Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 43: … bin ein Bruder ---------------------------- __________________________________________   Gewinn und Verlust sind Bruder und Schwester. Aus Belgien   __________________________________________           Ich unterlag den anderen, war immer abgeschlagen, hinke hinterher. Ich wohnte in der falschen Gegend und kannte die falschen Leute. Selbst unter ihnen war ich besonders – besonders chaotisch, schlagkräftig, laut, frech und – trotz allem – beneidet. Auch, wenn ich bei ihnen war, war ich nicht am richtigen Ort.   Die Frage füllte noch die Stille des Raumes, als ich auf den Fersen umdrehte, um abzuhauen. Eine Stimme hielt mich zurück, ließ mich in der Bewegung einfrieren. »Joey?« Ich schaute über die Schulter von meiner Mutter, die da mit zusammengekniffenen Lippen stand, zu einer jungen Frau, die ich erst auf den zweiten Blick entdeckte. Grünbraune Augen, rotbraunes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, zierlich. Sie erinnerte als erstes an meine Mutter, auf den zweiten Blick erst sah man die Ähnlichkeiten zu mir. Ich riss meine Augen auf. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Vielleicht sieben, acht Jahre. Seine blonden Haare standen im wirr vom Kopf. Als er mich ansah, schluckte ich und machte einen Schritt zurück. Die junge Frau wiederholte meinen Namen. Diesmal klang es weniger wie eine Frage, aber sie schaute an mir vorbei, obwohl sie mir ihr Gesicht zuwandte und in ihrem Blick glitzerte etwas. Unglauben? Freude? Er wirkte starr. »Seren-« Ich schluckte. »-ity, du bist –«, brachte ich hervor. Ich machte einen Schritt auf sie zu, dann blieb ich stehen. Es war als deckte sich die Erinnerung nicht mit der Realität. Als sähe ich Fotos vor mir. Ich kannte sie nicht. In meinem Kopf war sie ein kleines Mädchen und hier stand sie – eine junge Frau. Der Junge schaute von ihr zu mir und zurück, dann zu meiner Mutter, die unbewegt da stand. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie ich ihr voller Wut im Bauch ins Gesicht brüllen würde, was für eine Scheiße sie mir angetan hatte. Stattdessen stand ich hier und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Joey, ich –« Meine Schwester streckte ihren Arm aus, als tastete sie sich durch die Luft, in der anderen Hand ein Stock, mit dem sie am Bett entlangfuhr. In dem Moment presste sich meine kleine Schwester an mich, als wäre ich kein Fremder. Ich atmete tief durch, während ein Zittern durch meine Glieder fuhr, ich atmete ihren Duft, an den ich mich nicht erinnerte, legte meine Arme um ihren Körper, aber dann fielen meine Arme an meinen Seiten hinab. Ich suchte nach dem Gefühl von Vertrautheit, aber ich fand nur Leere in mir. Ich schaute zum Bett, wo ein Junge stand, der aussah wie ich früher, und wo mein Vater lag und meinen Blick erwiderte, als könnte er mir alles erklären, aber er sagte natürlich nichts und ich presste meine Lippen zusammen. Er lebte, ich lebte. Meine Mutter lebte, Serenity lebte. Happy End. Es hätte eines sein können. Mühsam brachte ich Distanz zwischen Serenity und mich, drückte sie einen Arm weit weg von mir, wich ihrem Bick aus, der mich nicht sah, schaute zu dem Jungen, der mich anschaute, als wollten gleich all die Fragen aus seinem Mund platzen. Ich ertrug es nicht, starrte an die Wand, in deren Richtung meine Mutter stand, schüttelte den Kopf und drehte mich um. Ich musste hier raus.   Ich schaffte es in den Gang, machte Schritte, blieb stehen, schaute mich um, wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und lehnte mich dann an eine der Wände. Schwestern schritten vorbei, warfen mir Blicke zu, doch ich nickte, versuchte ein Lächeln, das mir misslang. Tränen brannten hinter meinen Augäpfeln, dort, wo niemand sie sehen würde. Nicht einmal ich. »Joey.