Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 58: ... bin auf dem Weg ------------------------------- __________________________________________   Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht. Aus China   __________________________________________           Mein Einfluss reichte von meinen Freunden über meine Familie zu irgendwelchen Fremden, die glaubten mich zu kennen – oder wohl eher umgekehrt. Während Kaiba wusste, wie er Menschen nutzen musste, um Geschäfte abzuschließen, stolperte ich meistens von einer verpassten Chance zur nächsten, vergaß Klassenarbeitstermine und Hausaufgaben. Obwohl ich zwischenmenschlich gut gewappnet war, konnte ich mir Menschen nicht zu eigen machen. Kaiba blieb ein manipulativer Arsch. Einer, der wusste, was er tun musste, um andere ins Unglück zu stürzen. Sich selbst eingeschlossen.   »Ich liebe das digitale Zeitalter«, murmelte ich und beugte mich zu Thea, die alle möglichen Zeitschriften einscannte, online weitere Artikel fand und mir per Email sendete. »Nur solange, bis sie etwas über dich herauskramen und veröffentlichen und es millionenfach geteilt wird, während du einen Mittagsschlaf hältst«, hielt Tris dagegen. Ich verdrehte die Augen. Tristan musste es immer gleich übertreiben. »Das Problem ist«, begann Thea, »durch die Artikel wirst du einiges an Geschehnissen und Zusammenhängen herausfinden können.« In meinen Ohren hörte sich das super an. Genau das wollte ich doch. Die harten Fakten sozusagen und dann Kaiba damit in seinen arroganten Arsch treten und Mokuba und ihn versöhnen. Wer so viel miteinander erlebt hatte, konnte sich nicht so einfach ignorieren. Oder? Familie blieb immer Familie. Bei dem Gedanken verzog ich den Mund. »Ja, und?«, sagte ich, als sie nicht weitersprach, doch ihre Mimik verriet, dass ihr etwas nicht gefiel. Das war der Blick, mit dem sie mich anfangs bedacht hatte – aber inzwischen nicht mehr, fiel mir gerade auf. Es war seltsam. Seit wann hatte sich das eigentlich geändert? »Du wirst so nichts über Kaibas Perspektive erfahren.« »Was? Wieso? Wir haben da doch eine Menge Zeug über ihn.« »Ja, über ihn.« Sie betrachtete mich und verdrehte die Augen. »Ist doch offensichtlich. Weil er in keinem der Artikel zu Wort kommt. Das sind alles Spekulationen irgendwelcher Fremder, die ihn beobachtet haben und kein einziges Gespräch mit ihm geführt haben. Zumindest nicht, bis er sechzehn war. Da gibt es ein paar Interviews. Aber die drehen sich alle um rein Geschäftliches. Private Fragen ignoriert er oder sie kommen erst gar nicht vor.« Thea war vieles. Sie war oft streitlustig und unnachgiebig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie war aber auch clever und wenn es um Freunde ging, dann tat sie so viel für sie, dass es mir manchmal Kopfschmerzen bereitete. Ich verzieh ihr dafür sogar ihren oberlehrerhaften Ton. Meine Finger strichen über die Zeitungsartikel, die Bilder und Buchstaben auf dem Tisch. Ich seufzte, als mein Blick von Thea, die noch in den Scanner Artikel einlegte und irgendetwas am PC tippte, zu Tris schweifte, der mit den Schultern zuckte, und zu Yugi, der seine Stirn in Falten legte, blieb mein Blick an einer Aufnahme hängen. Im Vordergrund standen Gozaburo und Seto Kaiba, letzterer noch ein Kind, hinter ihnen warteten Anzugträger. Eine blonde Frau mit rotem Businesskostüm und einem Hut hielt Mokubas Hand neben unscheinbaren Männern. »Natürlich!« Ich klatschte meine Hand gegen die Stirn. »Ich habe die Idee!« »Du sprichst mit Kaiba?