Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 17: … ist erwachsen --------------------------- __________________________________________ Wer resigniert der wird erwachsen. Alte begreifens: genug bedacht! © Max P. Baumann __________________________________________ Seto Kaiba trug bereits als Kind Verantwortung, wie es manche Erwachsenen nicht mussten. Für sein Unternehmen, für seinen Bruder, aber nicht zuletzt auch für sich selbst. Er war eine Führungspersönlichkeit – vielleicht tat er sich deswegen schwer, wenn er nicht derjenige war, der führte. Das eigentliche Problem aber war, dass er niemals zugab, wenn ein Anderer recht hatte. Er war nicht nur ein führender Geschäftsmann, sondern auch ein führender Besserwisser. Er selbst nannte es erwachsen, ich nannte es ein arroganter Arsch sein. Wahrscheinlich hatten wir beide Unrecht. Der Sommer verwandelte die Blüten in Blätter. Statt über Sonne, freute man sich über Schatten. Die Sommerferien waren zum Greifen nahe – zumindest dann, wenn man nicht in der Schule festhing. Dort kam einem das Ganze nämlich verdammt lang hin vor. Wenn man am Wochenende mit Freunden grillte (Yugi schaffte es beinahe, den Grill abzufackeln, ich löschte ihn – also nicht Yugi, sondern den Grill), dann raste die Zeit vorbei. Wenn man hingegen nur einige Stunden in der Schule saß, dann zog sich die Sache wie ein Gummiband. Yugi erklärte mit die Sache mit Relativität. Aber richtig begreifen sollte ich das Ganze erst ein paar Wochen später. Das Schlimmste an der Schule (abgesehen von Tests, Referaten, Mathematik, langweiligen Unterrichtsstunden, die man nicht schwänzen konnte, weil man sonst wieder zum Schulleiter zitiert wurde, Schwimmunterricht, Vertretungsstunden, Strebern und Kaiba – wobei sich letztere ja ergänzten) waren die Stunden, in denen den Lehrern plötzlich einfiel, dass die zehnte Klasse bald zu Ende ging und wir Schüler uns Gedanken über unsere Zukunft machen sollten. Und zwar jetzt. Sofort. Genau so eine Stunde verbrachte ich in Sozialkunde, saß zwischen Yugi und Tristan und seufzte leise vor mich her. Mein Blick schweifte über die Tafel, an der der Auftrag für die Gruppenarbeit stand:»Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Diskutieren Sie in einer Kleingruppe und stellen Sie einen Kurzvortrag zusammen.« Um uns herum diskutierten und quatschten unsere Mitschülerinnen und Mitschüler, witzelten und traten ihre Träume breit. Manche schnappte ich auf. Schauspielerin, Fotograf, Anwältin, Kinderarzt, Psychologin, Marketingexperte, Sängerin, Lehrer, Nachrichtensprecherin. Tristan legte mir eine Hand auf die Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Was gibt’s da groß zu erzählen?«, brummte ich. »Joey, du kannst irgendwas erzählen. Wir müssen das halt am Ende vortragen«, gab er zu bedenken und ich verdrehte die Augen. »Ich hoff, ich schaff den Abschluss und danach mach ich halt irgendeinen Job«, erzählte ich irgendwas und lehnte mich zurück, soweit, dass ich ein bisschen kippeln konnte. »Meinst du das ernst?«, zweifelte Tris mit diesem Ausdruck in den Augen, der mich rasend machte. Oder war es der Ton? »Du meinst so nen Verliererjob? Dabei kannst du doch mehr aus dir machen. Das ist doch echt kein Plan für die Zukunft.« Das sagte er, aber zwischen den Silben hingen andere Wörter. Jemand, der mir in mein Ohr raunte. War das die Stimme meines Vaters? Ich kaute auf meiner Lippe, schnaubte dann und tippte mit meinem Stift gegen meine Stirn. »Na, dann fang du doch an Tris. Wo siehst du dich in zehn Jahren?