine bezaubernde Frau und den Sack voll Rotznasen vor, die daheim auf mich warten. Ich sag dir, die macht nen Kuchen, danach leckst du dir die Lippen, Seik!“ „Tut mir leid, aber ich bin nicht an einem neuen Leben interessiert. Sieht so aus, als müsste ich auf den Kuchen verzichten“, entgegnete Seik mit einem sonderbar schwermütigen Gesichtsausdruck, den Raffa nicht deuten konnte. Hatte Seik tatsächlich schon abgeschlossen oder glaubte er etwa noch daran, das Dentrium würde ihn wieder auflesen? „Überlegs dir noch mal. Bis morgen früh pack ich meine sieben Sachen zusammen und zieh los. Überlegs dir wirklich gut, Kumpel. Noch ist es nicht zu spät mal was andres auszuprobieren.“ „Hey, was machen die denn hier?“, rief Demian plötzlich dazwischen und stieß Raffa in die Seite, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Guck mal da rüber, Raffa!“ Demians Fingerzeig folgend begriff Raffa schnell, worauf sein Freund ihn hinweisen wollte. Er war so in das Gespräch mit Seik vertieft gewesen, dass er erst jetzt bemerkte wie schlagartig ruhig es geworden war. Angesichts der eben noch tobenden Festlichkeiten völlig absurd. Anstelle von Feierlaune herrschte nun verhaltenes Getuschel und auch die Musik war verstummt. Des Übels Ursprung fand Raffa auf dem nun frei gewordenen Pfad, der sich aus der missmutigen Menschenmenge gebildet hatte. Ritter der Garde. Ihre Gesichter waren streng nach vorne gerichtet. Sie drängten dazu den Weg weiter freizumachen und forderten die Anwesenden dazu auf die Feierlichkeiten sofort zu unterbinden. Dann teilten sie sich auf und gingen darin über den Platz systematisch abzusuchen. „Hatten die heute nicht schon ihren Auftritt? Scheint so, als wolle das Dentrium wirklich jedem hier die Feierlaune vermiesen.“ Raffa beschlich ein ungutes Gefühl. Die Ritter der Garde sprengten so eine Party nicht einfach ohne Grund. Zweimal am Tag auf diese unangenehmen Typen zu treffen, war kein gutes Zeichen. Er fragte sich, ob das etwas mit dem Erscheinen des Hauptmannes von vorhin zu tun haben könnte. „Sieht aus, als hätte hier jemand was ausgefressen. Derjenige sollte jetzt besser schnell abhaun", gab Leander mit einem skeptischen Seitenblick gen Demian zu bedenken. „Sieh mich nicht so an. Ich habe echt nichts gemacht“, flüsterte Demian. Es dauerte nicht lange, bis eine fünfköpfige Patrouille auch am Brunnen angekommen war. Unweit von Ihnen machten Festbesucher ihren Ärger über die Störung laut und beschimpften die Ritter. Anscheinend hatte der Alkohol ihnen bereits die Hemmungen genommen, denn niemand mit unversoffenem Verstand legte sich gern mit der Rittergarde an. Prompt wurden die Unruhestifter zurechtgewiesen sich ruhig zu verhalten, andernfalls drohten die verärgerten Ritter mit sofortiger Inhaftierung bei Behinderung ihrer Suche. Verdammt, da meinte es aber jemand ernst. Egal was die Kerle suchten, Raffa hoffte dass sie es bald fanden und damit schnell wieder verschwinden würden. Außerdem bemerkte er, wie Seiks Hände sich krampfhaft um die Flasche vor sich schlossen. Auch für seinen neuen Kumpel aus dem Dentrium musste diese Begegnung hart sein. Als einer der Ritter seinen Kollegen verkündete, dass sie die Suche anderswo fortsetzen würden, war Raffa heilfroh. Die anderen Männer der Ritterschaft drehten schon ab, um den Platz zu verlassen. Der Letzte von ihnen umrundete noch einmal den Platz um den Brunnen herum und auch dieser würde damit bald verschwunden sein. Dachte Raffa jedenfalls. Doch als der Ritter in ihrem unmittelbaren Sichtfeld war, blieb dieser stehen und es schien so, als würde der Blick des Mannes genau auf sie gerichtet sein. Aber was zum Kuckuck war so interessant an einer Bande Typen, die auf einem Brunnen saßen um einen zu heben? „Jelester!“, hob sich die Stimme des Ritters an, als er nun näher kam. „Jelester ist hier. Kommt hier rüber!“ Der Rest der bewaffneten Männer kam zurück auf den Platz gelaufen und gesellte sich zu ihren Kameraden. Dieser presste die Lippen fest aufeinander und zog als Zeichen seiner Dominanz das Schwert, um es gegen Seik zu halten. Das zweite Mal, dass an diesem Tag jemand seine Waffe auf ihn richtete. Raffa verstand immer noch nicht, was genau das Ganze hier auf sich hatte, aber langsam beschlich ihn eine unangenehme Erkenntnis. Der Name Jelester war gefallen und Raffa wäre es mit großer Sicherheit nicht entgangen, wenn sich ein hochrangiger Bonze in ihrer Mitte befinden würde. Es sei denn… Seik hatte doch vorhin behauptet ein ehemaliger Magier aus dem Dentrium zu sein. Konnte es da eine Verbindung geben? Entweder das oder…! Seik und dieser, als hochnäsig und vor allem herzlos bekannte Bastard Jelester, sollte es sich da gar um ein und dieselbe Person handeln? „Seik Jelester. Vortreten oder wir müssen von einem Akt des Verrates ausgehen!“ Demian kam Seik zuvor und erhob sich mit Schwung von seinem Platz. Als könnte er ihn damit schützen, baute er sich zwischen dem Ritter und dem Verurteilten auf. Auch wenn Demian nicht viel auf Seik hielt, schien dieser gerade die Sympathie des Jungen auf seiner Seite zu haben. „Hey, Seik muss gar nichts, klar? Der hats nicht nötig sich von euch Befehle erteilen zu lassen!“ Doch Seik legte anscheinend keinen Wert darauf, verteidigt zu werden. Stattdessen stand er wie geheißen von seinem Platz auf und ging an Demian vorbei auf die Seite der Ritter. Raffa hätte sich am liebsten auch eingemischt, um seinem Freund unter die Arme zu greifen, doch der geknickte Seik machte keine Anstalten zur Gegenwehr. Fast wie ein ausgesetzter Hund, der beim ersten Pfiff seines Herrchens wieder zurückgekrochen kam, um den nächsten Tritt zu kassieren. Es ärgerte ihn tierisch, doch wenn Seik sich nichts vorzuwerfen hatte, würde ein Eingriff ihn vielleicht nur noch mehr Probleme bereiten. „Seik Jelester, Ihr wurdet des heutigen Tages in einem Gespräch mit Herrn Deviresh gesichtet. Wir müssen stark von einer Verbindung zwischen Euch und seinem Verschwinden ausgehen! Daher werden wir Euch vorläufig festnehmen.“ Die Stimme des Ritters klang laut und abfällig. Seik presste starr vor Entsetzen den Mund zusammen. Damit schien selbst er nicht gerechnet zu haben. Der Ritter musste auf das Treffen mit dem verzettelten Jungen anspielen, den heute dieser hunzlige, alte Magier mitgenommen hatte. War der denen denn etwa schon wieder ausgebüchst? Kein Zufall also, dass die Ritter gleich zweimal hier aufkreuzten. Sie suchten nach dem Jungen und machten Seik für das Verschwinden verantwortlich. Sicher die einfachste Sache, einem bereits Verstoßenen den schwarzen Peter unter zu jubeln. Aber Seik war die ganze Zeit bei ihnen gewesen, also konnte er mit dem Verschwinden nichts zu tun haben. Es galt nun Ruhe zu bewahren. Nur Demian brachte das ganze völlig aus dem Häuschen. „Verflucht, Seik, lass dich doch nicht von denen rumschubsen! Los, wir machen die Kerle fertig bis einer heult!“, stachelte er vergeblich an. Wenn Demian nicht bald den Mund halten würde, handelte er sich gleich auch noch eine Verhaftung ein. „Beruhig dich, Demian. Misch dich da lieber nicht ein. Seik hat schon nichts verbrochen, also wird ihm auch nichts passieren!“ Obwohl sich Raffa seiner eigenen Worte nicht sicher war, hoffte er Demian damit zum Schweigen zu bringen. Er hielt ihn vorsichtshalber dennoch die Hand auf die Schulter und zog ihn leicht zu sich rüber und von dem Ritter weg. „Schlau erkannt, Händler, zügle deinen Bengel lieber. Und was Euch angeht, Jelester, Ihr werdet uns jetzt ohne Widerworte folgen. Das Tribunal erwartet eine Anhörung.“ Somit senkte der Ritter seine Waffe wieder und übergab Seik an seine Kollegen weiter um ihn abzuführen. „Mafuu zum Gruße, die Herrschaften“, verabschiedete sich Raffa spöttisch von den Rittern, die daraufhin ihre Nasen nur noch höher trugen als sie es ohnehin schon taten, während sie mit Seik im Schlepptau den Platz wieder verließen. Demian riss sich von der schweren Hand, die auf seiner Schulter ruhte, los und blickte Raffa mit zornigen Augen an. „Wieso hast du das zugelassen? Jetzt haben diese alten Stinker doch genau das was sie wollten, man!“ „Sorry, mein Kleiner, aber egal was wir hier gesagt hätten, das hätte eh nichts geändert. Außer, dass wir uns noch `n nettes Plätzchen in Untersuchungshaft reserviert hätten.“ „Das schmeckt mir überhaupt nicht, Raffa! Zusammen hätten wir die doch fertig gemacht. Die fünf Knallköpfe hättest du doch mit einem Schlag umgehauen.“ Raffa versuchte seinen aufbrausenden Freund wieder zu beruhigen, indem er ihm beschwichtigend auf die Schulter klopfte. „Ja, ja, klar, die Fünf hätte ich schon umgehauen, aber die hundert andren Kumpels von denen hätten das nicht so komisch gefunden, und die hätten dann ihre hundert andren Kumpels eingeladen und dann hätten sogar wir alt ausgesehen. Glaub mir, Demian, es ist erstmal gesünder den Ball flach zu halten. Seik macht das schon irgendwie.“ Demian rümpfte verächtlich die Nase. „Weißt du, das stinkt mir trotzdem. Ich hab keinen Bock mehr auf das Fest. Hier wird man doch eh nur vom Dentrium verarscht!“ Raffa seufzte schwer. Wie es aussah, war sein Freund für heute nicht mehr wieder zur Ruhe zu bekehren. Dann konnte er auch nichts anderes machen, als ihn ziehen zu lassen. Vielleicht war es auch besser so. Nach einer knappen Verabschiedung sah er den Hitzkopf nur noch von hinten über den Platz stapfen. Nun stand er mit Leander alleine da. Dieser hatte sich das ganze Gespräch mit den Rittern über erstaunlich still verhalten. „Hey, Leander, was meinst du? Suchen wir uns ein nettes Lokal und hängen die Zeit ab, bevor noch einer von uns abgeschleppt wird?“ „Sorry, hab generell nichts gegen Abschleppen, aber mir fällt grad ein, dass ich unterwegs was verloren haben muss. Ich hau also auch ab“, lehnte Leander das Angebot ab und schien es redlich eilig damit zu haben, sich aus dem Staub zu machen. Kam es ihm nur so vor oder wirkte der ansonsten so kühle Leander ein wenig zu nervös? „Ok, wie du meinst. Ich hoffe, du findest was du suchst“, verabschiedete sich Raffa von Leander, der bereits losgetrottet war. Anscheinend schien alles und jeder hier noch ein paar Leichen im Keller zu haben, auf die er nicht zu sprechen kommen wollte. Das sich hinter der erbärmlichen Gestalt Seiks so jemand wie der hinterhältige Magier Jelester verbergen sollte, war dennoch für Raffa nicht zu fassen. Er hoffte Seik eines Tages wieder zu Gesicht zu bekommen, um die ganze Geschichte zu erfahren. Mit einem etwas flauen Gefühl in der Magengegend machte er sich daran seinen Karren zurück zu den übrigen Händlern zu bekommen und dort seine Sachen zu packen. War Zeit Grismina erstmal Auf Wiedersehen zu sagen. Kapitel 6: Der Krähenmann ------------------------- So hatte er sich seinen Aufenthalt in Grismina nicht vorgestellt. Leander brauchte Geld und in großen Städten fand sich eigentlich immer irgendjemand, der etwas für einen zum Erledigen hatte. Man musste nur wissen an wessen Türen man zu klopfen hatte. Oft waren die Aufträge zwar mies, aber sie gaben gutes Geld. Genau wie dieser. Nur, dass dieser Auftrag nicht nur mies war, er brachte vermutlich nicht mal mehr eine müde Münze ein. Die Aufgabe bestand darin während des Festes einen bestimmten, adligen Wicht aufzuspüren, ihn zu beschatten und schließlich von seiner Begleitung wegzulocken. Es war jedoch nur die Rede von einer Zofe gewesen, nicht aber von einem Magier und dem Ritter. Sie waren ihm zuvorgekommen und hatten den Jungen vor seiner Nase weggeschnappt, gerade als er zum Zug kommen wollte. Von seinem Misserfolg frustriert hatte sich Leander zu den drei Pappnasen am Brunnen gesellt und war von dem Händler zum Plaudern überredet worden. Seinem Glücksstern zum Dank, hatte er dadurch mitbekommen, dass der Bengel plötzlich verschwunden war. Bei Mafuu, er hatte eine zweite Chance bekommen und sich sofort guter Dinge auf die Suche gemacht. Umsonst… Von dem Jungen fehlte jede Spur und überall liefen Ritter herum, die seine Suche zusätzlich erschwerten. Dann hatte es auch noch angefangen zu regnen. Verdammt! Leander war nun schon fast zwei Stunden durch das Fuorium gehetzt und das bei diesem Hundewetter. Das Ergebnis blieb ernüchternd. Er war völlig durchnässt. Seine triefende Kleidung klebte ihm auf der Haut und der Regen war sogar schon bis in die Stiefel hinein gelaufen, sein Magen knurrte und die Erschöpfung ließ es ihm langsam leid werden, die Suche fortzusetzen. Hier draußen würde er in dieser Nacht sicher keinen entlaufenen Jungen mehr finden. Wenn dieser klug war, dann hatte er sich mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo ein halbwegs trockenes Versteck gesucht oder war sonst wo untergekrochen. Der Auftrag war jedenfalls vergeigt, die Belohnung konnte er sich abschminken, jetzt musste er die ganze Geschichte nur noch seinem Auftraggeber beichten. Nur was sollte er dem Kerl erzählen? „Tut mir wirklich leid, aber ich war leider zu unfähig den Auftrag auszuführen. Tja, schönen Abend noch, man sieht sich.“ Der würde das sicher nicht so witzig finden und für Leander stand ja auch sein guter, schlechter Ruf auf dem Spiel. Wer heuerte denn noch jemanden an, der zu dumm war, einen simplen Auftrag auszuführen? Da gab es jetzt nur noch eine Möglichkeit… Wenn er es schlau anstellte, konnte er den Kerl einfach heimlich abstechen, um so an das Geld heranzukommen. Keine besonders feine Methode, aber er musste ja schließlich auch von was leben. Ein toter Mann erzählte zudem keine unschönen Geschichten über ihn und der Kerl brauchte sich dann auch keine Gedanken mehr machen, ob er den Jungen hatte oder nicht. Ja, das war ein guter Plan, so würde er es machen. Er vermied es auf dem Weg zum Treffpunkt die Hauptstraßen zu benutzen. Stattdessen schlenderte er durch verwinkelte, schmale Gassen, um einer unangenehmen Begegnung mit einem Ritter möglichst aus dem Wege zu gehen. Sein Zielort befand sich im Herzen der Unterschicht, mitten in den Slums. Die Häuser waren hier allesamt potthässlich und der Boden vom Regen aufgewühlt und schlammig. Die herunter gespülten Farben durchweichter Papierfähnchen tropften traurig in die darunter liegenden bunten Pfützen. Von dem Kerl fehlte allerdings jede Spur. Vielleicht war dem komischen Kauz inzwischen eingefallen, dass er auf dem Fest weit schönere Dinge mit dem Belohnungsgeld anstellen konnte, als Leander zu bezahlen, und machte damit jetzt lieber irgendwo einen drauf. Leander ließ sich nicht gern verarschen, nein, da stand er ganz und gar nicht drauf. Was diese ganze Entführungsgeschichte betraf, die war doch ohnehin absolut wahnwitzig. „Ach, Mist!“ Er lehnte sich an eine überdachte Hauswand die einigermaßen trocken geblieben war und wartete. Eine halbe Stunde, nicht länger, sagte er sich. Wenn der Typ bis dahin nicht aufgetaucht war, dann gab es keinen Grund mehr hier zu bleiben. Ihm wurde es zu ungemütlich in der Stadt und das lag nicht nur am Regen. Die Ritter drangen schon in die ärmlicheren Viertel vor, um dort die Häuser der armen Schweine zu durchsuchen. Er hatte keine Lust doch noch aus Versehen auf eine Gruppe davon zu stoßen und denen Rede und Antwort stehen zu müssen, warum er hier mutterseelenallein in der Gasse Däumchen drehte. Verdammt, wenn das nicht verdächtig aussah… Er war nicht scharf darauf, wie dieser Seik zu enden. Dann lieber das Geld endgültig sausen lassen und seinen Hintern schnell aus der Stadt raus bekommen. „Da bist du ja endlich.“ Leanders Kopf fuhr herum. Seine Hand lag sofort an dem Wurfmesser, das gut versteckt in einem Gurt unter seinem Oberteil steckte. Dann spähte er die Gasse entlang. Weiter hinten, in den Schatten verborgen, entdeckte er die Gestalt seines Auftragsgebers. Er war mit einem weiten, dunkelbraunen Poncho bekleidet, der knapp bis über den Boden reichte und sich kaum von der Dunkelheit abhob. Das Gesicht war verdeckt. Natürlich, er trug immer noch eine dieser peinlichen Mafuumasken, die es an jedem beliebigen Feststand zu kaufen gab, zusammen mit dem ganzen anderen Souvenirschnickschnack. Sie war mit Steinchen und Blättern verziert und als Wölbung für die Nase ragte ein längeres, schnabelartiges Gebilde heraus. Eigentlich sollten diese Masken lustig aussehen, aber bei Mafuu, in der Dunkelheit von diesem Kerl getragen fand er sie einfach nur unheimlich. Die bunten Blätter, die Federn darstellen sollten, sahen im Schatten allesamt grau aus. Nicht wie bei einem schillernden Vogel, sondern eher wie bei einer Krähe. Leanders Herz schlug einen Moment lang schneller, er hatte wirklich nicht bemerkt, dass sich ihm jemand genähert hatte. „Pass auf deine Hand auf“, raunte die Stimme im versöhnlichen Tonfall. „Erkennst du deinen Auftraggeber nicht wieder, Lea?“ Offenbar spielte der Krähenmann auf seine Waffe an, nach der Leander instinktiv gegriffen hatte. In Sachen Aufmerksamkeit hatte der im Augenblick eindeutig die Nase vorn. Seinen Plan mit dem Attentat konnte er sich dann wohl auch aus dem Kopf schlagen. Es wäre eine denkbar einfältige Idee ein Opfer anzugreifen, wenn es ihn jetzt einschätzen konnte. Außerdem musste der Typ echt gut sein, wenn er es so einfach geschafft hatte sich an ihn heranzuschleichen ohne bemerkt zu werden. Er hatte wirklich alles vermasselt, was man vermasseln konnte. Großartige Leistung, Leander… Zwar besaß er noch ein zweites, gut verstecktes Messer, doch wer konnte schon wissen, was der Kerl dort alles unter seinem Poncho verborgen hielt. Er zog die Hand, die auf dem Messer ruhte, langsam wieder zurück und trat ein paar Schritte auf den Kerl zu. „Eine dunkle Kutte sieht im Schatten aus wie jede andere“, sagte er betont lässig und überlegte bereits wie er sich jetzt aus der Sache herausreden sollte ohne einen schlechten Eindruck zu machen. Wobei, einen schlechten Eindruck hatte er bestimmt schon gemacht, jetzt musste er sich echt rauswinden. Aber Leander war es gewohnt sich durch die Scheiße zu wühlen. „Entschuldige die Verspätung. Im Fuorium ist es grad ein wenig hektisch.“ „Und ich dachte schon du hättest kalte Füße bekommen und dich aus dem Staub gemacht.“ Die Lippen unter dem Maskenschnabel formten ein verschmitztes Lächeln. „Und? Hast du Deviresh gefunden?“ Der Moment der Wahrheit. Leander schnalzte gelassen mit der Zunge und setzte sein Pokerface auf. „Tja, leider gab es da wohl ein kleines Problem. Dein Informant hat wie es aussieht ein bisschen gepennt. Das Vögelchen war nämlich nicht nur mit der Zofe unterwegs, da war plötzlich noch ein Magier dabei.“ Dem Typen jetzt den Schlamassel in die Schuhe zu schieben war immer noch besser, als selber den Schwanz einzuziehen und zuzugeben, dass er versagt hatte. Der Mann seufzte. „Wenn es doch immer so einfach wäre, wie man es sich wünscht. Hast du ihn dann nicht weiter beschattet?“ „Doch, sicher, die netten Herren haben den Knaben dann zurück ins Dentrium geschleppt. Danach bin ich abgehauen, weil mir die Sache zu riskant wurde. Mit einem Magier leg ich mich nicht an. Ich bin nicht lebensmüde, weißt du?“ Der Mann senkte nachdenklich den Kopf und Leander verwettete gerade seinen Hintern darauf, dass er sich nun erstmal eine wütende Predigt darüber anhören durfte, die seine Unfähigkeit als Attentäter betraf. Aber anstatt die Stimme verärgert zu erheben, lachte er nur amüsiert auf. „Das war sicher eine sehr weise Entscheidung von dir. Bei Mafuu, wo kämen wir denn dahin, wenn sich die Attentäter und Gauner heutzutage alle in risikoreiche, gefährliche Situation stürzen würden? Nicht auszudenken.“ Leander schluckte den Ärger über diese Äußerung herunter. Eins zu Null für den Krähenmann. „Es ist mies gelaufen, in Ordnung, aber…“ „…dennoch gut für uns möcht ich behaupten!“ Was daran sollte bitte schön gut sein? Sicher meinte er das Verschwinden des Jungen, aber das machte nun auch keinen Unterschied mehr. „Da muss ich dich enttäuschen.“ Leander zuckte mit den Schultern. „Dass die Ritter immer noch so fieberhaft auf der Suche sind, kann zwar nur bedeuten, dass der Junge nicht wieder im Dentrium angekommen ist, keine Ahnung, was genau passiert ist, aber glaub mir, ich habe mir gerade die Füße wund gelaufen und ihn nicht gefunden. Ich wette er hält sich irgendwo versteckt. Oder wurde versteckt. Vielleicht ist dir jemand zuvorgekommen.“ „Ja vielleicht. Oder vielleicht hast du einfach nicht gründlich gesucht.“ „Soll heißen?“ „Ich weiß wo sich der Junge gerade befindet.“ Leander traute seinen Ohren nicht. „Was?? Heißt das, du hast du ihn längst?“ „Nein. Aber ich habe gesehen wie der Junge zusammen mit einem Mädchen vor den Rittern in die Slums geflohen ist und sie heimlich bis zum Haus des Mädchens verfolgt. Dort dürfte er sich jetzt immer noch aufhalten.