«, schlug Yugi vor. Ich warf ihm einen Blick zu. »Quatsch«, winkte ich mit der Hand ab. Wie kam er denn auf die irrwitzige Idee? Als nächstes würde ich mit meiner Mutter und meinem Vater in den Zoo gehen und danach ein Picknick machen. »Mit Kaiba darüber reden? Als würde das gutgehen, nein«, fuhr ich fort und sah innerlich schon, wie er mich aus seinem Büro oder Haus warf, mir Beleidigungen nachschmiss und Roland anwies, mich niemals mehr auf hundert Meter nähern zu lassen, »ich werde jemand anderen fragen. Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?« Mein Plan war einfach genial. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich würde ihn kennen und mich würde nichts mehr umhauen. Und dann würden sie sich versöhnen und alles wäre so, wie es sein sollte. Mit einem zufriedenen Grinsen, packte ich einige Kopien in meinen Rucksack und schob ein Bild von einem kleinen Jungen mit braunem Haar und bemerkenswert blauen Augen in meine Hosentasche.   Am liebsten wäre ich sofort in die Firma gerannt, aber nachdem mich Serenity wiederholt anschrieb und es schon nach neun Uhr abends war, verabschiedete ich mich von den anderen und machte mich auf den Weg nach – dort, wo ich wohnte. »Ich bin wieder da«, rief ich, als ich meine Jacke von den Schultern zog, meine Schuhe in den Eingang stellte und dann durch den Flur trottete. »Wo warst du so lange?« Sie stand plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer und ich atmete tief durch, um ihr nicht ins Gesicht zu brüllen, dass es sie einen Scheiß anging. Ich war kein Kind mehr. Nicht, dass es sie da gekümmert hätte. »Unterwegs.« Die Augenbraue meiner Mutter zucke, aber als sie antwortete klang ihre Stimme ganz ruhig. »Es gibt noch etwas zu essen im Kühlschrank. Du kannst es dir aufwärmen.« »Kein Hunger«, sagte ich, stieg die Treppe hoch und ließ sie stehen.   Es war einfach. Es war leichter so zu tun, als wäre es mir egal. Es war wichtig, dass meine Geschwister glücklich waren, dass ich irgendwo schlafen konnte, dass ich Essen im Kühlschrank hatte und dass ich sogar einen Ort hatte, an den ich mich zurückziehen konnte. Das war schon Luxus. Es war einfach, so zu tun, als bräuchte ich nicht mehr. Es gab wichtigere Dinge.   »Und du willst mit ihr über Seto Kaibas Kindheit reden? Glaubst du, sie weiß darüber Bescheid?« Natürlich glaubte ich das. Aber es war klar, dass Serenity eigentlich etwas Anderes fragte. Glaubst du, es ist eine gute Idee? »Ja«, erwiderte ich. Wir lagen ein paar Stunden später zu dritt in meinem Bett. Jacob atmete neben mir regelmäßig ein und aus. Es war ein beruhigender Laut in der Stille des Zimmers und es brachte mich zum Grinsen, wie er da so quer über der Matratze lag, halb in die Decke eingerollt, mit seinem Kopf auf meinem Bauch, und schlief. Serenitys Schläfe lehnte an meiner Schulter, während sie leise ihre Bedenken aufzählte. Es würde ihr selbst auch nicht gefallen, würde jemand – ohne sie zu fragen – in ihrem Privatleben herumstöbern. Warum er nicht einfach offen mit Seto Kaiba darüber reden wollte. Ob es nicht klüger wäre, Mokuba und Kaiba selbst ihre Angelegenheiten zu klären. »Joey, ich weiß, du meinst es nur gut –« Das Aber hörte ich schon, bevor sie es aussprach. »Aber wie würdest du dich fühlen, wenn es umgekehrt wäre?« »Ich habe keine Ahnung«, murmelte ich. »Und genau deswegen, muss ich mehr herausfinden. Verstehst du?« Sie schwieg. »Hör zu«, flüsterte ich. »Kaiba hat eine Menge durchgemacht. Und er hat eine Menge für mich gemacht, als ich selbst richtig am Arsch gewesen war.« Es gab so viel, dass sie nicht verstehen würde. So viele Brüche und Sackgassen, die sie nicht einmal kannte, die ich aber mitgemacht hatte und bei denen Kaiba dabei gewesen war. Im Nachhinein schuldete ich es ihm, jetzt nicht den Schwanz einzuziehen. »Vielleicht wird er es mir richtig übelnehmen«, gab ich zu, »vielleicht bekommt er alles in den falschen Hals, wäre nicht das erste Mal. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich nichts tue, zerbricht alles. Verstehst du?« »Ja«, murmelte sie, »ja, das verstehe ich leider.«   Es war schwer. Es war schwer so zu tun, als wäre es mir egal. Es war wichtig, dass unser Alltag lief, dass ich unabhängig von all dem Rummel dem Unterricht folgte, dass ich am Morgen aus dem Bett kam, dass pünktlich in die Schule trottete und dass ich sogar meine Hausaufgaben hatte. Es war schwer, so zu tun, als wäre mir das Getuschel egal. Obwohl es wichtigere Dinge gab.   Montagsmorgens schlenderte ich neben Tris, Yugi und Thea am Eingangstor vorbei über den Schulhof. Yugi und Thea redeten irgendetwas über Praktika und Noten. Tris schritt schweigend neben mir her. »Okay«, begann er, »was ist los?« »Nichts.« Nichts war nie nichts. Es war nur die Kurzform für »Jetzt nicht« oder »Nicht hier« oder »Nicht mit dir«. Tris wusste das. Er hatte wahrscheinlich mehr »Nichts« von mir ins Gesicht geklatscht bekommen, als sonst jemand. Und trotzdem hielt es ihn nie auf. Eine Gruppe Mitschüler zog an uns vorbei, warf mir Blicke zu und begann zu kichern. Ich zog meine Brauen zusammen. »Hört das nie auf?«, raunte ich genervt und fuhr mir durchs Haar. »Das Opfer des Ruhms«, behauptete Tris ironisch, »jeder zerreißt sich das Maul über einen.« »Ja«, murrte ich, »echt super. Als hätte ich sonst keine Probleme.« Tris warf mir diesen Blick zu, der mich seufzen ließ. »Es ist nur –« Das Motorengeräusch und dann seine Stimme ließ mich zurücksehen. Die Limousine hielt wie gewöhnlich ein paar Meter vom Eingang zur Schule entfernt. Es fehlte nur der rote Teppich. »Mokuba, das ist nicht akzeptabel.« Mokuba hatte die Autotür aufgerissen, bevor Roland ausgestiegen war und stampfte davon, ignorierte Kaibas Kommentar vollkommen. Letzterer stieg mit einer Mimik aus, durch die nichts von seinen Gedanken durchschimmerte. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zu einem Geschäftsmeeting. Wahrscheinlich war er das – die Schule war nur ein Zwischenhalt. »Was ist denn da los?«, raunte Tristan. Ich verlangsamte meine Schritte. Die Szene war so falsch auf so vielen Ebenen, dass ich nicht antwortete. Mokuba ignorierte seinen großen Bruder nicht. Sie stritten nicht. Mokuba kannte nichts Anderes als Bewunderung und Zuneigung für seinen Bruder. Der allmächtige Seto Kaiba mit einem kleinen, quasselnden Jungen, der die Hände in die Luft reckte und seine Meinung in die Welt rief. Das Team, das jeden Schicksalsschlag in eine Stufe auf der Leiter nach oben verwandelte. Das berühmte Geschwisterpaar, das gemeinsam auf dem Weg zu Großem war. Immer nach oben strebte, die Öffentlichkeit erstaunte und niemals mit weniger zufrieden waren. Das waren die beiden. Mokuba stürmte an uns vorbei, rief uns ein »Hi, Leute« zu und reihte sich zu seinen Freunden. Ich sah ihm nach, mein Magen sank in meine Beine, dann bemerkte ich, dass ich mitten auf dem Schulhof stehen geblieben war, Tris neben mir. Yugi und Thea ein paar Schritte weiter. Schülergruppen trotteten an uns vorbei. Viele starrten mich an, einige warfen mir Blicke zu, von denen sie wohl glaubten, sie wären unauffällig. Keine Ahnung, was sie hofften zu sehen. Es war mir egal. Es gab viel wichtigere Dinge. Thea seufzte, sagte etwas zu Yugi und Tris wollte mich weiterziehen. Was, wenn Kaiba es dieses Mal zu weit getrieben hatte? Was, wenn Mokuba ihm irgendwann nicht mehr verzieh? Wenn das letzte Mal schon das letzte Mal