« »Mh, dann bin ich sechsundzwanzig. Dann will ich studiert haben und arbeiten, am liebsten hab ich dann ne richtig gutaussehende Freundin, mit der ich zusammenwohne.« »Das ist doch was«, stimmte Yugi freundlich ein. »Moment, Moment. Du willst studieren?«, hakte ich nach und betrachtete Tristan mit hochgezogenen Augenbrauen, umgriff mit meinem Stift, als müsste ich mich daran klammern, um nicht vom Stuhl zu fallen. »Warum nicht?« »Du bist nicht gerade der Typ.« Ich grinste ihn an, so, als müsste er das doch wissen, spielte mit meinem Stift, warf Tris einen Blick zu. Als hätte er lediglich einen Scherz gemacht, den ich verstand, aber andere nicht. Doch als sich sein ernster Ausdruck auf den Lippen nicht zu einem Grinsen verzog, rümpfte ich die Nase. Seit wann hatte sich Tris Gedanken um seine Zukunft gemacht? Früher hatte er auch nur in den Tag gelebt – das hatten wir gemeinsam. Seit wann hatte er Pläne, die sich von meinen unterschieden? Pläne ohne mich? »Warum? Weil ich mich bisher von einem Nebenjob zum nächsten gehangelt hab und das nicht mein ganzes Leben so durchziehen will?«, fragte er nach und ich kniff meine Lippen zusammen, stoppte das Spiel mit meinem Kugelschreiber und beobachtete ihn genau. »Was genau willst du damit sagen?« »Ich bin nicht mehr der Loser von vor einigen Jahren.« »Aber ich? Oder was meinst du damit?« Ich bemerkte erst, während sich mir einige Gesichter zugewandten, dass ich lauter geworden und von meinem Stuhl aufgesprungen war. »Bitte zügeln Sie sich, meine Herren«, wandte sich unser Lehrer an uns, die Langeweile in der Stimme dehnte seine Worte, dann las er weiter unbekümmert seine Zeitung. Tristans Gesicht drehte sich mir wieder zu, während er ebenfalls aufstand und er sprach auf mich ein, als bemerkte er die neugierigen Blicke nicht, fasste mich stattdessen mit beiden Händen an den Schultern, als wollte er, dass ich nur ihn ansah und nicht die Kleingruppen um uns herum, die mit ihren Träumen und Plänen, die sie wirklich glaubten, erfüllen zu können, schwachsinnige Ziele von Kindern. »Vielleicht solltest du dich einfach auch mal um deine Zukunft kümmern, Joey.« »Es ist nicht meine Schuld, dass ich genug Probleme in der Gegenwart habe«, zischte ich und spürte diese Wut, die sich um meine Kehle schloss, während wir in der vorletzten Reihe standen wie zwei Idioten. Aber es kam mir vor, als gäbe es plötzlich nur noch uns zwei. »Du bist nicht der Einzige mit einer schwierigen Familie, Joey«, beschwor er mich mit einer Warnung in der Stimme und fixierte mich. »Halt meine Familie da raus!« Er kannte mich – länger als Yugi es tat und wenn auch anders als der, so doch gerade besser in diesen Bereichen meines Lebens, auf die ich nicht besonders stolz war. »Das ist es doch! Es geht nicht immer nur um dich und deine Familie! Willst du in zehn Jahren noch immer in unserem Viertel hocken? Traust du dir echt nicht mehr zu?« Ich riss meine Augen auf, als hätte er eine Faust zwischen meine Rippen gebohrt. Körperliche Verletzung. Es wäre nicht das erste Mal, das Tris so etwas tun würde – nur bisher war nie ich sein Opfer gewesen, sondern sein Partner, der sie festhielt oder selbst noch zuschlug. Aber seine Hände lagen noch immer auf meinen Schultern. »Darum geht es nicht, du Idiot! Lass mich los«, knurrte ich und unterdrückte das Zittern in meiner Stimme. »Worum geht es dann?