“ Was sollte dann das Ganze? Wollte der Krähenmann ihn verarschen? Leander wusste ja, dass er den Auftrag vergeigt hatte, aber musste er sich deswegen von diesem Kauz noch ins Lächerliche ziehen lassen? Es ärgerte ihn und er konnte nicht verhindern, dass nun ein wenig unterdrückte Wut in seiner Stimme mitschwang. „Na bravo, dann weißt du ja wahrscheinlich auch schon wie du dir den Jungen schnappen kannst. Viel Glück…“ Er wollte gerade gehen, als ihn die Stimme des Krähenmanns zurückhielt. „Du gehst? Bist du etwa nicht mehr an der Belohnung interessiert?“ „Lass gut sein...“ „Warte, kein Grund eingeschnappt zu sein. Warum glaubst du, habe ich hier beim Treffpunkt auf dich gewartet? Ich könnte immer noch Hilfe dabei gebrauchen.“ Leander stoppte. Meinte er das ernst? Er wollte noch immer seine Dienste in Anspruch nehmen? Er wägte kurz ab. Das war seine Chance wieder aus der Sache herauszukommen. Natürlich wollte er die Belohnung, aber er entschied sich dazu mit seiner Freude erst einmal hinterm Berg zu bleiben. Er wartete einen Augenblick und drehte sich dann langsam wieder seinem Auftraggeber zu, die Arme hielt er dabei locker vor der Brust verschränkt. „Ach, tatsächlich?“ „Ich kann diese Sache nicht alleine durchziehen. Wie du schon sagst, die Ritter sind heute ziemlich lästig und das hier ist zu wichtig für mich, als dass ich mir den Plan noch mal von irgendwem gefährden lassen könnte. Ich muss auf Nummer sicher gehen und dafür brauche ich eine zweite Person. Dich.“ „Schieß los, was kann ich für dich tun?“ „Nun, ich dachte du bist ja ein ganz charmanter Kerl. Du gehst hin, erschleichst dir wie vereinbart das Vertrauen des Jungen und bringst ihn zum neuen Treffpunkt. Ich warte solange dort auf euch und pass auf, dass uns kein Ritter einen Strich durch die Rechnung macht.“ „Ja, ich bin sehr charmant, sogar zu Kerlen wenn es sein muss, aber die Götter haben mich nicht grad mit dem vertrauenerweckendsten Gesichtchen gesegnet, also warum übernimmst du nicht den Jungen und ich steh Schmiere?“ „Das geht nicht. Die Maske.“ Der Krähenmann tippte dagegen, als rufe er eine offensichtliche Tatsache in Erinnerung. Wollte der Geck ihn schon wieder auf den Arm nehmen? „Was ist damit?“ „Ich sehe zwar absurd gut aus, aber der Junge darf mein Gesicht jetzt noch nicht sehen. Und glaubst du wirklich, er würde einem maskierten Fremden trauen?“ Leander überlegte kurz. Irgendetwas daran gefiel ihm nicht, aber der Kunde war schließlich König. Trotzdem wollte er irgendwie ausschließen, dass der Kerl doch noch auf den dummen Gedanken kam, ihn übers Ohr zu hauen. „Okay, ich machs, aber die Sache ist jetzt ziemlich heikel. Ich will einen Anteil der Belohnung im Voraus“, verlangte er dreist. Einen Versuch wars wert. Wenn wieder was schief ging, dann war der Tag wenigstens nicht völlig nutzlos verlaufen. Der Krähenmann betrachtete ihn mit grauen, scharfsinnigen Augen, die durch die Maske hindurchspähten. Für einen kurzen Moment regte sich in Leander der unangenehme Verdacht, dass er sich gerade eine Frechheit zu viel herausgenommen hatte, aber seine Sorge blieb unbegründet. Mit einem gespielten Seufzen streckte der Maskierte seinen Arm aus einem seitlichen Schlitz des Ponchos heraus und hielt Leander seine schwarz behandschuhte Hand entgegen, wo zwischen Daumen und Zeigefinger ein golden funkelnder Ring steckte. Leander tat ungerührt und musterte den Ring abschätzend. Er hatte eigentlich mit Geld gerechnet, aber die Verzierungen sahen ziemlich edel aus. Der musste verdammt nochmal einiges wert sein. In Gedanken ging er schon mal alle Hehler durch, die er kannte, und was er dafür bekommen könnte. Dann landete der Ring in seiner Hand. Langsam fühlte sich die Situation wieder besser an. Deutlich besser. „Du kannst auf mich zählen.“ „Wusst ichs doch, dass du Mistkerl genug bist, die Sache durchzuziehen“, sagte der Krähenmann süffisant. Leander blickte ihn an. Mit ruhiger, fast leiser Stimme raunte er. „Es ist immer dasselbe, gerade die Leute, denen meine Dienste immer Nutzen bringen, beschweren sich am lautesten über meine Art zu Leben.“ Er lächelte kalt. „Sag, heiliger Mann, wo soll der "Mistkerl" die Beute abliefern?" „Auf der Müllhalde.“ „Oh, reizend. Hast ja wirklich Sinn für Humor.“ Gab es einen besseren Ort um ein dreckiges Geschäft abzuwickeln? „Bei dem ganzen gammeligen Gemüse, was momentan aus dem Dentrium abgeladen wird, stinkt es da bestialisch. Die Ritter werden es also hoffentlich meiden, da allzu lange herumzuschnüffeln und wer vermutet dort auch schon einen entflohenen Bengel? Also, gehen wir die Sache an, Lea? Wir sollten uns beeilen, bevor uns die Ritter zuvor kommen.“ „Alles klar. Aber pass auf, Krähenmann, ich habe einen Namen und glaub mir, soviel kannst du nicht zahlen, dass du mich so nennen dürftest“, brummte Leander. „Natürlich, wenn dir so viel daran liegt, werde ich dich selbstverständlich Leander nennen, aber nur unter einer Bedingung. Sag ja kein zweites Mal Krähenmann zu mir. Bei Mafuu, das klingt absolut albern.“ „Schon gut. Und wie heißt du? Du hast mir deinen Namen ja noch nicht verraten.“ „Nenn mich Balbaris.“ Kapitel 7: Die Entführung ------------------------- „Setz dich doch schon mal.“ Lian wies auf einen der Stühle, die um den Tisch in der Zimmermitte verteilt standen, während sie zu der Küchenzeile rüber ging um dort zwei Tonbecher mit Wasser zu füllen. Lourdes Blick wanderte immer noch ungläubig durch die Wohnung. Der abgenutzte Tisch und die Stühle sahen aus als hätte ein Laie sie aus alten, wenig soliden Sperrgutresten zusammengehämmert. Überall wo die Lackierung abblätterte war das Holz rissig und splitterte. Und dort sollte er sich setzen? Innerlich sträubte er sich davor, aber er wollte nicht, dass Lian ihn für taktlos hielt. Sorgsam darauf bedacht, sich nicht sein Gewand an einem der unliebsamen Splitter zu zerreißen oder sich im schlimmsten Falle noch daran zu verletzen, nahm er vorsichtig auf dem Rand des angebotenen Stuhles Platz. Das mürbe Holz knarrte unter seinem Gewicht, als plante der Stuhl jeden Augenblick unter ihm zusammenzubrechen, sodass Lourde steif mit angezogenen Schultern da saß und kaum wagte sich zu bewegen. Lian setzte sich ihm gegenüber und reichte ihm einen der Becher. Lourde war erleichtert, dass sie ihn jetzt nicht zu einer Unterhaltung drängte, denn im Moment fand er wirklich keine Worte um etwas Passendes zu sagen. Sich vorzustellen, dass Lian ihr Leben in dieser menschenunwürdigen Unterkunft verbrachte, weckte schreckliches Mitleid in ihm. Er nahm den Becher und trank einen Schluck um das beklemmende Gefühl in seiner Brust loszuwerden. „So schlimm?“ fragte Lian. Anscheinend konnte sie ihm die Gedanken vom Gesicht ablesen. „Nein, das nicht, aber…“ Lourde senkte rasch den Blick. „Ich hätte nicht erwartet, dass auch normale Leute in den Slums leben.“ „Was hast du denn gedacht, wer hier wohnt?“ Lourde spürte wie er errötete. Jetzt musste er sich zweifellos erklären. „Nun, ich… Ich meine, ich möchte nicht beleidigend klingen, aber leben im Fuorium nicht ausschließlich Verbrecher und Banditen? Die ganzen Kriminellen die sich hier herumtreiben sind doch auch Schuld an den schrecklichen Verhältnissen im Fuorium. Erst heute auf dem Fest habe ich solch eine unmögliche Person gesehen. Er hatte eine abscheuliche Art zu reden. Mich wundert es überhaupt nicht, dass solche Leute unsere schöne Stadt einfach so verkommen lassen.“ Anstatt beleidigt zu reagieren, lachte Lian. “Lourde, jetzt übertreibst du aber. Nicht alle die hier leben können etwas dafür, was aus der Stadt geworden ist.“ „Aber die meisten Fuorier haben ihren Ruf bestimmt auch nicht besser verdient…,“ versuchte Lourde seine Einstellung zu verteidigen. Im Dentrium hatte man ihn ausführlich über die Machenschaften des Fuoriums aufgeklärt. Lian legte nachdenklich die Stirn in Falten. “Wie viele Fuorier kennst du denn? Gut, ein paar benehmen sich hier bestimmt daneben, aber deswegen ist ja noch nicht gleich jeder ein Verbrecher der hier lebt. Die Leute haben nun mal nicht alle das Glück in einer vornehmen Familie geboren worden zu sein. Ich finde es aber gar nicht so schrecklich hier. Eigentlich geht es uns ganz gut.“ „Sag bloß, du lebst mit deiner ganzen Familie in dieser kleinen Behausung?“ fragte Lourde fassungslos. „Mit meinem Bruder“, sagte sie. „Unsere Eltern leben nicht mehr und Verwandte haben wir keine hier in der Stadt. Deswegen schauen wir, dass wir alleine um die Runden kommen. Jedenfalls sind wir keine Verbrecher. Wie du siehst arbeite ich, du brauchst also keine Angst zu haben, dass ich mir das Geld mit unseriösen Mitteln beschaffe.“ „Oh…“ Lourde fühlte sich plötzlich unglaublich mies. Sie war elternlos, genau wie er, und musste zudem noch mit bescheidenen Mitteln in dieser schäbigen Behausung leben. Hatten seine Worte sie wohlmöglich gekränkt? „Entschuldige bitte. Das tut mir leid…“ „Macht nichts. Das konntest du ja nicht wissen.“ Lian erweckte nicht den Eindruck es ihm krumm zu nehmen. Nach wie vor klang ihre Stimme freundlich, geradezu gelassen. „Aber sag mal, Lourde, macht sich deine Familie eigentlich keine Sorgen um dich?“ Ihr gerader Blick bereitete ihm Unbehagen und er konnte sich nicht anders behelfen, als ihm auszuweichen. Obwohl sie ihm so offen von sich erzählte, hatte er ihr bislang verschwiegen warum er fortgelaufen war. Aber wie sollte er ihr seine Beweggründe erklären? Für einen Menschen, der nichts hatte außer einer kleinen Behausung, musste das doch lächerlich klingen. Trotzdem riss er sich zusammen und entschied sich ihr die Wahrheit zu erzählen. „Auf mich wartet keine Familie, Lian, ich kenne sie nicht einmal. Daheim gibt es nur meine Zofe Mary und meine anderen Vormünder. Und die würden mich am liebsten in meinem Zimmer an einem Stuhl festbinden, wenn sie könnten. Ich wollte einfach nur mal kurz raus und das Fest sehen. Was das für einen Aufstand verursacht hat, konntest du draußen ja sehen. Ich bin auch Schuld, dass die Ritter das Fest gestört haben“, gestand er peinlich berührt und nestelte mit den Fingern betreten an dem Stoff seiner Tunika. „Deswegen waren die Ritter also hinter dir her. Was haben die denn dagegen, wenn du dir das Fest ansiehst?“ „Nun…“, Jetzt befand sich Lourde in der Zwickmühle. Einerseits war es ermüdend sich nie jemanden anvertrauen zu können und bei Lian hatte er einfach ein gutes Gefühl, aber diese Gelegenheit zu nutzen war ausgeschlossen. Er trug einen gewissen Teil an Verantwortung für Grismina. Eine einfache Version würde als Erklärung reichen, doch gerade als er anfangen wollte, ließ ihn plötzlich das Geräusch knatschender Scharniere zusammen zucken. Ohne anzuklopfen stieß jemand die Tür auf und tat laut seine Ankunft kund. „Ich bins! Man, ich könnt kotzen. Diese verdammten Ritter versauen einem echt alles.“ Lourde überlegte irritiert woher ihm dieses vorlaute Mundwerk so bekannt vorkam. „Ah, das ist mein Bruder!“ Mit einem freudigen Lächeln stand Lian auf um den augenscheinlichen Störenfried zu begrüßen. „He, Demian, wir haben Besuch. Sei ein bisschen leiser, ja?“ Lourde fuhr innerlich entsetzt zusammen, als er sah, dass es sich bei Lians Bruder, der jetzt mit wackeligen, wankenden Schritten in das Haus trat, ausgerechnet um den unverschämten Kerl vom Mafuufest handelte. „ER ist dein Bruder?“ Lourde versuchte seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, aber der Schreck über Demians Anwesenheit ließ ihn fahrig werden. Er hätte nie damit gerechnet diesem Flegel noch einmal zu begegnen und dann gleich zweimal am selben Tag. Sich so jemanden als Lians Bruder vorzustellen, ging nicht in seinen Kopf. Das musste ein böser Streich des Schicksals sein oder wollte Mafuu ihn damit wohlmöglich für sein infantiles Verhalten bestrafen? Auch Demian schien erkannt zu haben, um wen es sich bei Lourde handelte, denn das gerade noch angetrunkene Grinsen in seinem Gesicht wurde schlagartig ernst. „Was zum…? Hey, Lian. Was macht’n der Schnösel hier?“ „Ich habe ihn auf dem Fest kennen gelernt und zu uns eingeladen. Ist das ein Problem für dich?“ Lian schien das brüske Verhalten ihres Bruders kaum zu überraschen. „Eingeladen? Den? Wegen diesem vernagelten Dentrianer rennen die Ritter jetzt überall da draußen rum und verderben uns das Fest!“ Demian ignorierte seine Schwester und schritt auf Lourde zu. „Und der Penner sitzt gemütlich in MEINER Wohnung.“ Lourde schluckte. „Ver- was? Was erdreistet Ihr Euch, Ihr…“ Er versuchte zu protestieren, doch Demian schien jetzt erst so richtig in Fahrt zu kommen. Mit einer Hand stieß er gegen seine Schulter. „Los, verschwinde von hier, oder ich helf dir nach!“ „Ich...ich denke gar nicht daran! Was soll das überhaupt? Ich wurde hier als Gast eingeladen!“ „Also mein Gast bist du nicht!“ „Aber meiner!“ mischte sich Lian wieder ein und zog ihrem Bruder am Arm. „Beruhig dich erstmal. Du bist doch total betrunken!“ „Warum sollte ich mich beruhigen? Ich kann den Hanswurst nicht leiden! Wegen dem Kerl werden da draußen einfach so Typen verhaftet!“ Lourde schüttelte irritiert den Kopf und besann sich lieber darauf, den Streit nicht weiter ausarten zu lassen, wenn er nicht vor die Tür gesetzt werden wollte. Allerdings, wollte er überhaupt noch hier bleiben? Jetzt war er, wenn Demian die Wahrheit sagte, also nicht nur Schuld daran, das Fest vermiest und die Geschwister zum Streiten gebracht zu haben, sondern anscheinend hatte sein Ausriss auch dafür gesorgt, dass Unschuldige wegen ihm inhaftiert wurden. Er musste das wieder gerade rücken indem er ins Dentrium zurückkehrte, denn so hatte er sich seinen Ausflug nicht vorgestellt. Entschlossen stand er von seinem Platz auf und stellte sich Demian entgegen, um die Wogen zu glätten, bevor er verschwinden würde. Er wollte nicht, dass Lian ihn für einen undankbaren Gast hielt. Um möglichst versöhnlich zu klingen, bediente er sich seiner höflichsten Art zu sprechen und straffte die Schultern. „Verzeiht bitte, dass ich für Diskrepanzen gesorgt habe. Ich schlage vor, wir legen diese Streitigkeiten wie unter Männern ab und dann werde ich unverzüglich das Haus verlassen.“ Er war in diesem Moment sehr stolz darauf, wie vorbildlich er sich den beiden Geschwistern gegenüber ausdrückte. „Du willst dich prügeln?“ platzte es erstaunt aus Demian heraus. „…Bitte?“ „Na, jetzt geht’s aber ab! Meiner Schwester wird das zwar nicht gefallen…“, Demian ließ provokativ seine Fingerknöchel knacken, “…aber wenn du drauf bestehst, Schnösel.“ Lourde fiel fast aus allen Wolken. Hatte der Fuorier ihm gerade wirklich unterstellt, sich wie ein Barbar mit den Fäusten schlagen zu wollen? Vor Fassungslosigkeit fehlten ihm schier die Worte um etwas gegen diese unverschämte Aufforderung zu erwidern. Wie kam der Rüpel bloß auf so eine abwegige Idee? Hatte er sich nicht gerade beispielhaft bei ihm entschuldigt? Der Gedanke machte ihm wieder klar, wo er hier war und mit welcher Sprache hier gesprochen wurde. „Was ist jetzt? Glaubst du etwa, du kannst dich hier wie so ein oberwichtiger Gockel aufplustern und dann kneifen? Zeig mal was du wirklich drauf hast, oder sind alle Dentrianer feige Schweine, hä?“ „Demian, jetzt lass ihn doch endlich! Das ist albern“, kam Lian ihm zu Hilfe, aber Lourde spürte wie die Wut über Demians Worte ungewollt in ihm hoch kochte und er war fest entschlossen diesem frechen Burschen eine Lektion zu erteilen. „Jetzt reicht es aber! Ich lasse nicht zu, dass Ihr mich und meine Herkunft weiter beleidigt! Wenn Ihr schon Eure Kräfte mit mir messen wollt, dann bitte wenigstens in einem angemessen Duell, Herr Barbar. Ich kämpfe nicht mit bloßen Händen gegen Euch sondern mit dem Degen!“ Ein angespanntes Lächeln spielte um Lourdes Lippen. In einem Fechtkampf konnte ihm ein einfacher Straßenjunge nichts vormachen, immerhin sprach sein Fechtlehrer nicht ohne Grund in den höchsten Tönen von seinen Qualitäten. Er hatte sich in den Trainingsstunden als ausgezeichneter Schüler bewiesen und war dafür mit Lob und Anerkennung gerühmt worden. Demian würde eine Niederlage einstecken und sich bei ihm entschuldigen müssen. „Häh? Und wo willst du einen Degen hernehmen, du Schlaumeier? Dann müssen wir uns wohl mit nem Besenstiel prügeln.“ „Hey, Jungs, ihr seid doch echt verrückt. Dann geht wenigstens in den Hinterhof, bevor ihr das Haus in Einzelteile zerlegt.“ Lian seufzte resigniert und machte keine weiteren Anstalten, den Streit zu schlichten. Bei einem Bruder wie Demian war es vermutlich reine Zeitverschwendung an sein gutes Gewissen zu appellieren. „Wenn ihr fertig damit seid euch die Schädel einzuschlagen, könnt ihr wieder reinkommen. Ich leg schonmal Pflaster für euch bereit.“ „Wenn der Feigling nicht vorher auf die Idee kommt zu kneifen.“ Prompt hatte sich Demian zwei hölzerne Stäbe aus einer Ecke des Raumes gegriffen und war zu einer Tür neben der Küchenzeile geschlendert. Lourde wollte gar nicht wissen, wozu diese Stäbe sonst verwendet wurden und es stellten sich unweigerlich Bilder in seinem Kopf ein, die Demian als bösartigen Schläger und Dieb zeigten. Aber der Grobian hatte mit einer Sache Recht, kneifen konnte er jetzt nicht mehr, sonst stände er als der Feigling da, für den Demian ihn hielt. Also nahm Lourde seinen Mut zusammen und folgte ihm durch die Tür in einen kleinen Hinterhof. Draußen schlug ihnen die herbstliche Kälte entgegen und Lourde erkannte voller Missmut, dass es in der Zwischenzeit stark regnete. Nun sah er seine Chance schwinden Demian in einem Duell zurechtzuweisen. Die dicken Regentropfen die auf ihn niederprasselten durchnässten ihn nicht nur, sondern behinderten auch seine Sicht. Fragend blickte er zu Demian, der zielstrebig auf einen Bretterverschlag auf einer Seite des Hofes deutete, der ein wenig Schutz vor dem Regen bot. „Da rüber!“ Lourde nickte. Sie stapften zum Verschlag, wo Demian ihm gleich mit einem herausfordernden Blick die Stöcker hinhielt. „Ich versuch mich auch zurückzuhalten, Schnösel. Wir wollen ja nicht, dass du noch nen Kratzer abbekommst oder deine perfekte Frisur ruiniert wird. Obwohl du eigentlich selber Schuld bist, mich herauszufordern.“ „Es ist mir schon klar, dass Ihr es so drehen wollt, wie es Euch am besten passt. Dabei wart Ihr doch derjenige der überhaupt erst damit angefangen hat“. Lourde nahm einen der Stöcker entgegen und ging in Stellung, so wie er es gelernt hatte. „Hey, du hast mich angerempelt und beschimpft, schon vergessen? Und außerdem, wer wollte das hier denn klären wie ein Mann und meine Schwester beeindrucken? Jetzt hör auf rumzuheulen und fang lieber an, damit wir es schnell hinter uns haben“, entgegnete Demian großspurig. Lourde ignorierte die dreisten Anschuldigungen. Jetzt galt es sich auf den Kampf zu besinnen. Er wollte Demian seine Frechheiten austreiben und ihn als das bloßstellen, was er war: nur ein vorlauter Wichtigtuer. Er hielt den Stock fest in einer Hand und hob ihn vor sich. In seinem Bauch machte sich sogleich ein unangenehmes Kribbeln breit, denn ihm wurde gerade bewusst, dass er noch nie außerhalb der Trainingshalle hatte kämpfen müssen. Er war zwar sicher mit den einzelnen Schritt- und Stichabfolgen und beherrschte alle Übungen sicher auch locker mit verbundenen Augen, aber trotzdem erschien ihm dieser Kampf als ungewohnt spannend. Es war um nicht zu sagen aufregend. Das Blut in seinen Adern pochte und das obwohl es noch nicht einmal begonnen hatte. Demian ließ den Stock unterdes lässig in der Hand kreisen und machte keine Anstalten Haltung einzunehmen, nur ein spöttisches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Von dem plötzlichen Ansturm von Adrenalin angespornt, trat Lourde vor und versuchte einen ersten Treffer gegen Demians Waffe zu landen. Dieser konnte den Angriff aber problemlos abwehren und stieß Lourde mit der Wucht seiner Waffe ein Stück zurück, so dass er überrascht ins Straucheln geriet. „Du musst den Stock weiter unten halten, dann hat es auch mehr Biss“, kommentierte Demian Lourdes erfolglosen Angriff. „Oder war es Absicht, dass du wie ein Mädchen zuhaust?“ Lourde hatte nicht mit der Stärke seines Gegners gerechnet und eine verlegene Röte färbte seine Wangen, als er auf den vermeintlichen Fehler aufmerksam gemacht wurde. “Das weiß ich selber!“ Er wechselte den Griff um seine Waffe und griff erneut an. Diesmal konnte er Demian besser einschätzen und legte mehr Kraft in jeden Schlag. Doch auch die wurden einfach abgewehrt und mit noch kräftigeren Schlägen erwidert, die Lourde alle Mühe machten seine Verteidigung zu halten. Es war zum Verrückt werden, dieser Demian hielt sich doch wirklich an keine einzige Abfolge die Lourde kannte und traktierte ihn auch weiterhin mit frechen Sprüchen, die ihn aus dem Konzept brachten. Wie konnte ein Straßenjunge, der unmögliche eine ebenbürtige Lehre im Fechten genossen hatte, so vorausschauend parieren, während es Lourde ein Rätsel blieb, wohin der nächste Angriff seines Kontrahenten ging? Aber noch hatte er nicht aufgegeben. Dank seinem Fechtlehrer hatte er so manch einen Trick auf Lager, der Demian noch überraschen würde. Geschickt drehte er sich an seinem Gegner vorbei, um an dessen Rückseite zu gelangen, dort würde er ihm einen gekonnten Treffer verpassen. Nur war plötzlich Demians Fuß genau vor seinem und ließ ihn stolpern. Ein nachträglicher Tritt in die Kniekehle und Lourde ging unbeholfen zu Boden. „He, das ist unfair! Ihr müsst Euch an die Regeln halten!