« Ihre Stimme ließ Galle meine Lungen hochsteigen. Ich biss die Zähne aufeinander, obwohl ich schreien wollte. Hör auf, meinen Namen zu sagen. Meine Hand ballte sich an der Wand zu einer Faust. »Ich – dein Vater rief gestern an und tauchte wenige Stunden später bei uns vor der Tür auf. Er war völlig neben sich«, fuhr sie fort und ich wollte nur weg. Stattdessen schaute ich auf und schnaubte. Sah nicht sie an, sondern den Gang, der sich hinter ihr ausbreitete. Er hatte sie angerufen. Nach all den Jahren hatte er sie angerufen. Ich wollte schreien, aber stattdessen presste ich nur Worte hervor, die aus meinem Mund stolperten. »Und warum bist du hierhergekommen? Mit Ser-« Mir wollte ihr Name wieder nicht über die Lippen. Und diesem Jungen. Sie brauchte einen Moment, bis Silben kamen. War da ein Zittern in ihrer Stimme? Es war mir egal. »Ich bin kein Monster, Joey. « Das war ihre Sicht der Dinge. »Vielleicht können wir uns mal unterhalten. Wir könnten etwas zusammen essen und –« Sie streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus, vielleicht um eine Strähne aus meiner Stirn zu streichen, aber ich wich zurück. »Du kannst mich mal«, zischte ich, fuhr herum und rauschte durch den Gang, weg von ihren Worten, ihrer Stimme, all den Erinnerungen, der Erkenntnis, dass meine Schwester blind war. Und dass ich einen Bruder hatte.   Tage. Wenn ich den Vorhang auseinanderzog, war es grau. Wenn ich schlafen ging, war es grau. Draußen schien die Sonne, es war grau. Es regnete, es war grau. In mir drin. Ich hatte Hunger, aber keinen Appetit. Ich war müde, konnte aber nicht einschlafen. Ich wollte schreien, aber schwieg. Manchmal hatte ich mir als Kind vorgestellt, dass er einfach nicht mehr aufstehen würde, dass meine Mutter zurückkäme mit Tränen in den Augen und mir erklärte, dass sie gezwungen war zu gehen, weil mich sonst die Mafia getötet hätte. Oder weil Aliens sie bedroht hatten. Oder Piraten. Als Kind hatte ich daran geglaubt, dass es einen Grund gab. Dass sie sich Sorgen um mich gemacht hatte, aber das es einen verdammt guten Grund für das alles gab. Dass es fair war. Dass es in Wirklichkeit um mich ging. Um uns. Dass sie keine Wahl gehabt hatte. Aber ich war schon lange kein Kind mehr.   Tristan redete auf mich ein, während wir auf Yugis Bett saßen und ich an die Decke starrte. Ich antwortete nicht. Yugi erzählte mit mir und egal, was er sagte, ich wusste, dass er damit meinte, dass er immer für mich da wäre. Aber das Problem war, ich hatte das Gefühl, woanders zu sein. Herr Muto legte seine Hand auf meine Schulter und behauptete, es wäre nicht einfach, aber ich würde damit fertig werden, weil ich nicht alleine war, weil sie mich nicht alleine lassen würden. Aber das Problem war, ich wollte alleine sein. Irgendwann kapierten sie es.   »Wheeler, wir haben Arbeit vor uns.« Seine Stimme zerriss die Höhle, die ich mir hier gebaut hatte. Eine Höhle aus Stille und Alleinsein. Ich schnaufte. Er stand im Türrahmen von Yugis Zimmer, als holte er mich täglich hier ab. Sein Hemd, seine Krawatte, den Aktenkoffer, als hätte er sich verlaufen. Mein Blick wanderte von ihm zur Decke. Wäre es nicht er gewesen und nicht hier oder jetzt, ich hätte gelacht, aber Kaiba scherzte nicht. »Ja, du hattest eine schwierige Kindheit. Du wirst es überleben. Deine Schwester leidet unter Retinopathia pigmentosa. Sicherlich muss ich den Unsinn, den deine Freunde dir bereits tagelang vorbeten nicht wiederholen. Es gibt Optionen.« Glut in meinem Magen. Ich verdrängte das Gefühl und das Grau umhüllte mich erneut. »Wheeler, wenn das Turnier deinetwegen –« »Verpiss dich«, murmelte ich und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich horchte, ob er es raffte und ging. Irgendwann hörte ich Schritte. Für einen Moment fürchtete ich, er käme zu mir, aber als ich einen Blick über meine Schulter wagte, war er verschwunden.   Tage. Die Tage waren alle gleich. Yugi erzählte. Ich schwieg. Er aß mit mir drei Mahlzeiten, während ich darin herumrührte. Manchmal saß Thea mit dabei. Tristan schleppte DVDs an und Spiele und Mangas. Ich schaute ihn an und schwieg. »Alter«, sagte er manchmal, »ich weiß, is‘ irgendwie scheiße, dass sie jetzt auf einmal aus dem Nichts auftaucht und voll krass – mit dem Bruder und allem, aber –« Es gab kein Aber. Und er wusste es nicht. Er glaubte es nur zu wissen.  Aber das war ein Unterschied. Ich hatte das Gefühl, sie hätte mir das Leben geraubt, das mir zugestanden hätte.   Tage. Graue Tage mitten im Sommer. Yugi saß einfach mit mir ihm Zimmer. Wir schwiegen uns an. Es tat weh. Alles in mir schmerzte, als verbrannte ich von innen, aber ich verzog keine Miene. Sollte sie doch einfach wieder abhauen. Das wäre nicht das erste Mal. Es war mir egal.   »Wheeler.« Ich ignorierte ihn. Kaiba ließ sich nicht ignorieren. Er nannte mich Köter. Ich schwieg. Er nannte mich drittklassiger Duellant. Ich drehte mich mit meinem Gesicht zur Wand. Er schwieg. »Selbstmitleid ist pathetisch.« »Leck mich«, knurrte ich, doch er fuhr einfach fort. »Noch schlimmer ist nur das Mitleid anderer, die behaupten sie verstünden, was in dir vorgeht.« Ich hielt den Atem an. Das Grau verschwand, was die Furcht meinen Nacken hinaufwandern ließ. Als ich mich zu ihm umwandte, stand er noch immer dort. Mein Blick schnellte zur Decke. »Mh«, brummte ich. Stille. Er fragte nicht nach. Stattdessen lag ich hier in Yugis Bett und er lehnte gegen den Türrahmen und wir schwiegen. Ich hätte es ihm sagen können, aber ich musste nicht. Seine Stimme war kein vorsichtiger Singsang, als könnte ich bei einem falschen Ton auseinanderfallen. Es schmerzte, aber ich verbrannte mich nicht von innen. Natürlich, er hatte es mir gesagt. Aber es war so verdammt anders, es nicht nur zu hören, sondern den kleinen Jungen auch zu sehen. Als Kaiba gegangen war, stand ich auf und ging duschen.   Yugi, Tris und ich saßen im Zimmer und schauten irgendwelche Filme bis tief in die Nacht. Tristan raschelte mit der Popcorntüte. Meine Stimme zerriss die Höhle, die ich mir hier gebaut hatte. Eine Höhle aus Stille und Alleinsein. Aber in ihren Blicken ertrank ich in Mitgefühl und Verständnis. Das Problem war, ich fühlte nichts und ich verstand es nicht. Ich schnaufte. »Sie meinte, wir könnten ja vielleicht was zusammen essen gehen. Als wäre das nichts.« Ich gluckste, obwohl mir überhaupt nicht nach Lachen zu Mute war. »Verdammte Scheiße!«, zischte ich und griff mir mit beiden Händen ins Haar. Tristan sah mich von der Seite an und schwieg. Als Teenager sagte ich mir, dass ich alleine klar käme, dass ich niemanden bräuchte und das Leben eben nicht fair war. »Serenity. Sie ist kein Kind mehr, sie ist – so erwachsen geworden«, brachte ich hervor und suchte Yugis Blick, der mir seine Hand auf die Schulter legte und zudrückte. »Du bist auch keins mehr«, erwiderte er leise und ich schluckte. Stille. Das Problem war, ich wollte nicht alleine sein. Tristan raschelte mit dem Popcorn, hielt mir die Türe hin und ich stopfte mir das Zeug in den Mund. »Was soll ich ihr sagen?«, murmelte ich. »Ich weiß nicht mal, worüber ich mit ihr reden soll! Ich kenn sie kein Stück, verdammt! Und sie ist blind! Blind! Und – mein – der Sohn meiner – dieser Junge!« Stille. Ich starrte auf meine Finger, die sich ineinander verknoteten und dann in meine Hose griffen. »Unsere Alten waren nicht das, was man sich wünscht«, holte Tris aus. »Mh.« Ich verdrehte die Augen. Das war wirklich nichts Neues. »Aber guck, was trotz allem aus uns geworden ist, Kumpel.« Tris packte mich im Schwitzkasten und zog mich zu sich heran. »Vielleicht wussten’se es nicht besser. Aber du weißt‘s besser, Joey. Und wenn du nicht zu deiner kleinen Schwester gehst und zu deinem kleinen Bruder, dann bereust du‘s vielleicht fürn Rest deines Lebens.« Mein Blick fuhr zu ihm hoch. Meine kleine Schwester. Mein kleiner Bruder. Es war seltsam, ihn das sagen zu hören. Ich schlug meinen Arm vor mein Gesicht und ließ mich nach hinten auf die Matratze fallen. Aber ich wusste, dass er Recht hatte.   Am nächsten Tag lag ich im Bett, meine Arme hinterm Kopf und starrte an die Decke, dann mein Handy an, dann an die Decke, dann mein Handy. Ich müsste nur ein paar Anrufe tätigen, nur nach ihrer Nummer fragen, ich könnte sie wahrscheinlich noch heute sehen, aber – ich starrte wieder an die Decke. »Hier ist schon das Zimmer. Er liegt auf dem Bett. Soll ich –« »Schon okay, ich will nicht lange stören.« Ich erstarrte, mein Blick raste zur Tür, an der sie stand und Yugi sie an der Hand führte. Serenity lächelte in seine Richtung, dann schaute sie in das Zimmer, wahrscheinlich dorthin, wo sie mich vermutete. »Joey? Es tut mir leid, wenn ich dich überfalle, aber –« Ich setzte mich auf. »– Mutter ist bei Vater im Krankenhaus und ich – ich wollte dich sehen.