Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 57: … bin ein Zuschauer -------------------------------   __________________________________________   Häufig betrachte ich das Leben so wie ein Zuschauer, gleichsam als hätte ich keinen Anteil daran. Und nur bei der Betrachtungsweise sieht man es richtig. Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi    __________________________________________           Ich war kein Geschäftsmann, Erfolgsmensch oder Genie. Für mich zählte nicht zuletzt der Weg, wenn ich das Ziel schon nicht schaffte. Und manchmal konnte mich das Ziel mal, wenn es zu viel verlangte. Kaiba war da anders. Für ihn zählte der Gewinn und nicht der Einsatz, also das Ziel und nicht der Weg. Zumindest dachte ich das eine ganze Zeit lang. Manchmal denke ich es noch immer. Aber er war nicht immer vorbereitet und manchmal hatte er einfach keine Ahnung – nicht, dass ich es besser gewusst hätte. Er arbeitete für das, was er erreichen wollte und erreichte das, was er wollte. Aber manchmal verlangte er zu viel. Manchmal riskierte er zu verlieren, wofür er arbeitete. Und manchmal begriff er zu spät, was der Weg zum Ziel kostete.   »Kaiba?« Das Zimmer war dunkel. Die Silhouette regte sich nicht, saß still auf dem Bett, den Rücken zu mir und ich erwog einen Moment, umzukehren, mich im Wohnzimmer zu verschanzen und so zu tun, als hätte ich nichts gesehen. »Ich habe allen Bescheid gegeben, dass sich Mokuba gemeldet hat. Dass sie nicht weitersuchen müssen«, sagte er und ich war erleichtert, als ich in seiner Stimme kein Zittern oder Schluchzen hörte. Könnte ich einen weinenden Kaiba ertragen? Kollidierte das nicht zu sehr mit meiner Weltvorstellung? »Ja, das ist gut. Denke ich mal.« Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was das alles hieß. Vorhin hatte ich noch geglaubt, etwas zu verstehen. Hatte mir angemaßt, Kaibas Handeln zu beurteilen, ihn zu verurteilen. Wer tat seinem kleinen Bruder schon so etwas an? Immer seine scheiß Arbeit. Immer diese Ausreden. Immer die Prioritäten, die er so verdammt falsch setzte. Und jetzt stand ich hier, musterte Kaibas Rücken, die Schatten, die an den Wänden tanzten und stand vor einem Abgrund, der tief in die Vergangenheit reichte. Wer tat einem kleinen Jungen schon so etwas an? »Kaiba«, flüsterte ich, als befürchtete ich, etwas aufzuschrecken. »Nicht jetzt.« Seine Stimme klang nicht einmal abweisend oder kühl. Da war so viel Müdigkeit, die er in seinem Alter noch gar nicht kennen sollte. Mit einem unterdrückten Seufzen ging ich an seinen Schrank, zog eines seiner Shirts heraus (die ohne Kragen, die einfachen weißen mit dem KC-Print auf der linken Brustseite) und wechselte von meinem Zeug in mein quasi-Zeug. Dann warf ich ihm seinen Schlafanzug (dunkelblau, KC-Print auf der linken Brustseite, keine Krawatte) aufs Bett. Er zuckte nicht zusammen, knöpfte einfach sein Hemd auf. Ich sah es nicht, hörte nur das Rascheln von Kleidung, wandte mich ab und verschwand im Badezimmer, wo meine Zahnbürste stand (orange), neben seiner (dunkelblau). Mein Spiegelbild stierte mir mit gerunzelter Stirn entgegen und zu viel Zahnpasta im Mund, die mir über die Lippen lief. »Appetitlich, Wheeler«, hörte ich ihn hinter mich treten und ich holte mit meinem Ellenbogen aus. Er wich mir aus – das schaffte er zu neunzig Prozent. Wenn ich es zuließ. Er griff nach seiner Zahnbürste und erwiderte meinen Blick über den Spiegel. Ich wollte ihm sagen, dass alles wieder werden würde, dass es nur halb so schlimm war, wenn der kleine Bruder abhaute und erst am nächsten Tag wiederkommen wollte. Aber war es das? Woher sollte ich das