“ „Ich lach mich tot. Kannst ja aufgeben, dann hör ich auf dich zu vermöbeln.“ Demian grinste siegessicher. Im Gegensatz zu Lourde schien der Kampf ihm keine großen Mühen zu bereiten. Wo er schon keuchte um wieder auf die Beine zu gelangen, war Demian anscheinend noch kein bisschen der Atem ausgegangen. Ein schmerzhaftes Pochen in Lourdes Kniescheiben erinnerte ihn an seine vorherige Kletteraktion auf dem Fenstersims. Trotzdem machte er sich daran den Kampf fortzuführen, schlug weiter zu, wich Demian aus und erwischte seinen Gegner in den seltensten Fällen sogar. Die meisten Treffer musste allerdings er selber einstecken. Mehr und mehr Schweißperlen bildeten sich auf seiner glatten Stirn, aber er würde jetzt um alles in der Welt nicht aufgeben. Es ging um seine Ehre. Aber das war nicht der einzige Grund. Hier und jetzt war Lourde auf sich alleine gestellt. Keine Stimmen in seinem Rücken, die ihm sagten -Tu dies nicht, tu das nicht, tu dir nicht weh, sei vernünftig- und all die anderen Predigten. Bei Mafuu, endlich konnte er tun und lassen was er wollte. Ohne Zweifel war dieser Kampf unvernünftig, aber er wollte in diesem Moment nichts anderes tun als seine Kräfte einsetzen, den Schweiß auf seiner Stirn fühlen und dem keuchenden Atem freien Lauf lassen. Er fühlte sich lebendig wie selten zuvor und er genoss es auf eine Art, die er selber nicht verstand. Mit neuem Schwung rannte er wieder auf Demian zu, zog den provisorischen Degen mit einem Schrei in die Luft…und sah blitzende weiße Sterne vor seinen Augen, als Demian ihm seinen Stock unter das vorgestreckte Kinn schlug. Der Stock glitt aus Lourdes Händen, als er zurücktaumelte und wehleidig seinen Kiefer abtastete. Seine Zunge, auf die er sich beim Schlag gebissen hatte, pochte schmerzhaft. Dann sah er Demians Waffe, die direkt gegen seine Stirn zeigte. „Hab dich, Schnösel. Ich sags ja immer, ihr Dentrianer seit Schlappschwänze“, brüstete sich Demian. „Das wars dann wohl.“ „Oh, schon vorbei? Schade, fing gerade an interessant zu werden“, mischte sich plötzlich eine fremde Stimme in das Geschehen mit ein. Hinter dem Verschlag kam die dunkel gekleidete Gestalt eines Mannes zum Vorschein. Lässigen Schrittes trat er, die Hände in den Hosentaschen, näher an die beiden heran und lächelte verschmitzt. „Was willst’n grad du hier, Leander? Hast du nichts Besseres zu tun als rumzurennen und dich in die Kämpfe anderer Männer einzumischen?“ blaffte Demian den Fremden an und nahm den Stock runter, so dass Lourde nicht mehr in der Zwickmühle steckte. Anscheinend war der andere Mann hier ein bekanntes Gesicht, doch Lourde hatte ihn eindeutig nie zuvor gesehen. Es konnte sich hier nur um einen weiteren Fuorier handeln. Die Kleidung war schlicht, außerdem nass vor Regen und die lose zusammengebundenen, längeren Haare wirkten strähnig und unordentlich. Lourde nutzte den Moment um seinen Atem wieder zu sammeln, denn jeder Atemzug hörte sich in seinen Ohren wie der Wind an, der durch die rissigen Bretter des Holzverschlags pfiff. Der Mann namens Leander zuckte mit den Schultern. „ Einmischen? Nein, der Kampf war doch beendet oder etwa nicht?“ „Ich habe wohl verloren“, brummte Lourde in bitterer Einsicht. Dass er den Kampf nicht gewonnen hatte, musste an Demians unfairem Kampfstil gelegen haben. Es war keine besonders anständige Art sich mit Tritten und Schubsern zur Wehr zu setzen. Hätte hier ein korrekter Kampf stattgefunden, wäre Lourde sicherlich als Sieger hervorgegangen. Oder? Wenn er an seinen Fechtlehrer dachte, der ihn nach jedem erfolgreichen Training bejubelte als wäre er ein Degen-Messias, war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob sein Lehrer ihn vielleicht einfach gewinnen lassen hatte. Wie sonst konnte man sich den beschämenden Verlauf dieses Duells erklären? Lourde presste die Lippen zusammen, schüttelte die Zweifel aber ab um sich auf das Gespräch der beiden anderen zu konzentrieren. „Papperlapapp!“ Demian war wieder ganz in seinem Element, als er sich trotzig vor Leander aufbaute. „Dich hat keiner eingeladen, also verzieh dich wieder.“ „Seit wann brauche ich eine Einladung um mir ne Prügelei anzusehn? Aber wenn ich euch bei eurem Date gestört habe, tuts mir natürlich unendlich leid“, konterte Leander und lächelte Demian ironisch an. Der schnappte sofort zurück. „Hast Recht, du störst. Das Unterhaltungsprogramm ist vorbei, kannst dir also jemand anderen suchen und dem auf den Wecker gehen. Wir gehen jetzt jedenfalls rein und heben noch nen paar zusammen.“ Demian holte demonstrativ mit der Hand aus um seiner Rede Nachdruck zu verleihen und stützte den Ellenbogen dann auf Lourdes Schulter ab, der sich neben den beiden gerade völlig überflüssig fühlte und die Diskussion stumm verfolgte. Anscheinend hatte Demian in Gegenwart dieses Leanders vergessen, dass er Lourde bis vor kurzem ebenfalls nicht leiden konnte. „…Könnten Sie mich bitte loslassen?“ Unbehaglich trat Lourde ein Stück zur Seite und Demians Arm rutschte wieder von seiner Schulter. Der Blick des Jungen traf ihn dafür scharf. „Ohja, hört sich ja nett an. Bin auch eigentlich auch nur hier, um deine schnuckelige Schwester zu besuchen. Ist sie da?“ fragte Leander lässig, woraufhin sofort eine deutliche Spannung in der Luft lag. „Meine Schwester?“ „Ja, das hübsche Dummchen, von dem du erzählt hast. Dachte ich besuch sie mal und mach mir einen netten Abend mit der Kleinen.“ „Ich geb dir gleich Dummchen, du Mistkerl!“ bellte Demian. Wie auf ein Stichwort machte er einen energischen Schritt auf Leander zu. Lourde kniff instinktiv die Augen zusammen und rechnete mit dem Beginn einer richtigen Prügelei, dessen Verlauf er sich bei den beiden Fuoriern gar nicht vorstellen wollte. Aber als er wieder aufsah, hatte noch keiner der beiden zum Schlag ausgeholt. „Ruuuhig, war nur Spaß, okay?“ „Ja, super! Pass auf, sonst fängst du dir noch eine!“ „Fang du dich lieber wieder. Falls es dir entfallen ist, heute ist kein guter Tag um zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jedenfalls, wenn man nicht auf die Begegnung mit einem Ritter steht.“ Das schien Argument genug für Demian zu sein, sich wieder zu beruhigen. Lourde hingegen durchzuckte es innerlich. „Ritter? Dann sind sie tatsächlich noch unterwegs?“ Er musste an Demians Vorwürfe zurückdenken und das er sein Vorhaben, endlich wieder zurück zu kehren um der Unruhe ein Ende zu setzen, für einen kindischen Kampf gegen den Fuorier vernachlässigt hatte. „Na, das sag ich doch die ganze Zeit!“, murrte Demian. „Man, die nerven vielleicht.“ „Solange die nicht gefunden haben wonach sie suchen, werden die sicher noch die ganze Nacht Leute aus ihren Betten jagen oder verhaften. Und die sind ziemlich mies drauf. Ein Grund mehr, keinem über den Weg zu laufen. Wer hier nicht von denen überrascht werden will, sollte sich besser `ne ruhigere Ecke suchen wo man Spaß haben kann. Ich jedenfalls, werde das tun. Wie siehts aus, kommt ihr mit?“ „Mach was du willst, ich bleib hier. Wäre ja noch schöner, wenn ich mich von diesen blöden Rittern ins Boxhorn jagen lassen würde.“ „Tja, zu schade“, spottete Leander, ehe er sich schließlich Lourde zuwandte. Die Augen des Mannes waren stechend und kühl und jagten ihm einen leichten Schauer über den Rücken. “Und was ist mit dir? Möchtest du auch lieber daheim am warmen Herd hocken und darauf warten, dass die Ritter dich filzen, während das lachende Leben draußen tobt oder möchtest du ein bisschen was erleben, hm? Ich kenne mich hier gut aus und kann dir den Weg zeigen, ohne dass uns auch nur eine Wache über den Weg läuft.“ Lourde starrte misstrauisch zurück. Leanders Gestalt machte nicht den vertrauenerweckendsten Eindruck. Auch wenn er jetzt ein gewinnendes Lächeln auf seine Lippen zauberte, wurde ihm bei seinem etwas unheimlichen Anblick doch mulmig zumute. Aber seine Aufforderung wirkte verlockend. Wie mochte dieses lachende Leben aussehen, von dem er sprach? Andererseits wartete Lian im Haus darauf, dass er wiederkommen würde. Er musste sich zumindest gebührend von ihr verabschieden und danach ins Dentrium zurückkehren. „Danke für das Angebot, Herr…Leander. Aber seine Schwester wartet bereits auf mich und ich möchte meiner Gastgeberin nicht unhöflich erscheinen.“ Der Vollständigkeit halber fügte er hinzu: “Sie hat bei weitem einen angenehmeren Charakter als ihr Bruder.“ „Soso, deswegen habt ihr euch also geprügelt. Wenns um seine Schwester geht, versteht der wohl keinen Spaß.“ Leander lüpfte eine Augenbraue. Lourde blickte ihn fragend an, erst dann fiel der Groschen und er schüttelte vehement den Kopf. „Nein nein, das ist….“ „Pass mal auf, ich kenne auch ein paar Mädchen mit richtig angenehmen Charakterzügen. Die kann ich dir auch vorstellen, wenn du dich ein bisschen einsam fühlst. Die haben jedenfalls keine Brüder von denen sie bewacht werden“, argumentierte Leander beharrlich. „Hörst du dem etwa immernoch zu? Lass ihn reden und komm endlich mit rein, Schnösel. Die Weiber, die der Typ kennt, sinds eh nicht wert.“ Demian hatte bereits die halbe Strecke bis zum Haus zurückgelegt und wartete ungeduldig im Regen. Wenn diese Auseinandersetzung eins gebracht hatte, dann dass Demian Lourde nun plötzlich doch als Gast akzeptierte, und wenn auch nur um Leander eins auszuwischen. „Oh, oh, deine Nanny hat gerufen, dann tu lieber was sie sagt“, höhnte dieser. Beabsichtigt oder nicht, die Worte hinterließen einen bittereren Nachgeschmack in Lourdes Mund. Mit einer leisen Entschuldigung wandte er sich ab um Demian schnellen Schrittes einzuholen, bevor der kalte Regen ihn noch völlig durchnässte. Doch zu seiner Überraschung kam ihnen Lian bereits aus der Tür entgegen. Sie wirkte nervös und hektisch und eilte schnell zu ihrem Bruder. „Sie stehen vor unserer Tür. Ritter! Sie wollen, dass ich die Tür aufmache!“ „Was!? Mach bloß nicht auf. Wenn die uns mit dem Schnösel zusammen erwischen sind wir geliefert“, platzte es aus Demian heraus. Lourde erstarrte. Sie waren wirklich da. Damit war es zu spät um Lian noch aus der Sache herauszuhalten. Wenn sie ihn in ihrem Haus fanden, lag die Schuld für sein Verschwinden automatisch bei den zwei Geschwistern. Auch ohne Demians Warnung wusste er, dass die Soldaten unerbittlich sein konnten und sein würden. „Das ist alles deine Schuld! Du machst nichts als Ärger!“ Demian ging auf Lourde zu und packte seine Schulter. „Jetzt badest du das gefälligst auch wieder aus!“ „Aber ich habe doch gar nichts….“, stotterte Lourde, obwohl er wusste, dass Demian Recht hatte. Sein Ausbrechen alleine hatte diese Welle von Miseren im Fuorium ausgelöst. Warum musste es denn auch so schwer sein, ein bisschen Freiheit zu genießen? Anscheinend war es ein zu eigensinniger Wunsch, betrachtete man die Wichtigkeit seiner Pflichten im Dentrium. Es war endgültig an der Zeit das Ganze in Ordnung zu bringen. Nur wie sollte er jetzt so schnell…? „Oh oh…ich glaub ich verzieh mich dann mal besser“, riss ihn Leanders dunkle Stimme aus den Gedanken. Der stand nach wie vor unter dem Verschlag, machte aber gerade Anstalten zu gehen. In dem Moment wusste Lourde was er zu tun hatte. „Wartet bitte!“ Entschlossen wandte er sich an Leander “Ihr habt doch eben gesagt, Ihr kennt Euch hier aus. Könnt Ihr mich ungesehen von hier fort bringen, bevor die Ritter mich finden?“ Mit zuckenden Schultern wurde Lourdes Bitte zur Kenntnis genommen. Bildete sich Lourde das nur ein, oder verzog sich Leanders Mund kaum merklich zu einem Lächeln? „Klar, ich habe es dir ja angeboten. Ich schlage aber vor, wir beeilen uns. Das wäre gesünder für uns alle.“ „Willst du wirklich gehen? Und wenn Sie dich doch erwischen?“ Lians Stimme klang besorgt. „Wir können dich hier vielleicht irgendwo verstecken.“ „Nein, Lian. Ich will euch keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn ich erst einmal zurück im Dentrium bin, wird sich die Sache schnell geklärt haben und wieder Ruhe einkehren. Versprochen.“ „Aber…“ „Lass ihn doch. Dem passiert schon nix. Und wenn, dann ist das auch nicht mehr unser Problem“, feixte Demian. „Du bist gemein! Warum sagst du sowas?“ Lian stieß gegen die Schulter ihres Bruders. „Lourde, ich hoffe du bekommst im Dentrium keinen Ärger. Wenn du willst, kannst du jederzeit wieder bei uns vorbeikommen.“ „Das könnte schwierig werden, aber keine Sorge, mehr als monatelangen Hausarrest werde ich wohl nicht bekommen“, murmelte Lourde möglichst gelassen, in Wahrheit frustrierte ihn dieser Gedanke so sehr, dass er fast angefangen hätte zu weinen. Seine feuchten Augen fielen dank des Regen nicht weiter auf. Natürlich würde er nicht wieder auf das Fest gehen dürfen, geschweige denn in das Fuorium. Sein Zimmer erwartete ihn mit seiner gewohnten Eintönigkeit. „Ich störe diese herzzerreißende Verabschiedung ja nur ungern, aber können wir uns jetzt beeilen?“ Leander verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich ungeduldig. „Er hat Recht. Bitte lasst die Ritter nicht länger warten, sonst schöpfen sie noch Verdacht.“ Lourde verbeugte sich rasch vor seinen Gastgebern und eilte dann Leander nach, der sich geschickt einen Weg durch die Hinterhöfe der Bauten bahnte. Lourde konnte mit Erleichterung feststellen, dass die rauen, nach Einlass verlangenden Stimmen Schritt für Schritt schwächer wurden und bald gänzlich nicht mehr zu hören waren. Die Gegend durch die Leander ihn führte war ihm völlig fremd, wie eben jeder Weg im Fuorium, also musste er sich voll und ganz auf seinen Führer verlassen. Dieser gab sich schweigsam, drehte sich allerdings immer wieder zu seinem Schützling um, als wolle er sich über dessen Anwesenheit vergewissern. Immer dann wenn Lourde den Blick neugierig erwiderte, rang sich Leander nur ein schiefes Lächeln ab und setzte seinen Weg umso schnelleren Schrittes fort. Allmählich machte sich Lourde Gedanken, wie lange sich der Weg bis zum Dentrium hinziehen und wann der dichte Wald aus Betonhäusern endlich abreißen würde. Nicht nur, dass er schrecklich in seinen nassen Sachen fror, ihm stieg zudem schon seit einer Weile ein unangenehmer Geruch in die Nase. Lourde bildete sich sogar ein, dass er immer schlimmer wurde, je weiter sie liefen. Bald hielt er schon die Luft an, weil es fast nicht mehr auszuhalten war. Gerade als Leander eine hölzerne Pforte passierte und Lourde hinter ihm hindurchschlüpfte, war der ungewohnte Gestank so überwältigend, dass eine Welle von Übelkeit ihn zum Würgen brachte. „Krieg dich wieder ein, Lourde. Das ist doch bloß der liebliche Geruch faulender Lebensmittel“, gab ihm Leander den Grund für die üblen Gerüche preis. Hinter der hohen Pforte aus Holz türmten sich bereits Berge aus widerlich stinkenden Abfällen und modrigem Sperrholz. Das Ganze vermischte sich zu einem süßsauren, fauligen Pesthauch, der Lourde beinahe die Sinne raubte. Bevor es ihn übermannen konnte, zog er ein parfümiertes Tuch aus seiner Tunika und hielt sie sich vor die Nase. Leider schaffte die dünne, duftende Seide nur wenig Abhilfe und er wagte kaum zu atmen. „Warum bei allen Göttern, befinden wir uns auf der Mülldeponie? Die liegt ganz sicher nicht auf dem Weg zurück ins Dentrium!“ stellte Lourde seinen Führer ungehalten zur Rede. Als er jedoch keine Antwort seitens Leander bekam, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. „Ich möchte jetzt wieder zurückgehen“, stammelte er verwirrt. „Hey, keine Sorge. Das ist eine Abkürzung. Von hier sind wir in Nullkommanichts wieder vor deiner heimischen Pforte. Halt du nur dein Tüchlein schön vor die empfindliche Nase und lass mich dich führen. Hier sucht ganz bestimmt kein Ritter nach deiner Spur.“ Leander versuchte ihn anscheinend mit einem beschwichtigenden Lächeln zu beruhigen, doch in dem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht des Fremden wirkte es eher verschlagen und heimtückisch. Mit einem Mal beschlich Lourde ein ungutes Gefühl. Das keiner hier nach ihm suchen würde, konnte er sich vorstellen. Ein passendes Örtchen für eine Entführung, noch passender wenn das Opfer des Entführers sich sogar freiwillig bis hierhin bringen ließ. Lourde erahnte, dass er es Leander in seiner Unachtsamkeit viel zu einfach gemacht hatte. Jetzt waren die Chancen auf ein Entkommen verschwindend gering und jede Sekunde war kostbar. In einer hektischen Drehung machte Lourde auf den Absätzen kehrt und wollte sich gerade zurück in die Gassen der Slums flüchten. Doch mit wild klopfendem Herzen musste der Junge feststellen, dass eine weitere Person seinen Weg durch die Pforte versperrte. Er hatte nicht gemerkt, dass sich noch jemand herangeschlichen hatte. Wie ein bedrohlicher Schatten stand der Fremde in seinem wehenden Überwurf vor ihm und Lourde sah geradewegs in das schaurige Krähengesicht. Erst nachdem er einen entsetzten Moment lang das Ungetüm einfach nur angestarrt hatte, begriff er, dass es sich um eine Maske handelte. „Da ist er. Gib mir jetzt mein restliches Geld und mach mit ihm was du für richtig hältst.“ Leander scharrte unruhig mit der Stiefelspitze über den dreckigen Boden und hielt seine Hand auf. Lourde durchfuhr es wie ein Blitzschlag: Es waren Komplizen. Wie hatte er nur so dumm sein können, diesem Leander zu vertrauen? „Jaja, bringen wir ihn aus der Stadt raus und dann bekommst du deinen wohlverdienten Rest.“ „Halt mal. Das war so nicht abgemacht! Ich will den Anteil jetzt sofort haben.“ Leander protestierte gegen seinen Verbündeten, anscheinend waren sich die beiden nicht einig. Ob Lourde das zu seinem Vorteil nutzen konnte? Die Anwesenheit des Maskierten hatte in ihm einen so harschen Schrecken verursacht, dass ihm die Taubheit in die Beine kroch und eine Bewegung unmöglich erscheinen ließ. Angst klammerte sich an Lourdes zitternden Körper und obwohl er das schützende Tuch bei seinem Fluchtversuch fallen gelassen hatte, konnte der üble Gestank der Müllhalde seine konfuse Wahrnehmung nicht mehr erreichen. „In Ordnung, hör mir zu, Lea. Du kannst dir noch etwas dazuverdienen und ich lad dich hinterher auf einen guten Becher Rum ein.“ „Wie wäre es mit zwei Bechern Rum, meinem restlichen Lohn plus Bonus und du prägst dir endlich meinen richtigen Namen ein!“ „Klingt vernünftig, elender Raffzahn.“ Lourde trat einen Schritt zurück. Wohin sollte er fliehen? Der Weg nach vorne blieb ihm versperrt und der Weg über die Müllhalde brachte ihn nur weiter fort von seinem schützenden Zuhause. Hätte er doch nie die Flucht vor den Rittern ergriffen. Der unheimliche Maskierte warf den Umhang ein Stück zur Seite und die darunter verborgene Hand schnellte in Lourdes Richtung vor. Erschrocken duckte sich Lourde vor der Hand und seine Reflexe erwachten wieder zum Leben. Der Maskierte erreichte ihn nicht, doch vor Lourdes Gesicht breitete sich nun eine Schwade fein schimmernden Puders in einer Wolke aus. Lourde prustete überrascht auf, der Fremde musste es in der Hand gehalten haben. Vor seinen Augen knisterte der feine Staub wie Kristalle in der Luft, doch er wollte nicht hier bleiben und herausfinden, was es damit auf sich hatte. Schnell machte er erneut kehrt und rannte mit großen Schritten an Leander vorbei und auf die offene Müllhalde zu. Sein Instinkt schrie ihn an, schneller zu laufen. Schneller, nur weg von diesem mysteriösen Mann mit der Maske. Er strauchelte, denn unter seinen Füßen wechselten sich harter Boden und weicher, rutschiger Abfall ab und erschwerten ihm die Flucht. Doch er traute sich nicht, langsamer zu laufen, geschweige denn über seine Schulter zu schauen ob er verfolgt wurde. Der Teufel mit der erschreckenden Vogelmaske saß ihm im Nacken. Bald hatte er das Gefühl sich in Zeitlupe zu bewegen, so als verzerre sich die Welt um ihn herum und zwang ihn auf der Stelle zu treten. Die Sicht um ihn herum wurde matter, begann zu verschwimmen, bis sich die Berge aus Schutt und Müll vor ihm in ein Meer tanzender Farben verwandelten und sich zu drehen begannen. Oder drehte er sich? Es erinnerte ihn an die hübschen, sich zur Musik windenden Gestalten, die er auf dem Festplatz gesehen hatte. Dann verschwand das Bild vor ihm in der Dunkelheit und sein Kopf löste sich in eine geistesabwesende Leere. Er blinzelte das letzte Mal um zu sehen wie der Boden in rasantem Tempo immer näher auf ihn zukam. Dann ein dumpfer Aufschlag, der nur in weiter Entfernung an Lourdes Ohren drang. Der letzte, verschwommen Gedanke, den er fassen konnte, galt dem Mafuufest und das er es jetzt sicher nie wieder besuchen dürfte. Kapitel 8: Xerophes ------------------- „Habt Ihr etwa Eure Zunge verschluckt?