gewesen war? Wie oft musste ein Mensch einen enttäuschen, bis man es aufgab? War es eine große Explosion? Oder waren es die vielen, kleinen Versäumnisse, die eine Beziehung so aushöhlten, bis nichts mehr von ihr blieb – außer der Erinnerung? Ich blieb stehen, trotz Tristans Hand, die sich um meinen Arm legte, trotz seiner Worte, wir würden angestarrt werden. Es war unwichtig, wie viele glaubten, mich anzusehen. Sie wussten nichts. Sie sahen nur, was sie sehen wollten. Sie kapierten nicht, was hier abging. Dass nicht ich derjenige war, der in diesem Augenblick wichtig war. Seto Kaiba sah auf – mitten in der Bewegung. Mir direkt in die Augen. Zwischen uns nur ein paar Meter Schulhof und ein emotionaler Sturm, der an eine Katastrophe erinnerte. Ich wartete, bis er aufgeschlossen hatte. Seine Finger um den Griff des Aktenkoffers geschlungen, seine Augen irgendwo auf das Gebäude gerichtet, als würde er mich nicht mehr sehen. Aber das war völlig falsch. »Hey, Kaiba«, flüsterte ich. Er neigte seinen Kopf zur Begrüßung. »Wheeler.« Ich wollte ihn fragen, wie es ihm ging. Was das alles mit Mokuba zu bedeuten, was er ihm schon wieder gesagt hatte und was angeblich nicht akzeptabel war. Ich wollte mein Gesicht in seinen Nacken vergraben und einatmen und ihm sagen, dass es schon wieder werden würde. Ich wollte mich an ihn lehnen, seine Hand berühren und ihn an mich ziehen. Aber das war nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit. Das hier war Kaiba, der Geschäftsmann. Nicht einmal die Schuluniform konnte einen irreführen. Wir waren auf dem Weg ins Schulgebäude, aber Kaiba war eigentlich ganz woanders. Er ging einen anderen Weg als der Rest von uns und in diesem Moment, als sein Blick Mokuba streifte, der einige Meter vor uns mit seinen Freunden lachte, da wurde mir bewusst, dass nicht einmal sein kleiner Bruder diesen Weg komplett mit ihm schreiten konnte. Vielleicht konnte das niemand.   Kaiba und ich sahen die Zeit in der Schule gleichermaßen als Verschwendung. Sicherlich aus völlig unterschiedlichen Gründen. Während Kaiba also auf seinem Laptop Sachen tippte, die bestimmt irgendwann unser Verständnis von Technik auf den Kopf stellen würden, schrieb ich Zettelchen mit Tris und Yugi, weil ich entweder dem Stoff nur bedingt folgen konnte oder wollte. Sollten wir nicht besser etwas lernen, was uns auf die Zukunft vorbereitete? Und nicht über irgendwelche Personen, die schon seit Jahrhunderten tot waren? Wofür brauchte ich Polynomgleichungen? Und was verdammt nochmal war das Plusquamperfekt? In der Zeit, in der ich hier hockte, hätte ich an einem Projekt für die KC arbeiten können. Dann verzog ich den Mund. Mutierte ich zu so etwas wie Kaibas Schatten? Einer, der immer nur an die KC dachte? In der Zeit, in der ich hier hockte, hätte ich auch einfach draußen chillen können. Oder mit Jacob zocken. Oder mit Tristan und Yugi. Oder allen. Oder ich hätte mehr über Kaiba herausfinden können. Und die Sache mit Mokuba lösen. Mit einem Seufzen ließ ich mein Kopf auf meine Arme sinken, die ich auf dem Tisch kreuzte, und starrte abwesend an die Tafel, wo unser Lehrer etwas von Konjunktiv anschrieb. Was zur Hölle war Konjunktiv II? Und wieso wusste ich nichts von dem ersten Konjunktiv? Ich riss meine Augen auf, als plötzlich ein Zettelchen – ordentlich, Kante auf Kante gefaltet – von seitlich hinten auf meinem Tisch landete. »Das ist klausurrelevant«, stand da in seiner gleichmäßigen Schrift, die sich leicht nach rechts neigte. Ich wandte mich halb nach hinten und wackelte mit meinen Brauen. »Lernst du mit mir?«, formte ich mit meinen Lippen. Kaiba verdrehte die Augen. