Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 28: ... ist allein -------------------------- __________________________________________   Zu zweit – doppelt allein. © peter e. schumacher   __________________________________________           Seto Kaiba brauchte niemanden. Er schaffte alles ohne fremde Hilfe, führte eine Firma, erzog seinen Bruder, zog die Schule mit Bestnoten durch. Von außen betrachtet war er ein Genie, das seinen Weg alleine beschritt. Von außen war immer so eine Sache.   Mein Vater stand vor mir auf dem Boden, nachdem Yugi das Tor aufgezogen hatte, hing halb auf seinen Knien, hatte sich vollgekotzt und stank. Innerlich verbrannte ich. Scham walzte durch meine Adern, Wut ließ mich ihn grob hochziehen. »Das ist – was –«, fauchte ich, stockte, atmete durch, beruhigte mich aber nicht. »Ich hab se ang'ruf'n«, lallte er. Ich vermied Kaiba oder Mokuba anzusehen. Dass Yugi und Tristan ihn so sahen war übel genug, aber – »Komm, wir gehen am besten mal rein«, versuchte Tris mir zu helfen. Mein Vater schwankte. »Ich hol mal – n Handtuch – oder so«, bot Yugi an. So wie mein Vater aussah, half nur eine Dusche. Und viel Duschgel. »Oder das«, stimmte Yugi meinem Gemurmel zu, »wir können ihn unter die Dusche stellen.« »Ich ruf n Taxi«, meinte ich, »der soll seinen Rausch zu Hause ausschlafen und dann schauen, was er macht.« »Wenn euch so ein Taxi mitnimmt«, gab Tristan zu bedenken. Meine Wut schwappte von meinem Vater auf ihn über. »Was soll ich machen? Ihn hier liegen lassen?«, fauchte ich. Tristan hob seine Hände. »Beruhig dich, Kumpel.« Mein Vater murmelte mir etwas ins Ohr, das sicher niemand verstanden hätte. Ich verstand nur, dass er mich wieder einmal zum Gespött machte. »Bleib stehen!«, giftete ich ihn an und lehnte ihn gegen das Tor, zog mein Handy raus und wollte ein Taxi rufen, als mich Kaibas Stimme innehalten ließ. »Wir können euch nach Hause bringen.« Ich hob meinen Blick, schaute aber an ihm vorbei. Ich wollte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht sehen. Mokuba fasste meinen Arm. »Genau, ist doch kein Problem«, stimmte er zu. Das Lächeln, das sonst immer in seiner Stimme mitschwang war verschwunden. Da klang keine Freude mehr, wie vor ein paar Augenblicken noch. Da war Nüchternheit. Viel zu erwachsen für einen Zwölfjährigen. »Ich –«, begann ich, schüttelte den Kopf. »Danke, aber nein. Er –« Mein Blick wanderte über das Hemd meines Vaters, das halb aus seiner Hose hing, Dreck und Kotze war über den Stoff gesprenkelt. Ich verzog mein Gesicht. »Ich kann ein frisches Hemd von meinem Großvater holen«, bot Yugi an, »dürfte deinem Vater sogar etwas zu groß sein.« Nicht, dass es mein Vater mitbekommen würde, dachte ich und krallte meine Finger um mein Handy, steckte es langsam wieder zurück. Mokuba hielt noch immer meinen anderen Ärmel. »Gut«, seufzte ich. »Also schön.« Dabei war nichts an dieser Situation gut oder schön. Yugis Großvater half uns, das Hemd meines Vaters zu wechseln. Ich entschuldigte mich so oft für die Umstände, dass Herr Muto irgendwann meinen Arm packte, mich an sich drückte und sagte, dass alles wieder gut werden würde. Ich wollte ihm gerne glauben. Kaiba rief Roland an, der nur eine Viertelstunde später vor dem Tor wartete. Mein Vater hing um meine Schulter, murmelte etwas davon, dass sie ihn verlassen hatte und nie wieder kommen würde. Yugi legte seine Hand auf meinen Arm, mit dem ich meinen Vater festhielt. Sein Blick sagte, dass es so nicht weitergehen könnte. Aber er verriet nicht, was ich machen sollte. Tristan klopfte mir auf meine Schulter. »Bist du sicher, Kumpel?«, fragte er. »Vielleicht wäre ne Nacht in der Ausnüchterungszelle ne Option.« »Ich schaff das schon«, beharrte ich. Das musste ich alleine hinbekommen.   Als ich auf der Rückbank zwischen Kaiba und meinem Vater saß, versuchte ich aus dem Fenster zu schauen und so zu tun, als wäre ich gar nicht wirklich hier. Es klappte nicht. Mein Vater murmelte, schrie, heulte, flehte und ich trug die Maske, dass es mir egal war. »Halt endlich deine Klappe«, zischte ich. Er weinte in sich hinein. Aber es ging an meine Substanz. Mokuba saß auf dem Beifahrersitz, schaute ab und zu in den Spiegel. Einmal fing ich seinen Blick auf. Mitgefühl stand darin. Er nickte mir zu, lächelte ein zaghaftes Lächeln. Meines missglückte komplett. Kaiba schwieg. Vielleicht, weil selbst sein zynischster Kommentar nicht zynisch genug hätte sein können. Vielleicht, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Roland hielt und ich hievte meinen Vater aus dem Wagen. Er zeterte, schlug um sich, also ließ ich ihn los. Er strauchelte, griff nach meinem Shirt, aber griff daneben und stürzte auf den Gehweg. Er fluchte.   »Ich – danke«, murmelte ich in den Wagen, als ich da in der geöffneten Tür stand, meinen Vater hörte und Kaibas Gegenwart entfliehen wollte. Aber er hatte mehr verdient als diese Worte. Ich wusste nur, dass ich es ihm nicht würde zurückzahlen können. Ich stand in seiner Schuld. Schon wieder. Noch tiefer. Kaiba nickte. »Wenn was ist«, begann Mokuba mit einem Blick auf meinen Vater, »dann ruf an, Joey.