“ „.....“ „Na gut, dann schweigt eben, aber beim Verhör solltet Ihr früher oder später besser anfangen zu reden, wenn Ihr Euch die Folter ersparen wollt.“ Seine Begleiter hatten sich scheinbar endlich damit abgefunden, dass aus Seik kein brauchbares Wort heraus zu bekommen war. Er ignorierte die Warnung des Ritters, hielt den Blick gesenkt und blieb stur in seiner Rolle des stillen Arretierten, die er sich selber zugedacht hatte. Hier und jetzt fühlte er sich weder Rede noch Antwort schuldig und schon gar nicht diesen zwei Figuren, die mit argwöhnischen Blicken neben ihm hermarschierten. Wozu auch, in Ihren Köpfen war das Urteil doch schon längst gefällt. Wenn er also dennoch zu einem sinnlosen Verhör gezwungen war, dann wollte er wenigstens von einer achtbaren Person vernommen werden. Vielleicht, mit etwas Glück, würde es jemand sein, der die Absurdität seiner Anklage erkannte und ihm einen letzten, rettenden Strohhalm reichte, an den er sich klammern konnte. Er würde nicht einen Moment zögern, danach zu greifen. Ja, mit ein wenig Glück. Doch wenn sich Seik auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass sein Glück ihn verlassen hatte. Und auch diesmal sollte ihm wieder bewiesen werden, wie Recht er damit hatte. Gerade passierten sie die hohe, steinerne Pforte, die über einen stufenlosen Aufgang den Bereich der Unterschicht vom Dentrium trennte. Anlässlich des Festes hielt eine sechsköpfige Gruppe von Rittern Wache, damit kein Fremder sich unerwünschten Einlass verschaffen konnte. Bis auf die vier Zugangspforten, die zu jeder Himmelsrichtung aus dem Dentrium herausführten, war die Stadt so unzugänglich wie eine Festung und niemand mit Verstand versuchte sich unbefugt Zugang über eine der geschützten Tore zu verschaffen. Wer es dennoch wagte, kam selten ungestraft davon. Auf der anderen Seite der Pforte betraten sie die prachtvolle Vorhalle, die zum Stadtzentrum des Dentriums führte. Unzählige Lampen und Laternen sorgten für eine großzügige Ausleuchtung des gesamten Gangs. Die mit Äther gespeisten Magiekugeln leuchteten heller und gleichmäßiger als gewöhnliche Fackeln und eigneten sich trotz hohem Energieverbrauch hervorragend als Lichtquelle; nicht grundlos wurde diese Neuerung vor ein paar Jahren als blendender Fortschritt gefeiert. Ja, blendend, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Seik in diesem Moment feststellte. Seine Augen, die noch an die dunklen Straßen des nächtlichen Fuoriums gewöhnt waren, schmerzten bei der Intensität des Lichtes und er kniff sie wie ein Maulwurf zusammen. Erst nach mehrmaligem Blinzeln gewöhnte sich die empfindliche Netzhaut langsam wieder an die Lichtverhältnisse, und er blickte mit einem mulmigen Gefühl in den von unverständlichem Stimmengewirr erfüllten Durchgang. Hier ragten die hellen, weiß gestrichenen Wände imposant über ihren Köpfen empor und Säulen, durch grazile Bögen miteinander verbunden, säumten parallel und in regelmäßigen Abständen die Seiten der Halle. Auch nach dem Fest herrschte hier ein recht reges Treiben. Ein paar Adlige waren noch unterwegs und durchschritten die Halle auf dem Weg zu ihren Anwesen oder ließen sich mit Pferdegespannen herumkutschieren. Er mied ihre schaulustigen Blicke, wann immer sie ihn angafften. In der Nähe befanden sich ebenfalls die Quartiere der Ritter, die hier nach getaner Arbeit oft anzutreffen waren. Doch heute war, bis auf wenige Wachmänner, kaum jemand aus der Garde da. Seik mutmaßte, dass keiner von ihnen Feierabend machen konnte, ehe sie Deviresh nicht wieder nach Hause gebracht hatten. Sie setzten ihren Weg zu den Verhörräumen fort. Doch wie um seine dunkelsten Befürchtungen zu quittieren, führten seine Begleiter ihn nicht wie erhofft weiter in Richtung der Ministeriumsgebäude, sondern bogen ab und erreichten den Abstieg in das untere Stockwerk. Plötzlich wusste Seik wohin sie ihn führen würden. Damit starb der letzte Funke Hoffnung und ihm wurde wieder hundselend zumute. Dicht gefolgt von den beiden Rittern, trat er über derbe Steinstufen in den weniger ansehnlichen Teil des Dentriums hinab, wo ihm eine eiskalte Luft entgegen schlug, die unter die Haut kroch und seinen ausgezehrten Körper unweigerlich zum Zittern brachte. Er setzte einen Fuß auf die nächste Stufe, blieb dann zögernd stehen. Er wollte da nicht runter. Bei Mafuu, nicht dieser Ort. Er verharrte einen Augenblick auf der Stelle, doch die Ritter waren ungeduldig und drängten ihn sofort weiter voran, so dass ihm nichts anderes übrig blieb als ihnen Folge zu leisten. Unten angekommen steckten sie ihn in einen der Arresträume, der seine Insassen mit beispiellosem Ambiente erwartete. Ausgerechnet die Luxussuite, dachte Seik grimmig. Es handelte sich um eine schlecht beleuchtete Zelle aus rauem Granitstein, die durch ein Gitter vom übrigen Gang der unterirdischen Katakombe abgetrennt war. Das kümmerliche Inventar bestand lediglich aus einer an der Wand befestigten Sitzbank mit Schieflage, sowie einem fleckigen Waschbecken mit einem verrosteten Wasserhahn darüber und einem ungewöhnlich breitem Rohr darunter. Einen Abort gab es hier drin nicht, also befürchtete Seik, dass das Becken wohl für zwei Dinge in einem gedacht war. Die Götter hassten ihn einfach. Dennoch sprach er stumm ein Stoßgebet an Mafuu, dass er nicht lange genug hier verweilen musste, um von dieser seltsamen Vorrichtung Gebrauch zu machen. Schon im Fuorium hatte er eine Reihe ekelhafter Dinge getan, die er sich liebend gerne erspart hätte, aber ihm war keine andere Möglichkeit geblieben und er hatte sich mehrmals mit dem Gedanken getröstet, dass es schlimmer nicht werden könnte. Doch wie es aussah, konnte es das sehr wohl. Nachdem die Ritter ihn abgestellt und mit ihren drohenden Blicken signalisiert hatten, dass er ja keinen Ärger machen sollte, verließen sie kommentarlos die Zelle. Seik wartete mit abgewandtem Gesicht, bis sie endlich den Gang runter verschwunden waren, dann ließ er sich kraftlos auf die schiefe Bank sinken und stöhnte. Er war platschnass. Kurz nachdem er draußen aufgelesen und verhaftet worden war, hatte es angefangen wie aus Eimern zu schütten. Ganz so als wäre das die dramatische Untermalung seiner großartigen Rückkehr ins Dentrium. Nur, dass die Art dieser Rückkehr so großartig war wie einem Hund beim Kacken auf die eigenen Schuhe zuzusehen. Eine wirklich brillante Lachnummer, wäre es nicht so demütigend sich von den Rittern herumkommandieren und wie einen Verbrecher behandeln zu lassen. Er fragte sich abermals was ihn geritten hatte, auf dieses verdammte Fest zu gehen. Stattdessen hätte er einen ungestörten, heimischen Abend in den derzeitig eigenen vier, schimmeligen Wänden verbringen können. Nur mit sich selber und dem hochprozentigen Mitgefühl aus der Flasche, vielleicht jene aus dem gutgeführten Sortiment des Weinhändlers. Spätestens ab dem Feuerwerk hätte er den Zustand seiner Behausung gar nicht mehr bemerkt. Zugegeben, es war wirklich ein unheimlich versifftes und stinkendes Rattennest, eine Flasche hätte da nicht gereicht, aber immerhin noch besser als hier drin zu hocken. Moment mal, waren das seine eigenen Gedanken oder wurde er jetzt auch noch wahnsinnig? Er stöhnte wieder, lehnte seinen Rücken an die Wand und lauschte auf die Geräusche, die im Gang zu hören waren. Von irgendwoher drang das Gerassel von Ketten und irgendwelches unverständliche Gebrabbel bis an seine Ohren. Jemand sang…oder schluchzte. Er konnte das gedämpfte Geräusch nicht genau definieren. Recht bedacht wollte er das auch gar nicht. Abgesehen von ihm, landeten üblicherweise nur Schwerverbrecher oder eben das aufrührerische Gesindel des Fuoriums innerhalb dieses Kerkers. Er hatte nicht selten selber dazu beigetragen, dass die Zellen neue Bewohner beherbergten. Doch im letzten Jahr hatte sich das Blatt für Seik Jelester in eine unangenehme Richtung gewendet, die sich einfach nicht mehr umkehren ließ. Und er hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie es sich auf der anderen Seite des Gitters anfühlte und dass es jedes Mal weiteren Schmerz und Erniedrigungen bedeuten konnte, wenn er das Geräusch von Schritten hörte die sich seiner Zelle näherten. Er rieb sich frustriert mit den Daumenknöcheln über die Stirn und überlegte, wie vertraut ihm das noch alles war. Ganz so als wären nicht Monate, sondern bloß wenige Tage vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal hier unten eingesperrt hatten. In der Tat war er mal ein verdammt reicher Mistkerl gewesen. Vornehm, gut gekleidet, gepflegtes Auftreten, erfolgreich in vielerlei Hinsicht. Das besagte Paradebeispiel an Disziplin. Nur nicht beliebt. Das galt sowohl für die Bewohner des Unterschichtenrings, die voller Eifer über ihn und andere Dentrianer fluchten, als auch für die Oberschicht. Einige Leute aus dem Dentrium hassten ihn so offensichtlich, dass ihm die entgegengebrachte Verachtung selbst hinter einem lachenden Gesicht kaum entging. Aber das störte ihn nicht allzu sehr. Er hatte nicht viel übrig für Menschen, vor allem wenn sie weder Rang noch Namen hatten, und Taugenichtse oder perspektivlose Versager waren wertlos in seinen Augen. Was für ein grotesker Scherz, dass gerade er zu einem dieser Versager deklariert worden war. Und das ganze wegen einer hanebüchenen Lüge. Jemand hatte ihm einfach ganz hinterhältig den schwarzen Peter untergejubelt und am Ende war es nicht Seik dem man Glauben geschenkt hatte, sondern dieser dreisten Beschuldigung. Angeklagt, verurteilt und kurzerhand abgeschoben. Nicht einmal die üblichen Aufklärungsmethoden waren bei ihm zum Einsatz gekommen. Das Ganze besaß zweifellos den üblen Beigeschmack von Verrat. Das Fuorium hatte ihn daraufhin gierig mit Schimpf und Schande empfangen. Wie eine Herde Schafe, die mit Dreschflegeln bewaffnet darauf warteten, dass man ihnen den zahnlosen Wolf auslieferte. Mit trübem Blick starrte er auf seine Hände, die wieder mal in Ketten lagen. Eine lächerliche Vorsichtsmaßnahme. Als wenn er die Kraft oder den nötigen Willen gehabt hätte, gegen die Ritter aufzubegehren. Zudem waren seine Hände inzwischen so dürr und knochig, dass er damit vielleicht sogar mit ein bisschen Mühe aus den Handfesseln herausschlüpfen konnte. Das einzige womit er ihnen wirklich gefährlich werden konnte war seine Magie, die zu nutzen er im Moment nicht imstande war. Außerdem war er müde und sein Kopf schwirrte immer noch grässlich vom Alkohol. Wie so ein irrsinniger Fluchtversuch da enden würde, konnte er sich an allen zehn Fingern abzählen. Wenn er jetzt doch wenigstens eine rauchen könnte, um dieses nervtötende Gefühl seines flauen Magens zu verdrängen, aber leider befand er sich gerade gezwungenermaßen auf Entzug. Die Kippen hatten sie ihm zwar gelassen, nicht aber sein Feuerzeug. „Großartige Leistung, ihr scheiß Witzbolde“, murrte er. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten und diesen unglücklichen Zustand zu ertragen. Das Warten erwies sich als Geduldsprobe. Die Minuten verstrichen so zäh und ereignislos, dass es Seik bald vorkam als wäre die Zeit hier unten, zusammen mit seinem unterkühlten Körper, eingefroren. Er rieb sich die zitternden Hände, dann die Armgelenke, doch das untätige Herumsitzen zehrte seine Nerven weiter auf. Mit den Augen verfolgte er die Risse in dem Zementboden bis hinüber zu dem fragwürdigem Becken und ihm wurde schlecht dabei. Wie spät es wohl inzwischen war? Schwer einzuschätzen, wie lange er nun darauf wartete, dass etwas mit ihm passieren würde. Vermutlich würde es gar keine Befragung mehr geben, stattdessen ließen sie ihn hier drin einfach schmoren, abgestellt und vergessen. Eine unliebsame Ratte weniger, wie Gillermo zuvor schon treffend formuliert hatte. Durchaus möglich, dass sie Lourde in der Zwischenzeit längst wieder gefunden hatten oder noch besser, vielleicht war er gar nicht erneut verschwunden und man hatte einfach einen Grund gesucht Seik den blanken Hintern zu zeigen. Er konnte sich das schadenfrohe Gesicht des Ritterhauptmanns genau vorstellen, sah wie er in netter Runde mit seinen Männern zusammensaß, sich einen Humpen Wein hinunterkippte und mit roter Nase und unverhohlener Genugtuung von Seiks Festnahme schwadronierte. Aber nein, so ein Aufstand, nur um ihm eins auszuwischen, das passte nicht zusammen. Irgendetwas musste passiert sein, was diesen Aufruhr erklärte und wenn der Junge tatsächlich verschwunden blieb, würde das einen fatalen Rückschlag für das Dentrium bedeuten. Doch noch ehe Seik weiter darüber nachdenken konnte, schreckte ihn das Geräusch von Schritten auf. TRAP TRAP. Dumpf und hart klangen sie immer lauter in dem Flur wieder. Sie kamen näher -TRAP TRAP TRAP-, begleitet von einem schleifenden Geräusch, und ihn beschlich die unbestimmte Gewissheit, dass sie wegen ihm kamen. Sein Körper versteifte sich abrupt, als schließlich zwei Wachmänner hinter dem Gitter auftauchten. Aber sie waren nicht alleine. Sie zogen einen wimmernden Insassen an den Beinen hinter sich her, an Seiks Zelle vorbei, und als er sich etwas vorlehnte und vorsichtig zur Seite spähte, konnte er gerade noch einen Blick auf das Gesicht des Mannes erhaschen. Er war geschlagen worden. Dunkle Flecken blühten auf den geschwollenen Stellen und über einem Auge prangte eine aufgeplatzte Wunde. Seik versuchte in dem gedämmten Licht zu erkennen, was da seitlich an dem Kerl herunterhing und ihn durchlief ein schauriges Kribbeln, als ihm bewusst wurde, dass das gekrümmte Gebilde sein Arm war. Er musste mehrmals gebrochen worden sein sein, andernfalls ließ sich dieser bizarre Winkel, in dem er vom Körper abstand, nicht erklären. Als nächstes hörte er wie ein Schloss geöffnet wurde, während die beiden Wächter irgendwelche Befehle grunzten, die er nicht wirklich verstand. Den Geräuschen zu urteilen steckten sie den armen Kerl zurück in seine Zelle. Seik wurde übel. Nicht wegen dem Mann. Der Mann und dessen Schicksal waren ihm egal. Sein Anblick war zwar mitleiderregend, aber das ging ihm nicht allzu nahe. Vielmehr beunruhigte ihn die Aussicht auf den Verlauf seiner eigenen Befragung, denn er war nicht erpicht darauf, danach in genau demselben Zustand abgeführt zu werden. Die Behandlungen die den Verbrechern hier unten zu Teil wurden, waren ihm bekannt. Schuldig oder nicht, das war vollkommen irrelevant um jemanden so zuzurichten wie diesen Mann. Nachdem er die scheppernde Tür der Zelle hörte und diese verschlossen wurde, kamen die Wächter wieder an seinem Gitter vorbei. Der erste, ein großer, bulliger Mann mit breiten Schultern, trottete achtlos weiter. Der zweite Wachmann, schmaler gebaut als sein Kollege, ging ihm nach, sah aber mit scharfem Blick zu Seik in die Zelle hinein. An seinem Kragen klebten verräterische, dunkle Flecken. Bei Mafuu. Seik lag weiß Gott nicht daran, die Aufmerksamkeit dieser Männer auf sich zu ziehen. Er senkte möglichst unauffällig den Blick, starrte auf den Boden und hoffte, dass sie schnell weitergingen. Die verdammten Kerle ließen sich Zeit, murmelten irgendetwas vor sich hin, aber als er sich vorsichtig aus dem Augenwinkel nach den beiden umsah, waren sie vorbei. Seik hielt einen Moment die Luft an, dann atmete er aus. „Heee, ich hatte doch recht. Bleib mal stehen und schau dir das an.“ Seik ahnte nichts Gutes, als sich erneut die Gestalt des kleineren Wächters in sein Sichtfeld schob. Er stand unweit der Gitterstäbe und als Seik ihm langsam den Blick zuwandte, konnte er sehen wie seine spröden Lippen ein linkisches Lächeln formten. Er hatte ein rundliches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und sein spärliches Haar lag fransig auf der Stirn verteilt. Seik kannte den Mann. Er hatte ihn bei einigen seiner Einsätze befehligt. Nicht, dass er es als nötig befunden hätte, sich das Gesicht jedes beliebigen Wachmannes zu merken, doch an die kleine, spitzgeformte Geiernase und die dümmliche Art zu grinsen konnte er sich noch gut erinnern. Der Wächter kam näher ans Gitter und das dämliche Grinsen breitete sich auf seinem ganzen Gesicht aus. „Wenn das nicht Herr Jelester ist. Schön Euch mal wieder zu sehen. Lang, lang ist es her.“ Seik blickte den Wächter eine Weile ausdruckslos an und war nicht verblüfft darüber, wie hinreißend sich dieser in seiner Schadenfreude suhlte. Seit jeher war seine Beziehung zu den Wachmännern, wie in schweigender Übereinkunft getroffen, von einer tiefen Antipathie geprägt, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Kein Wunder also, dass sich die Freude über sein Schicksal so unverfroren auf deren Gesichtern abzeichnete. Damals war der Kerl noch ein Ritter gewesen, im Übrigen ein lausiger, der mehr mit seinen kuriosen Frauengeschichten, als mit glorreichen Taten aufgefallen war. Unfähige Männer wie er stellten eine Beleidigung für die stolze Rittergarde dar. Das hatte Seik auch dem Rat der Minister begreiflich machen können und darum war er nun kein ehrenvoller Ritter der Garde mehr, sondern Wächter. Und Seik war kein hochrangiger Magier mehr, sondern Gefangener. Dumm gelaufen… „Ich hätte Euch ja fast nicht wiedererkannt. Ein bisschen kränklich seht Ihr aus und Ihr habt ja unheimlich abgenommen. Geht es Euch etwa nicht gut?“ „Kommt vom vielen Feiern“, erwiderte Seik reserviert. Er konnte nur hoffen, dass der Wächter schnell die Lust auf ein Gespräch verlieren und wieder seiner Arbeit nachgehen würde. Dieser verzog amüsiert seine Lippen, ließ die Zunge im Mund kreisen und nickte übertrieben verständnisvoll. „Achso. Na, dann haben wir Euch doch hoffentlich nicht die Feierlaune verdorben?“ Seik lag ein Seufzen auf der Zunge. „Ich frage mich nur wie lange ich hier noch warten soll.“ „Ohhh, vielleicht für den Rest Eures Lebens? Wobei Euch das ja bestimmt freuen dürfte. Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber die Zelle hier ist bestimmt immer noch ein bisschen schicker als das stinkende Loch im Fuorium, oder?“ „...“, Seik schwieg. „Naa? Was ist?“ „Tu mir den Gefallen und verschwinde einfach, dann wäre die Luft hier unten auch wieder erträglicher“, zischte Seik, mehr zu sich selber, als an den Wachmann gewandt und ärgerte sich im selben Moment darüber, dass seine Stimme in dem Raum lauter klang als beabsichtigt. Kein kluger Schachzug in Anbetracht seiner jetzigen Lage laut zu denken. Auch wenn er Mühe hatte, seine Verachtung gegenüber dem Mann zu verbergen, wusste er, dass er sich so nur Probleme einhandeln konnte. Genau wie es der Wächter wusste und so brachte ihn die trockene Antwort zwar kurz ins Stutzen, doch auf sein verdutztes Gesicht folgte sofort wieder ein hämisches Grinsen. Er wechselte einen verschwörerischen Blick mit seinem Kollegen, der sich inzwischen dazu gesellt hatte. „Natürlich, Herr Jelester! Wie konnte ich es nur wagen Eure Privatsphäre so zu stören? Ich werde nur kurz hereinkommen und Euch Euer Kissen aufschütteln, und dann bin ich auch ganz schnell wieder weg, ja?“ Dann hob er das Schlüsselbund ein wenig hoch, ließ es klimpern und begann eine fröhliche Melodie zu flöten. Seik merkte wie sich seine Schultern verspannten, als sich der Schlüssel knirschend im Schloss herumdrehte. Sofort tauchte das Bild des verprügelten Mannes vor seinen Augen auf. „Das ist nicht nötig“, widersprach er, aber zu spät. Der bullige Wächter sah über den Flur entlang und als niemand in Sicht war, deutete er seinem Kollegen mit einem Nicken an, dass die Luft rein war. Die Zelle wurde aufgestoßen und der Wächter trottete herein, während der andere draußen Wache hielt. „So, vielleicht möchtet Ihr nochmal über Dinge nachdenken, die Ihr gesagt habt oder es könnte ungemütlich werden in Eurer privaten Suite hier, hm? Wenn ich mir schon die Zeit nehme, Euch ein wenig zu befragen und Ihr mir sagst, was ich hören will, sind wir doch beide fein raus.“ Seik blieb weitestgehend gefasst und nickte. „Also gut.“ Er war froh, dass er seine Stimme trotz der Nervosität weiterhin unter Kontrolle hatte. Vor diesem Kerl wollte er sich nicht die Blöße geben. „Was willst du hören?“ „Zu allererst könntet Ihr Euren Ton ein wenig einstimmen. Ich will, dass Ihr… Ach, eigentlich können wir auch auf Förmlichkeiten verzichten, nicht wahr? Ich meine jetzt, wo ich ja praktisch über DIR stehe. Ich bin ein Dentrianer und du? Ja, richtig, eine aussätzige, kleine Ratte aus der Unterschicht!“ Seik hielt die Klappe und hörte widerspruchslos zu. „Also sprich mich mit dem nötigen Respekt an. Ich bin Herr Fasarth für dich, Fuorier. Und als nächstes kannst du mir sagen wo du den Jungen hingeschleppt hast.“, lachend wedelte der Wächter mit den Schlüsseln, als er Schritt für Schritt näher kam. Ratte. Fuorier. Ob er noch weitere Beschimpfungen auf Lager hatte, oder waren das schon die ganz harten Geschütze? Von diesem Schwachkopf ausgesprochen verfehlten die Worte ihr Ziel, schmerzten nicht mehr allzu stark. Sie waren kein Vergleich zu der Qual und den Schikanierungen die er in den letzten Monaten über sich ergehen lassen hatte und durch die er beinahe resistent gegen jegliche Arten von Beleidigungen geworden war. Trotzdem ertappte er sich dabei, wie die Aufforderung des Wächters, ihm gefälligst Respekt zu zollen, einen Funken Wut in ihm aufflammen ließ. Unter anderen Voraussetzungen hätte es das Großmaul nicht gewagt, sein Wort derart gegen Seik zu erheben. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie ein einziger, mahnender Blick genügt hatte, um den Kerl vor sich buckeln zu lassen. Jetzt legte er es offenbar darauf an, den Spieß umzudrehen, nur war Seik nicht bereit sich darauf einzulassen. „Deviresh wird also immer noch gesucht?“, murmelte er gleichgültig und schüttelte etwas den Kopf. „Bedauerlich…der arme Junge. Dumm gelaufen würde ich sagen.“ Der Wächter knirschte unwirsch mit den Zähnen. Sicherlich war auch ihm bewusst, was für Folgen das für das Ansehen der Garde hatte, würden sie den Vermissten nicht schnell und unversehrt zurück nach Hause bringen. Aber was konnte ein rangloser Wächter schon unternehmen, als die Situation hilflos abzuwarten? Es sei denn es fand sich jemand der noch hilfloser war und an dem er zumindest seine angestaute Aggression abreagieren konnte. Als würde der Wächter Seiks Gedanken Zustimmung beipflichten wollen, holte dieser mit seinem Bein Schwung und rammte mit einem kräftigen Fußtritt sein Schienbein. Der Schmerz explodierte augenblicklich, Seik verkniff jäh das Gesicht und der Wächter keifte ihn unbeherrscht an „Hör mal, versuch hier nicht den Harten zu mimen, Jelester. Es sollte in deinem Interesse sein, dass der Junge zurück gebracht wird, denn wenn er verschwunden bleibt, dann werden ein paar Leute sicher gerne alles veranlassen, dich als Schuldigen da stehen zu lassen. Und ich werde ganz vorne bei deiner Hinrichtung stehen, um dir zuzuwinken, wenn sie dir den Strick um den Hals legen. Du kannst dich sicher noch gut daran erinnern, wem ich diesen miserablen Posten als Wächter zu verdanken habe. Ja, DAS ist mal DUMM gelaufen, was?“ „Mir kommen gleich die Tränen“, keuchte Seik. Der Schmerz in seinem Bein ebbte langsam wieder ab, aber in Erwartung des nächsten Tritts drängte er sich enger an die Wand hinter sich. „Was war das?“ „Nichts. Ich fürchte nur ihr verschwendet wertvolle Zeit mit mir“, wehrte er ab und hoffte der Diskussion damit ein schnelles Ende zu setzen. „Ich weiß nicht was mit Deviresh passiert ist.“ „Glaubst du wirklich, dass du mir so davon kommst?“ „Wenn es nun mal die Wahrheit ist?“ „Absoluter Blödsinn ist das.“ „Genau wie dein affenartiges Benehmen.“ „Klappe!“ Der Wächter stürzte ungehalten auf ihn los, wobei ihre Kniescheiben hart gegeneinander krachten. Er griff in Seiks Haare und riss seinen Kopf mit Schwung in den Nacken. Seik biss die Zähne aufeinander und sah angewidert in das zorngerötete Gesicht über sich. Aus dem geöffneten Mund strömte ihm ein ekelhafter Pfefferminzatem entgegen. „Jetzt sag zur Abwechslung wirklich mal die Wahrheit. Die Wahrheit, du arroganter Mistkerl! Sag mir, was für ein Drecksstück du bist.“ Seik konnte sich nicht durchringen, irgendetwas darauf zu erwidern. Die wässrigen Augen des Mannes gafften umso gereizter und er kläffte ihm eine weitere Drohung entgegen, wurde aber plötzlich von seinem Kollegen unterbrochen. „Hey, Fasarth, Schritte! Lass lieber ab, wir haben keinen Befehl zum Verhör!“ Der Wächter sah überrascht und ärgerlich auf. Er zog Seiks Kopf wieder zurück, bevor er ihn losließ und brachte seinen Mund dicht an sein Ohr. „Es wird übel für dich enden, Jelester, darauf hast du mein Wort!“, knurrte er und ging eilig zur Zellentür, um hinaus zu spähen. „Ah, verdammt!“ Als Seik wieder aufsah, stellten sich die beiden Wächter bereits in ehrerbietender Haltung auf und starrten angestrengt nach vorne, wo sich eine weitere Person der Zelle näherte. Wie ein Gespenst erschien hinter den Gitterstäben die Gestalt eines älteren Mannes mit glatt zurückgekämmtem, blassblondem Haar und noblem Antlitz, der in einer erhabenen Haltung ein kurzes Nicken an die beiden richtete. Er trug die Gewandung eines Hohepriesters am schmalgebautem Leib, die nur dem höchsten Würdenträger Grisminas zugedacht war. Seik erschauderte. Xerophes! „Willkommen, Exzellenz“, grüßten die beiden Wächter etwas fahrig. Dann Stille. Eine geschlagene Weile sah der Ältere einfach nur zu dem Mann an der geöffneten Gittertür. Sein Blick schien ihn sorgsam überlegt abzutasten, wie eine Eule es tat, bis sie sich entschloss lautlos und präzise auf ihre Beute herabzustürzen und ihr einen kurzen Tod zu bereiten. Als der Wächter das Wort erheben wollte, um die für ihn ungünstige Sachlage zu klären und warum die Zelle bereits offen stand, war es die Hand Xerophes, die sich gewichtig in die Luft hob um das angefangene Herausgerede zu unterbrechen. Ohne den Blick abzuwenden, sprach er nun mit ruhiger, beinahe andachtsvoller Stimme zum Wachmann: „Ich würde Euch höflichst darum bitten, mir Einlass zu dem Gefangenen zu gewähren, um die Befragung durchzuführen. Die Zeit...sie eilt.“ Seiks Gedanken stürzten wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Hierophant persönlich kam, um sich seiner anzunehmen und die Befragung durchzuführen. Die grau-gelblichen Augen fanden ihren Weg zu Seiks wehleidiger Gestalt und ein sorgsames Lächeln wuchs über die Lippen des Mannes, das genauso verständnisvoll wie eisig wirkte und somit ohne vieler Worte klar machte, wie herablassend wenig er für den Gefangenen übrig hatte. Seiks Hals wurde unter dem Blick des höhergestellten Magiers noch trockener als zuvor. Was bewegte einen Mann wie Xerophes dazu hier unten zu erscheinen, wenn es doch andere hochrangige Personen gab, die eine Vernehmung an einer unwichtigen Ratte aus dem Fuorium durchführen konnten? Am liebsten wäre er tatsächlich auf die Größe einer Ratte geschrumpft, um seinen bebenden, von flatterndem Herzschlag begleiteten, Körper schnell durch eine der tiefen Ritzen in den Zellenwänden zu retten. Lieber ein Leben als Ratte, als dem Zorn des Hierophanten ausgeliefert zu sein. Den Wächtern schien es nicht anders zu gehen, denn beide versuchten mit solcher Anspannung Stellung zu halten, dass nur ein Pfahl durch den Rücken sie noch gerader gehalten hätte. Der Kleinere, dem es sein vorlautes Mundwerk verschlagen hatte, machte nach kurzem Zögern eiligst, um Xerophes durchzulassen und huschte somit selber wieder aus der Zelle hinaus, um sich neben seinem Kollegen aufzustellen. Der Hierophant trat ein. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde mit jedem Schritt dünner, schmaler, kaum mehr zu sehen und dann war da nur noch eine harte, undurchdringliche Maske, die keinen Gedankengang mehr verriet. „Magus Jelester,“ begann er sich an Seik zu wenden, „Es ist eine Zeit her, dass ich in Euer Angesicht sah.“ Seine Worte kamen zwischen zusammengepressten Lippen hervor und in einer Weise, die einer Beschwörungsformel glich. Seik war Xerophes bislang nur wenige Male persönlich unter vier Augen begegnet. Der alte Mann war ein bemerkenswerter Magier, mit einem breit gefächerten Wissensschatz und seine magischen Künste umfassten ein beachtliches Spektrum an Fähigkeiten, bei dem Seik sich nicht einmal sicher war, wo es anfing und wo es tatsächlich endete. Zu Recht besaß er einen respekt-, nein, um nicht zu sagen, angsteinflößenden Ruf. Innerhalb der Gilde kursierte schon seit längerem das Gerücht, dass Xerophes sogar Bereiche verbotener Magie erforsche, allein die Art wie er artikulierte ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen. Jedes einzelne Wort sprach er langsam und bedacht aus und gab ihm jederzeit einen bedeutungsvollen Unterton. Das Merkwürdigste an ihm waren aber seine Augen, die keinen Punkt zu fixieren schienen und einem das irritierende Gefühl bereiteten, in keinem direkten Blickkontakt zu stehen. Er sah durch seine Gesprächspartner hindurch, als wären sie bloß Luft, oder zu wertlos um von diesem Mann eines Blickes gewürdigt zu werden. Jetzt schämte sich Seik mehr als ihm lieb war seines verlotterten Aussehens. „Exzellenz, ich habe nicht erwartet Euch hier zu begegnen“, sagte er kleinlaut. Sein Hals kratzte beim Reden und er musste schlucken. Xerophes starrte ihn weiterhin mit glasigen Augen an. „Ich bin gekommen, um mich mit Euch zu unterhalten. Seid Ihr dazu bereit?“ Er bediente sich dem tadelnden Tonfalls eines Vaters, der sein Kind schalte, nachdem es sich einer Ungehorsamkeit schuldig gemacht hatte. Ob er bereit war? Was für eine Frage. War er bereit gewesen, ohne Vorwarnung sein Leben im Dentrium zu verlieren? War er bereit gewesen, als ein Versager das Dasein im Fuorium zu fristen und alle Hoffnung hinter sich zu lassen? Nein! Und jetzt war er genau so wenig bereit. Frierend starrte er Löcher in die Luft. Sein Atem kondensierte vor seinen halb geöffneten Lippen zu einem weißen Nebel. Das war nicht mehr die normale, zugige Kühle eines steinernen Kellers, die sich im Raum sammelte. „Ich...weiß nicht“, brachte er zögernd hervor. „Ihr solltet es wissen, Jelester. Wurde Euch nicht gelehrt vorauszublicken, Situationen zu beherrschen und Euer Können effektiv in die Dienste Eures Wappens zu stellen? Damals war es so gewesen. So denke ich. Und heute? Euer Gesicht, hohlwangig, seiner einstigen, galanten Erscheinung beraubt, und die Gestalt gekrümmt, wie ein verdörrter Baum. Armselig - karg - bedauernswert.“ Xerophes senkte den Blick bekümmert, obwohl er die eindringlichen Worte mit bewussten Pausen und gezielten Betonungen in ihrer Wirkung nur bestärkte. Im Angesicht seiner Hochwürden schnitt dieser unverblümte Vortrag messerscharf in Seiks noch unverheilten Wunden. „Ja, damals, Jelester. Aber die Zeit läuft mit einem weiter... Unaufhörlich bringt sie einen an das Ziel, dass uns vorherbestimmt ist. Möchtet Ihr nicht noch einmal überlegen, was Ihr wisst?“ „Ich möchte tot sein“, war das einzige, das Seik in diesem Augenblick noch einfiel. Stille folgte seinen Worten, während sein Gegenüber ihn erwägend musterte. Plötzlich wurde ihm sein Fehler bewusst. Was, wenn er gerade tatsächlich kurz vor der Erfüllung seines Wunsches stand? Xerophes trat näher heran und streckte abrupt eine Hand nach Seik aus, vor der er zurückwich, doch die Wand hinter seinem Kopf verriet ihm mit einem dumpfen Aufprall, dass es keine Rückzugsmöglichkeit mehr gab. Seik kniff die Augen zusammen und keuchte weiße Nebelwolken, doch er spürte nichts, nur das bebende Auf und Ab seines Brustkorbs. Als er langsam wieder die Augen öffnete, waren Xerophes knochigen Finger nur einen Hauch von seinem Gesicht entfernt und er konnte die Altersfurchen in der weißen Handfläche sehen. „Möchtet Ihr, dass ich Euch Euren törichten Wunsch erfülle? Möchtet Ihr frei sein?“ Xerophes Worte waren voller zäher Güte und Seik fühlte wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. Er fühlte sich schwach und haderte mit der Versuchung „ja“ zu sagen. Jetzt in unmittelbarer Nähe des Hierophanten umhüllte ihn die Kälte wie eine fremde Aura und lullte seine Gedanken ein. Plötzlich schien es eine verlockende Vorstellung zu sein einfach zu fliehen, nicht selten hatte er den Tod als Ausweg aus seiner erniedrigenden Lage ersehnt. Aber er wollte nicht sterben. Seik fürchtete sich zu sehr vor dem Tod, vor allem gebracht von der Hand des Hierophanten. Während er noch über eine Ausflucht nachdachte, griff der Hierophant in eine Tasche seiner Gildentracht und zog eine kleine, goldene Taschenuhr hervor. Mit abwesender Miene strich er über die, mit ineinander gewundenen Mustern verzierte, Deckkappe des Schmuckstücks und öffnete sie. Sogleich ergriff ein rasender Kopfschmerz von Seik Besitz. Wie von einem innerlichen Blitz getroffen, verzerrten sich seine Gesichtszüge vor Grauen und er riss die Hände hoch um sie an seinen Kopf zu pressen. Nutzlos. Der Schmerz kam mit einer Intensität, die ihm den Atem raubte und selbst einen Schrei ersticken ließ. Als würde sich sein Schädel unter der Kopfhaut zu spalten beginnen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ungläubig zu seinem Gegenüber, doch der machte sich ungerührt von Seiks Leiden lediglich daran seine Uhr zu putzen. Die Wachmänner, die noch immer am Zelleneingang Stellung hielten, traten unruhig von einem Bein zum anderen. Erneut griff eine Welle des Schmerzes nach Seiks Verstand, diesmal war es nicht nur in seinem Kopf, sondern legte sich über seinen gesamten Körper und er hatte das Gefühl als würde unsichtbares Schmirgelpapier seine Haut zerreiben. Immer dann, wenn Xerophes über die tiefen Risse und Kratzer, in die das Uhrenglas zersprungen war, strich, wallten neue Schmerzen auf. Bald verwandelte sich sein Körper in ein empfindliches Gebilde aus Nerven und Fleisch, in das die fremde Magie unnachgiebig ihre Krallen trieb. Er riss verzweifelt den Kopf zurück und schlug abermals hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand, schlug wieder und wieder zu, als könnte er damit den Dämon vertreiben, der ihn quälte. „Aufhören! Bitte...! “ Er konnte kaum reden, so laut klapperten seine Zähne vor Kälte. Wie eine frostige Woge strich sie immer wieder über seine zitternden Gelenke, fraß sich mit jeder Sekunde mehr und mehr in ihn hinein und durchdrang die Knochen bis aufs Mark. Hilflos krümmte sich Seik zusammen und versuchte seine Augen zu schließen, aber er konnte nicht. Sie waren so trocken und brannten wie Feuer. Sein Fleisch brannte wie Feuer. Seik fühlte, wie ihm die Galle aufstieg. Die Angst und Anspannung hatten sich zu einem Gefühl des Krankseins gebündelt, das seinen Hals allmählich hinaufkroch. Er kämpfte gegen die Übelkeit an und versuchte seine Fassung zurückzugewinnen. „Bitte aufhören. Tötet mich nicht.“ Die Taschenuhr wurde wieder zugeschlagen und gleichzeitig verebbte der Schmerz schlagartig. Zurück blieb einzig das Gefühl absoluter Leere. Seik brauchte eine Weile, bis die Wirklichkeit ihn wieder eingeholt hatte und er merkte, dass es vorbei war. Genau so schnell wie es begonnen hatte. Nicht mal ihm, der ein Kenner war in den verschiedensten Formen der Magie, sogar weit über das gängigste Wissen hinaus, war eine derart realistische Art von Illusionen bekannt. Kraftlos und ausgezerrt sackte er auf der Bank in sich zusammen. Endlich war er wieder in der Lage sich die Trockenheit aus den brennenden Augen zu blinzeln, doch dass es vorerst aufgehört hatte, konnte ihn nicht beruhigen. Was er jetzt spürte war nicht besser als der Schmerz, es war nackte, pure Angst. Xerophes stand noch immer an Ort und Stelle und betrachtete ihn mit einer undurchsichtigen Miene. „Nein? Dann habt Ihr Euren Entschluss noch einmal überdacht? Wenn Ihr ein kluger Mann seid, Jelester, dann zeigt Euch willens mir bei der Aufklärung von Deviresh’ Verschwinden behilflich zu sein und Euer Leben wird nicht vor seiner Zeit enden. Diese Entscheidung liegt allerdings in Eurer Hand, hauchzart und schwindend wie der Sand eines Stundenglases.“ Die Entscheidung fiel ihm nicht mehr allzu schwer: „Ich sage alles... Alles was Ihr hören wollt.“ Der Hierophant des Dentriums genoss jeden Tropfen zähen Widerstandes, der sich von Seik Jelesters gebrochenem Verstand löste und sich unter ihm zu einer imaginären Pfütze sammelte. Er fühlte sich heute großzügig und gewährte dem ehemaligen Magier die Zeit, die er brauchte, um seine Fassung wiederzuerlangen. Noch hatte er genug davon, wie ihm die goldene Taschenuhr mit ihrem melodiösen Ticken zuflüsterte. Doch er musste es zu Ende bringen, bevor seinem wertvollen Besitz etwas zustoßen konnte. Jelester schnappte nach Luft und richtete sich Stück für Stück wieder auf. Er musste bemerkt haben, dass Stille eingekehrt war, denn sein irritierter Blick war ihm wieder zugewandt. Zu Xerophes Wohlgefallen lag hinter den tiefschwarzen, sonst so desinteressierten Augen, eine wahnsinnige Furcht. Und dieser Mann hatte sich eben noch den Tod gewünscht. Xerophes schloss sein goldenes Schmuckstück in seiner Faust ein und legte die Hände dann hinter den Rücken, eher er sich ein paar Schritte weit von dem Abschaum menschlichen Versagens entfernte. „Sprecht.“ „Ich weiß nicht wo Deviresh sich befindet...“, antwortete Jelester sehr leise und mühsam, fügte aber rasch noch etwas hinzu. „Aber vielleicht weiß ich, wer es wissen könnte.“ Während seine Augen ziellos durch den winzigen Arrestraum wanderten und immer wieder vor Xerophes zurückwichen, setzte er seinen Bericht fort. „Da war ein großer Mann... ein Händler mit roten Haaren. Bei ihm hielt sich noch ein junger Mann von der Straße auf. Ich habe gesehen, wie beide während des Festes mit Deviresh gesprochen haben... Kurz danach ist der Junge verschwunden. Möglich, dass sie etwas damit zu tun haben.“ Der Hierophant ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Offensichtlich klammerte sich Jelester an eine Möglichkeit, an die er selber nicht glaubte, so deutlich, dass der Unglauben in seiner Stimme mitschwang. Doch Xerophes war nicht erzürnt darüber, wie sich der ehemalige Magus darin wand, seine Fragen zufrieden zu stellen. „Wie lauten die Namen der zwei Verdächtigen?“ Jetzt keimte abermals Panik in Jelesters Augen auf. Mit zuckenden Pupillen suchte er in seiner Erinnerung nach den richtigen Namen, die ihm anscheinend nicht einfallen wollten. Auch ohne Xerophes Einwirkung musste der Gedanke über den Verlust der Namen Jelester so verängstigen, dass er in Verzweiflung ausbrach. Er duckte sich in Erwartung neuer Strafen noch tiefer und erweckte den Anschein eines kauernden Tieres. Dem Hierophant gefiel es, dass Jelester eine ihm passende Rolle eingenommen hatte. Die Zeit war nun reif, da er kaum mehr im Stande war sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Xerophes nickte den Schatten zu, die verursacht vom müßigen Fackelschein des Flures, zitternd über die Zellenwände tanzten und ihm ebenfalls zunickten. „Gemach, Gemach. Kein Grund zur Verzweiflung. Ich werde Euch behilflich sein, was den Verlauf Eurer Erinnerung betrifft, Jelester. Es wird schnell gehen, macht Euch keine Sorgen darüber.“ Ein hässlicher Ausdruck legte sich über Jelesters Züge als Xerophes abermals näher an ihn herantrat, um die Hand nach ihm auszustrecken. Doch diesmal zuckte er nicht zurück, wagte nicht einmal mehr zu atmen, während Xerophes ihm die Sicht verdunkelte. Leise sprach er geheimnisvolle Worte. Sätze aus einer fremden Sprache, die er immer wieder wiederholte und die in der Zelle zu etwas Greifbaren wuchsen. Unter seinen Fingern konnte er spüren, wie Jelesters Augenlider flatterten. Er zog ihn mit sich in einen tiefen, schwarzen Abgrund des Unterbewusstseins und ließ ihn nicht los, auch nicht als sie die modrigen, stickigen Zellenwände hinter sich gelassen hatten und fern der Realität an einem neuen, geheimen Ort angekommen waren. Der Hierophant konnte seine eigene Stimme aus der Ferne hören, die in der Leere ihres Bewusstseins wiederklang, wie das Hallen innerhalb einer Kathedrale, dort schwoll sie zu einem einzigen Ton an. Ein Surren, nein, ein leises Ticken. Wie das Geräusch eines Uhrzeigers, der monoton immerzu dieselben Kreise drehte. In den Ohren des Hohepriesters ein willkommener Wohlklang, der seine Meditation in noch tiefere Sphären ermöglichte. Und dann war da Jelester. Er konnte ihn nicht sehen, doch er konnte ihn spüren. Er spürte wie Jelester mit ihm verschmolz und war nun selber Bestandteil seiner Ängste und Verzweiflung - seiner Erinnerungen. Das Uhrenticken dröhnte laut und in diesem Moment konnte der Hierophant durch die Augen des anderen Mannes sehen. TICK. Ein Bild flammte aus dem schwarzen Nichts auf. Männer und Frauen ohne Gesichter, die in einer großen Halle standen und durcheinander sprachen. Alle in Roben und prächtigen Gewandungen. Als er kam, machten sie Platz. TACK. Das Bild verschwand in dem Sekundentakt, den der Uhrzeiger brauchte um den nächsten Ton anzuschlagen, nur um durch ein neues Bild ersetzt zu werden. Die Gesichtslosen hinter sich gelassen, starrte er am Ende der Halle in einen großen Spiegel. Starrte auf das Spiegelbild einer wohlbeleibten, ansehnlichen Person mit pechschwarzen Augen, in ebenfalls reichlich verzierte Kleidung gehüllt. TICK. Wieder verschwamm und wechselte das Bild, zeigte einen Jungen im Kindesalter mit schwarzem Haar und strengem Gesicht. Zeigte wie dem Knaben mit der flachen Hand in das gepflegte, makellose Gesicht geschlagen wurde. TACK. Dasselbe Kind, akkurat hergerichtet, perfekte Haare, wie es neben einem weiteren, kleinen Jungen auf dem Boden saß. An einen Schrank gelehnt. Beide saßen ganz ruhig da, brav, den Kopf nach vorne gebeugt, als würden sie dort schlafen. TICK. Ebenfalls schlafend: eine junge, bildhübsche Frau lag auf dem Bett. Ihr haselnussbraunes Haar ergoss sich weit über das zerwühlte Laken. Sie trug ein schneeweißes Kleid mit roten Sprenkeln und ihre Füße ragten nackt und zierlich über den Bettrand. Um ihren Hals lag eine Kette aus tiefroten Perlen, doch sie schlief gar nicht, ihre Augen waren geöffnet. TACK. Die Frau war schon wieder in weite Ferne gerückt, dafür sah er nun die massiven Holzpodeste des Tribunals vor sich. Gesichts- und namenlose Ankläger donnerten unverständliche Drohungen auf ihn nieder. TICK. Das Bild zerriss als brennender Schmerz, der ihn in das nächste Szenario zog. Er stand inmitten eines lottrigen Hauses. Glasscherben und Dreck bildeten einen Teppich auf dem Boden zu seinen Füßen. In den Glasscherben konnte er verzerrt einen weiteren Blick auf sein Spiegelbild erhaschen. Doch der Mann darin war ein anderer. Ausgezerrt und von tiefen Schatten gezeichnet. Die Augen starrten wie schwarze Perlen aus dem eingefallenen, blassen Gesicht. Ein Anblick der nichts von einem Edelmann übrig gelassen hatte. TACK. Es war dunkel. Nacht. Das feuchte Geräusch auf den Boden tropfender Flüssigkeit erfüllte die Stille und ein strenger Alkoholgeruch lag in der Luft. Eine dünne Glasscherbe in seiner Hand reflektierte spärliches Mondlicht, während er sie auf sein Handgelenk drückte. Aber er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht. TICK. Ein anderer Tag. Es war heller als vorher, aber dieselbe Behausung. Schmutz und Reste verdorbener Lebensmittel hingen an seinem verprügelten Körper und an der Decke baumelte noch immer der ausgefranste Strick aus altem Sisalseil, den er am Tag zuvor geknüpft hatte. Jetzt lachte das Ding ihn hämisch aus. TACK. Leere Flaschen bildeten eine Reihe auf dem Boden und draußen schrieen und jubelten Menschen. TICK. Zwei Personen unterhielten sich vor festlicher Kulisse mit einem jungen Mann. Deviresh. TACK. Die zwei Personen. Einer davon groß mit wildem, rotem Haar. Er stellte sich als Meister Raffa vor. Der andere noch nicht ganz ein Erwachsener. Zottelige, braune Haare umrahmten das freche Gesicht. Er wurde Demian genannt. Die Zeit fing an sich schneller zu bewegen. Ein Zeigerschlag folgte auf dem nächsten und Bilder prasselten in Bruchteilen der Sekunden über seine Augen ein. TICK. Die Ritter. TACK. Die Festwagen. TICK. Xerophes Gestalt in der Ferne. TACK. Wieder die beiden Fuorier, jetzt zu dritt sitzend am Brunnen. TICK. Abermals Ritter. TACK. Er ging mit ihnen mit. TICK. Er saß in einer Zelle. TACK. Er sah sich als Seik Jelester und er sah sich als Xerophes, er sah wie er die Hand über Jelesters Augen legte und er sah wie seine Sicht gleichsam durch die eigene Hand in Schwärze getaucht wurde. Dann war es vorbei und die Uhrzeiger verstummten. Er war wieder in die Kammer zurückgekehrt und konnte seinen eigenen ruhigen Atem hören. Zufrieden lächelnd schaute er auf den Mann herab, dessen Erinnerungen er gerade durchlebt hatte, als wären es die seinen gewesen. Leider waren die Ergebnisse gering und nicht annährend so brauchbar, wie er es erhofft hatte, doch mit der Zeit würde Licht in das Dunkel kehren. Die Zeit würde auf seiner Seite sein. Mit jedem neuen Ticken der Uhrzeiger, mit jedem neuen Bild welches hinter seinen Augen erschien, zuckte Seik zusammen. Dabei konnte er nicht sagen, ob er sich tatsächlich bewegte oder ob es auch nur eine Erfindung seiner Einbildung war. In Sekundenschnelle flatterten die Erinnerungen vorbei und hinterließen nichts als Schmerz und Bitterkeit. Das Letzte was er sah waren Xerophes Hände, die über seinem Gesicht lagen und seine eigenen, weit aufgerissenen und von roten Adern durchzogenen Augen, die aus ihren Höhlen hervortraten. Er schrie, zumindest glaubte er zu schreien. Doch als es aufhörte, waren seine bebenden Lippen geschlossen. Was zur Hölle hatte der Hierophant mit ihm angestellt? Während er die schlimmsten Tage seines Lebens innerhalb weniger Sekunden noch einmal durchlebt hatte, konnte er in jeder Faser seines Verstandes die Präsenz des alten Magiers spüren. Ihm war nicht klar was eben passiert war, oder was nun mit ihm passieren würde, er war viel zu erschöpft um einen klaren Gedanken zu fassen. Xerophes stand immer noch vor ihm und stirnte durch Seik hindurch, reglos und erhaben, als hätte er gerade eine göttliche Eingebung erhalten. „Siribeen, der Göttin der Wahrheit, zum Dank lösen sich die Schleier des Ungeklärten“, hob Xerophes seine Stimme heiser und kehlig. „Ihr wart in Begleitung der zwei Handlanger, die offensichtlich des jungen Deviresh’ grausiges Schicksal besiegelt haben. Soll das Gericht nun über Eure Mitschuld entscheiden. Sollen die Verbrecher, die ich mit meinem eigenen Augenlicht sah, dem Henker überführt werden. Sie müssen gefunden werden.“ Dann brach Seik zusammen und ergab sich einem schwindelerregenden, traumlosen Schlaf. Kapitel 9: Auf der Rakazel -------------------------- Die Feder wurde in das Tintenfass getaucht und dann über das Papier geführt. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, schwarze Tinte die sich in die faserige Oberfläche des Blattes saugte und dort Zeilen bildete. Die Striche weich und ordentlich, die Bögen mit tadelloser Handschrift verfasst. Lourde führte die Feder geschickt in der Hand, während er sich auf die Worte in seinem Kopf konzentrierte. Dies war sein erster Versuch seine Gedanken in einem Tagebuch zusammenzufassen. Eigentlich war er kein Freund solcher Andenken vergangener Tage. Er hatte es immer für kitschig gehalten und wunderte sich, dass er jetzt, wo er 17 Jahre zählte, plötzlich den Drang verspürte seine Erlebnisse festzuhalten. Vielleicht war es der Wunsch, sich daran zu erinnern, was ihn glücklich machte oder was ihn beschäftigt hielt. Er konnte es nicht genau deuten. Zurzeit fühlte er sich nicht besonders gut in seiner Haut. Irgendetwas stimmte ihn unruhig und besorgte ihn auf unerklärliche Weise. Also schrieb er einen Beweis nieder. Ja, der Beweis dafür, dass alles in Ordnung war und es keinen Grund zum Zweifeln gab. Dass er gern den wunderschönen Klängen der Harfen lauschte, die die Mädchen in den Gärten spielten und wie sehr ihn der Unterricht beschäftigt hielt. Er befand sich in seinem Zimmer. Vor ihm sein Schreibtisch aus geschliffenem, poliertem Edelholz, von dem aus er einen herrlichen Blick durch das großzügig geschnittene Fenster hinaus auf den ordentlich angelegten Garten hatte. Zu beiden Seiten der weit geöffneten Fensterflügel wogen sich durchsichtige Vorhänge aus leichten Stoffen im herbstlichen Wind. Lourde wurde unbehaglich zumute, als er das schmale Fensterbrett betrachtete, das kaum mehr Platz als eine Fußbreite bot. Ein schauerliches Gefühl des Fallens ließ ihn zusammenzucken, ehe er sich wieder seiner Tätigkeit widmete. Neben dem Stapel von weißem Papier, das einmal ein Tagebuch werden sollte, befanden sich ebenfalls diverse andere Schreibutensilien wie Federhalter, farbige Tinte und Kreide auf dem Tisch. Daneben, am Tischrand, Bücher mit verschiedensten, farbigen Einbänden aus Stoff oder Leder, deren säuberlich beschrifteten Titel über ihre Lehren Auskunft gaben: Runenzeichen, Philosophie, Mathematik und Völkerkunde. Rhetorik, Ethik, Etikette, Religion, Diplomatie, gemischt mit den Anleitungen zu Fremd- und Eigensprachgebrauch, höfischen Tänzen und Fechten. Eigentlich sollte er sich randvoll fühlen, bei all dem was man ihm täglich beibrachte, aber beim Anblick seines unfertigen Tagebuches fühlte er sich selber wie ein halbleeres Blatt Papier. Er konnte in den Zeilen keine Genugtuung finden. Ein Beweis, dass alles in Ordnung war? Das alles wie immer war? Wie jeder Tag war? Innerlich keimte der Wunsch in ihm auf, das Papier schnellstmöglich zu zerreißen, nur schnell fort aus seinem Blick und seinen Gedanken. Etwas daran ärgerte ihn, doch er konnte es nicht in Worte fassen. Er stellte sich vor, wie der Stapel Papier vor ihm aussehen mochte, wenn alle Seiten beschriftet wären. Randvoll gefüllt mit leerem Inhalt, der sich von Tag zu Tag zu wiederholen anfing und nichts als eine Verschwendung von Zeit und Tinte darstellte. Eine quälende Erinnerung daran, dass das Selbe was er heute getan hatte und was er die letzten Tage getan hatte, das Selbe sein würde, wie das, was er morgen und die nächste Zeit tun würde. Jetzt aber war es erst mal fort, im Papierkorb verschwunden und brachte das nächste unbeschriebene Blatt Papier zum Vorschein. Weiß und leer sagte es nichts aus und bewirkte trotzdem, dass sich sein Magen verkrampfte. Vielleicht war er aber auch nur krank? Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, denn er wollte ja unbedingt auf Mafuus Fest gehen. Er würde mitten in dem bunten Rummel aus Menschen und Festtagsschmuck stehen und eine Menge erleben. Oh ja, er stand schon dort und konnte den würzigen Duft von ausgelegtem Heu und die süßen Früchte der Verkaufsstände riechen. Ein in bunten Farben schillernder Festzug wurde beim Vorbeifahren von Feuerwerksfontänen begleitet, die laut surrend in Lourdes Ohren widerhallten. Alles um ihn herum schien sich zu drehen und die tanzenden Schönheiten trieben ihn an sich ihnen anzuschließen. Schneller und schneller, bis ihm regelrecht schlecht wurde und er den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubte. Ihm wurde schwindelig und das dröhnende Feuerwerk bohrte sich tiefer in seinen Verstand, bis es ihm Kopfschmerzen bereitete. Er konnte nicht aufhören sich zu drehen, konnte nicht schnell genug wegrennen, geschweige denn sich überhaupt bewegen. Zwei unheimliche Gestalten drohten immer näher zu kommen. Der eine Verfolger hatte stechendblaue Augen, den anderen konnte er unter seiner düsteren Maskierung nicht erkennen. Ein Schnabel ragte aus der Maske auf seinem Gesicht. Nein, es WAR sein Gesicht. Er riss den Schnabel auf, als wolle er Lourde verschlingen. Und plötzlich erinnerte er sich. Er war bereits auf dem Fest gewesen und er hatte sich im Fuorium befunden. Dort war er geflohen vor dem maskierten Mann und seinem Gehilfen und…und dann? Sein Kopf fühlte sich an wie ein altes, knarrendes Mühlwerk. Lourde wurde allmählich gewahr, dass er geträumt haben musste, denn als sich der trügerische Schleier von seinen Augen löste, musste er feststellen, dass er sich nicht in seinem Zimmer und schon gar nicht auf einem Fest befand. Er lag seinem Urteilsvermögen nach auf einem Holzboden in unvertrauter Umgebung. Das Dröhnen und Surren, welches er für die Explosionen des Feuerwerks gehalten hatte, war nicht verstummt, sondern schien von überall her zu kommen und fachte seine Kopfschmerzen weiter an. Lourde schluckte, doch sein Hals war trocken und der Geschmack in seinem Mund schal. Bei den Göttern, der maskierte Mann musste ihn entführt haben. Er versuchte sich zu erinnern, doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nichts von dem, was nach seiner Flucht auf dem Müllplatz geschehen war, ins Gedächtnis rufen. Da klaffte ein riesiges, dunkles Loch in seinen Erinnerungen. Wahrscheinlich hatten ihn seine Entführer irgendwo ins Fuorium verschleppt. Wenn seine Theorie stimmte, war es nur eine Frage der Zeit und die ohnehin schon alarmierten Ritter der Garde würden ihn bald ausmachen und wieder mitnehmen. Er musste nur seine Ruhe und Haltung bewahren und abwarten. Zuerst einmal galt es sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Sein Körper fühlte sich steif an und es machte ihm Mühe sich zu bewegen. Die Hände hatten sie ihm vorne mit einem Seil zusammengebunden und er konnte noch so daran zerren, es gelang ihm nicht sich davon zu befreien. Die rauen Fasern schnitten ihm nur fester in die Haut und hinterließen rote, schmerzende Streifen, also gab er es frustriert auf. Ansonsten konnte er keine Anzeichen von Gewalt feststellen. Den Göttern sei Dank, er schien zumindest unversehrt, aber er wollte nicht hier liegen bleiben und darauf warten, dass einer der Entführer kam, um diesen Zustand doch noch zu ändern. Dann fielen ihm wieder die beiden Geschwister ein. Hoffentlich war Lian nichts zugestoßen. Er hatte sich töricht verhalten und sogar zugelassen, dass ein unschuldiges Mädchen mit hinein gezogen wurde. Jetzt strafte Mafuu ihn dafür. Zu Recht. Lourde hatte seine Lektion gelernt. Er wollte nie wieder einem Menschen mit seinem Starrsinn Ärger einhandeln und wenn er erst einmal wieder Zuhause im Dentrium war, würde es in Zukunft keine Ausreißerpläne mehr geben. Aber noch war er nicht Zuhause. Er würde vorerst nicht erfahren, ob es Lian gut ging. Nicht, solange er hier festsaß. Möglicherweise gab es ja einen Weg seinen Entführern eigenständig zu entkommen. Den Rittern war er immerhin auch zweimal geschickt entwischt. Er ließ es auf einen Versuch ankommen und setzte sich vorsichtig auf. Beim Abstützen spürte er wie der Boden unter seinen Händen kaum merklich vibrierte und Lourde überkamen Zweifel, in was für ein merkwürdiges Verlies man ihn verschleppt hatte. Träge blinzelte er sich die letzten, trüben Schleier der Ohnmacht aus den Augen und musterte sein Umfeld. Die gegenüberliegende Wand war aus einfachem Holz und machte einen schlichten ersten Eindruck. Über ihm ragten undefinierbare, mit Ventilen bestückte Rohre aus den Wänden, die sich unter der Decke entlang schlängelten und in der nächsten Wand wieder verschwanden. Über eines der Rohre waren fleckig aussehende Laken geworfen worden und darunter in der Ecke lagen einige verschnürte Säcke. Lourde vermutete, dass dieser Ort eine Art Fabrik oder ähnliches war, anders konnte er sich das mechanische, gedämpfte Surren und den öligen Geruch nicht erklären. Über sich erblickte er ein Fenster, welches spärliches Licht in den Raum einließ. Doch auch wenn Lourde es versuchen wollte, das Fenster war zu klein, um hindurchzuschlüpfen, außerdem ungewöhnlich rund geformt und ohne Griff. Er konnte an dem zartrosafarbenen Licht erkennen, dass es vermutlich bereits morgens war und er die Nacht über ohnmächtig gewesen sein musste. Plötzlich mischte sich ein anderer Laut in das Surren ein. Dieser klang nicht mechanisch, eher weich und wohlklingend, so wie das Summen eines Menschen. Lourde fuhr erschrocken zusammen und suchte nach dem Ursprung der fremden Stimme. Gut sechs Schritt von ihm entfernt, verborgen in einer schattigen Ecke, lehnte ein Mann zwischen den Säcken an der Wand und summte jene Melodie. Mit halb offenem Mund starrte Lourde ihn an. Er war der Annahme aufgesessen gewesen alleine zu sein und hatte dabei nicht bemerkt, dass sich noch jemand mit ihm im selben Raum befand. Vielleicht war es der hinterhältige Kerl, dieser Leander, von dem er sich zu seinem Entführer hatte lotsen lassen, wie eine dumme, naive Göre. Doch obwohl er sich fürchtete, überwog die Neugier und so versuchte Lourde mehr zu erkennen. Der Fremde saß krumm, mit nacktem, nach vorn gebeugtem Oberkörper auf dem Boden, die Hände auf den Rücken gefesselt und die Beine in einem lockeren Schneidersitz. Sein Gesicht war zur Hälfte von einem Gewirr langer, dunkler Haare verdeckt, die in dieser Position fast bis an seine Knie reichten. Wie er so eingesunken da hockte, wirkte er schmächtig und ausgemergelt. Lourde konnte weder eine Bewegung ausmachen, noch stellte der Mann das Summen ein. Schweigend verharrte er in Erwartung einer Reaktion, doch die blieb aus. Der Mann schien so vertieft in seine Melodie, dass er Lourdes misstrauischen Blick überhaupt nicht bemerkte. Die sanfte Stimme hatte einen angenehmen, melancholischen Klang und wahrscheinlich half ihm das Summen, um sich von seiner misslichen Lage abzulenken. Auch auf Lourde hatte es eine beruhigende Wirkung. Wer immer das war, Lourde glaubte nicht, dass ihm Gefahr von diesem Mann drohte. Leander hätte man sicher nicht gefesselt hier zurückgelassen und wenn doch, dann war er nun ein Gefangener, genau wie er. Sie saßen im selben Boot. Vielleicht wusste der Fremde sogar, wohin man sie verschleppt hatte und sie konnten gemeinsam einen Plan zur Flucht austüfteln. „Ihr da“, startete er einen zaghaften ersten Versuch die Aufmerksamkeit des anderen auf sich zu ziehen, war sich im selben Moment aber unsicher, ob der Mann ihn überhaupt hören konnte. Möglicherweise war er taub, denn er reagierte immer noch nicht. „Entschuldigung?“ Wieder nichts. Kurzerhand stand Lourde auf, um sich dem Mann zu nähern, als die Tür zu seiner Linken aufflog. Lourde hielt den Atem an und starrte entsetzt in Leanders rattenhaftes Gesicht. „Na sieh mal einer an. Bist ja endlich aufgewacht.“ Auf seinen Händen balancierte Leander ein Tablett mit einem Krug voll Wasser nebst einem schlichten Tonbecher und einer Schüssel mit Kartoffelsuppe, das er auf einem kleinen Tisch an der Wand abstellte. „Hier, ich hab dir was zum Futtern mitgebracht. Hast bestimmt ordentlich Kohldampf. Dann hau mal rein.“ Für einen Moment war Lourde bar aller Worte, dann jedoch packte ihn eine innerliche Wut auf diesen Mistkerl, die jede Scham überwand. Er wollte Antworten. „Ihr…. Ihr seid es! Ich verlange sofort zu erfahren, warum ich hier festgehalten werde.“ Leander lächelte unbeeindruckt, während er sich von dem Tisch zurückzog und mit dem Rücken gegen die Tür drückte, um diese hinter sich zurück ins Schloss zu schieben. „Ganz ruhig. Ist nichts Persönliches, aber du bringst mir nun mal ne Menge Kohle. Das verstehst du doch sicher, oder?“ „Nein, ich verstehe gar nichts. Lasst mich sofort mit den Verantwortlichen sprechen“, protestierte Lourde. Leander antwortete nur mit einem amüsierten Achselzucken. „Wie Ihr wollt! Ihr wisst ja, die Ritter sind bereits auf der Suche nach mir. Früher oder später werden sie mich hier finden und dann geht es Euch Verbrechern an den Kra…“ Noch bevor Lourde zu Ende gesprochen hatte, marschierte Leander gelassen auf ihn zu und schnappte sich mit einer harschen Handbewegung den Kragen seiner Tunika, um ihn heran zu ziehen. Lourde erstarrte, ob dieser unerwarteten Handlung. „Und da erstarben die kühnen Worte in seinem Mund auch schon wieder.“ Ein hämisches Grinsen verriet, dass der Bastard ihn nur foppte. Doch es war ihm gelungen, Lourde einen ordentlichen Schreck einzujagen, dessen er sich schämte, versuchte seine Verlegenheit jedoch mit einem bösen Starren zu überspielen. „Die Ritter kommen also, um dich zu holen, ja?“, höhnte Leander. „Ich bin gespannt wie sie das anstellen wollen. Dürfte nämlich schwierig werden, dich hier abzuholen.“ Während Lourde versuchte dem stechenden Blick weiter Stand zu halten, fiel ihm plötzlich auf, dass der gefesselte Mann immer noch summte. Er hatte ungerührt von der Situation eine heitere Melodie angestimmt, die dem Ganzen eine absurde Komik verlieh. Leander schob den Kopf an Lourde vorbei und herrschte den Mann mit einem genervten Tonfall an: „Du dahinten, gib endlich Ruhe oder ich stopf dir das Maul.“ Die Melodie verstummte abrupt. „Na herzlichen Dank auch.“ Leander blickte wieder zu Lourde zurück. „Und für dich gilt das gleiche, Knirps. Glaub bloß nicht, dass mir das Ganze hier Spaß macht. Also halten wir jetzt einfach mal alle eine Runde die Klappe und machen das Beste draus.“ Mit diesen Worten ließ Leander Lourdes Kragen los und ging zurück zur Tür. „Wohin geht Ihr?“, rief Lourde ihm nach. „Was hab ich grad gesagt?“ „Aber!“ „Nichts aber. Kannst froh sein, dass es dir nicht so ergeht, wie deinem Kumpel da.“ Er deutete auf den Mann, der traurig an der Wand kauerte. „Alles klar? Dann bis später.“ Lourde blieb nicht die Zeit noch irgendetwas zu erwidern, da knallte Leander die Tür auch schon wieder hinter sich zu, schloss ab und ließ ihn mit all den unbeantworteten Fragen zurück. Mutlos sackten seine Schultern herab. Was hatten die bloß mit ihm vor? „Ganz schön mieser Geselle, was?“ Überrascht blickte sich Lourde um. Der fremde Mann drehte ihm den Kopf zu. „Wie geht’s dir, Junge? Du hast solange geschlafen, dass ich schon dachte, sie hätten dich umgebracht.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Aber hab bisher noch keine Leiche gesehen, die schnarcht.“ Lourdes Bauch kribbelte vor Aufregung, endlich die Aufmerksamkeit seines Leidensgenossen gewonnen zu haben und Leanders Auftritt geriet wieder in den Hintergrund. „Ich denke, es geht mir gut“, antwortete er wahrheitsgemäß, nachdem er erneut einen kraftlosen Versuch daran verschwendete, seine Handfesseln zu lösen. Wie erwartet ohne Erfolg. „Wie steht es um Euch?“ Jetzt, da der Mann den Oberkörper aufrichtete, streiften schmale Lichtfetzen seine Haut und ließen Lourde ein paar genauere Züge erkennen. Er sah gar nicht so schlimm ausgemergelt aus, wie Lourde zunächst angenommen hatte, nur etwas müde und zerzaust. Auf seinem gewitzten Gesicht zeigten sich erste Anzeichen des Alters. Im Schatten wirkte es scharf geschnitten und verlieh ihm zusammen mit seiner langen Nase und den schmalen, schräg gestellten Augen das Aussehen eines listigen Fuchses. Er trug eine dunkelgraue, eng anliegende Hose und abgenutzte Stiefel aus braunem Leder. Sein unbekleideter Oberkörper enthüllte einen dünnen, schlaksigen Leib und drahtige Arme, ebenso bemerkte Lourde die Vielzahl verschiedener Narben, die über seine Brust, an seiner Schulter und den Armen verliefen. „Bei den Göttern, seid Ihr verletzt?“, keuchte er und eilte näher an ihn heran. „Keine Sorge, bei mir ist alles in Ordnung. Den Umständen entsprechend jedenfalls“, entgegnete der Mann, dann verlagerte er sein Gewicht und streckte die Beine durch, um seine Muskeln zu entspannen. „Aber ich gebe dir einen guten Ratschlag, mach die Brüder besser nicht zornig. Ich denke, ich muss dir nicht erst noch erklären warum?“ „Aber wer sind diese Leute? Und warum haben sie uns hierher gebracht?“ Lourde fühlte wie die Fragen nur so auf seiner Zunge brannten, zu viele um sie alle auf einmal zu stellen. „Was für ein Ort ist das hier überhaupt?“ „Sachte, sachte. Eins nach dem anderen. Also lass mal sehn…“ Der Mann wandte den Kopf hinauf und ließ den Blick prüfend an der Decke entlang laufen. „Das hier scheint mir eine Art Lagerraum zu sein.“ Nicht gerade die Antwort, die Lourde sich erhofft hatte. Wenn der Mann nicht mehr wusste, als er selber, war er vermutlich gar keine so große Hilfe. Man musste ihm die Gedanken wohl vom Gesicht ablesen können, denn der Mann setzte eine versöhnliche Miene auf. „Es tut mir wirklich leid, dir das zu sagen, aber wir wurden von einer Bande Piraten geschnappt. Und eine ziemlich üble noch dazu“, sagte er. „Piraten? Heißt das, dieser Kerl von eben ist ein Pirat?“ Sofort wichen seine Gedanken weiter, von Leander zu dem maskierten Unbekannten, dem er auf der Müllhalde begegnet war. War er auch in der Nähe? „Der? Achwas. Das ist irgend so ein Lakai, der sich von den Piraten schmieren gelassen hat. Und jetzt spielt er das Kammermädchen für uns. Geschieht ihm ganz recht.“ „Ihr kennt also die Leute, die uns entführt haben?“ fragte Lourde. Misstrauen stieg in ihm auf. Vielleicht hatte die Hoffnung auf einen Verbündeten seine Wahrnehmung getrübt. „Mehr oder weniger. Ich sitze hier schon eine gefühlte Ewigkeit, da unterhält man sich schon mal miteinander. Nun, um ehrlich zu sein rede meistens ich, die Jungs sind ein bisschen mundfaul was das angeht. Aber wehe du kommst ihnen blöd, dann fletschen sie die Zähne“, plauderte der Mann munter aus dem Nähkästen, in der erkennbaren Absicht, ihn ein wenig aufzumuntern. Oder vielleicht versuchte er auch nur, sich selber aufzumuntern, denn sein Blick senkte sich allmählich wieder zu Boden. Wenn seine Worte der Wahrheit entsprachen, dann musste das Fuchsgesicht wirklich schon länger der Gefangene widerlicher Piraten sein und Lourde hätte ihn um ein Haar verdächtigt, selber dazu zu gehören. Er schämte sich und sein Misstrauen wandelte sich zu Mitleid für den Mann. Ob die vielen Narben auf seiner Haut Zeugnis davon waren, wie es aussah, wenn diese Piraten die “Zähne fletschten“? Jetzt war es an ihm aufmunternde Worte zu finden. „Glaubt mir, Leander hat Unrecht. Die Ritter des Dentriums werden mich finden. Und dann werden sie den Halunken das Handwerk legen. Ich weiß, dass es so ist.“ Zumindest war es bisher immer so, fügte er in Gedanken hinzu. Die Mundwinkel des Mannes zuckten mutlos. „Ich würd dir ja gern glauben, aber wie sollen die Ritter uns hier oben finden? Es sei denn, sie haben inzwischen gelernt wie man fliegt.“ „Fliegen?!“ Lourde sah den Mann verständnislos an, doch anstelle einer Erklärung verwies der nur mit einer knappen Kopfbewegung gen Fenster. „Sieh selbst, Junge.“ Wie geheißen machte Lourde kehrt, um einen neugierigen Blick durch das Fenster zu werfen. Er musste sich strecken, um überhaupt etwas durch das kleine Guckloch zu sehen…und konnte plötzlich seinen Augen nicht trauen. Keuchend strauchelte er ein paar Schritte vor dem Fenster zurück, als hätte es ihn böswillig zurückgestoßen. Mit offenen Mund und weiten Augen starrte er wieder zurück. Der Mann zuckte ungerührt mit den Schultern. Lourde atmete durch, ehe er sich dem Fenster wieder nähern konnte. Was er da draußen sah, war so unwirklich, so verrückt, dass er es einfach nicht glauben konnte. Von hier aus konnte er nur den klaren Himmel sehen, so hell und blau, dass es ihn in die Augen stach. Inmitten dieses endlosen Himmels trieben weiße Wolkengebilde gleich einer gemächlich trottenden Schafsherde, genau auf seiner Augenhöhe. Lourde hatte noch nie Wolken gesehen, die so zum Greifen nahe schienen, dass eine ausgestreckte Hand aus dem Fenster genügt hätte, um den weichen Leib zu berühren. Tiefer konnte Lourde eine nicht enden wollende Landschaft aus Wald und Feldern erkennen, die sich unter ihnen erstreckte. Mit einem ehrfürchtigen Staunen überflog sein Blick die kleinen, in herbstlichen Farben getauchten Feldabschnitte, die Kästchen an Kästchen nebeneinander lagen und in seinem Kopf das Bild einer Flickendecke entstehen ließen. Alles erweckte den unrealistischen Schein einer Modellwelt, so detailreich und winzig wie das Miniaturabbild Grisminas, welches es im Dentrium zu bewundern gab. Doch von der Stadt, wie er sie kannte, war keine Spur, egal wie angestrengt er in die Ferne starrte. Obwohl ihn allmählich ein ungutes Gefühl beschlich, konnte er den gefesselten Blick nicht von dem dargebotenen Bild abwenden. Dort unten waren Pferdekarren, winzig klein wie Ameisen, zu erkennen, die sich auf einem Adernetz aus erdigen Pfaden ihren Weg bahnten. Vermutlich gehörten sie zu den Bauernhäusern, die vereinzelt in der Landschaft standen. Widerstrebend löste Lourde sich wieder vom Fenster und schaute ungläubig zurück zu seinem Zimmergenossen. Dieser beobachtete ihn immer noch und hob verwundert die Brauen. „Wenn ich deine Reaktion richtig deute, dann hattest du also wirklich keine Ahnung davon“, sagte er. Mit vor Erstaunen geweiteten Augen versuchte Lourde wieder zu Worten zu kommen. Er hatte nicht nur keine Ahnung gehabt, er hatte dergleichen noch niemals zuvor gesehen. „Das – ist unglaublich! Habt Ihr das gesehen?“ Seine Zunge klebte beim Reden am Gaumen. „Das kann doch nur eine Täuschung sein, nie und nimmer können wir uns so hoch in der Luft befinden!“ Der Mann rang sich ein schiefes Lächeln ab. “Natürlich wusstest du es nicht. Woher auch? Du warst ohnmächtig, als sie dich auf das Schiff gebracht haben.“ „Ihr wollt mir nicht auch noch erzählen, wir wären auf einer Art „Schiff“? Der Mann nickte. Obwohl der Raum sich kaum mehr bewegte, als das leichte Vibrieren, wurde Lourde bei dem puren Gedanken an die Höhe schwindelig. „Das ist nicht möglich!“ „Doch, ist es. Sag bloß, du hast noch nie etwas von Kapitän Balbaris’ fantastischem Flugschiff gehört?“ Lourde schüttelte benommen den Kopf. „Sagt dir denn „die Krähe“ etwas?“ Bei Erwähnung dieses Namens durchfuhr es ihn wie ein Blitzschlag. „Die Rakazel…“, flüsterte Lourde ehrfürchtig, verstand endlich worauf der Mann hinauswollte. „Aha, kaum hört jemand von der Krähe, fallen die Groschen. Aber nicht bei Kapitän Balbaris. Was lernt man bei Euch im Dentrium eigentlich?“ Der Mann lehnte sich mit einem tiefen Seufzen zurück an die Wand, so dass die herumliegenden Säcke Lourdes Sicht auf ihn wieder einschränkten. „Aber die Rakazel wurden bezwungen!“, rief Lourde sich ins Gedächtnis. „Wie bei den Göttern kann das sein?“ Ein kalter Schauer rieselte über die angespannten Schultern seinen Rücken hinab. Es gab nur eine Erklärung. „Es stimmt also wirklich – das Schiff IST verflucht. Die Krähe steht im Pakt mit einem Dämon, der ihn unsterblich macht.“ „Ja, ja“, hörte er den Mann zwischen den Säcken murmeln. Im Gegensatz zu Lourde wirkte er immer noch gänzlich gefasst, so als wäre ihm ihre missliche Lage gar nicht bewusst. Oder vollkommen egal. „Die Krähe befehligt ein Heer aus brutalen und unmenschlichen Piraten, von denen jeder so groß und stark sein soll wie ein Bär. Wenn du einem von denen begegnet wärst, sähst du sicher nicht mehr so ordentlich gepudert aus.“ Als er sich wieder zu Lourde vorbeugte, war sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen und er senkte bedeutungsvoll die Stimme: „Und der Kapitän soll anstelle eines normalen Hauptes einen schrecklichen Krähenkopf haben, der einem beim puren Anblick in den Wahnsinn treibt.“ Er machte eine Pause und räusperte sich kurz. “So munkelt man jedenfalls.“ Wie von alleine sackte Lourdes Unterkiefer ein gutes Stück tiefer. Sein Albtraum sollte sich bewahrheiten. Er befand sich tatsächlich in der Gewalt eines verfluchten Piraten. Der immer größer werdende Kloß in seinem Hals ließ seine Stimme zu einem Flüstern schwinden. Und wer wusste schon, ob die Wände keine Ohren hatten. „Und was machen wir jetzt?“ „Nichts.“ „Nichts?!“ Aus dem ernsten Gesicht des Mannes wurde ein entwaffnendes Lächeln. „Nur Spaß, Junge. Ich ziehe dich bloß ein bisschen auf.“ Er stieß Lourde aufmunternd mit der Spitze seines Stiefels an. „Lass den Kopf nicht hängen, solange er noch auf deinem Hals sitzt. Wie wärs, setz dich erstmal zu mir und erzähl mir, was passiert ist. Solange wir hier in der Luft sind, können wir nichts gegen sie ausrichten.“ Spaß? Das nannte er Spaß? Lourde konnte daran keinen Funken Humor entdecken. Hoffentlich hatte der Mann nicht bemerkt, dass er seiner Gruselgeschichte komplett auf den Leim gegangen war. Nichtsdestotrotz hatte die Situation eine unglaubliche Wendung genommen und er war froh über seine Gesellschaft. Es machte es zwar nicht besser, wenn sie hier zusammen festsaßen, aber zumindest erträglicher. Also setzte er sich an dessen Seite. „Erlaubt Ihr mir dann Euren Namen zu erfahren?“ „Johann“, sagte der Mann offen heraus. „Ich würde dir ja gerne die Hand geben, aber wie du siehst…“ Er wackelte schelmisch mit den Fingern auf seinem Rücken. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Lourde Deviresh. Es freut mich, auch wenn wir uns unter widrigen Umständen kennen lernen müssen, Herr Johann.“ „Nichts für ungut“, erwiderte Johann unbekümmert. Er wollte ihm gerne helfen, doch leider waren Lourde die helfenden Hände genauso gebunden. Zu allem Überfluss rebellierte nun auch noch seine Armmuskulatur gegen die unangenehme Haltung. Trotzdem machte es ihm in Johanns Gegenwart nicht mehr so viel aus. Er schenkte ihm ein wenig Zuversicht. Statt eines verschmitzten Grinsens, zu dem seine Lippen wohl gern aufgelegt waren, zeigte sich jetzt ein freundliches Lächeln auf Johanns Gesicht und kleine Lachfältchen bildeten sich an seinen Augen. Aus der Nähe konnte Lourde sehen, dass sie von einem dunklen Grau waren. Ein warmes, sanftes Grau. Und In seinem Blick lag eine ungewohnte Herzlichkeit, die nichts als aufrichtiges Interesse bekundete. „Du kommst also aus dem Dentrium. Hab ich mir gleich gedacht, so wie du aussiehst. Was mich allerdings wundert, kleine Fische wie Geiselnahme und Lösegeldforderungen passen so gar nicht zum Stil der Rakazel. Bevor die sich den Ärger mit `ner Geisel machen würden, brechen die vermutlich eher durchs Dach des Dentriums und holen sich das Gold selber da raus.“ „Bei Mafuu. Nach allem was ich über die Rakazel gehört habe, kann ich mir das sehr gut vorstellen.“ Eine Weile waren die Rakazel-Piraten in aller Munde gewesen, es war kein Tag vergangen an dem im Dentrium nicht über sie gesprochen worden war und die Angst hatte sich auch unter den restlichen Bürgern von Grismina verbreitet. Meistens hatten seine Vormünder furchtsam vom Thema abgelenkt, wenn er Fragen gestellt hatte, aber manchmal hatte Lourde mitbekommen, wenn sich die Adligen entrüstet darüber unterhalten hatten, dass die Piraten wieder mal Kutschen überfallen und die wehrlosen Fahrer darin grausam ermordet hatten. Oder sie hatten andere unheimliche Dinge erzählt, zum Beispiel, dass sie wie lautlose Schatten aus der Luft angriffen und ihr Anführer, die Krähe, solle über unmenschliche Fähigkeiten verfügen. Oft hatte Lourde mit pochendem Herzen wach im Bett gelegen und nach jedem Geräusch in seinem Zimmer gelauscht, wenn die schaurigen Geschichten des Nachts auf sein Bett gekrochen gekommen waren und seine Fantasie angefangen hatte ihm Streiche zu spielen. Was für frohe Kunde, als vor zwei Jahren die Rittergarde zusammen mit Magus Jelester ihren Sieg über die Piraten verkündet hatten. Endlich konnten die Menschen in Grismina wieder aufatmen und in Ruhe und ohne Angst vor Überfällen leben. Bis heute…? Er hörte Johanns Stimme: „Ich frage mich wirklich, was sie von einem jungen Burschen wie dir wollen. Wie ein weit gereister Abenteurer, der einen Haufen Schätze angehäuft hat, die so ein Piratenherz höher schlagen lassen würde, siehst du mir jedenfalls nicht aus.“ Lourde schluckte. „Ich denke sie haben es auch auf etwas anderes abgesehen“, murmelte er plötzlich nachdenklich. Was den Grund seiner Entführung betraf, regte sich in ihm bereits ein leiser Verdacht, aber er entschied sich dagegen, ihn Johann gegenüber zu äußern. Genau genommen war es nicht das erste Mal, dass man versuchte ihn zu entführen. Als er noch jünger gewesen war, hatte sich ein gieriger Kammerdiener an Lourdes Gabe bereichern wollen und ihn deswegen versucht zu kidnappen. Allerdings war er nicht weit gekommen und die Ritter konnten die Entführung unterbinden und den Mann in Gewahrsam nehmen, noch bevor er seine Geisel aus dem Dentrium bringen konnte. Nur wie war es möglich, dass die Rakazel davon wussten? Johann legte den Kopf schief und einige dünne Strähnen seines kastanienbraunen Haares rutschten über seine Schulter. „Klingt ja, als wär’ das gar keine so große Überraschung für dich?“ „Nun…vielleicht. Aber das ist eine verrückte Geschichte. Das würdet Ihr mir nicht glauben.“ „Verrückt? Ich habe eine Menge verrückter Dinge gehört und gesehen, würde mich schon wundern, wenn du da mithalten kannst.“ „Seid Ihr denn ein Abenteurer, Herr Johann?“, fragte Lourde mit einem Blick auf Johanns Oberarm, über den sich eine helle Narbe gut sichtbar entlang schlängelte, die ihm sicher einst mit einer scharfen Waffe zugefügt worden war. Johanns Lippen formten die leichte Andeutung eines Lächelns. „Sagen wir, ich bin ein guter Zuhörer. Die Leute plaudern viel, wenn der Tag lang ist. Verbring den Tag in einer Bar voller Seebären und man schnappt früher oder später das ein oder andere interessante Gespräch auf.“ „Und Ihr glaubt diesen betrunkenen Männern, die in den Bars herumlungern?“ „Ich bin clever genug nicht jedem zu glauben, der mir das Blaue vom Himmel lügt. Das tun einige zu gern. Aber nicht hinter jeder unglaublichen Geschichte verbirgt sich bloß im Eifer der Trunkenheit zusammen gesponnener Blödsinn. Einige von ihnen sind wahr, ich habe es selbst erlebt.“ „Selbst wenn es die Wahrheit ist, was haben solche Leute denn schon zu erzählen?“, fragte Lourde skeptisch. „Willst du es wissen, um dir selbst eine Meinung zu bilden?“ „Na gut. Warum eigentlich nicht?“ Immerhin war er froh, das Thema damit von sich selbst abzulenken. Johann benutze seine Beine, um sich zu ihm herumzudrehen, damit war er Lourde genau zugewandt. „Also, gibt es etwas, dass dich besonders interessiert?“ „Ich weiß nicht“, druckste Lourde herum. Er wollte sich nicht vor Johann blamieren, wenn er ihn nach etwas weniger Spektakulären fragte. Daher sagte er: „Erzählt mir einfach das Unglaublichste, von dem Ihr bisher gehört habt.“ „Das Unglaublichste...“ Johann schien einen Moment zu überlegen, dann hellte sich sein Gesicht merklich auf, als wäre ihm ein guter Einfall gekommen. „Ich weiß! Das könnte dir gefallen. Hast du schon von den Nixen gehört?“ „Meint Ihr Meerjungfrauen?“ „Wie auch immer du sie nennen willst.“ „Ich kenn den Begriff aus Büchern, die von Fabelwesen und Legenden handeln, aber das sind Märchen, ausgedacht für Kinder.“ „Und was, wenn es nicht nur Märchen sind?“ Johann legte zur Stärkung seiner Theorie bedenklich die Stirn in Falten. „Das hat doch bloß jemand erfunden“, erwiderte Lourde. „Bist du dir sicher?“ „Ihr wollt mich nur wieder auf den Arm nehmen. Bitte erzählt mir jetzt nicht, Ihr glaubt wirklich an solche Märchengestalten.“ Johann schmunzelte. „Mir gefällt es, was spricht also dagegen, daran zu glauben? Einige erzählen es wären große Fische, andere wiederum berichten von atemberaubend schönen Frauen, deren Beine zu einer riesigen Flosse zusammengewachsen sind. Auf See soll man des Nachts manchmal ihre Gesänge im Brausen der Wellen hören können, glockenklar und so schön, dass es jedes Männerherz sofort betört. Einige soll es so verrückt gemacht haben, dass sie über Bord gesprungen sind, um den reizenden Klängen ihrer Stimmen zu folgen und sind daraufhin spurlos verschwunden.“ „Sind sie ertrunken?“, fragte Lourde, den eine leichte Gänsehaut überkam. „Vermutlich. Es ist nicht unüblich, dass ein armer Hund auf See den Verstand verliert und sich selbst ersäuft, nachdem er sich eingebildet hat, dass das Meer ihn ruft. Auf stürmischer See werden sie sofort von den Wellen verschluckt und hinunter gezogen und niemand findet jemals ihre Leiche. Aber es heißt, die Nixen hätten sie sich geholt und mit ins Meer gezogen. Wenn du mich fragst, ist das eine viel schönere Vorstellung. Ein lohnender Tod für einen Seemann.“ Lourde zog langsam und unbewusst die Beine enger an seinen Körper. „Ich finde es eher gruselig. Habt Ihr selber schon mal so etwas erlebt?“ „Ich habe auf meinen Seereisen oft nach dem Gesang der Nixen gelauscht, aber die einzigen, fremdartigen Klänge kamen von den anderen Matrosen und die waren alles andere als lieblich. Wobei ich mir einmal nicht sicher war, ob ich nicht doch einen hübschen Fischschwanz in der Gischt verschwinden gesehen habe.“ „Das habt Ihr Euch sicher nur eingebildet. Oder es war ein großer Fisch.“ „Ja, vielleicht. Mag auch sein, dass ich damals ein wenig zu tief in die Flasche geschaut habe. Aber eines Tages…Wer weiß.“ Er war schon ein seltsamer Kerl, dieser Johann. Lourde hatte noch nie erlebt, dass ein Erwachsener so viel Interesse an einem Ammenmärchen zeigte. Die Geschichte über die Nixen klang wirklich ziemlich verrückt, aber für solche Phänomene gab es doch schließlich immer irgendeine rationale Erklärung. Was ihn viel neugieriger machte, war das Meer, das er bislang nur auf Ölgemälden bestaunt hatte. „Ihr wart also auf der See. Ist es dort denn schön?“ „Es hat durchaus seine Reize. Warst du noch nie auf dem Meer?“, fragte Johann. „Nein“, gestand Lourde. „Leider hatte ich bislang keine Gelegenheit dazu.“ „Kommst nicht oft raus, hm?“ „Ich habe viele Pflichten im Dentrium, die ich nicht einfach vernachlässigen kann. Vermutlich machen sich alle gerade schreckliche Sorgen um mich.“ „Um dich, oder dass du deine Pflichten vernachlässigst?“, harkte Johann nach. „Wie bitte?“ Die Frage verunsicherte Lourde. „Vergiss es. Wenn du dich für das Meer interessierst, was hältst du dann davon, wenn ich dir erzähle, was ich auf meinen Reisen erlebt habe?“ „Gern.“ Er lehnte sich ein Stück weit vor, um Johann seine Aufmerksamkeit zu signalisieren und dieser fing an zu erzählen. Vom Meer. Von Seeräubern. Und von den vielen Städten und Inseln, die er schon bereist hatte. Von fernen Ländern, die Lourde aus dem Unterricht kannte, dort wo es Paläste und exotisches Essen gab und bildhübsche Frauen mit schokoladenbrauner Haut. Von Wäldern, die des Nachts so finster waren, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah und von seltsamen Kreaturen, die tief unter einem Netz unbeugsamer Wurzeln in unterirdischen Erdgängen hausten. Lourde betrachtete Johann mit großen Augen, während er aufmerksam zuhörte. Er kannte wirklich viele Geschichten und besaß noch dazu ein ausgesprochenes Talent dafür sie spannend zu erzählen. Wie ein Künstler verlieh er den Worten Spannung und Glaubwürdigkeit und Lourde hätte ihm am liebsten noch stundenlang zugehört. Alles was da draußen in der Welt geschah, kannte er nur aus Büchern und die waren allesamt alles andere als spannend. Die Adligen unterhielten sich nie über solche Themen mit ihm, bloß nicht, alles außerhalb des Dentriums war ja sowieso zu gefährlich für ihn. Lachend endete Johann mit der Pointe einer Geschichte, in der es um ein Liebesabenteuer zwischen ihm und…nun…mehreren Frauen ging, als er sich Versehens in das Badehaus eines Nonnenklosters verirrt hatte. Nach allem was der Mann erlebt hatte sicher nichts aufregendes, aber es genügte, um Lourde die Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Wie konnte er nur so unbefangen über so etwas reden? Johann machte eine kurze Pause. Als er wieder zu reden begann, hielt er seine Stimme plötzlich gesenkt, es war kaum mehr als ein Flüstern. „Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen, Lourde?“, fragte er. Lourde blickte ihn überrascht an. Johann hatte also ein Geheimnis, dass er mit ihm teilen wollte. Eins, das so wichtig war, dass er auf Nummer sicher ging, damit kein unerwünschter Zuhörer auf der anderen Seite der Wand heimlich ihre Unterhaltung belauschte. Von einer älteren Person ins Vertrauen gezogen zu werden, fühlte sich gut an. Daheim vermittelte man ihm zumeist das Gefühl außen vorgelassen zu werden, natürlich unter dem Vorwand seines eigenen Schutzes. Er war schon fast erwachsen und wurde trotzdem immer wie ein Kind behandelt. „Ein Geheimnis?“, fragte er. „Ja, sieh dir diese Kette mal genauer an.“ Lourde beugte sich etwas vor und betrachtete die zierliche, vergoldete Kette, die um Johanns Hals hing. Das Band hielt ein kleines, ovales Amulett, in dem ein türkiser Stein eingefasst war. Beim näheren Hinsehen konnte Lourde etwas darin erkennen, was wie eine smaragdgrüne Flüssigkeit aussah. Sie bewegte sich stetig innerhalb des Steins, als wäre sie lebendig. Lourde wusste sofort, um was es sich dabei handelte. Johann schaute ebenfalls auf den Anhänger hinab. „Das da drin ist eine verdammt seltene Substanz. Man nennt es Äther“, erklärte er. „Wie seid Ihr denn daran gekommen?“ „Ich habe es von einem alten Mann geschenkt bekommen, der mich in Magie unterrichtet hat.“ „Ihr seid ein Magier?“ Für einen Moment stutzte Lourde. Damit hatte er nicht gerechnet. Johann, der das Aussehen eines gewöhnlichen, mittellosen Landstreichers hatte, war weder angemessen gekleidet, noch besaß er die edle Ausstrahlung, die ein Magier in Lourdes Augen ausmachte, ganz zu schweigen von seiner schlichten Art zu reden. Selbst die Geschichte über die Meernixen kam ihm da glaubwürdiger vor. „Aber dann könnt Ihr Euch doch gegen die Piraten verteidigen.“ Hoffnung wallte in Lourde auf, aber Johann zerschlug sie mit bedauernder Miene. „Leider ist es zu wenig, um gegen Sie anzukommen. Weißt du, die Piraten suchen schon ewig nach einer Ätherquelle und sie zwingen mich, Ihnen dabei behilflich zu sein. Ich sage diesen Schwachköpfen immer wieder, dass ich keine Ahnung habe, aber auf dem Ohr sind die Brüder taub.“ Also doch. Damit war Lourdes Verdacht endgültig bestätigt. „Ich wusste es.“ „Was wusstest du?“ „Die Piraten sind auf Äther aus und haben mich deswegen entführt. Ich frage mich nur, wie sie davon erfahren haben.“ Johann blickte ihn fragend an. „Bei Mafuus haarigem Hintern, bist du etwa auch ein Magier, Junge?“ „Nein, das versteht Ihr nicht! Die glauben tatsächlich, dass ich das Äther für sie finde, aber da haben sich diese Harlunken geschnitten“, rutschte es ihm in der Aufregung heraus. „Tja, das wäre auch zu schön um wahr zu sein. Wenn die Piraten endlich eine Quelle finden würden, könnte ich mit einem guten Fluchtplan zuerst an das Äther herankommen, um etwas gegen sie auszurichten. Aber so wie es im Moment läuft, segeln wir vermutlich noch bis an unser Lebensende durch die Luft.“ Lourde musste eingestehen, dass Johanns Idee gute Ansätze enthielt. Mit dem Äther im Besitz eines Magiers hatten sie eine Chance gegen die Piraten. Dafür musste Lourde aber eine Entscheidung treffen, die zum einen bedeutete Johann einzuweihen und außerdem die Gefahr enthielt, das Äther direkt in die Hände der Rakazel zu spielen. Was die kostbare Substanz in den Händen dieser verfluchten Bande verursachen konnte, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Er würde Johann einfach vertrauen müssen und darauf hoffen, dass er einen handfesten Plan daraus machte. Mit aller Ernsthaftigkeit sagte er: „Ich kann Ätherquellen spüren, Herr Johann.“ Die Augen seines Gegenübers blitzten ihn erwartungsvoll an. „Ist das wahr?“ Lourde nickte. „Dann ist das die verrückte Geschichte, die du mir nicht erzählen wolltest? „Es ist etwas kompliziert, vermutlich sollte ich es eine Gabe nennen. Manchmal würde ich es eher als Fluch bezeichnen. Es gibt eine Art Verbindung zwischen mir und dem Äther. Sie macht es für mich sichtbar, ohne dass ich es so richtig kontrollieren kann. Obwohl sichtbar nicht das richtige Wort ist, jedenfalls nicht für die Augen. Ich spüre es einfach irgendwie. Und ich kann es finden. Egal, wo es sich befindet…“, stammelte er. Warum war es so schwierig Dinge zu erklären, die ihm doch von klein auf vertraut waren? „Mir wurde streng verboten, darüber zu sprechen, weil sonst so etwas passieren könnte wie jetzt. Machthungrige Banditen versuchen sich einen Vorteil daraus zu verschaffen. Aber ich vertraue Euch und halte es für richtig, Euch einzuweihen. Vielleicht finden wir so einen Weg, die Piraten zu besiegen.“ Als er zu Johann aufsah, hatte dieser ein bedächtiges Gesicht aufgelegt, beinahe mitfühlend. „Wenn das stimmt, hast du da ein sehr besonderes Talent, Lourde.“ „Dieses Gespür habe ich seit meiner Geburt, ich bin es gewohnt. Es ist mein Beitrag für das Wohl der Stadt Grismina, so wie alle anderen auch ihre Arbeiten erfüllen.“ „Hört sich für mich nach einer großen Bürde an.“ „Ja, deshalb muss ich auch schnell wieder zurück“, antworte Lourde pflichtbewusst und Johann gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er begriffen hatte. Wie ein Verschwörer, der gerade im Begriff war einen Plan auszuhecken, rückte er seinen Kopf nah an Lourde heran. „Wir sollten das auf jeden Fall zu unserem Vorteil nutzen. Kannst du mir erzählen, wie genau wir das Äther finden?“ „Nun, meistens hilft mir ein Magier dabei mich besser zu konzentrieren, indem er mich in Trance versetzt. Dann kann ich spüren wo sich die Quelle befindet. Allerdings weiß ich nicht genau, ob es ohne die Hilfe funktionieren wird. Vielleicht kann…“ Gerade wollte Lourde zu einer weiteren Erklärung ausholen, als ein schrilles Kreischen von oberhalb des Raumes ihn jäh zusammen fahren ließ. So einen scheußlichen, verzerrten Laut hatte er noch nie gehört. Er saß stocksteif da, den Blick starr auf die Zimmerdecke geheftet und lauschte. Sein Herz hatte von der einen zur anderen Sekunde panisch zu klopfen begonnen. „Was war das?“, hauchte er. Johann reckte besorgt den Kopf empor und horchte ebenfalls nach dem Geräusch, aber es blieb still, als hätte es den Schrei nie gegeben. „Hm“, flüsterte er. „Was auch immer es war, jetzt ist es jedenfalls weg.“ „Seid Ihr sicher?“ „Ja, sieht so aus. Wahrscheinlich hat sich bloß jemand beim Rasieren geschnitten.“ „Ihr macht wieder Scherze! Das soll ein Mensch gewesen sein? Nie im Leben!“ Lourde schüttelte fassungslos über Johanns Gelassenheit den Kopf. „Die machen ständig seltsame Geräusche“, verteidigte sich Johann und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Also, wo waren wir gerade?“ Lourde beneidete Johann fast um seine Ruhe. Ihm saß immer noch ein Überbleibsel des Schrecks von vorhin in den Gliedern und es fiel ihm schwer sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Johann sprach ihm jedoch gut zu und machte es somit leichter den Faden wieder zu finden. „Was ich sagen wollte, es wäre möglich, dass…“ Wieder lenkte ein Geräusch ihn ab. Schritte. Jemand näherte sich zügig dem Lagerraum und machte sich von der anderen Seite am Türknauf zu schaffen. Lourde übermannte eine böse Vorahnung, als die Tür aufgestoßen wurde und Leander herein kam. Er wirkte angespannt. „Was gibt’s?“, fragte Johann gelassen. „Probleme“, knurrte Leander. „Ach, der Herr hat Probleme. Siehst du nicht, dass du störst, du Holzkopf? Wir unterhalten uns gerade.“ Auf Leanders Gesicht zeigte sich ein grimmiges Lächeln. Jetzt erst bemerkte Lourde, dass er wirklich außer Atem war und gar nicht mehr so lässig wie zuvor. „Ich bedaure, aber das Plauderstündchen ist hiermit beendet. Ich hab da oben Gesellschaft bekommen und das liegt eindeutig außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Kümmer dich darum.“ Lourde entging nicht der seltsame, ernste Blick, den die beiden miteinander wechselten. Dann tat Johann einen langen, resignierten Seufzer. „Verdammte Biester, tauchen gerade jetzt auf und vermasseln alles. Und wer lenkt das Schiff?“ „Vergiss es. Ich setz keinen Fuß mehr nach draußen, bevor die Aasgeier da wieder verschwunden sind.“ „Wenn man nicht alles alleine macht. Dann steh da nicht nur rum. Komm her und mach mich los“, zischte Johann. Seine Stimme klang nicht mehr freundlich wie die eines gutmütigen Geschichtenerzählers, sondern kühl und berechnend. Irgendetwas Beunruhigendes hatte sich wie ein unausgesprochenes Übereinkommen zwischen den beiden verändert, von dem Lourde nicht mit eingeschlossen war. Leander gehorchte und die Holzbretter unter seinen Stiefeln ächzten, als er zu ihnen herüber kam. Johann hielt still, während er sich zu ihm herunter beugte und nach den gefesselten Armen griff. Dann sah Lourde das Messer. Fast so lang wie ein Unterarm und zwei Finger breit. Der Anblick der riesigen Klinge trieb ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. „Nein“, schrie Lourde und wich so weit zur Seite wie möglich, sah dann aber fassungslos zu, wie das Seil hinter Johann zu Boden fiel und dieser die Arme hinter seinen Rücken hervorzog, um sich die geröteten Handgelenkte zu reiben. Leander hatte es durchgeschnitten. Warum in alles auf der Welt machte er das? Kaum, dass er frei war, stand Johann auch schon mit einem Satz auf den Beinen und Lourde war erstaunt wie anders sein neu gewonnener Freund plötzlich wirkte. Seine Haltung war aufrecht, selbstbewusst und keineswegs so geschwächt, wie Lourde den schlaksigen Mann eingeschätzt hätte. Die Sanftmütigkeit seiner grauen Augen schien mit einem Mal völlig aus seinem Gesicht verschwunden zu sein. Er sah Lourde nicht einmal mehr an. „So, Lourde. Dann bis gleich.“ „Was geht hier vor?“, stammelte Lourde ungläubig, als Johann Leander bis zur Tür folgte. „Johann, wartet!“ Der wollte sich gerade noch einmal umdrehen, doch Leander stieß ihn leicht mit der Schulter an. „Komm schon, Johann“, drängte er, wobei er den Namen mit offensichtlichem Spott betonte. Johann lächelte und erwiderte die Geste grob. „Nach Euch, Lakai.“ „Oh, nichts für ungut, aber ich bleib lieber hier unten und pass auf, dass der Kleine nicht durchdreht.“ „Heißt das, du willst mir gar nicht helfen?“ „Du machst das schon.“ Johann lachte spöttisch. „Da hab ich mir ja wirklich einen exzellenten Gehilfen angelacht. Der Mutigste deiner Zunft bist du ja nicht grad, Lea. Spielst lieber die Zofe.“ „Besser das, als da draußen meinen Hals hinzuhalten.“ „Wie du meinst.“ Johann huschte durch die Tür und ließ Lourde mit Leander zurück. Das Rattengesicht bezog Wachposten am Tisch. „Und weg ist er! Traurig? Ihr könnt euch ja gleich weiter unterhalten.“ Lourde weigerte sich zu antworten. Die Kerle waren das Allerletzte und er würde kein einziges Wort mehr reden, weder mit Leander, noch mit Johann. Das nahm er sich fest vor. Von diesem betrügerischen Gesindel würde er sich nicht unterkriegen lassen, immerhin war er aus angesehenem Hause, ein stolzer Deviresh. Er straffte die Schultern und blickte so lange stur an Leander vorbei, bis dieser das Interesse verlor und ebenfalls das Gesicht abwandte. So ignorierten sie sich eine Weile lang gegenseitig und warteten, dass irgendetwas passierte. Johann kam gar nicht wieder zurück, doch von Zeit zu Zeit glaubte Lourde wieder einen Schrei in der Ferne zu hören und ihn beschlichen Zweifel, was dort oben vor sich gehen mochte. Er blickte nachdenklich zu der Tür, wo er Johann das letzte Mal gesehen hatte. Da fiel ihm auf, dass sie immer noch einen winzigen Spalt offen stand. Johann hatte sie nicht wieder verschlossen, nachdem er aus dem Raum verschwunden war. Lourde versuchte nicht zu offensichtlich in die Richtung zu starren, stattdessen beobachtete er Leander, der mit verschränkten Armen am Tisch lehnte und den Blick gelangweilt durch den Raum schweifen ließ. Er erkannte seine Chance. Ohne groß zu überlegen, sprang er auf und war überrascht, wie schnell es ihm gelang auf die Beine zu kommen. Er achtete nicht weiter auf Leander und rannte los. Die offene Tür kam immer näher. Gleich hatte er es geschafft. „Hey!“ Nein! Eine Hand erwischte ihn an der Seite und zerrte an dem Stoff seiner Tunika. Einen Sekundenschlag lang dachte Lourde, er müsse aufgeben, aber das Adrenalin versetzte ihm einen neuen Schub Kampfgeist. Er drängte weiter, riss sich mit aller Kraft los und zwängte sich schnell, die Schulter voran, durch die Tür. Ein schmaler Gang, der an einer Reihe geschlossener Türen vorbeiführte, verlief in Richtung eines geöffneten Durchgangs. Ein wenig helles Tageslicht strömte von dort in den Flur und verriet Lourde, dass es der Ausgang sein musste. Er wusste nicht, was er tun sollte, sobald er draußen war, soweit reichte sein spontaner Plan nicht, aber eine innere Stimme riet ihm diesen Weg zu nehmen. Also eilte er weiter, bevor Leander ihn wieder packen konnte. Hinter sich hörte er seinen Verfolger fluchen, davon angetrieben rannte er noch schneller, die Tür fest im Blick. Er stolperte den Treppenaufsatz hoch, nahm im Sprint je zwei der schmalen Stufen auf einmal, ehe er endlich hinaus war und frische Luft einatmen konnte. Wirklich frische. Der Wind blies ihm derart kalt entgegen, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Sofort krabbelte eisige Luft unter die leichten Stoffe seiner Kleidung und er hob die gefesselten Hände zum Schutz vor die zitternde Brust. Wundersamerweise war niemand auf dem Deck. Lourde vermutete zumindest, dass es eines war, wenn er Johann glauben konnte und er sich tatsächlich auf einem Schiff befand. Doch auch von Johann fehlte jede Spur. Eigentlich hatte er befürchtet, dass hier draußen ein Kampf stattfand. Wenn es einen gab, dann übertönte das Pfeifen des Windes vermutlich das Handgemenge. Aber auf die Begegnung mit riesenhaften, brutalen Piraten war er ohnehin nicht scharf. Wenn es ihm gelungen war, Leander zu entwischen, dann nicht zu dem Preis, dem nächsten Piraten in die Arme zu laufen. Dieser hatte die Verfolgung anscheinend abgebrochen, warum auch immer. Vorsichtig trat Lourde weiter über das unbekannte Deck. Hier draußen wirkten die Wolkengebilde noch imposanter, als durch das kleine Guckloch und ihm wurde sofort wieder schwindelig. Es fiel ihm nicht leicht sich zusammenzureißen, aber er musste schnell nach einer Fluchtmöglichkeit suchen oder zumindest nach einem passenden Versteck, bis die Ritter kamen, um ihn zu retten. Er erblickte Fässer, Kisten und hoch aufgetürmte Seile, die ihm dazu vielleicht von Nutzen sein konnten, und er sah seinen eigenen, von der Mittagssonne in die Länge gezogenen, Schatten auf dem Holzboden. Mittags... Soviel Zeit war also schon vergangen. Aber das war nicht, was ihn daran störte. Irgendetwas stimmte nicht. Der Schatten, er schien zu wachsen. Zuerst hatte er es nicht bewusst wahrgenommen, doch sein dunkles Ebenbild schwoll zu einer immer größer werdenden Silhouette an, floss in die Breite, als wuchsen Lourde zwei riesige, schwarze Flügel. Wie um Himmels Willen war es möglich, dass sein Schatten ein Eigenleben entwickelte? Es sei denn, es war gar nicht sein Schatten. Sein Erstaunen schlug in Entsetzen um, als ihm dämmerte, dass sich etwas Gigantisches über ihm befinden musste. Er hob die Handfläche vor die Stirn, um gegen die grelle Sonne gen Himmel zu blinzeln. Und sah das Ungetüm. Es stieß einen lauten Schrei aus, genau so einer, wie sie ihn vorhin im Lagerraum gehört hatten. Nur, dass es sich aus der Nähe noch viel schrecklicher anhörte. Lourde war wie erstarrt. Ein erstauntes Stöhnen entwich seiner Kehle, als sich die Kreatur in einem steilen Bogen flatternd über ihn hinwegbewegte. Lourde hielt abwehrend die Arme hoch und duckte sich, als sie die Krallen nach ihm ausstreckte. Sie verfehlte ihre Beute um Haaresbreite und sauste wieder in den Himmel. „Bei Mafuu“, keuchte Lourde und starrte dem Biest fassungslos nach. Das war eine Art Vogel, aber von gewaltiger Größe, wie Lourde es nie für möglich gehalten hätte. Die Spannweite jedes Flügels maß sicherlich über zwei Meter. Er hatte ein zotteliges, rabenschwarzes Gefieder und einen langen, gelben Schnabel voller spitzer Zähne. Das war der Grund, weshalb Leander so ein Aufsehen gemacht hatte. Deswegen war er ihm nicht bis nach draußen gefolgt, um ihn wieder einzufangen. Der Vogel beschrieb eine anmutige Kurve und setzte erneut zum Steilflug auf Lourde an. Blitzschnell blickte er zurück zu dem rettenden Gang, von dem er gekommen war. Es blieb ihm keine andere Wahl, also machte er auf dem Absatz kehrt. Doch seine Füße verharkten sich ungeschickt miteinander und ließen ihn straucheln. Um Gleichgewicht ringend, ruderte er mit den verschnürten Armen und machte einen befreienden Satz nach vorne. Zum Glück war er nicht gefallen. Doch der durchbohrende Windschlag zweier gigantischer Flügel machte sein Glück bedeutungslos. Die Kreatur war bereits bei ihm, Krallen griffen nach seinen Schultern, ehe er ausweichen konnte. Er wurde zurückgezogen und plötzlich bestand alles um ihn herum nur noch aus ölig schimmernden, schwarzen Federn. Lourde kämpfte dagegen an, schlug wie ein Verrückter um sich. Das Biest riss seinen Schnabel auf. So nah ließ ihn der markerschütternde Schrei des Vogels für einen Moment taub werden. „Hilfe!“, kreischte er so laut er konnte, unfähig seine eigene Stimme durch das hohe Pfeifen in seinen Ohren zu hören, das der Taubheit folgte. Plötzlich ging ein Ruck durch den Leib des Tieres, dann ließ die Kreatur unerwartet von ihm ab und kippte der Länge nach zu Boden, der unter der gewaltigen Masse kurz erbebte. Lourde floh zurück zur Tür und hielt sich zitternd am Türrahmen fest, ehe er einen Blick zurück wagte. Die gefiederten Flügel des Giganten zuckten im Wind, die einzige Regung, die Lourde jetzt noch ausmachen konnte. Der monströse Kopf war zur Seite gekippt und aus dem geöffneten Schnabel hing eine dünne, blassrote Zunge. In seinem zerstörten Auge steckte der Grund für den plötzlichen Tod des Ungeheuers, ein dicker Pfeil oder Bolzen, der triumphierend aus dem Augapfel herausragte. Lourde hielt die Luft an. „Wusst ich doch, dass mir einer von den Biestern entwischt ist.“ Johann trat federnden Schrittes über den seitlichen Teil des Decks auf die Kreatur zu. „Du dachtest doch nicht im Ernst, du könntest mir meine Beute streitig machen, oder, du gewitztes Federvieh?“ Mit einem langen Schritt setzte er seinen Fuß über den Hals des Vogels hinweg und setzte sich rittlings auf die tote Kreatur. Er packte den Bolzen, schob ihn kurz nach links und rechts und zog ihn dann mit einem Ruck wieder aus dem Kopf heraus. „Hey Lourde, ich wette die Kerle hier hast du vorher auch noch nicht gesehen, stimmt’s?“, plauderte Johann heiter daher, während er sich den Bolzen zurück in eine dafür vorgesehene Halterung schob und seine Armbrust schulterte. Ein letzter prüfender Blick in den gekrümmten Schnabel wurde nur mit „Ahh, die Viecher stinken aber auch wie die Pest“ kommentiert, dann stand er wieder auf und versetzte dem Vogel einen letzten, gezielten Tritt unter eben diesen. Das knackende Geräusch ließ Lourde zusammenfahren. „Was ist los, Junge? Hast doch nicht etwa Angst vor dem hier gehabt? Der ist doch ganz harmlos.“ Grinsend packte Johann eine der kräftigen Schwingen und schob sich an ihr vorbei. „Aber wehe die scheißen hier aufs Deck. Der Fladen ist beängstigender als der ganze Vogel.“ Lourde bedachte den näher kommenden Mann mit finsterer Miene. Wie konnte er es wagen so zu tun, als sei alles bestens? „Hm? Willst du nicht mehr mit deinem guten Freund Johann sprechen?“ harkte Johann nach. Lourde schwieg. „In Ordnung, sieht so aus, als könnten wir unser nettes Gespräch von eben nicht einfach weiterführen?“ „Ihr habt mich angelogen!“, platze es aus Lourde heraus. „Ihr seid selber ein verdammter Pirat. Vermutlich heißt Ihr nicht mal Johann!“ Der Mann lehnte seufzend eine Hand an seine Stirn und rieb sich seine zerzausten Haare zurück über den Kopf. „Tja, das ist wirklich schade, Lourde, aber dir kann man einfach nichts vormachen. Wenn ich mich dann also vorstellen dürfte?“ Johann holte zu einer übertriebenen Verbeugung aus und legte sich die Hand an die Brust: „Mein Name ist Balbaris. Ich bin der Kapitän dieses einzigartigen Schiffes.“ „Gib nicht so an!“ Lourde konnte Leanders Stimme aus dem Gang hinter sich hören, der ihm den Weg abschnitt. Balbaris? Hatte Lourde das richtig verstanden? Johann hieß also in Wirklichkeit Balbaris. Es schlug ihm wie eine Faust in die Magengrube. Der Name war im Gespräch mit Johann bereits gefallen. Kapitän Balbaris und sein fantastisches fliegendes Schiff – die Rakazel. Der Mann vor ihm, Johann, war der Kapitän der Rakazel. Er war „die Krähe“! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)