wissen? Kaiba brauchte keine Halbwahrheiten hören. Er kannte sie selbst. Und die Wahrheit war, dass wir nicht wussten, wie schlecht es Mokuba wirklich ging. Nicht körperlich, sondern alles Andere. Also schwieg ich und spülte meinen Mund ohne ein weiteres Wort. Als ich im Bett lag – Kaiba duschte gerade, ich hörte das Prasseln des Wassers – schrieb ich Serenity schnell eine Nachricht, dass alles okay war (was war schon okay?), dass ich irgendwann morgen wieder zurückkommen würde (ich schaffte es nicht, nach Hause zu schreiben) und legte mein Handy dann auf den Nachttisch. Meine Arme hinter dem Kopf gefaltet, starrte ich an die Decke und lauschte, wie Kaiba das Wasser ausstellte und die Duschkabine öffnete. Seit wann war es so selbstverständlich, hier zu übernachten? Als er sich neben mich legte, roch ich das Duschgel und das Shampoo und schloss die Augen, tastete, bis ich seinen Arm fand. Ein Grinsen zupfte an meinen Mundwinkeln. »Wheeler, deine Hände sind kalt«, knurrte er. »Und deine Füße auch.« Er zuckte entgegen der Worte keinen Zentimeter zurück und ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass das ein Grund war, warum ich an ihn heranrückte. Noch die Hitze der warmen Dusche spürte (Kaiba war ein echter Warmduscher) und das Gefühl, seine Haut auf meiner. »Für einen Kühlschrank bist du ziemlich – warm«, murmelte ich, balancierte zwischen wegstoßender Distanz und erdrückender Nähe und presste meine Nase an seinen Oberarm. Ich hörte, wie er schnaubte und ich gluckste gegen den Stoff seines Shirts. Für einen Augenblick war es so, als wäre es leicht. Als gäbe es da kein von innen und von außen, keine fremden Meinungen, keine Erwartungen. Kein Halbwissen und Vergangenheit und Zukunft. Nicht die Sorge, falsche Entscheidungen zu treffen, die nach und nach alles zusammenbrechen ließen. Aber das war eine Lüge. Ich atmete tief ein, atmete ihn und dann wand ich mich unter dem Gewicht der Frage. Da waren so viele Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt hatte. Und vielleicht war es zu spät, jetzt damit anzufangen. Vielleicht wäre es immer zu früh gewesen, bis es dann zu spät gewesen war. Vielleicht würde er mich aus dem Bett stoßen, mich rauswerfen und nie wieder ansehen. Und wahrscheinlich musste ich mit dem Risiko leben. »Warum hast du ihn nicht abgeholt?«, flüsterte ich. Ich hatte immer mit dem Risiko gelebt. Innerlich zählte ich seine Atemzüge und sog die Wärme in mich auf, die er von sich gab, unterdrückte den Impuls eine seiner feuchten Strähnen aus seiner Stirn zu streichen. In seiner Mimik tanzten Schatten. »Mokuba wird seine Gründe haben, jetzt dort zu sein.« Nicht, dass ich auch nur einen verstand. Vielleicht war es für ihn so etwas wie ein Ort voller Vertrauen? Eine Erinnerung an seine Kindheit? Hatte Kaiba jemals davon gesprochen? Waren seine Erinnerungen an die Zeit gut oder eher schlecht? Wie war es Mokuba dort eigentlich ergangen? Und warum berichteten Zeitungen immer nur über Schwachsinn, wie Kaibas Lieblingsfarbe und wie toll er mit Technikzeugs war – und ließen das wirklich Wichtige einfach unbeachtet? »Es ist das Waisenhaus, in dem ihr aufgewachsen seid, oder?« Ich sah, wie seine Kiefer aufeinander mahlten und wusste, er würde nicht antworten. Die Lösung war zu offensichtlich. Kaiba antwortete nicht auf halb-rhetorische Fragen. »Du redest nie drüber«, fuhr ich leise fort. »Deswegen –« »Es gibt darüber nichts zu reden.« »Okay«, murmelte ich. »Ich dachte nur –« »Denk nicht zu viel, Wheeler.« Ich verdrehte die Augen. »Ich dachte nur, dass du ihn sofort abholen würdest. Vorhin warst du kurz davor dich in irgendwelche virtuellen Dingsdas zu hacken und jetzt, wo du weißt, wo er ist –« »Halt die Klappe, Wheeler. Ich gehe dort nicht hin. Und jetzt schlaf.