« Ich bejahte, obwohl ich es nicht vorhatte, nicht einmal, wenn mehr als was war, dann drückte ich die Tür zu und sie fuhren los.   Wir polterten zur Wohnung hinauf. Jemand klopfte gegen die Wand. Im Schlafzimmer drückte ich meinen Vater aufs Bett. Er saß da, in sich gesunken, mit einem Hemd, das ihm viel zu weit war und starrte vor sich auf den Boden. Ich stellte ihm einen Eimer hin. Er saß einfach da und murmelte vor sich hin. Mit einem Seufzen lehnte ich die Schlafzimmertür nur an. Ich versuchte zu schlafen, hatte aber immer wieder den Drang, nach meinem Vater sehen zu müssen. Er war ein Arsch. Ein dummer Idiot. Aber er war mein Vater. Ich öffnete wieder die Tür, dieses Mal lag er nicht im Bett, sondern hing über dem Eimer. Als er sich die Kotze vom Mund wegwischte, blickte er auf und sah mich in der Tür stehen. »Se hat mich weg'n dir verlass'n«, murmelte er. »Was?«, fragte ich, weil ich zuerst dachte, ich hätte mich verhört. Ich machte ein paar Schritte in das Zimmer. »Du bist ihr zu viel g'word'n! Immer Ärger mit dir«, brabbelte er. Ich antwortete nicht. »Is deine Schuld!« Er erhob sich, wankte, aber sein Blick fand meinen. Meine Mutter hatte uns verlassen. Über die Jahre hatten die Gründe variiert. Es war nicht das erste Mal, dass es angeblich meine Schuld war. Aber es traf mich trotzdem. »Vater, leg dich hin, nicht dass –« Vielleicht sah ich es nicht kommen, weil ich es nicht erwartete. Aber der Schmerz brannte auf meinem Gesicht. Er schnaufte, als wäre er gerannt. Die Hand noch immer erhoben. Meine hielt ich mir vor die Wange. »Du kl'ner Bastard«, flüsterte er, betrachtete seine Hand, dann lauter und lauter und dann brüllte er. Immer dieselben Wörter. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Als hätte er eine Kraft erweckt, die in ihm geschlummert hatte, stürzte er auf mich zu, schlug mir ins Gesicht, gegen die Schulter, rammte mir seine Faust in den Bauch. Ich keuchte, bedeckte meinen Körper mit meinen Armen, hielt meine Hand vors Gesicht, sah nur noch Blut und hörte ein Knacken, spürte den Schmerz, der durch mein Handgelenk raste, sah Farben an meinen Augen vorüberziehen und meinen Vater, der schrie und tobte. Aber vor mir sah ich einen gebrochenen Mann und mir fehlte die Kraft, mich zu wehren. Vielleicht der Wille. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht war meine Mutter meinetwegen gegangen. Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht hatte ich es verdient. Vielleicht aber auch nicht. Der Schmerz vernebelte meine Gedanken, ließ mich stöhnen, zusammensinken. Vor meinen Augen schwebte Yugis Gesicht, wie er mich anlächelte. Tristan, klopfte mir auf die Schulter. Mokuba strahlte. Kaiba bot mir den Vertrag an. Mein Vater tobte. Ich stützte mich ab, wich seinem nächsten Schlag aus und stolperte aus dem Zimmer. Das Türschloss knackte, als ich die Tür zuwarf. Der Boden unter mir war schwabbelig. Die Decke über mir kreiste. Die Wände dehnten sich aus. Ich schloss die Augen, doch es wurde schlimmer. Mit einem Krächzen erbrach ich mich, stöhnte als sich zu dem Schwindel Schmerzen durch meinen Kopf fraßen. Doch ich kämpfte mich weiter durch den Gang, hangelte mich das Treppenhaus hinab. In meiner Hosentasche drückte das Handy gegen meinen Schenkel. Ich griff danach, schaffte nach zwei, drei Versuchen, eine Nummer zu tippen. Es wählte und wählte. Die Mailbox antwortete. Ich drückte die Wahlwiederholung. Es wählte erneut. Auch bei Tristan ging nur die Mailbox ran. Wie viel Uhr war es eigentlich? Das Display zeigte sieben Uhr. Tristan musste zu Hause sein, also wankte ich aus dem Wohnblock, überquerte eine Straße, strauchelte, fing mich aber oder trottete weiter, bis ich vor einem Wohnblock hielt, das aussah wie meiner – ungepflegt, der Putz bröckelte, wo früher Blumen gepflanzt waren, wucherte Unkraut. Ich klingelte Sturm, aber es öffnete keiner. Mein Kopf schmerzte. Mein Handgelenk brannte von innen. Ich hielt es schützend an meine Brust. Wahrscheinlich geprellt oder sogar gebrochen. Ein alter Mann wanderte an der Eingangstür vorbei, beobachtete mich misstrauisch. »Verpiss dich!«, rief jemand von oben aus dem Fenster. Tristans Stiefvater. »Ist Tris da?« »Kein Plan, nee. Verschwinde!« Ich fragte nicht weiter, stattdessen stiefelte ich zur Hauptstraße, wartete an der Haltestelle. Es war niemand unterwegs. Sonntags Viertel nach sieben. Ich schleppte mich in den nächsten Bus, stöhnte, biss mir auf die Lippen als ich mich hinsetzte und Schmerzen durch meinen Bauch stachen. Ich hielt meinen Arm vor die Brust. Die Buslinie führte direkt in die Stadt. Wohnblöcke wichen Hochhäusern. Geschäfte drängten sich aneinander, die geschlossen waren, weil Sonntag. Kein normaler Mensch arbeitete sonntags. Mein Kopf brummte. Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Ich versuchte erneut Yugi anzurufen, aber niemand antwortete. Außerdem – ich wollte keine Fragen beantworten. Ich wollte nur schlafen. Mit einem Ächzen stieg ich aus und trottete die Straße entlang, bis ich auf einen Vorplatz gelangte, wo sich das Gebäude erhob und in den Himmel streckte. Natürlich war die Kaiba Corporation geschlossen. Aber so etwas hatte mich noch nie abgehalten. Ich wählte eine Nummer. Es tutete und als beim vierten Ton tatsächlich jemand abhob, schwor ich mir, ihr meine Dankbarkeit zu erweisen. »Joey? Schätzchen?« Sarahs Stimme klang in meinem Ohr, dann hörte ich nichts mehr.   Als nächstes hörte ich, wie jemand gegen eine Tür klopfte. Stimmen davor. Zuerst dachte ich, es wäre ein Traum, dann ein Alptraum. Ich hatte den Geschmack von Erbrochenem im Mund, verzog mein Gesicht, spürte dann die Schmerzen, die durch meinen Körper walzten, Brennen im Gesicht, ein Ziehen im Bauch. Ich rappelte mich hoch, orientierte mich. Irritiert erkannte ich Seto Kaibas Büro. Ich lag auf der Couch, die ein Teil einer Sitzgruppe war, von wo man besten Blick aus den Panoramafenstern hatte – und Richtung Schreibtisch, wo Kaiba saß. Er tippte nicht, was mich verwunderte. Kaiba tippte immer auf seinem Laptop. Er arbeitete immer, wenn ich ihn beobachtete. Aber dieses Mal saß er einfach nur da, starrte aus dem Fenster, als dachte er nach. Seine Mimik sah ich nicht. Ich fragte mich, ob er seine Augenbrauen zusammengezogen hatte – das hieß Ärger – oder ob sein Mundwinkel zuckte – das hieß, ich hatte ihn amüsiert. Auch, wenn er es natürlich nie zugab. Schon wieder Klopfen. Kaibas Stimme. Jemand zog die Tür auf. Yugi und Tristan antworteten. Ich zog mich hoch, setzte mich auf, befürchtete, mein Kopf würde von meinen Schultern fallen. Solche Schmerzen. »Was – was macht ihr alle hier?«, murmelte ich, verzog mein Gesicht, als sich alle zu mir drehten und Tristan antwortete, was meine Kopfschmerzen explodieren ließ. »Die Frage ist wohl eher, was du hier machst! Was ist passiert? Wie siehst du aus? Wir haben versucht, dich anzurufen! Ich hab bei Yugi übernachtet, als du –« »Ich würde vorschlagen, dass wir das auf dem Weg ins Krankenhaus besprechen.« Sarah blickte auf ihre Armbanduhr. »Was? Wieso?«, fragte ich. Ihr Blick sprach Bände. Irgendetwas zwischen Unglaube und Empörung. »Schätzchen. Hast du dich mal angesehen?« Ich wollte sagen, dass das nichts war, aber Kaibas Mimik hielt mich davon ab. »Das sind nur ein paar – ich muss nicht ins Krankenhaus. Ich brauch nur n bisschen Schlaf«, behauptete ich. Eine Kopfschmerztablette wäre gut, dachte ich. Und dann ins Bett. Kaiba schnaubte, er lehnte seine Finger aneinander und stierte mich an. »Du bist vor der Firma zusammengebrochen und hast Sarah angerufen«, sagte er, »um uns mitzuteilen, dass du ins Bett möchtest? Wheeler, was ist passiert?« Sein Blick bohrte sich in meinen. Ich schluckte. Alles war so unklar, wie hinter einem Schleier. Kaiba zückte sein Smartphone. »Was machst du?«, verlangte ich zu wissen. Panik befiel mich. »Ich rufe die Polizei«, teilte er mir mit. Ich stolperte auf ihn zu, schleppte mich durch den Raum, spürte, wie mir die Blicke folgten und ich griff nach seinem Arm, was ihn innehalten ließ. Er ließ mich nicht aus den Augen. Er stand da mit durchgedrückten Rücken und gehobenem Kinn und ich hing halb an seinem Arm. »Er hat es nicht absichtlich gemacht«, wisperte ich. Seine Brauen zogen sich zusammen. In seinem Gesicht erkannte ich, dass er seinen Verdacht bestätigt sah. Er griff nach meiner Schulter. Sein Gesicht war meinem ganz nah, ich wollte zurückrudern, aber er zwang mich, ihm in seine Augen zu sehen. »Er hat dich verprügelt, Wheeler.« Ich wimmerte. Vor Schmerzen oder wegen seiner Worte. Vielleicht und. »Kaiba«, fing ich an, doch er schüttelte den Kopf, ließ mich erst gar nicht weiter reden. »Sarah, würdest du bitte unseren Hausarzt anrufen? Ich setze mich mit der Polizei in Verbindung.« »Nein!« Alle Gesichter fuhren zu mir herum. »Nein«, wiederholte ich, versuchte meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich will nicht – du hast doch – er hat nur –« »Alles weitere entscheiden dann die Polizei und das Jugendamt«, schnitt Kaiba meine Worte ab und nickte Sarah zu, die musterte mich. In meinem Kopf pulsierte Schmerz, mein Gesicht brannte – ebenso wie der Zorn in meinem Magen. Ich spürte, wie alles meiner Kontrolle entglitt. Wer wusste, was aus mir werden würde. Ich würde versinken – ich war allein. Sie betrachteten die Oberfläche, aber wie kaputt mein Inneres war, sah niemand. Vielleicht hatte mein Vater Recht. Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht hätte ich mich mehr anstrengen müssen. Meine Mutter war gegangen und meinen Vater hatte ich dadurch zerstört. Was mussten meine Freunde von mir denken? Ich konnte nicht mehr atmen, obwohl ich die Luft einsog. Meine Freunde griffen nach meinen Armen, wollten mich zurück zum Sofa schleppen, redeten auf mich ein, bestimmt, um mich zu beruhigen, aber um mich herum begann sich das Zimmer zu drehen. »Lasst mich in Ruhe!«, schrie ich, keuchte und stieß Yugi weg, zog meinen Arm von Tristans Schulter, knallte auf meine Knie und wimmerte. Mein Brustkorb war zu eng. Das Gefühl zu ersticken quetschte meine Lungen zusammen. »Joey, es wird alles wieder –« »Du hast doch keine Ahnung!