« Ich riss mich von ihm los, schmiss den Stuhl fast um, meine Augen stierten ihn an, ich zögerte einen Moment lang, als überlegte ich noch, ehe mein Körper schon reagierte. Ich rannte mehr, als dass ich aus dem Klassenzimmer ging. Den überraschten Blick des Lehrers im Rücken. Ich übersprang jede zweite Stufe der Treppe und hechtete hoch, als jagte mich jemand. So wie früher. Als wäre der Kioskbesitzer hinter uns her – oder in späteren Jahren – ein Polizist, dem wir entwichen konnten. Irgendwann standen sie trotzdem alle vor meiner Tür zu Hause, aber meinem Vater war das egal gewesen. Bis ich erkannte, dass das nicht daran lag, dass ihm Gesetze unwichtig waren, sondern, dass ich ihm unwichtig war, wenn er im Suff vor sich her vegetierte. Trotzdem war ich nie allein gewesen. Auf Tristan hatte ich mich stets verlassen können. Und irgendwann war Yugi dazu gekommen. Yugi, der Junge, den wir so oft gehänselt hatten, obwohl ich gewusst hatte, dass ich ihn eigentlich beneidete. Oben angekommen schlenderte ich Richtung Sportplatz. Auf dem Dach der Schule befand sich ein Basketballplatz – wobei das übertrieben war. Eigentlich war es ein Korb, denn der andere war einmal wieder beschädigt – und ein Fußballtor. Von hier oben sah man über die Baumkronen hinweg über den Schulhof. Die Sonne brutzelte mir auf meinen Schädel, während ich mich auf das Geländer stützte und in die Ferne blickte. »Hey.« Ich zuckte zusammen. Während Yugi sich neben mich gestellte, erklärte er, dass er dem Lehrer gesagt hatte, dass es mir schlecht wäre und er nach mir sehen würde. »Und das hat er dir abgenommen?«, »Wieso? Ich sehe doch nach dir«, entgegnete Yugi und lächelte mich an. Ich rieb mir übers Kinn und atmete tief durch. Trotz der Hitze fühlte ich mich hier befreit von der Enge, die mich im Klassenzimmer gepackt hatte. Diesen Druck, der sich auf den Brustkorb setzte und die Kehle austrocknete. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?« »Wenn du ein schlechtes Gewissen hattest, nachdem du und Tristan mich geärgert haben, oder wenn du früher heimlich geraucht hast, bist du immer hierher gegangen. Meistens hast du eine geraucht, während du ein schlechtes Gewissen hattest.« »Und woher weißt du das?« »Ich bin euch gefolgt. Normalerweise lagen meine Sachen dann auch hier irgendwo herum.« »Ah – okay – aber – ich meinte – woher willst du wissen, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte? Vielleicht habe ich es genossen?« Yugi kaute sich auf der Lippe, doch dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, was mich verwunderte, doch seine Worte ließen mich schlucken. »Hättest du das, wären wir heute keine Freunde.« Die Stille zwischen Yugi und mir war seit unserer Freundschaft nie belastet gewesen. Wenn wir schwiegen, dann war das okay. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas sagen zu müssen, um sie zu vertreiben, einfach, weil Yugi auch wortlose Erklärungen, Entschuldigungen und Versprechen verstand. Aber manchmal war es wichtig, Dinge beim Namen zu nennen. »Es tut mir leid, dass ich früher so ein Arsch war«, gab ich zu und wandte meinen Blick von ihm ab. Solche Sätze fielen mir nie leicht, vor allem nicht, wenn ich jemandem, den ich jahrelang schikaniert hatte, dabei in die Augen sehen sollte. Aber das musste ich nicht. Yugi berührte meinen Arm und schaute mich von der Seite an. »Ich weiß.« In seiner Stimme klang das Lächeln auf seinen Lippen. Vielleicht gab mir das den Mut, seinem Blick mit dem meinen zu begegnen. »Aber Joey, nur weil es früher nicht oft für dich gut lief, brauchst du keine Angst vor der Zukunft zu haben.« Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. Angst vor der Zukunft? Wieso sollte ich – aber da sprach er auch schon weiter und ich schloss den Mund einfach wieder, weil ohnehin nur Unsinn herausgekommen wäre. »Ich bin mir sicher, dass du es richtig gut hinbekommst. Und wenn was ist, bin ich immer für dich da. Sowieso.« So wie er jetzt gerade für mich da war. Ich sonnte mich in diesem Gefühl für einen Augenblick. Dieses Gefühl, dass in diesem Moment alles stimmte, dass es okay war, dass ich zufrieden sein konnte. Diese Wärme, die einen dann durchströmte und das Lächeln, das sich automatisch in jeden Mundwinkel schlich. Aber dann öffnete ich die Augen – wann hatte ich die eigentlich geschlossen? – und seufzte. »Glaubst du? Manche Sachen ändern sich nicht im Leben«, gab ich zu bedenken, doch Yugi ließ sich nicht beirren. »Andere schon.« Er machte eine Handbewegung, die mich einschloss. Natürlich. Wir waren das beste Beispiel. Also nickte ich, weil ich ahnte, was er sagen würde, doch er überraschte mich. »Du rauchst heute nicht mehr«, meinte er und schaute mich an, als wäre es eine große Offenbarung. Das Lachen, das mich im Rachen kitzelte, brach aus mir heraus. So leicht mir ein offenes Gespräch mit Yugi fiel, so schwer war es mit Tris. Unsere Freundschaft hatte sich nie auf Gespräche gegründet, sondern eher auf Taten. Einschließlich allerlei unschöner. Und so fanden wir keine Gelegenheit, miteinander zu reden und gingen uns aus dem Weg. Beziehungsweise – eigentlich gab es eine Menge Gelegenheiten, aber nicht die Worte, die dazu passten. Sie blieben mir alle im Gaumen kleben. Und so saßen wir uns lieber wortlos gegenüber und taten so, als wäre alles okay – vielleicht Yugi zuliebe oder weil wir feige waren, wahrscheinlich irgendwie beides. Obwohl wir wussten, dass es das nicht war. »Weißt du schon, wo du hingehen willst?«, weckte mich Yugi aus meinen Überlegungen, während wir in der Mensa saßen und etwas, das Lasagne sein sollte, verdrückten. »Sorry, was hast du gesagt?« Er schob mir zwei Papiere zu, auf denen eine Liste abgedruckt war mit freien Praktikastellen. »Wir müssen uns bis Donnerstag anmelden für die Praktikawochen. Hast du schon eins im Kopf?« Das Schlimmste an der Schule (abgesehen von Tests, Referaten, Mathematik, langweiligen Unterrichtsstunden, die man nicht schwänzen konnte, weil man sonst wieder zum Schulleiter zitiert wurde, Schwimmunterricht, Vertretungsstunden, Strebern und Kaiba – wobei sich letztere beide ja ergänzten – und Stunden, in denen den Lehrern plötzlich einfiel, dass die zehnte Klasse bald zu Ende ging) waren die Praktikawochen der zehnten Klassen. Zwei Wochen, in denen man als Idiot im Dienst unbezahlt Arbeit verrichten durfte, statt gemütlich in der vorletzten Reihe seine Zeit zu vertrödeln. »Ich hab mir mal die Übersicht angesehen. Wie wäre es mit – Medien oder Fotografie für dich? Das sind doch kreative Bereiche, nicht?«, er tippte mit seinem Finger auf die entsprechenden Zeilen in der Liste. Ich schaute über die Stellen. »Tristan, hast du dich schon angemeldet?«, wandte sich Yugi an ihn und trotz seines Schweigens musste er unserem Gespräch gefolgt sein, denn er antwortete ohne ein Zögern. »Ich mache ein Praktikum in der KC.« »Und in welchem Bereich?«, hakte Yugi nach und es schien ihn wirklich zu interessieren. »Beim Marketing.« »Das ist ja su-« Doch ehe Yugi seiner Begeisterung hatte Worte verleihen können, warf ich meine dazwischen. »Bitte – was?« »Was ist dein Problem, Joey?« Er betrachtete mich, während er seine Fingerknöchel knacken ließ. Ich hasste es, wenn er das tat. »Mein Problem?«, echote ich. »Die Frage ist, was ist deins? Was willst du in der KC?