Full Moon von FirstFallenAngel ================================================================================ Full Moon Vor wenigen Minuten habe ich bemerkt, dass ich wieder einmal ein wenig Zeit für mich alleine brauche, um in Ruhe nachzudenken. Genau das war in meinem Schlafzimmer, aufgrund deiner lauten Musik aus dem Nebenraum, nicht möglich, weshalb ich mich kurzentschlossen auf den Weg zu meinem früheren Lieblingsplatz gemacht habe. Da sitze ich nun, unter dem Dach unserer Scheune, und sehe hinaus in die Dämmerung. Der volle Mond steht über dem kleinen Wäldchen, auf dem mein Blick gerade ruht, berührt fast die Wipfel der Nadelbäume. Ich bin mir nicht sicher, ob er gerade auf- oder untergeht, zu wenig habe ich mich bisher für Dinge wie Mondphasen interessiert. Das wird sich wohl auch in Zukunft kaum ändern, doch heute hätte ich es gerne gewusst; ein merkwürdiges Gefühl in der Bauchgegend sagt mir, dass ich den Mond als Metapher für meine momentane Situation sehen könnte, und ich frage mich unwillkürlich, ob es bergauf oder bergab gehen wird. In einem Punkt gleicht die runde Scheibe am Himmel tatsächlich meinem ‚Problem’. Ich habe sie direkt vor Augen und es scheint, als könne ich sie einfach greifen, zu mir ziehen, Mein machen; doch in Wahrheit ist sie unerreichbar fern und ich werde wohl nie die Gelegenheit haben, sie wahrhaft zu berühren. Die Parallelen zu dir sind geradezu beängstigend... Ich seufze nahezu lautlos und schlinge die Arme um meine Beine. Dass ausgerechnet mir einmal so etwas passieren würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Die Schicksalsgötter mussten einen sehr lustigen Moment gehabt haben, als sie beschlossen, dass ich mich ausgerechnet in dich verlieben sollte. Das kam also dabei heraus, wenn auf dem Olymp der Wein in Strömen floss - ich würde im Jenseits mal ein paar ernste Worte mit Bacchus reden müssen, sollte er mir nach meinem, hoffentlich nicht allzu baldigen, Tod mal über den Weg laufen... Nicht, dass ich irgendetwas gegen die Liebe an sich einzuwenden hätte. Ich war immer schon ein wenig romantisch, träumte von der großen Liebe und all dem. Schon früh hatte ich mich zum ersten Mal in ein Mädchen verguckt und viele sollten folgen. Auch wenn nie etwas Festes daraus wurde, war ich mir trotzdem immer sicher, dass das Schicksal die Eine für mich parat hatte. Nun, so konnte man sich irren. Aber wie hätte ich damals, im zarten Alter von elf oder zwölf Jahren, auch ahnen können, dass die Eine ein Einer sein könnte? Und dass er, wenn ich mich verliebe, schon sehr lange Zeit der wichtigste Mensch in meinem Leben ist? Wie das Brüder nun mal so oft an sich haben... Ich kann es ja selbst jetzt noch nicht richtig glauben, die meiste Zeit kommt mir die Situation mehr als unwirklich vor. Wie ein Traum, aus dem ich jederzeit aufwachen könnte. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das denn möchte oder nicht... Neben mir vernehme ich ein leises Brummen und löse den Blick von der langsam dunkler werdenden Fläche der Bäume. Mein Kater schaut mich mit großen, runden Pupillen an und stößt seine Nase kurz an meinen Arm. Unwillkürlich lächle ich etwas und streiche ihm zwei-, dreimal über den Kopf. Zufrieden dreht er sich um und verschwindet lautlos irgendwo hinter mir. Ich wende meinen Kopf wieder nach vorne und betrachte den Mond. Erscheint es mir nur so, oder hat sich der Abstand zu den Baumwipfeln ein wenig vergrößert? Meinen rechten Ellbogen platziere ich nun auf meinen angezogenen Beinen, die rechte Hand auf meiner linken Schulter, so dass ich mein Kinn auf dem Unterarm ablegen