«, brüllte ich. »Joey, wir –« Tristan verstummte mit meinem Blick. Tränen flossen über meine Wangen. Mein Schluchzen, Keuchen, Atem hallte in der Stille wider. Mein Vater hatte Recht. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Ich schaffte nichts alleine.   Kaibas Mantel hing über meiner Schulter, ich krallte meine Finger in den Stoff, lag auf meinen Knien und Schienbeinen, meinen Bauch angezogen, meine Unterarme auf dem Boden. Der Mantel war warm und weich – komplett das Gegenteil, wie sich die Welt anfühlte. Jemand saß neben mir auf dem Boden, strich mir manchmal über den Rücken – ich fühlte es durch den Mantel hindurch. Mein Schluchzen verebbte. Mein Blick klarer. Die Schmerzen wichen Taubheit. Ich bemerkte, dass Kaiba neben mir auf dem Boden saß. Kaiba. Auf dem Boden. Neben mir. Etwas stimmte nicht. »Was –« »Du hattest eine Panikattacke.« Ich nickte langsam, als bräuchte ich einen Moment, um diese Ansage zu begreifen und nickte, obwohl ich es nicht begriff. »Wo sind Yugi und Tris?«, murmelte ich und schniefte. Es war zum Fremdschämen. Ich musste aussehen, wie ein Penner mit zu wenig Schlaf und einem fetten Drogenproblem – meine Augen brannten und waren bestimmt gerötet, meine Glieder schmerzten von der Haltung, mein Kopf implodierte stückweise. »Ich habe ihnen gesagt, ich rufe sie an, wenn du dich beruhigt hast. Sie stimmten mir zu, dass es wohl am besten so wäre. Sie waren selbst durch den Wind und übermüdet. Ich meinte, sie sollten nach Hause gehen und schlafen. Aber sie warten wahrscheinlich unten in der Lobby.« »Es tut mir leid«, murmelte ich, schämte mich für den Ausbruch, sah Kaibas Häme sich schon über mir ergießen, stattdessen zog er mich auf die Füße. Sein Mantel lag noch immer über meinen Schultern und hüllte mich ein. Ich stand ihm ganz nahe, sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, konnte erkennen, wie sich sein Adamsapfel bewegte und seine Augen mein Gesicht absuchten. Ich schaute verlegen weg, fühlte mich schmutzig und ihm unterlegen. »Was dein Vater zu dir gesagt hat – er hat Unrecht, Joey.« Mein Kopf ruckte zu ihm hoch. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Woher wusste er davon – woher wollte er das wissen? Hatte ich etwas zu ihm gesagt? Ich konnte mich nicht erinnern. Doch etwas in seinem Blick versicherte mir, dass er genau wusste, wovon er sprach. Ich senkte meinen Blick wieder, dann brach ich in leises Lachen aus. Vielleicht hatte ich endgültig meinen Verstand verloren. So jedenfalls sah er mich an. »War jetzt das erste Mal, dass du mich Joey genannt hast«, flüstere ich nur. Er neigte seinen Kopf. Seine Hände lagen an meinen Oberarmen, als fürchtete er, ich würde jederzeit wieder zusammenklappen. Kaibas Duft ummantelte mich, seine Wärme zog die Kälte und Unsicherheit aus meinen Gliedern. Der Schmerz pochte, aber da war noch ein anderes Gefühl. Je näher er kam, desto stärker wurde es. Wäre es nicht Kaiba, wäre es nicht ich, ich hätte schwören können, dass wir uns einander näherten.   Mokuba polterte durch die Tür und wir fuhren auseinander. Hinter ihm stand ein älterer Herr, den ich als Kaibas Hausarzt wiedererkannte. »Sie haben Joeys Vater gefunden!«, rief Mokuba und betrachtete uns dann neugierig. »Gut«, fasste Kaiba sich zuerst und leitete mich zum Sofa, drückte mich mit sanfter Gewalt hinunter, während er den Arzt heran ordnete und Mokuba anwies, mich nicht aus den Augen zu lassen. »Natürlich!«, erwiderte er. »Wobei ich nicht schwören kann, dass ich die Aufgabe so gut meistere wie du.« Mokuba hatte die Nerven seinen großen Bruder anzugrinsen. Kaibas Blick verdunkelte sich, doch er schwieg, brauste durch die Tür hinaus und ließ mich zurück.   Kaibas Arzt untersuchte mich, brummte immer mal wieder eine Frage, tastete ab und machte Bilder von meinen Verletzungen, legte dann Verbände an. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig, begafft und entblößt. Mokuba redete mir gut zu und ich quetschte ihn über meinen Vater aus – versuchte es zumindest, aber er wiegelte es ab. »Es geht ihm gut«, behauptete Mokuba, doch sein Ton war zu fröhlich. »Sie sollten schlafen«, ordnete der Arzt an und mit Mokubas offenherzigem Blick fügte ich mich dem – aber widerwillig. Doch zu müde, um mir wirklich einen Disput leisten zu können. Die Schmerzmittel machten mich noch schläfriger. Mein Kopf fühlte sich schummrig an. Jedes Mal, wenn ich glaubte zu schlafe, schreckte ich hoch. Sah meinen Vater vor mir, hörte, wie er brüllte. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Doch jedes Mal, wenn ich erwachte, saß jemand bei mir. Yugi und Tristan, Herr Muto, Sarah, Mokuba, sogar Kaiba. Auf die Frage, was er hier machte, erwiderte er, dass das hier sein Büro wäre und er eine Firma leitete. Ich hätte gelacht, wäre ich nicht wieder weggedöst. »Wir sollten ihn in ein richtiges Bett bringen.« »Er sollte auf keinen Fall nach Hause zu sich müssen – allein.« »Er könnte bei mir schlafen. Großvater hat absolut nichts dagegen.« »Er könnte doch auch bei uns übernachten, oder Seto?« Zuerst dachte ich, die Stimmen wären Teil meines Traums, doch als die Konturen um mich herum aufklarten, erkannte ich, dass sich die Leute noch im Raum befanden, während ich wach war. Mein Kopf brummte und mein Handgelenk schmerzte. Erst wunderte ich mich darüber, dass ich dort einen Verband trug. Dann erinnerte ich mich. »Oh, Joey! Du bist ja wach! Willst du ein Wasser?« »Ich brauch ne Dusche«, nuschelte ich und brachte eins, zwei damit zum Lachen. Wahrscheinlich weil es der Wahrheit entsprach. »Wir haben gerade –« »Ich weiß«, murmelte ich und setzte mich langsam auf. Ich kam mir vor wie bei einer Krisenbesprechung. Wahrscheinlich weil es eine war. »Ich würde gerne nach Hause«, begann ich schleppend und Tristan widersprach sofort, ich hob die Hand, so dass er verstummte, »ich weiß aber, dass das wohl grade nicht sehr clever wär.« »Das ist noch untertrieben«, murmelte Tristan. »Wo ist eigentlich mein Vater?«, wollte ich wissen, ohne seinem Kommentar weiter Beachtung zu schenken. Meine Freunde warfen sich Blicke zu. »Er ist im Krankenhaus.« »Was? Wieso? Was hat er –« »Ich denke, wir sollten eines nach dem anderen klären, Kumpel«, unterbrach Tristan. Ich atmete tief durch. Er hatte Recht. Eine Sache nach der anderen. Auf meinem Brustkorb hockte schon wieder so ein Gewicht, also lehnte ich mich zurück, starrte die Decke an und nahm dann Yugi in den Blickfang. »Kann ich ein paar Tage bei dir unterkommen? Auf der Isomatte. Kein Ding, oder? Für ein paar Tage halt. Wird dann kurze Zeit etwas enger, aber –«, sagte ich. Yugi schüttelte den Kopf. »Absolut kein Problem«, bekräftigte er. Mokuba nickte langsam. »Oder du könntest mit zu uns kommen und in einem der Gästezimmer schlafen. Wir haben Platz genug.« Noch während Mokubas Worten trafen sich Kaibas und mein Blick. Als drückte jemand bei mir einen Schalter, fluteten meinen Kopf die Erinnerungen an seine Nähe, an seinen Duft, an den Mantel über meinen Schultern. Es schüttelte mich. »Außerdem wäre es doch praktisch. Seto könnte dich mit zur Schule nehmen und auch in die Firma.« Ich hörte Mokubas Argumente, die nicht nur logisch klangen, sondern es auch waren, aber der Gedanke daran, Kaiba wieder nahe zu kommen – der Gedanke daran, wie er mich erlebt hatte, schnürte mir die Kehle zu. »Ja, ähm. Danke, aber –« Ich wollte gerade Yugis Angebot annehmen, als genau der meinte, dass das doch eine gute Möglichkeit wäre. »Eine dauerhafte Lösung muss doch eh noch gefunden werden.« Tristan nickte, Mokuba nickte, Yugi nickte – alle schienen sich einig, nur Kaiba und ich schwiegen. Erst nach ein paar Schweigeminuten fiel mir etwas auf. »Was meinst du mit eine dauerhafte Lösung, Yugi? Ich geh wieder zurück nach Hause, wenn sich die Sache etwas – beruhigt hat.« Schon wieder tauschten sie Blicke. »Am besten, wir organisieren dir mal frische Klamotten und eine Dusche. Dann schauen wir weiter«, schaltete sich Tristan ein. Natürlich bemerkte ich, dass sie der Antwort auswichen, aber eine Dusche klang zu verlockend. Meine Kleidung hing an meinem Körper und ich hatte das Gefühl, nicht nur meiner Haut, sondern auch meinen Gedanken würde eine Dusche gut tun, also stimmte ich zu. »Wie wäre es, wenn ihr heute alle bei uns übernachtet?«, fragte Mokuba. »Dann ist heute Nacht niemand – allein.« Zustimmendes Gemurmel. »Dann geh ich kurz zu mir und –«, begann ich, doch wurde unterbrochen. »Unsinn, das wäre ein Umweg, ich leih dir was und –« »Tris, wenn du nach Hause gehst, dann können wir auch gleich bei mir vorbei sehen«, entgegnete ich genervt. Immerhin wohnte ich nur zwei Straßen weiter. Tristan kratzte sich am Hinterkopf. »Ja, Mann, ich meinte ja, dass Kaiba dir bestimmt etwas –« Das Letzte, was ich jetzt wollte, war in Kaibas Klamotten herumlaufen. »Was ist los?«, wollte ich zu wissen. »Was ist passiert?« Mein Blick wanderte über die Gesichter. Kaiba schaute so, als hätte er den anderen gesagt, dass ich eine Antwort verlangen würde. Sie schwiegen. Tristan fuhr sich durchs Haar, Yugi wrang sich die Hände, Mokuba senkte den Blick. Kaiba legte ein Bein über das andere, verschränkte die Arme vor der Brust und war der einzige, der meinen Blick erwiderte.   »In der Wohnung ist ein Feuer ausgebrochen«, sagte er. Mein Kiefer senkte sich. In meinem Kopf verschlang ein schwarzes Loch jeden Gedanken. »Ein Feuer?«, krächzte ich nach einigen Minuten der Stille. »Was soll das heißen? Ein Feuer?« Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Das durfte alles nicht wahr sein. Wie konnte ein einziges Wochenende nur so katastrophal verlaufen? In meinem Kopf hämmerten die Fragen gegen die Schläfen. Wo eben noch Leere gähnte, verstopften jetzt Gedanken meinen Verstand. Ich musste an die Worte meines Vaters denken. Hau doch ab. So wie deine Mutter. Hatte er sie geschlagen? Nein. Er hatte doch auch mich nie geschlagen. War das ein Argument? War sie vor ihm geflohen, so wie ich? »Ich glaube, wir brauchen alle ein bisschen Schlaf.« Tristan erhob sich als erster. Yugi nickte und folgte ihm, dann schaute er mich an, als ich mich nicht rührte. »Kommst du mit, Joey?« Mein Blick verharrte auf meinen Händen, dann ertappte ich mich dabei, wie ich Kaiba anschaute. »Ja, ich – ja.« Ich trat zu Yugi. Kaibas Blick folgte uns. Er verließ sein Büro hinter uns und schloss die Tür, während Tristan seine Hand auf meine Schulter legte, Yugi neben mir stand, als wäre er bereit, mich jederzeit aufzufangen. Aber das war nicht einmal nötig. Meine Knie fühlten sich wabbelig an, aber meine Gedanken waren unnatürlich klar. Vielleicht das Adrenalin, die Übermüdung, all die Informationen, die durch meinen Kopf rasten und doch so entfernt schienen, als würde ich sie nur wie Fremde betrachten.   Roland fuhr Yugi, Mokuba und mich zur Kaibaschen Villa. Mit Tristan fuhr er weiter, sicherlich zu ihm ein paar Sachen holen. Kaiba blieb in der KC – ein paar Dinge klären.   »Hier, das Zimmer.« Mokuba führte uns in einen Raum im ersten OG mit einem Doppelbett mit grüner Bettwäsche, weißen Wänden und dunklem Parkett, ein bodenlanges Fenster öffnete den Blick runter in den Garten. »Das Bad ist gleich hier.« Er öffnete eine Tür. Yugi und ich warfen uns einen Blick zu. »Kriegst du das hin?«, fragte er. »Was?« Als ich begriff, was er meinte, lief ich rot an. »Ja, Mann!« Mokuba besorgte mir Handtücher, Duschgel und Shampoo. Mit einem gemurmelten »Danke« schlurfte ich ins Bad, schloss die Tür und atmete tief durch. Das Bad war riesig. Dusche, Badewanne, zwei Waschbecken. Kerzen standen am Rand, eine Pflanze ragte sich bis zur Decke. Durch das Fenster strahlte die Sonne. Ich legte die Handtücher auf die Ablage und trat in die Dusche. Jetzt war kein Zeitpunkt für ein Bad. Ich wollte den ganzen Dreck so schnell wie möglich loswerden. Das Wasser benetzte meine Haut und brannte an den Stellen, wo sich eine Kruste gebildet hatte. Ich bemerkte, dass meine Lippe aufgeplatzt gewesen sein musste, am Kopf spürte ich ein paar Beulen, als ich das Shampoo einrieb. Mein Kopf brummte, aber ich sah alles klar und mir war nicht mehr übel. Ich kniff meine Augen zusammen, als der Gedanke mich überschwemmte, dass die Wohnung wahrscheinlich unbewohnbar war. Feuer. Der Gedanke daran jagte mir das Gefühl, keine Kontrolle zu haben durch die Adern. Da war wieder der Druck auf meiner Brust. Ich schloss das Wasser, öffnete die Duschtür und atmete tief durch.   »Hey, Kumpel.« Tristan klopfte an die Badezimmertür. »Ich hab n paar Klamotten für dich. Yugi meinte, es wäre zu zynisch, aber –« Ich hängte mir ein Handtuch um die Hüfte, öffnete die Tür ein Spalt breit und betrachtete Tristan, der mich verlegen angrinste. »Alles andere war – naja – sagen wir – so gut wie in der Wäsche.« Er hielt mir das T-Shirt mit dem Aufdruck Death Note vor die Nase. Ein Lachen kletterte durch meinen Bauch hoch in meine Lungen und brach aus mir heraus. Tristan fiel mit ein und ich krallte mir das Shirt mit einem Kopfschütteln.   »Wow, und schon siehst du nicht mehr aus wie ein Penner!«, begrüßte mich Tristan mit einem Grinsen, während ich durch die Tür ins Zimmer trat. Das feuchte Haar im Nacken, den Verband um mein Handgelenk möglichst trocken gehalten. Das T-Shirt und eine Hose von Tris an. Yugi verpasste ihm einen Hieb in die Seite, aber ich grinste zurück. Tristan hatte immerhin Recht. »Jetzt n bisschen schlafen und –« Ich gähnte, doch Mokuba öffnete in dem Moment die Tür und fragte: »Hat jemand Hunger?«   Kaiba wartete ihm Esszimmer, wo der Tisch bereits gedeckt worden war. Seine Haushälterin hatte Lasagne gemacht und tischte auf. Tristans Augen wurden riesig und meine Mundwinkel zuckten. Er langte zu und erzählte mir irgendwas von einer Serie im Fernsehen, Yugi und Mokuba tauschten sich über DuelMonsters aus. Ich stocherte in meinem Essen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Kaiba mich beobachtete, aber jedes Mal, wenn ich aufsah, lag seine Aufmerksamkeit auf Mokuba oder Yugi. »Alles in Ordnung?«, fragte letzterer und natürlich wäre die ehrliche Antwort darauf eine negative gewesen. Doch ich schätzte die Sorge meiner Freunde und zuckte die Achseln. Yugi legte seine Hand auf meinen Arm, doch ich zog ihn weg. »Ist schon okay«, murmelte ich, »ich bin nur müde.« Nach dem Essen zogen wir uns in das Gästezimmer zurück. Das Doppelbett war riesig und ließ genug Platz für Tris, Yugi und mich. »Wollt ihr nicht noch ein Zimmer?«, hakte Mokuba schon wieder nach, doch Tris verneinte. »Unsinn, das ist wie bei einer DVD-Games-Nacht!« Mokubas Augen begannen zu funkeln und er lag Kaiba in den Ohren, dass er auch im Gästezimmer übernachten wollte, doch Kaiba blieb hart. »Du musst morgen in die Schule!«, war sein Totschlagargument. Obwohl Mokuba schmollte, gehorchte er und wünschte uns eine gute Nacht. »Ein anderes Mal«, munterte ihn Yugi auf und schaffte damit ein Lächeln auf die Lippen des Jungen. Ich bezweifelte aber, dass Kaiba uns jemals wieder bei sich aufnehmen würde. Warum sollte er auch? Schon dieses Mal kam mir vor wie die Folge eines Risses in der Realität. Vielleicht hatte auch einfach eine Panikattacke in Kaibas Büro ähnliche Auswirkungen. Eine DVD-Games-Nacht bei Kaiba. Das war so wie ein Schülerstreich von Lehrern. Kaiba wünschte uns eine gute Nacht (»Solltet ihr Mokubas oder meinen Schlaf stören, werfe ich euch raus«) und zog sich zurück.   Während Tristan im Bad war, stand ich am geöffneten Fenster und schaute hinaus. Ich dachte an mein Zimmer, das so viel kleiner und schäbiger war – aber trotzdem mein Zuhause. Und an meinen Vater. Der Gedanke an ihn wühlte Zorn auf, doch auch Hilfslosigkeit. Ob er sich ebenso fühlte? »Joey.« Yugi trat hinter mich, legte seine Hand auf meinen Rücken und schwieg. Es reichte schon, dass er da war.   Ich lag in der Mitte. Tristan hatte die Decke weggestrampelt, Yugi an mich herangekuschelt. Es war unerträglich warm. Ich starrte an die Decke, doch meine Augen brannten vor Müdigkeit. Irgendwann fielen sie zu. In der Dunkelheit sah ich ihn. Er lächelte – fast. Da hing ein Zucken in seinem Mundwinkel. Er griff nach seinem Aktenkoffer, setzte sich neben mich unter den Baum und aß ein Eis. Er brachte mich zum Lachen. Yugi teilte Karten aus. Tristan fragte mich, warum ich nicht auszog. Jemand schrie mich an. Ein Schlag. Eine Frau packte Sachen zusammen. Feuer. Es roch nach Qualm. Ich musste weg, doch jemand hielt mein Handgelenk. Es knackte. Mit einem Gefühl zu ersticken, fuhr ich hoch und saß im Bett. Mein Atem rasselte. Tristan schnarchte. Yugi drehte sich um. Ich verharrte, hoffe, ihn nicht aufzuwecken. Mein Herz raste. Draußen schien die Sonne. Es musste schon Morgen sein. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich, dass es sechs Uhr war. Zittrig fuhr ich mir durchs Gesicht, dann kletterte ich über die Bettkante zu meinen Füßen und schlich aus dem Zimmer. Die Küche war im EG, also tapste ich die Treppe hinunter, bog um die Ecke, schlurfte durch den Gang und – schaute verdutzt. Ich stand vor einer Tür, die aber eindeutig nicht zur Küche gehörte. In dem Raum standen Putzutensilien. »Verdammte Scheiße«, fluchte ich und drehte mich um. »Iste nich scheiße«, mahnte mich eine Frau mit krausem, dunklem Haar und einem Lächeln, das ihr Gesicht einnahm. Ich zuckte vor Schreck zusammen. »Iste Putzzeug!«, erklärte sie. »Machte Scheißedreck weg!« Ihr Lachen steckte mich an und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Entschuldigen Sie. Ich suche die Küche.« »Iste kein Problem! Iste am Ende von Gang! Waren Sie auf richtigen Weg – nur falsche Richtun.« Sie nickte mir zu und machte sich auf, begann leise zu pfeifen. Ich sah ihr überrumpelt hinterher. Als ich die Küche betrat, saß Kaiba an der Theke. Vor sich einen dampfenden Kaffee, in der Hand eine Zeitung, auf dem Tisch sein Smartphone, das immer mal wieder summte. »Morgen«, nuschelte ich. Er schwieg. »Oh! Wollen Sie auch einen Kaffee?« Hinter mir erschien Kaibas Haushälterin und wendete ein Omelette. »Oder eine kalte Milch?« Ich hatte Hunger und Durst, aber dass mir jemand morgens einen Kaffee machen wollte, war schräg. »Oder Tee?« Anscheinend nahm sie mein Schweigen für ein Nein. »Ich – ähm – ich nehm ne Milch.« Sie schenkte mir ein Glas ein und lächelte mich an. »Was möchten Sie essen? Omelette? Brötchen? Brot? Wir haben Käse, Wurst oder lieber etwas Süßes? Es gibt Marmelade, Honig, Nuss-Nougat-Aufstrich. Und natürlich frisches Obst. Möchten Sie ein Stück Melone?« Statt meine Antwort abzuwarten, tischte sie alles nach und nach auf. »Herr Kaiba hat Sie bereits angekündigt. Er erwartete nur, dass sie später aufwachen. Entschuldigen Sie also, dass der Tisch noch nicht gedeckt ist. Herr Kaiba bevorzugt ein simples und zügiges Frühstück. Er nahm an, Sie bräuchten etwas Üppigeres.« Mein Blick wanderte von der jungen Frau zu Kaiba, der schweigend Zeitung las und so tat, als wäre er nicht anwesend. »Ja, ähm. Danke«, murmelte ich und wollte gerade ein vorbereitetes Tablett von der Küche ins Esszimmer räumen, als sie mich alarmiert fragte, was ich da tue. »Ich – ich wollte nur helfen«, stammelte ich und ihre Mimik wandelte sich von ungläubig zu strahlend. »Aber bitte«, wiegelte sie ab, »Sie sind hier Gast!«   Tristan hatte kein schlechtes Gewissen sich durch alle Sachen durchzufuttern, Yugi aß, aber deutlich zögerlicher. Mokuba gefiel es offensichtlich, mit so vielen am Tisch zu sitzen und erzählte von seiner Klasse und einer Gruppenarbeit. Irgendein Projekt für Kunst. »Und wir machen zu dritt eine Hobbithöhle. Joey! Du kennst die sogar! Erinnerst du dich an die Silvester-Feier? Der blonde Junge und das Mädchen mit den roten Haaren. Leon und Amy.« Ich erinnerte mich vage. »Stimmt.« Ich biss in ein Brötchen, obwohl ich Hunger hatte, spürte ich keinen Appetit. »Joey, willst du uns bei dem Projekt helfen?«, fragte er, während er sich ein Omelette in den Mund schob. Kaiba senkte seine Zeitung. »Eine wunderbare Idee. Und danach könnten wir alle schwänzen und uns den Tag mit Spielen um die Ohren schlagen«, schlug er sarkastisch vor. Mokuba und ich tauschten einen Blick. Kaiba verdrehte die Augen und ordnete an, dass Mokuba seine Schulaufgaben und Projekte selbstständig organisieren müsste. Hilfe gäbe es nur im angemessenen Rahmen. Ich gehörte offenbar nicht da hinein. »Mir darf er nicht helfen. Aber dir vor ein paar Monaten schon?