« Er zog demonstrativ die Decke höher und ich hob die Augenbrauen. Was war das für eine schwachsinnige – und dann bröselte etwas von der fetten Mauer Unverständnis ab. Vielleicht ging es gar nicht um Mokubas Kindheit. Vielleicht war Mokuba nicht dorthin geflüchtet, weil er sich dort so wohl fühlte. »Aber –« »Ich habe bereits gesagt, dass Mokuba seine Gründe hat. Und ich respektiere sie. Für heute.« Ich wünschte mir, es würde sich nicht so sehr nach einer Warnung anhören. Mit einem gedämpften Seufzer presste ich die Augen zu und tat so, als stünde uns morgen keine Explosion bevor.   Von außen betrachtet wirkte Seto Kaiba stets beherrscht, als schwebte er über uns allen und würde niederen Instinkten nicht erlegen. Oder gar Gefühlen. Wenn man ihn genauer betrachtete und hinter die Maske schaute, die er jeden Tag der Welt präsentierte, dann bemerkte man nach und nach, dass es reine Show war. Wir saßen am Tisch, der für gefühlt vier Menschen mehr gedeckt war, als hierhockten. Ich biss in mein Nutella-Brot, während Kaiba in eine Zeitung starrte. Zu siebenundachtzig Prozent war ich mir sicher, dass er sie eigentlich gar nicht las, sondern sie sich nur vors Gesicht hielt, um meinen Smalltalk nicht frontal zu erleiden. Natürlich hielt mich das nicht ab. Die Stille war schlimmer als Kaibas höhnische Kommentare. »Und was machst du heute noch so?«, fragte ich. Schweigen, er blätterte die Seite um und ich verdrehte die Augen, rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Arbeiten.« »Wie läuft das jetzt eigentlich mit dem Turnier und so?« Er machte ein Geräusch, was ich als »gut« interpretierte. »Wie geht’s dem Team in den Animation Studios?« Er zuckte die Schultern und ich unterdrückte den Impuls, ihm die Papiere aus den Händen zu reißen und ihn anzubrüllen, was wir jetzt tun wollten. Ob er den Sturm tatsächlich ignorieren würde oder wenigstens den Kopf einzog. Aber Kaiba würde das nie tun. »Wie geht es Sarah?« Er schaute über die Zeitung hinweg. »Du weißt, wo ihr Büro ist, Wheeler. Wenn dir so viel daran liegt, frag sie selbst. Ich engagiere mich nicht in Smalltalk.« Von außen betrachtet wirkte Seto Kaiba stets beherrscht, als trampelte er ohne eine Gefühlsregung über die Träume anderer hinweg, um seine eigenen Ziele zu verwirklichen. »Ich versuche nur, dich –« Er rieb sich die Nasenwurzel, warf mir einen Blick zu und vergrub sich wieder in den Artikeln. Er wusste es. Mit einem Seufzen betrachtete ich mein Brot. Ablenkung brachte auch nichts. Früher oder später würde der Sturm über uns hereinbrechen. Vielleicht war es besser, sich darauf vorzubereiten. »Warum glaubst du ist Mokuba ausgerechnet dorthin?«, murmelte ich. Kaiba interessierte sich nicht für andere, für die Ziele – wenn es nicht ihm selbst diente – oder die Sorgen anderer Menschen. Zumindest ließ er das die Öffentlichkeit glauben. Das Problem war, wenn es um die Träume seines Bruders ging. »Ich weiß es nicht.« Irritiert sah ich auf. Diesen Satz aus seinem Mund. Ich hob die Augenbrauen und öffnete den Mund, schluckte aber die erstbeste Bemerkung hinunter, setzte anders an. »Du musst doch irgendeine Vermutung haben, irgendwas –« »Nein«, behauptete er und stierte wieder in die Zeitung und ich nippte am frisch gepressten Orangensaft. Wenn man genauer darauf achtete, war Kaiba ein mieser Lügner. »Warum bist du eigentlich nicht –« »Wheeler«, knurrte er und es klang nach einem Sturm, aber dann hörten wir, wie jemand die Tür aufschob und Kaibas blitzende Augen drehten sich dorthin. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich Mokuba schütteln oder fest in die Arme nehmen sollte, ob ich ihn anschreien oder vor Erleichterung lachen, ob ich glücklich oder traurig sein sollte. Er stand da, der Blick auf seine Schuhe gerichtet. Seine Locken standen vom Kopf ab, als wäre er aus dem Bett gefallen und seine Augenlider wirkten schwer. Ich entschied mich für eine Mischung und Mokuba verstummte, als ich ihn an mich drückte, während ich ihm drohte, ihn büßen zu lassen, uns so Sorgen zuzumuten. Kaiba beobachtete uns. Ich spürte seinen Blick meinen Hinterkopf verbrennen, als ich Mokuba umarmte und er die Umarmung zögerlich erwiderte. Nach einigen Augenblicken hörte ich, wie Papier raschelte, wandte mich um und sah, dass er die Zeitung zuklappte, seine Arme vor der Brust verschränkt. Mokuba löste sich aus meinen und stand da. »Hallo«, murmelte er. Als hätte ihm jemand befohlen, barfuß über Glasscherben zu gehen. Kaiba schwieg, zog seine Brauen zusammen und betrachtete seinen kleinen Bruder. In meinen Gedanken war Mokuba der kleine Junge, der um Kaibas Beine herumwedelte. Sein treuester Fan und engster Vertrauter. Niemand brachte die beiden auseinander. »Ich –«, begann Mokuba leise und Kaiba erhob sich. Ich war ein Zuschauer. Wie bei einem Unfall, bei dem man nicht hinschauen, aber auch nicht wegsehen konnte. Ich sah es in Zeitlupe geschehen und öffnete den Mund, aber Kaiba kam mir zuvor. »Du hast Hausarrest.« »Aber –« Kaibas Blick schweifte an Mokuba vorbei, als hätte er alle Aufmerksamkeit aufgebraucht für heute – oder auf unbestimmte Zeit – und er faltete die Zeitung und ging. Ich war Zuschauer. Ich wollte ihn am Ärmel festhalten und schütteln, was das alles sollte, aber mir fielen nicht einmal die richtigen Fragen ein. »Schön«, schnaufte Mokuba und starrte aus dem Fenster. Seine Schultern zitterten. »Als ob du den mitbekommen würdest«, schrie er ihm nach und das Knacksen in seiner Stimme zerschnitt etwas in meiner Brust. Es kam keine Antwort, keine Regung. Alles blieb still. Als stünden wir im Auge des Sturms. Niemand brachte die beiden auseinander. »Mokuba«, flüsterte ich und streckte meine Finger nach ihm aus. Er wirkte plötzlich zu zerbrechlich, als müsste ich Angst haben, er würde bei einer falschen Berührung auseinanderfallen. Aber Kaiba schaffte es ganz von selbst. »Das wird schon wieder. Hörst du? Er ist irgendwie nur sauer? Weil er sich Sorgen gemacht hat. Keine Ahnung.« Mokuba Strähnen fielen in sein Gesicht, er rührte sich nicht, aber widersprach auch nicht. Dabei konnte ich die Lüge auf meiner Zunge schmecken. Da war so viel mehr, was ich nicht sah, aber im Blickwinkel erahnte.   »Vielleicht solltest du es akzeptieren«, sagte Thea über das Magazin hinweg, das eine Frau in Tanzklamotten zeigte. »Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre. Vor allem, wenn es um so etwas Delikates geht.« Niemand widersprach ihr, aber ich verzog das Gesicht. Wir saßen in meinem Zimmer. Yugi blätterte in einem Manga und Tristan schaute ab und an von seinem Gameboy auf und warf Serenity Blicke zu, die ich nicht guthieß. Ich schlug meine Hand gegen seinen Hinterkopf und er stieß mit seiner Faust gegen meinen Arm. Mit verengten Augen stierte ich unbeeindruckt zurück, dann senkte ich meine Schultern und atmete lang aus.   »Aber ihr hättet die beiden sehen müssen«, murmelte ich und ließ mich neben Yugi aufs Bett fallen. »Und ich wusste nicht einmal, wie das Waisenhaus hieß, wo sie aufgewachsen sind. Die Zeitungen schreiben doch jeden Scheiß über Kaiba. Warum weiß man so etwas nicht?« »Datenschutz?