kann. Mein Blick wandert wieder in die Ferne, wie magisch angezogen vom hell leuchtenden Mond am mittlerweile dunkelblauen Himmel. Dass ich mich verliebt habe, steht für mich mittlerweile außer Frage. Ich mag auf Außenstehende manchmal etwas naiv wirken, doch ich bin nicht dumm und auch nicht zum ersten Mal verliebt. Gut, meine früheren Schwärmereien und Verliebtheiten hatten nie diese Ausmaße angenommen, doch dies bestätigt mich nur in meiner Meinung, dass es diesmal ernster ist als je zuvor. Gerne hätte ich mir das Gegenteil eingeredet, so ist es nicht. Hätte gerne geglaubt, dass das eine kurzfristige Gefühlsverwirrung ist, die bald vorbeigehen wird, und ich nie jemanden damit behelligen werden muss. Leider hat mich die Zeit bereits lange eines anderen belehrt. Statt zu vergehen oder zu schrumpfen hielten es die Biester in meinem Innern, liebevoll als Gefühle bezeichnet, für angebracht, zu wachsen und zu gedeihen. Ich stelle mir vor, wie die weinseligen Schicksalsgötter auf dem Olymp ihre helle Freude daran haben, meine Verwirrung zu beobachten, meine anfänglichen Versuche, eine harmlose Erklärung für mein Gefühlschaos zu finden, und letztlich die Resignation, als ich mir das Offensichtliche eingestehen muss, und eine ziemliche Wut steigt in mir hoch. Was fällt diesen... diesen... Göttern... eigentlich ein, mir so übel mitzuspielen? Wie können sie zulassen, dass ich mich, von allen Menschen auf dieser Welt, ausgerechnet in meinen Bruder verliebe? Das ist wirklich nicht fair! Dann fällt mir ein, dass es eben jene Götter sehr gut mit mir gemeint haben, was einen Großteil meines bisherigen Lebens angeht, und sie es vielleicht als gerechten Ausgleich ansehen, dass mir zur Abwechslung mal wieder etwas nicht einfach in den Schoß fällt... Ich sacke ein wenig in mich zusammen. Toll. Wenn der Götterrat das tatsächlich für eine gute Idee hält, kann ich mich zwar sträuben und wehren, doch wohl kaum wirklich viel dagegen ausrichten... Meine Gedanken wandern von den möglicherweise allzu gerechten Göttern zu dir. Wäre mein Hang zu Kitsch und Übertreibungen ausgeprägter, könnte ich jetzt denken, dass dieser Übergang nur zu nachvollziehbar ist. Denke ich aber nicht. Stattdessen setzt sich wieder einmal die Frage in meinem Hinterkopf fest, was du über mich denken würdest, solltest du jemals von meinen Gefühlen erfahren. Ich hege die leise Hoffnung, dass du mich nicht für total gestört halten, mich nicht in die Schublade ganz unten, mit der Aufschrift ‚Vorsicht! Krank und gefährlich!’, einsortieren würdest. An manchen Tagen kann ich mir sogar vorstellen, dass du meine Gefühle erwiderst, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag. Ich will nicht glauben, dass ich deine Blicke und Gesten dermaßen falsch deute... Doch eigentlich sind diese Überlegungen unnötig, denn ich habe nicht vor, dich von meinen Gefühlen wissen zu lassen. Nein, es ist nicht die Angst vor Zurückweisung, die mich dir gegenüber schweigen, die mich hier sitzen und den Mond anstarren lässt. Mit einem ‚Nein’ könnte ich Wohl oder Übel leben. Es würde weh tun, keine Frage, aber der Schmerz würde mit der Zeit erträglich und irgendwann würdest du es mehr oder weniger vergessen und wir könnten leben wie zuvor. Es ist die Angst vor den Folgen einer möglichen Beziehung, die mir in manchen Momenten die Luft abschnürt. Solltest du meine Gefühle erwidern und wir uns allen gesellschaftlichen Problemen und Vorurteilen zum Trotz für einen gemeinsamen Weg entscheiden, so wäre das zwar der Moment, in dem ein Film sein Happy End gefunden hätte und ausgeblendet würde; doch im realen Leben wäre es erst der Anfang. Aber auch der gemeinsame Weg ist nicht der Grund für mein Zögern und meine schlaflosen Nächte. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wahre Liebe alle Widerstände bewältigen kann, das würde auch für uns gelten. Wir haben noch immer zusammen gehalten, bisher jede Hürde gemeinsam überwunden, als Paar würde sich daran nichts ändern. Meine Sorge gilt der Möglichkeit, dass es doch nicht die einzig wahre Liebe sein könnte. Dass wir irgendwann feststellen, dass wir so nicht den Rest unseres Lebens verbringen können oder wollen. Ich fürchte mich davor, dass das Ende unserer Beziehung dann auch das Ende unserer Freundschaft und das Ende unseres gemeinsamen Lebens bedeuten könnte. Wie wenige Menschen schaffen es, nach einer Trennung ein freundschaftliches Verhältnis zueinander aufzubauen? Wie wenige können sich noch aufrichtig in die Augen blicken und unbefangen miteinander umgehen? Es ist fast nie ein Problem, wenn aus Freunden Liebende werden, doch der Weg in die andere Richtung schlägt meist fehl. Es ist sozusagen eine Einbahnstraße... Ich kann und will mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Wir haben die Vergangenheit miteinander verbracht und ich will auch die Zukunft mit dir teilen. Wenn die Gefahr besteht, dass das Ende einer Beziehung uns für immer trennen wird, will ich das Risiko lieber nicht eingehen. Ich will dich lieber für immer als Freund und Bruder an meiner Seite haben, denn für begrenzte Zeit als Geliebten und danach gar nicht mehr. Aus diesem Grund werde ich schweigen, meine Gefühle weiterhin vor dir verbergen und vielleicht hoffen, dass die Götter eines Tages ein Einsehen haben und ihr grausames Spiel beenden. Ich tauche langsam aus meiner Gedankenwelt auf und registriere, dass der Mond inzwischen ein gutes Stück über dem Wäldchen steht. Wie soll ich das nun deuten? Ist der aufsteigende Mond ein gutes Omen für den Entschluss, den ich gerade gefasst habe? Oder will er mir Mut machen, eben jenen Entschluss noch einmal zu überdenken? Jetzt bemerke ich auch, was mich aus meinen Gedanken gerissen hat. Ich höre leise Schritte hinter mir und brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass du es bist; ich spüre deine Anwesenheit. Du hast mich gefunden. Wie immer. Ich blicke nicht auf, als du dich neben mich setzt. Zu groß ist die Angst, in meinen Augen könnten die Gedanken der vergangenen Stunde zu lesen sein. Genau wie ich schweigst du. Blickst auf den Mond. Scheinst zu wissen, dass ich jetzt nicht reden will. Nach einigen Minuten legst du wortlos deinen Arm um mich und ziehst mich ein wenig in deine Richtung. Mein Kopf ruht auf deiner Schulter, während wir, in weiterhin stummem Einvernehmen, die Silhouette des Mondes auf seinem Weg zwischen den Sternen betrachten. Wir haben schon viele solcher Momente geteilt und während mir das bewusst wird, wandelt sich mein Groll gegen die Schicksalsgötter in Dankbarkeit. Dankbarkeit für diesen Moment. Für all jene, die wir schon erlebt haben. Und auch für jene, die hoffentlich noch folgen. Und mit einem Mal weiß ich, dass diese Liebe, auch wenn sie vielleicht einseitig ist und du wohl besser nie von ihr erfahren sollst, ein Geschenk ist. Ein Geschenk gutgelaunter Götter an ihren Liebling, damit dieser in solchen Augenblicken an sie denkt... ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Eigentlich wollte ich dem nichts hinzufügen, doch vorgestern bin ich auf der Frankfurter Buchmesse über ein Zitat von Goethe gestolpert, dass hier unfassbar gut hinpasst: "Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)