«, murmelte er beleidigt und ich konnte nicht anders als zu glucksen. Kaiba verpasste mir einen düsteren Blick. »Wir haben gemeinsam an dem Projekt gearbeitet, Mokuba. Das war völlig der Aufgabenstellung entsprechend und kein unlauteres Mittel.« »Unlauter vielleicht nicht«, murmelte Tristan und biss in ein Stück Melone, »aber ziemlich abgefahren.« Kaiba schnaubte und verschwand wieder hinter seiner Zeitung. Mokuba schaute mich an, mein Blick wanderte in Kaibas Richtung, damit ich sicher gehen konnte, dass er nichts mitbekam, dann nickte ich Mokuba zu und zeigte ihm meinen Daumen. Voller Freude grinste er und aß sein Omelette weiter. Yugi schüttelte amüsiert den Kopf.   Nach dem Frühstück, machte ich mich für die Schule fertig, schlüpfte in eine Uniform von Tris. »Hey, willst du wirklich schon wieder in die Schule?« Tristan steckte den Kopf ins Gästezimmer und schaute mich nachdenklich an, wie ich in einer seiner Schuluniformen stand und versuchte, mein Haar zu bändigen – natürlich vergeblich. »Mhm.« »Ich mein, nach dem Wochenende –« »Schule ist das einzige, was n bissel normal ist grade in meinem Leben. Ich brauch n bissel Normalität«, versuchte ich es ihm zu erklären. Er zuckte die Achseln. »Aber wenn es dir irgendwie schlecht geht oder so, dann sag sofort –« Ich nickte und registrierte, als Tris seinen Rucksack über die Schulter warf, während wir die Treppe hinabschlenderten, dass ich nicht einmal einen Block hatte oder ein Schulbuch. »Das klären wir später mit der Schulleitung«, sagte Kaiba auf meine Bemerkung, stand schon da an der Eingangstür, tippte in seinem Smartphone herum und wartete darauf, dass wir alle eintrudelten – beziehungsweise, dass ich und Tristan dazustießen. Die Anderen standen bereits da. Mokuba packte eine kleine, braungraue Tüte in seinen Ranzen, Yugi hielt so eine in der Hand, trug seine Schultasche über der einen Schulter. Tris musste sie ihm gestern mitgebracht haben. Ich wollte gerade fragen, was das für Tüten waren, als die Haushälterin einen Schritt in den Gang machte und mir auch so eine kleine, braungraue Tüte entgegen hielt, dann drückte sie Tris eine in die Hand. »Guten Appetit! Für später!«, wünschte sie und verschwand wieder in die Küche. Erst als wir in der Limousine saßen wurde mir klar, dass mir zum ersten Mal im Leben jemand ein Frühstück für die Schule mitgegeben hatte.   Roland hielt vor der Schuleinfahrt. Während wir ausstiegen, wechselten Kaiba und er ein paar Worte, die ich nur mitbekam, weil es verdammt mühselig war, aus der Limousine auszusteigen. Luxusprobleme. »Heute Nachmittag findet die Konferenz von 16 bis 17.30 Uhr statt«, erinnerte er ihn, »um 18 Uhr findet ein Elternabend in Mokubas Schule statt. Es geht zusätzlich um die Organisation des Sommerfests der Schule. Am späten Abend erwartet Herr Yung einen Anruf. In einer Woche haben Sie eine Klassenarbeit in Japanisch, weswegen ich Sie heute erinnern sollte.« Kaiba nickte, wünschte Roland einen guten Tag und schloss die Tür. Tristan lachte über einen Kommentar von Mokuba, Yugi lächelte. Ich schaute dem Wagen hinterher, so wie einige andere um uns herum auch. Während sie jedoch die Limo anstarrten, die sich entfernte, weil es einfach eine Limo war, hing ich ganz anderen Gedanken nach. Kaiba stand nur einen Arm breit von mir entfernt. In der Rechten trug er seinen Aktenkoffer, in seiner Linken hielt er das Smartphone, auf das er blickte, während er an mir vorbei schritt. »Wie schaffst du das alles allein?«, brach aus mir hervor, obwohl ich es nur hatte denken wollen. Er hielt inne. Mokuba ging mit Tristan und Yugi vor, sie erzählten über irgendwas, ich hörte es nicht ganz, schnappte aber Wörter wie Turnier, Karten und Spiel auf. Mokuba kicherte. Tristan legte seinen Arm um die Schulter des Jungen. Kaiba stand neben mir und beobachtete die Szene. Ich hingegen beobachtete ihn. Er senkte das Phone in der Hand, ließ seinen Blick von Mokuba zu mir wandern und ging weiter. Ich setzte mich zeitverzögert in Bewegung und schlenderte an seiner Seite über den Hof.   »Ich bin nicht allein«, antwortete er, als ich schon keine Antwort mehr erwartet hatte, »und ich war es nie. Was ist mit dir?« Er sah mich nicht an, stattdessen erhaschte ich einen Blick auf Tristan, Yugi und Mokuba, die sich inzwischen umgedreht hatten und schauten, wo wir blieben. Auf meine Lippen schlich sich ein schiefes Grinsen.   Seto Kaiba schaffte nicht alles ohne fremde Hilfe. Warum sollte ich besser sein als er? Ja, er führte eine Firma, erzog seinen Bruder, zog die Schule mit Bestnoten durch. Von außen betrachtet war er ein Genie, das seinen Weg alleine beschritt. Von außen war immer so eine Sache. Denn es gab sie, die eine handvoll Menschen, die nicht nur seine Oberfläche betrachteten. Genauso wie es Menschen gab, die nicht nur meine Außenfläche sahen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)