« Da war ein Zittern in ihrer Stimme, das mich meine Augen zusammenpressen ließ. Mich sehen? Wann hatte sie mich sehen wollen? Wann hätte sie es gekonnt? »Schon gut«, erwiderte ich, erhob mich, um mitten im Raum stehen zu bleiben. »Willst du dich – setzen  oder so?« »Mh. Wenn es für dich okay ist?« »Klar, natürlich.« Noch ehe ich das Wort ausgesprochen hatte, wusste ich, wie unsinnig es klingen musste. Vor allem nach unserer ersten Begegnung. Ich machte ein paar weitere Schritte, um sie irgendwie zu führen, aber sie hielt mich auf. »Ist schon gut. Ich bin blind, nicht blöd.« Diesmal lag ein verschmitztes Lachen in ihren Worten. Sie orientierte sich mit ihrem Stab, nickte und schritt an mir vorbei. »Ich nehme an, hier ist – ah, das Bett!« Erstaunen erfüllte mich, als ich zu ihr zurücksah. »Verdammt! Woher wusstest du das?«, platzte aus mir hervor und sie kicherte. »Yugi meinte doch, du hättest auf dem Bett gelegen. Und von hier kam deine Stimme vorhin her.« Es war genial, aber auch ein bisschen gruselig. Genau das sagte ich ihr. Sie sah aus, als hätte ich ihr geschmeichelt, dann streckte sie mir ihre Zunge heraus und lachte. Ihr Lachen steckte mich an. Es war so, als gäbe es keinen Grund, nicht zu lachen und es kitzelte in meinem Bauch. Irgendwann verebbte es und die Stille in dem Raum dröhnte in meinen Ohren. »Wie geht es dir, Joey?« Die Frage brachte meine Gedanken zum Stolpern. Ich schaute sie an und ich wusste nicht, ob ich wieder lachen sollte. Was antworteten Brüder auf solche Fragen ihrer Schwestern, die sie acht Jahre lang nicht mehr gesehen hatten? »Gut«, behauptete ich, »und dir?« Auf ihrer Stirn erschienen Falten und wo eben noch ein Lächeln zwischen ihren Worten hing, stand jetzt Ernst. »Seto Kaiba hat mich angerufen«, ich wollte aufspringen und seinen Hals umdrehen, aber sie ließ den Gedanken daran mit ihren nächsten Worten verschwinden, »stell dir vor. Ich dachte erst, mich will jemand auf den Arm nehmen«, sie kicherte, dann seufzte sie, »er meinte, dein pathetischer Zustand zerre an seinen Nerven und er würde einen Besuch meinerseits befürworten. Ich habe auch mit Yugi gesprochen. Es tut mir leid, wenn das nicht angebracht war, aber –« Ihre Finger spielten mit ihrem Rock. »Ich denk oft an dich. Und Mama auch.« Ich riss meine Augen auf, öffnete meinen Mund, ein dumpfes Geräusch sprang über meine Lippen, als hätte jemand ein Kissen auf mein Lachen gestopft. »So einen Scheiß habe ich schon lang nicht mehr gehört«, brummte ich und fuhr mir über die Stirn. »Ich erinnere mich nicht dran, was damals genau war«, entgegnete sie und seufzte, ihre Hand tastete nach meiner und obwohl ich zusammenzuckte, zog ich sie nicht zurück. »Aber ich kann dir eins sagen. Sie hat dich nicht vergessen.« »Ich sie leider auch nicht«, knurrte ich. Serenity widersprach mir nicht, aber ich konnte in ihrem Gesicht sehen, dass es ihr wehtat. Ich wollte ihr nicht mehr Schmerzen zufügen, aber meine Worte sprudelten aus mir heraus. Die Wut, die Angst, die Bilder, wie sie mit einem Koffer vor mir stand, Serenity einen Teddybären in der Hand, sich verabschiedete, als würden wir uns morgen wieder sehen. Aber der nächste Tag kam nie. »Wenn diese – wenn sie nur einmal an mich gedacht hätte, dann hätte sie mich nicht zurückgelassen. Als wäre ich ein verkacktes Möbelstück, das nicht mehr in den Transporter gepasst hat! Scheiße! Ich war erst acht, Serenity, und von einem auf den anderen Tag wart ihr weg. Ich dachte, ich – ich –« Ich stützte mein Gesicht in meine Hände. Hinter meinen Augen brannte es. »Ich weiß«, flüsterte sie, »ich – dachte, es wäre nur für ein paar Tage. Ich dachte, es wäre wie Urlaub. Ich hatte als Kind nicht verstanden, dass – manchmal verstehe ich es noch immer nicht.« Ihre Hand streichelte meinen Rücken entlang und sie saß neben mir auf der Bettkante, lauschte mit mir in die Stille des Zimmers und mein Schniefen, das ich versuchte zu unterdrücken. Es kamen keine Tränen, nur das Gefühl, ein Band in den Händen zu halten, das zerrissen worden war und das immer wieder auf der Naht aufplatzen würde. »Jacob ist jetzt fast acht«, murmelte sie, als mein Schniefen verebbte und mein Blick kletterte zu ihr. »Jacob?«, fragte ich und sie nickte. Ihre Finger klammerten sich um meine und in ihren Mundwinkeln wuchs ein Lächeln. »Er ist – er ist bei Mama. Aber ich könnte ihn abholen und –« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Du musst ihn nicht wieder treffen, wenn du nicht willst, wenn es dir – zu viel ist oder so.« In meinem Bauch fuhr eine Achterbahn Überschläge und Schrauben. Mein erster Impuls war, abzulehnen. In meinen Schläfen pochte es. Mein Magen rebellierte und in meinem Kopf herrschte Müdigkeit, aber dann sah ich Serenity an. Sie streckte ihr Kinn und schaute an die gegenüberliegende Wand, spielte mit ihren Füßen und lächelte, während ihre Finger sich mit meinen verknoteten, so wie damals. In meinem Hals entstand ein Klumpen. Ich räusperte mich. Unsere Mutter hatte mir schon genug gestohlen. »Lass uns gehen«, sagte ich und zog sie auf die Füße.   Ich wollte weder meinen Vater, noch meine Mutter sehen. Wir schritten den Gang zum Zimmer im Krankenhaus entlang und ich verlangsamte meine Schritte, als ich die Tür entdeckte. Serenity neben mir bemerkte das. »Weißt du«, begann sie, »warte doch kurz hier. Wir sind gleich zurück.« Sie schenkte mir ein Lächeln und ich blieb stehen. Als die Tür hinter ihr zuschnappte, brannte sich etwas in meinen Magen. Was zur Hölle tat ich hier? Was sollte ich mit diesem Kind anfangen? Was erwartete Serenity? Was, wenn er ein Bengel war? Ich erstarrte. Natürlich. Er war mit Sicherheit einer. Was machte man mit Kindern? Was mochten Kinder? Was, wenn ich ihn verletzte? Was, wenn ich mich wie ein Idiot dranstellte? Ich erschauderte. Mit einem Zittern zog ich mein Handy aus der Tasche. Es tütete ein paar Mal, ehe es klickte und ich seinen Atemzug hörte, so, als müsste er sich zurückhalten, mich nicht gleich verbal fertig zu machen. »Wheeler, was willst du?«, schnarrte er. »Ich muss mit dir reden.« Als wäre das nicht offensichtlich. »Ich arbeite«, erwiderte Kaiba. »Was hast du mit deinem kleinen Bruder gemacht, als er fast acht Jahre war?« Stille. »Soll ich in meinem Kalender nachschauen?«, fragte er trocken und ich knurrte. »Ich mein's ernst, Geldsack.« »Ich auch«, behauptete er. »Was, wenn ich ihn verletze?«, brach aus mir hervor. »Verdammte Scheiße. Wenn er auf die Straße rennt und ich nicht hinseh und er fällt und –« »Mokuba ist alt genug, um sicher über eine Straße zu gehen.« Kaiba klang mehr als genervt, »Ich red nicht von deinem kleinen Bruder«, zischte ich, »ich sprech von meinem!« Stille. Ich erstarrte. Blut sackte in meine Füße und ich glaubte, der Boden drehte sich. Ich hatte einen Bruder. Ich hatte einen kleinen Bruder. Ich hatte es gerade selbst gesagt. Einen kleinen Bruder. »Kauf ihm ein Eis.« Kaibas Stimme klang merkwürdig. »Echt jetzt? Das ist dein toller Tipp?« »Am besten im Becher. Dann sieht er danach nicht aus, als hättest du ihn darin getunkt. Am besten, du kaufst dir das Eis auch im Becher, wenn du schon dabei bist.« Die Trockenheit seiner Worte rieb wie Sandpapier über meine Nerven. »Geht auf den Spielplatz. Da findet sich auch deine geistige Altersgruppe, Hündchen. Und gegen sechs Uhr holt euch Roland ab. Es gibt Spaghetti mit Tomatensuppe.« »Das klingt nicht mehr ganz so bescheuert«, seufzte ich, dann runzelte ich die Stirn »hey, warte mal!« Er hatte schon aufgelegt. Mit einem Schnauben lehnte ich mich gegen die Wand und fixierte die Tür, bis ich blinzeln musste, weil meine Augen zu brennen begannen. Was, wenn er mich hasste? In dem Moment schob ein blonder Junge die Tür auf, seine Strähnen standen ab und ließen ihn wie einen Chaoten aussehen. Ich kannte das Problem. Er hielt Serenity an der Hand, der er gerade etwas erzählte, dann fiel sein Blick auf mich und ich hielt den Atem an. »Bist du Joey?«, fragte der Junge, obwohl es nicht wie eine Frage klang. Wahrscheinlich hatte Serenity ihm von mir erzählt. Oder meine Mutter. Ich bevorzugte Variante eins. Ich stieß mich von der Wand ab und fuhr mir durchs Haar, während ich nickte. »Und du Jacob«, sagte ich. »Du bist das letzte Mal weggerannt. Machst du das wieder?« »Jacob«, rügte Serenity sanft, aber ich schnaubte amüsiert. »Nö«, sagte ich nur und wir schlenderten nebeneinander den Gang hinunter. »Warum?«, wollte der Junge wissen und er betrachtete mich mit einem Argwohn, der mir nicht gefiel. »Weil wir jetzt Eis essen gehen«, erklärte ich und sah, wie seine Mimik aufhellte.   Jacob schaffte es, sich trotz Becher irgendwie mit dem Schokoladeneis vollzuschmieren, was Serenity zum Lachen und mich zum Verzweifeln brachte. Irgendwann gab ich auf und genoss einfach die Sonne und das Eis und Serenitys Geschichten, was die Personen, die an uns im Park vorbei spazierten wohl miteinander zu tun hatten und wer sie waren. Ich beschrieb ihr die Leute, sie erfand den Rest. »Mh, übrigens. Passt es, wenn wir heute Abend bei Kaiba essen? Wann müsst ihr zurück?«, fragte ich, während sie ihr Eis schleckte und ich in die Sonne blinzelte. »Passt«, erwiderte sie und nichts mehr. Ich nahm es hin. Wir saßen auf einer der Bänke, die Sonne in den Gesichtern und vor uns ein Brunnen. Ein paar Kinder tummelten sich am Wasser, Mütter schoben Kinderwägen vorbei, Hunde rannten einer Frisbee hinterher. Es war dieses Sommerfeeling, das den Stress aus den Gliedern sog und gute Laune verbreitete. Ich lehnte mich zurück und spachtelte mein Eis, kommentierte Serenitys Geschichte über zwei ältere Leute, von denen sie sich zusammenreimte, dass sie sich erst nach einer unglücklichen Heirat mit anderen Partnern und nach einem Krieg gefunden hätten und dann den Rest ihres Lebens miteinander verbringen würden. »Stimmt es, dass meine Mama auch deine Mama ist?« Jacob fixierte mich. Serenity sog scharf die Luft ein und ich riss meine Augen auf. »Jacob, woher – wie kommst du darauf?«, wollte sie wissen. Ich sah, wie er die Schultern zuckte und wieder sein Eis schleckte, als hätte er eben festgestellt, dass es nicht regnete. »Ich hab's gehört. Mama hat es zu dem Mann im Krankenhaus gesagt, als sie dachte ich hör es nicht. Sie hat mir gesagt, ich kann mir ein Eis kaufen gehen unten im Krankenhaus. Da bin ich aus dem Zimmer und dann hat sie es gesagt. Sie hat gesagt, Joey ist auch ihr Sohn.« Ich ließ den Becher fallen. Das Eis spritzte über den Boden bis ins Gras und ich glaubte, mein Brustkorb würde zerspringen. »Joey, alles – okay?«, fragte Serenity und ich hörte den Stress durch ihren Ton. »Ja, ja. Ich hab nur – hab's nur fallen lassen«, erwiderte ich zerstreut, hob den Becher auf und starrte meine Hände an. Wie in Trance wanderte mein Blick von meinen Fingern, über Serenity zu Jacob und ich hörte mein Herz in den Ohren klopfen. »Ist es so oder nicht?«, fragte Jacob mit kindlicher Unbesonnenheit und ich nickte ihm langsam zu. »Ja, wir – also du – ich – wir sind Brüder«, erklärte ich und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Jacob spitzte seine Lippen, als würde er überlegen. »Hast du Serenity lieb?« Meine Brauen schossen nach oben. »Natürlich«, erwiderte ich und schnaubte, als hätte er mich beleidigt. »Du etwa nicht?« Jacob schaute mich an, als hätte ich jetzt ihn beleidigt und verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust und antwortete mit einem inbrünstigen: »Natürlich!« Neben mir gluckste meine Schwester. Jacob sah mich an, seine braunen Augen ein wenig zusammen gezogen, als dachte er nach. Er schleckte an seinem Eis, von dem mehr auf seinen Fingern als in seinem Becher klebte. »Spielst du DuelMonsters?« Ich blinzelte. Das fiel ihm als nächstes ein? »Jo, und du?« »Ich hab Karten!«, erzählte er und ich konnte dabei zusehen, wie er aufblühte. »Richtig starke Monster!« Dann wich er meinem Blick aus. »Aber ich verlier immer gegen meine Freunde.« Röte legte sich auf seine Wangen, die er aufblähte, als staute sich darin sein Trotz. »Mh, ich kann dir helfen! Ich bin ein richtig erstklassiger Duellant.« Ich reckte mein Kinn und streckte ihm meinen Daumen entgegen. Seine Augen begannen zu leuchten.   Gegen halb sechs, fuhr Roland vor. Als Jacob die Limousine entdeckte, fiel ihm der Kiefer fast auf die Füße. Er riss seine Augen auf und plapperte aufgeregt, als ich ihm verkündete, dass der Fahrer auf uns wartete. War es schlecht, seine kleinen Geschwister damit beindrucken zu wollen? Weil es materialistisch war? Weil das Auto nicht einmal mir selbst gehörte, sondern nur Kaiba? Jacob schaute aus dem Fenster, an dem Villen vorbeizogen und beschrieb sie Serenity, die immer wieder kicherte. Seine großen Augen waren durch seinen Ton hindurch zu hören. Mokuba empfing uns an der Tür, sein Blick klebte einen Moment auf Jacobs T-Shirt, das voller Schokoladenflecken war, aber er grinste nur und sagte nichts und führte uns ins Esszimmer. Jacobs Blick kletterte an den Wänden entlang zur Decke, wo die Malereien von Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick schlängelten, zu den Treppen, die in den ersten Stock führten, die Fenster entlang, vor denen sich der Garten ausbreitete und der Pool. »Wohnst du hier?«, wollte Jacob wissen, als wir am Tisch saßen, er eine Apfelschorle schlürfte und sein Blick durch den Raum zu Mokuba wanderte. »Ja, mit meinem Bruder«, erwiderte er und schenkte sich ein. »Ich hab auch einen Bruder. Stimmt's, Joey?«, entgegnete Jacob und ich verschluckte mich, nickte, während ich nach Luft schnappte. Er schaute mich über sein Glas hinweg an. Sein Blick funkelte, Serenity kicherte und Mokuba grinste.   Vielleicht eine knappe halbe Stunde später zog Kaiba die Tür zum Esszimmer auf und setzte sich dazu. Er trug noch sein Hemd und die Krawatte, die Jacob beäugte, als wunderte er sich darüber, aber den Aktenkoffer hatte er woanders gelassen. »Jacob, das ist Seto Kaiba. Ich hab dir doch von Joeys Freund erzählt«, erklärte Serenity und mir blieb die Spucke weg. »Ja, Freund, also – wir sind sozusagen Freunde irgendwie – schon – wir sind zusammen auf der Schule«, stammelte ich und lachte, fuhr mir durchs Haar und hatte das Bedürfnis meinen Kopf gegen die Tischplatte zu rammen. Kaiba betrachtete mich, als überlegte er, warum er mich nicht von seinem Eigentum entfernen sollte, während Mokuba sein Grinsen in einem Schluck aus seinem Glas ertränkte. Jacob irritierte mein Gestammel nicht. Er betrachtete Kaiba interessiert und legte seinen Kopf schief. »Bist du der, der die DuelDisks macht?«, fragte er und Kaiba lehnte sich zurück. Klar, das streichelte sein ohnehin aufgeblähtes Ego. Ich schürzte die Lippen. »Unter anderem, ja.« »Voll cool«, erwiderte Jacob und funkelte ihn an. Kaibas Mimik reagierte nicht. Stattdessen brachte er Mokuba mit einer Handbewegung dazu, auch ihm ein Glas einzuschenken, während wir auf das Essen warteten. »Und du bist Mokubas Bruder, stimmt's?« Kaiba nickte und nahm einen Schluck. Serenity und Mokuba begannen ein Gespräch, dem ich nicht folgte, weil Jacob meine Aufmerksamkeit an sich band. Er zog sie auf sich, ohne dass ich wusste, wie er es machte. Er sprach voller Inbrunst, seine Augen glänzten, seine Arme wedelten umher, um seine Worte zu untermauern. »Joey ist mein Bruder und er ist ein erstklassiger Duellant!«, plapperte Jacob weiter und Kaibas Blick wanderte von dem Jungen zu mir, während er eine Augenbraue hob. Sein Mundwinkel zuckte und in mir gor die Befürchtung, er würde Jacob über den Mund fahren und mich mit wenigen Worten fertig machen. Auf meiner Lippe lag schon eine scharfe Bemerkung, als Kaibas Blick zu Jacob rutschte. »Mh. Er kennt einige Züge, die auch ein erstklassiger Duellant kennen sollte«, bemerkte er und während es für Jacob wie eine Zustimmung klingen mochte, hörte es sich für mich überraschend diplomatisch an. »Natürlich, Geldsack«, erwiderte ich, streckte mich, während ich mich nach hinten lehnte und grinste, »weil ich einer bin.« Jacob kicherte bei meinen Worten und ich schaute zu ihm. Was war daran denn so lustig? »Geldsack«, wiederholte er, als wäre es etwas Verbotenes und brach wieder in Kichern aus. Mein Blick wanderte zurück zu Kaiba, der mich mit gehobenen Brauen musterte und ich verdrehte die Augen, obwohl mir eher danach zumute war, gegen die Wand zu rennen. Und schon hatte ich begonnen, meinen kleinen Bruder zu verderben. Sein Gekicher brachte mich zum Grinsen.   Wir aßen Spaghetti mit Tomatensoße und Salat und selbst(-von-der-Hausdame-)gebackenes Brot. Jacobs Schokoladenflecken zierten bald auch ein paar Kleckse Tomatensoße auf seinem dunkelblauen T-Shirt. Serenity lächelte, lauschte Jacobs Plapperei und seinen Fragen, welches DuelMonster gegen welches das beste wäre. Mokuba erklärte, dass Zauber- und Fallenkarten das Spiel nicht weniger entschieden. Serenity fragte mich über die Kampagne der KC aus, wobei mich Kaiba immer wieder mit Blicken bremste. Die ich öfters mal ignorierte. Serenity war nicht die Öffentlichkeit, die nur bestimmte Infos bis zum jetzigen Zeitpunkt bekommen durfte. Sie war meine Schwester. Wir spachtelten Kuchen zum Nachtisch und Jacob aß, als hätte er den ganzen Tag noch nichts gehabt. Kaibas Blick wanderte zwischen dem Jungen und mir hin und her und hob die Augenbrauen (»Die Tischmanieren liegen wohl in der Familie.