« »Ein Praktikum machen«, wiederholte er, als wäre ich schwer von Begriff. »Willst du mich eigentlich verarschen? Ich meine, was du da willst! Früher hast du solche Typen wie Kaiba gehasst und jetzt rennst du ihm nach?« »Früher haben wir Leute erpresst und verkloppt. Möchtest du lieber, dass wir uns unseren alten Hobbies zuwenden?«, spottete er. »Ich denke, das wird Yugi nicht gefallen.« Der sank neben ihm sichtlich zusammen. »Und wer hier Kaiba nachrennt – eindeutig nicht ich von uns beiden.« »Ich renne niemandem hinterher!« »Stimmt, früher bist du ja auch eher vor Leuten weggerannt. Leuten wie den Bullen.« »Weil du mal wieder geklaut hattest!«, behauptete ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht weniger als du! Seit wann suchst du die Schuld eigentlich ständig bei anderen?«, entgegnete er. »Was für Schuld? Seit wann bist du so ein Idiot?« »Wenn du mit Idiot meinst, einer zu sein, der daran glaubt, aus dem Viertel herauszukommen, etwas aus sich zu machen, statt einer, der sich daran klammert, es nicht zu können, weil sich der Vater sonst noch die Kehle aufschli-« Mit einem Schlag packte ich ihm am Kragen, zog ihn halb über den Tisch und schüttelte ihn, schrie ihm ins Gesicht, dass ihm meine Spucke entgegenflog: »Halt dein verkacktes Maul! Kümmer dich lieber um deine Hure von Mutter!« »Wenigstens kümmert sich meine Mutter um mich!«, schrie Tristan zurück, drängte seine Arme zwischen meine, so dass eine Rangelei entstand, wer wen packte. Er riss sich los, stand mir atemlos gegenüber. »Deine Mutter kümmert sich um das halbe Viertel«, höhnte ich. Er holte aus und verpasste mir eine Backpfeife, ich befreite meine Hand und schlug ihm gegen den Mundwinkel. Hitze brannte durch meine Venen, Kälte vereiste meine Gedanken. Es tat gut, nicht denken zu müssen. Da war Schmerz und die Frage, warum sie uns verließ. Die Unsicherheit in den Augen meiner Schwester, eine Frage, die ich nicht zu beantworten wusste, ein Abschied, den ich nicht meisten konnte. Da waren nur – mein Vater und ich, wie er sich zurückzog. Jeden Tag mich ein bisschen mehr verließ – Tristan und ich. »Tristan! Joey!« Ich hörte Yugis Stimme wie aus der Ferne, so benebelte das Adrenalin meine Gedankenbahnen, die sich einzig auf Tristans wutverzerrtes Gesicht konzentrierten, in das meine Faust versuchte zu schlagen, während sich Tristans Finger in meine Wange bohrten. Wir schoben uns am Tisch vorbei. Tristan boxte mir gegen die Wange, ich trat gegen sein Bein, er stieß mich zurück, damit ich ihn nicht am Kinn traf, wobei ich ausrutschte, ihn aber mit mir zog. Ich stürzte zu Boden, konnte mich kaum mehr abfangen, weil meine Arme mit Tristans verheddert waren. Ich jaulte auf, hielt mir meinen Hinterkopf und spürte den Schmerz, der durch meinen Schädel schoss. Er lag halb auf mir, rutschte aber sofort hinunter und stand über mich gebeugt. Ich rappelte mich auf, eine Hand auf meinen Kopf gepresst, die andere in Erwartung weiterer Schläge. Jemand zog mich zurück, griff meinen Arm und drückte mich weg, hinaus aus Tristans Reichweite. »Lass mich los! Lass mich!«, rief ich vor Frust und Zorn. »Wenn du es wagen solltest, mich zu schlagen, Wheeler, dann schwöre ich, dass du von der Schule fliegst.« Das Eis in Kaibas Stimme klirrte. Sofort kehrte Ruhe in meinen Kopf ein, so dass ich die Situation erfassen konnte. Yugi musste Tristan einige Meter weitergeführt haben, jetzt stand er bei ihm, redete auf ihn ein, schien ihn teils beruhigen, teils umstimmen zu wollen – wegen was auch immer. Neugierige Blicke stierten uns entgegen, aber keiner wagte, sich uns zu nähern. Ich bemerkte, dass mich Kaiba noch immer am Arm festhielt, als rechnete er damit, dass ich jederzeit losstürmte, um irgendwem noch eine zu verpassen. Doch was mich wirklich überraschte war, dass mich seine Berührung nicht weiter wütend machte, sondern beruhigte. Mein Schädel pulsierte vor Schmerz. »Du kannst mich loslassen«, meinte ich, doch Kaiba machte keinerlei Anstalten dazu, stattdessen verscheuchte er einige Schaulustige mit seinem Blick – ich wäre zu gerne mit ihnen davon gegangen – und zückte sein Handy, wählte eine Nummer und hielt es sich ans Ohr. »Ja, in zehn Minuten vor der Schule«, ordnete er ohne Begrüßung oder Verabschiedung an, ließ das Smartphone wieder in seine Hosentasche gleiten und warf Yugi einen Blick zu, der Tristan gerade ein weiteres Taschentuch reichte. Ich spürte, wie mir etwas über die Lippen lief, drückte mit meinem Finger meine Nase zusammen, weil ich das Gefühl hatte, dass mir Rotze aus den Löchern rann, doch stattdessen färbten sich meine Fingerkuppen rot. Dann entließ mich Kaiba endlich aus seinem Griff, schritt zu Yugi und wechselte mit ihm Wörter, die ich nicht mitbekam. Yugi nickte, warf mir einen Blick zu, schien eine Frage zu stellen. Dann kramte er in seiner Schultasche und überreichte Kaiba etwas. Tristan lehnte gegen einen Tisch und bedachte mich mit keinem Blick, schien sorgsam Blickkontakt zu vermeiden. »Yugi wird dich für den restlichen Tag entschuldigen.« Kaiba stand plötzlich wieder neben mir, seinen Aktenkoffer fest im Griff und drückte mir ein Taschentuch in die Hand. »Von Yugi.« »Was ist mit Tristan?« »Yugi kümmert sich um ihn. Und jetzt komm.« Statt blind darauf zu vertrauen, dass ich ihm folgte – wie er sonst gerne während des Kunstprojekts getan hatte – bugsierte er mich mit seiner Hand an meiner Schulter. Erst als wir außerhalb des Schulgebäudes über den Schulhof Richtung Ausgang schritten und dann vor einer Limousine standen, vor der einer seiner Schergen wartete, ihm die hintere Tür aufhielt, ging ein Ruck durch mich hindurch. »Einsteigen«, wies Kaiba mich an. »Was? Ich steige da ganz sicher nicht –« Sein Blick sagte mir ganz deutlich das Gegenteil. »Wenn du etwas vollblutest, bezahlst du die Reinigung«, teilte er mir mit, während er sich anschnallte. Ich brummte, dass er sich seine Reinigung sonst wo hin stopfen konnte. Aber statt mich aus dem Wagen zu werfen (was ich doch heimlich gehofft hatte), nickte er dem Fahrer zu, der sofort losbrauste. An meinem Fenster zogen Bäume vorbei, die ich zählte, als hätte das irgendeinen Sinn. »Moment, hier geht es nicht zu mir nach Hause«, erkannte ich, bevor der Fahrer links abbog. »Dort fahren wir auch nicht hin«, hielt Kaiba dagegen, was mich nicht gerade beruhigte. »Wohin fahren wir?«, fragte ich gelangweilt, um meine Unsicherheit zu überspielen. »Ins Krankenhaus.« »Was? Willst du mich ver–«, ich schluckte das Wort. Vielleicht, weil es nicht in eine Limousine passte. »Nein, nicht da hin«, begann ich anders, zwang mich ruhig zu atmen und die Wörter nicht zu stottern. »Ich weiß nicht, ob du es begreifst, Wheeler, weil dein Kötergehirn scheinbar heute schon einmal ausgesetzt hat, aber du bist verletzt und du solltest –« »Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Mir geht es gut«, beharrte ich. »Du könntest eine Gehirnerschütterung haben.« »Ich will nach Hause. Wenn es mir schlecht geht, dann ruf ich haltn Arzt.« Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ist bei dir jemand zu Hause um die Uhrzeit?