«, warf Tristan mit einem Schulterzucken ein, ehe sein Blick wieder zu Serenity wanderte und ich ihn am Kragen packen und ihm einen angemessenen Abstand von meiner Schwester vorführen wollte. »Aber haben damals nicht Zeitungen berichtet, als er Gozaburo Kaiba im Schach geschlagen hatte?«, überlegte Yugi laut und ich ließ von Tris ab. »Vielleicht findest du so etwas heraus.« Ich riss meine Augen auf und warf mich dann halb auf Yugi, wuschelte durch sein Haar, was er mit einem »Nicht, meine Frisur« quittierte und dann sprang ich vom Bett. »Sehr gut! Los geht’s!«, rief ich und streckte meine Faust in die Luft, spürte die Blicke meiner Freunde auf mir. Langsam ließ ich meine Hand sinken und kratzte mich am Hinterkopf, wandte mich zu ihnen um. »Äh – und wo finde ich so alte Zeitungen und so?« Thea verdrehte die Augen, Tris schnaubte, Yugi lächelte und Serenity kicherte. Ich zuckte die Schultern und grinste schief.   Für mich zählte nicht zuletzt der Weg, wenn ich das Ziel schon nicht schaffte. Und manchmal konnte mich das Ziel mal, wenn es zu viel verlangte. Für Kaiba machte ich eine Ausnahme. »Ich glaube echt, man findet alles dort. Alles!«, rief ich entzückt, blickte voller Begeisterung die Regale entlang, streifte durch die Gänge und öffnete den Mund, aber Tris klopfte mir auf meinen Kopf und ich verstummte. Die Bibliothekarin betrachtete mich amüsiert. »Man könnte fast denken, du wärst noch nie in einer Bücherei gewesen«, seufzte er und ich schnaubte. »Als ob du hier schon so oft warst, Alter.« »Ich war hier öfters als du.« »Wer’s glaubt.« »Ich habe sogar einen Büchereiausweis.« »Erzähl doch keinen Scheiß!«, erwiderte ich ungläubig und boxte gegen seine Schulter. Tris stieß mich zurück, ich stolperte einen Schritt nach vorne, lachte und von irgendeiner Ecke kam ein lautes »Pscht!«. Thea verdrehte die Augen und setzte sich an einen der PCs zwischen den vollgestopften Bücherregalen. Yugi ging zu der Frau hinter dem Schreibtisch, die ihre Brille auf der Nase zurechtrückte, während er mit ihr wisperte. »Was machst du?«, fragte ich und sah Thea über die Schulter. Sie scrollte weiter, notierte irgendwelche Buchstaben und Zahlen auf einem Zettel, die hier überall auf den Tischen herumlagen. Für mich ergaben sie keinen Sinn. »Das wirst du gleich sehen.« Sie lächelte, warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu, erhob sich und ließ mich stehen. Ich sah, wie sie mit der Bibliothekarin sprach und ihr diesen Zettel übergab. Die Frau nickte und verschwand durch eine Tür. Dann wandte sich Thea Yugi zu, sie unterhielten sich. Sie lehnte sich leicht an ihn. Wahrscheinlich bemerkten die beiden es nicht einmal. Sie drückte seine Hand, er lächelte verlegen und erwiderte es. So standen sie Seite an Seite, Hand in Hand und warteten auf die Bibliothekarin. Yugi warf Thea immer wieder von der Seite Blicke zu, als gäbe es hier nichts Anderes zu bewundern. Als wäre sie die einzige Person. Und als sie es bemerkte, strahlte sie ihn an. In meinem Bauch zog sich etwas zusammen. »Hey, Joey. Alles klar?«, wisperte Tris und betrachtete mich, als suchte er etwas in meinem Gesicht. »Jopp«, erwiderte ich und wandte von den beiden ab. Mein Blick fiel auf die Frau, die endlich wieder zurückkam. »Wow, guck mal. Was bringt die denn alles?« Die Bibliothekarin trug etliche Zeitungen und Zeitschriften, bedeutete uns, ihr zu folgen und führte uns in einen Raum mit Tischen und Stühlen und Sofas. In der Ecke standen ein Kaffeeautomat und eine Pflanze. Am Fenster liefen Passanten vorbei, telefonierten oder starrten stur auf den Boden und bemerkten uns nicht. Mein Blick fiel auf die Zeitungen, die die Bibliothekarin auf dem Tisch ausbreitete. »Bitte, nehmen Sie sich Zeit. Ich bin nebenan, falls Sie noch etwas benötigen«, sagte sie und lächelte. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, blinzelte ich. Mein Blick huschte von einem Bild zum nächsten, von einem Titel zum anderen. Tris ließ sich mit einer x-beliebigen Ausgabe auf dem Sofa nieder, Thea zog sich einen Stuhl heran und durchforstete die Zeitungen nach Jahr und Yugi legte seine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen. »Na, dann«, meinte er und lächelte mich von unten an, »bist du bereit?«   Ich war kein Geschäftsmann, Erfolgsmensch oder Genie. Kaiba war da anders. »Seto Kaiba, vierzehn, gründet eigene Firma«, las Thea vor und strich eine Zeitung glatt. Sie legte den Kopf schief. »Nach zähen Verhandlungen mit dem Amtsgericht, wurde Seto Kaiba eine Sondererlaubnis gestattet. Damit war es Seto Kaiba, vierzehn, möglich, sich bevormunden zu lassen und seine eigene Firma zu gründen.« »Achtjähriges Schachwunder schlägt langjährigen Champion«, las Yugi leise vor und Tris pfiff durch die Zähne. »Seto Kaiba, elf Jahre, kann bereits seinen ersten Appstore-Hit verbuchen. Sein Spiel wurde bereits mehr als eine Millionen Mal heruntergeladen. Alter, was für ein –« Tristan fehlten die Worte. Mir auch. »Das – das ist Kaiba?«, fragte ich und klang schockiert. Thea schmunzelte. »Unglaublich, wie er von dem«, ihr Zeigefinger berührte das Zeitungspapier, das einen kleinen Jungen mit einem zaghaften Lächeln zeigte, »zu dem wurde, oder?« Sie zog die andere Zeitung heran und deutete auf Kaiba, wie er mit sechzehn finster in die Kamera funkelte und einen Kommentar verweigerte. Vor meinem inneren Auge zogen diese Bilder vorbei, wie Ausschnitte. Kaiba als kleiner Junge mit Mokuba an der Hand. Er lächelte, als könnte niemand ihnen etwas antun. Als könnte sie niemand trennen. Als wäre alles gut, solange sie zusammenblieben. Kaiba, dessen Füße nicht einmal den Boden berührten, als er diesen übergewichtigen Geschäftsmann besiegte. Das Lächeln, das immer mehr verblasste. »Moment, das ist er, oder?«, rief ich und blätterte eine Seite zurück. »Das ist Gozaburo Kaiba!« Wir rückten zusammen, unsere Nasenspitzen fast auf dem Bild, das einen Mann mittleren Alters zeigte, mit streng gekürztem Haar und Schnauzer, einem roten Anzug und einem Blick, der vom Unheil der Welt erzählte. »So ein unsympathischer Bastard«, murmelte ich. »Joey«, rügte Thea. »Oh, bitte. Du hast dasselbe gedacht.« Sie seufzte, widersprach aber nicht. Kaiba, der neben Gozaburo stand und in seiner Präsenz fast ertrank. Da war so eine Ausstrahlung, die von letzterem ausging, die mich den Mund verziehen ließ. Für ihn zählte der Gewinn und nicht der Einsatz, also das Ziel und nicht der Weg. »Was haben die aus diesem Jungen gemacht?«, murmelte Tris und fuhr sich durchs Haar. Unsere Blicke schweiften über die Zeitungsartikel, über das achtjährige, das neunjährige, das zehnjährige Wunderkind. Wie sich seine Haltung änderte, wie seine Augen immer weniger an Kind erinnerten. Zurück zu dem elfjährigen, zwölfjährigen und dreizehnjährigen Überflieger, der sich seinen Weg in die Geschäftswelt erzwang. Ich war Zuschauer. Als wuchs er gerade vor mir heran, wie im Zeitraffer. Weiter zu dem vierzehnjährigen, fünfzehnjährigen, sechzehnjährigen Unternehmer. Es gab nichts, womit ich es hätte aufhalten können. Seto, der kleine Junge, verschwamm vor meinem Blick und zurück blieb nur Kaiba, der kalkulierende Geschäftsmann. Und manchmal begriff man zu spät, was der Weg zum Ziel kostete. Wer tat einem kleinen Jungen schon so etwas an? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)