«), Serenity lachte über meine Witze und wiederholte, wie stolz sie auf mich wäre (»Die Kampagne hört sich so interessant an. Ich bin so glücklich für dich, Joey! Und so stolz!«) und Jacob sagte: »Du bist so cool, Joey.« Ich unterlag anderen, war immer abgeschlagen, hinke hinterher. Ich war kein Vorbild. Ich wohnte in der falschen Gegend und kannte die falschen Leute. Selbst unter ihnen war ich besonders – besonders chaotisch, schlagkräftig, laut, frech und beneidet. Aber in diesem Moment, war ich stolz darauf, wer ich war. Und ich war am richtigen Ort. Mit einem Grinsen lehnte ich mich zurück und genoss das Kribbeln auf meiner Haut. Happy End. Es hätte eines sein können.   Gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte es und meine Mutter stand vor der Tür. Serenity drückte sich an mich und Jacob hing mir um die Hüfte, als sie sich von mir verabschiedeten. »Spielen wir mal  DuelMonsters? Können wir das machen, Joey?«, murmelte Jacob in mein T-Shirt und schaute dann hoch zu mir, mit diesen großen Augen, von denen ich schon jetzt wusste, ihnen niemals etwas abschlagen zu können. »Serenity mag das nicht. Sie findet es langweilig. Und ich muss ihr immer die Karten vorlesen, weil sie ja blind ist und so. Und dann kenn ich ihre Karten und das ist blöd.« Mein Blick wanderte von ihm zu meiner Schwester, die bei meiner Mutter im Eingang stand. »Auf jeden Fall, Kleiner«, antwortete ich ihm, während ich den Blick meiner Mutter erwiderte. Sollte sie etwas anderes behaupten, sollte sie nur. Ich würde Serenity nicht noch einmal gehen lassen. Und Jacob genauso wenig. Meine Mutter schwieg, dann schnaubte sie. »Du brauchst mich nicht so anschauen, Joey.« Jacob hing an mir, schaute von seiner Mutter zu mir und zurück. Sie schnappte sich Jacobs Hand und zog ihn zu sich. »Ich habe meine Kinder nie geschlagen«, fuhr sie leise fort. Meine Augenlider weiteten sich, ich erstarrte, dann verengte ich meinen Blick. Serenity zuckte zusammen. Jacob blinzelte. Ich ballte meine Hände, als meine Mutter mir zum Abschied die Hand reichen wollte, die ich erst anstarrte und dann ignorierte. In meinem Magen ätzte Säure. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um.   »Ich hasse sie.« Meine ersten Worte, nachdem die Tür ins Schloss fiel. Kaiba lehnte hinter mir am Türrahmen und beobachtete mich. Ich spürte es im Nacken. Er sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Wir wussten beide, dass es stimmte. Ich kochte. Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Erinnerungen an Koffer und Teddybären und Abschiede. An die Frage, wann sie wiederkommen würde. Und die Antwort, die keiner gab. Bilder von Serenity und uns. An Kindheit und gestohlene Tage zusammen. Gedanken an einen kleinen Bruder, der plötzlich acht Jahre alt war. »Woher wusstest du, dass ich noch einen – dass sie noch einen – von Jacob?«, fragte ich und hasste das Zittern in meiner Stimme. Wut. Trauer. Leere. Stille. Vielleicht wog er ab, wie viel Wahrheit mich zum Ausflippen bringen, wie viel mich aus der mühsam aufrecht erhaltenen Ruhe zur Raserei jagen würde. »Ich rief bei deiner Mutter an, um mich zu erkundigen«, begann er nüchtern, »ob eine Möglichkeit bestünde, dass du bei ihr wohnst. Sicherlich ist dir bekannt, dass sie das Sorgerecht mit deinem Vater teilt.« Egal, wo ich war, ich war nicht am richtigen Ort. Ich sog die Luft ein. Was zur Hölle dachte er sich? Zorn tanzte über meine Haut in meinen Magen und ich presste die Lippen zusammen, um ihn nicht anzubrüllen. Arsch. Idiot. Penner. Die Wut auf meine Mutter sprang auf ihn über. Langsam drehte ich mich zu ihm herum und funkelte ihn an. Er stand einfach da, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken an die Tür gelehnt. »Bevor ich bei der leben muss«, zischte ich, »würde ich sogar bei dir leben!«   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)