« »Nö. Ich krieg das schon hin«, winkte ich ab und verzog das Gesicht, weil sich langsam das Adrenalin verabschiedete und der Schmerz mit voller Wucht zuschlug. »Wie du das alles hinbekommst, durfte ich ja eben erleben«, erwiderte er kalt. Er nannte mich kognitiv limitiert, ich nannte ihn einen Arsch, der mich nervte. Wahrscheinlich hatten wir beide Unrecht. Zumindest ein bisschen. »Roland, wir fahren nach Hause.« »Na, endlich«, seufzte ich und lehnte mich im Auto zurück mit dem Gefühl wenigstens etwas – wenigstens diese Diskussion – gewonnen zu haben. »Nicht zu dir«, führte Kaiba aus, »in diesem Zustand solltest du nicht alleine sein.« Und ich sank in mich zusammen. Das meinte er jetzt nicht ernst, oder? Es war ein seltsames Gefühl, aus einem Auto zu steigen, bei dem man die Tür aufgehalten bekam. Aber vielleicht hatte ich tatsächlich einfach eine Gehirnerschütterung. Mokuba stürmte uns entgegen. »Oh, mein – was ist passiert?« Was mich trotz allem amüsierte war, dass Mokuba seinen großen Bruder (der geschniegelt und ordentlich mit Hemd und Krawatte da stand) vorwurfsvoll anschaute und nicht mich (der mit blutigem Taschentuch und roten Flecken im Gesicht doch viel schuldiger erscheinen musste). Kaiba hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf – und zum ersten Mal war ich für seine Wortkargheit dankbar. »Bring ihn ins Bett, Mokuba. Ich muss telefonieren.« Zumindest bis zu dieser Anweisung. »Hey, Moment – ich –«, widersprach ich, doch Kaiba tippte bereits eine Nummer in sein Smartphone – Déjà-vu? – und Mokuba griff nach meinem Arm. »Kommst du? Das Gästezimmer ist ganz schnell fertig gemacht.« Ich wusste nicht, was seltsamer war: von einer fremden Frau das Bett gemacht zu bekommen oder in Kaibas Villa in einem Bett zu liegen. Mokuba brachte mir eine heiße Schokolade und blieb neben mir auf dem Bett sitzen, erkundigte sich danach, wie es mir ging und ob ich irgendetwas brauchte. Was mich verwunderte war, dass er nicht nachhakte, was passiert war. Stattdessen berichtete er mir von seinem Tag, entschuldigte sich danach, dass er mich nicht hatte volltexten wollen, dass ich sicherlich müde war – wie kam er auf den Gedanken? – und dass ich echt beschissen aussah. Gut, er wählte ein anderes Wort, der Sinn blieb derselbe. Mokuba brachte mich zum Lächeln, obwohl es mich im ersten Moment schmerzte, weil die Kratzer durch die Bewegung wieder zu brennen begannen. Er war voll und ganz noch ein Kind, unbekümmert, sorglos, aber mitfühlend und erstaunlich clever. (Vielleicht aber nicht erstaunlich, immerhin war er ein Kaiba.) Ich fragte ihn trocken, wie viele Leute sie sonst hier gesundpflegten und er kicherte (was mir die Frage nicht beantwortete). Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand anklopfte. Wir schauten wie auf Kommando dorthin und zwar erwartungsvoll. Kaiba trat herein und informierte mich, dass ein Arzt nach mir sehen würde. »Warum hast du mich nicht doch einfach ins Krankenhaus verfrachtet?«, fragte ich ihn, während er in der Tür stand, als wollte er gleich wieder gehen. »Ich mag Krankenhäuser nicht«, erwiderte er knapp, »Mokuba, du musst sicherlich noch Hausaufgaben machen.« Weil Mokubas von der Matratze aufstand, hob sie sich, als atmete sie ein. »Japp«, meinte er und klang, als hätte ihn sein großer Bruder daran erinnert, dass er noch eine Runde zocken sollte. Für Hausaufgaben jedenfalls hörte er sich meiner Meinung nach viel zu gut gelaunt an. Mokuba lächelte mir zu und meinte, dass er später nochmal kommen würde und ob ich gut in Gesellschaftskunde wäre, weil sie da noch eine Aufgabe auf hätten. »Ich glaube, das ist momentan eher nicht so meine Stärke«, seufzte ich, weil ich mich an meine Sozialkundestunde erinnerte. »Oh, okay. Und Japanisch?«, hakte er nach. »Mokuba«, brummte Kaiba und der warf ihm ein Lächeln entgegen, als würde er niemals Zeit schinden, sputete sich dennoch, drückte sein Gesicht noch einen Moment an Kaibas Brust, ehe er durch die Tür verschwand, die er hinter sich schloss. Mein Blick wanderte von der Tür zu Kaiba, der den Stuhl vom Schreibtisch in Augenschein nahm, sich aber dagegen entschieden haben musste, sich zu setzen, denn er stand weiter in der Nähe der Tür. »Ist dir übel?«, fragte er mich. »Nein.« »Fühlst du dich benommen? Schwindlig?« »Nö.« »Gut. Der Arzt wird dich trotzdem durchchecken«, bestimmte er und ich lehnte mich erst gar nicht gegen seine Anordnung auf, denn Kaiba machte, was er wollte und dieses Bett war gerade so schön weich und warm – und leider nicht mein eigenes, sondern Kaibas. Ausgerechnet. Aber. Nur zehn Minuten wollte ich einfach hier liegen und später – Mokubas Versprechen, später wieder zu mir zu kommen, sprang mir in die Gedanken. Dieses Lächeln und der Blick, den er seinem Bruder zuwarf, als kannte er kein Übel, als hätte er bisher immer Kind sein dürfen. Hatte er das sein können, weil Kaiba für ihn sein Kindsein aufgegeben hatte? Kaibas Präsenz zuckte durch mein Bewusstsein. »Wie schaffst du das?«, flüsterte ich in den Raum hinein. Kaiba antwortete nicht sofort. Es schien, als wich er die Erwiderung aus, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich von ihm gewohnt war, dass er mir ohne zu zögern eine Beleidigung an den Kopf warf oder mich komplett ignorierte. Doch stattdessen er fragte nach. »Was?« Und wirkte trotzdem so desinteressiert, dass ich mit der Möglichkeit spielte, meine Frage nicht zu konkretisieren. Aber wahrscheinlich war es meine Neugier oder meine eigene Unfähigkeit, die mir da einen Strich durch die Rechnung machten. »Wie kannst du so – das alles so durchziehen. Diese Interviews, in den Medien zu sein und du arbeitest immer und dann bist du noch in der Schule und zu Hause bist du für Mokuba da und du bist so – wie schaffst du es, so erwachsen zu sein?« Mir fiel kein besserer Begriff dafür ein. Er öffnete den Mund und schien sich im letzten Moment anders zu entscheiden, wobei die Worte, die seine Lippen verließen, nicht die waren, die zuerst in seinem Kopf gesteckt hatten. »Unser Tun zieht immer Konsequenzen mit sich. Und alles im Leben geht mit Opfern einher, Wheeler.« Die Frage, die in der Luft hing, war, ob sich diese Opfer lohnten. In dem Moment klingelte es an der Tür. Wahrscheinlich der Arzt. Kaiba stand da, zog sein Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und fragte mich, welche Opfer er hatte bringen müssen. Seto Kaiba führte seine eigene Firma. Er war unglaublich reich, intelligent und gutaussehend. Von außen betrachtet musste man einfach davon ausgehen, dass der Kerl alles kontrollierte. Betrachtete man Dinge von außen, waren sie meistens leichter, als wenn man in das Innerste schaute. Es war so einfacher, Kaiba zu beneiden, ihn zu idealisieren, ihn zu verdammen, wenn man nur die Schale begutachtete. Ich sprach die Frage nicht aus. Vielleicht, weil ich Kaibas Antwort nicht wissen wollte – abgesehen davon, dass er es mir wahrscheinlich nicht verraten hätte. Sein Innerstes – der Kern der Sache – erschien mir voller Geheimnisse. Geheimnisse, vor denen man sich im Dunkeln vielleicht fürchtete. Geheimnisse, die nichts für Kinder waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)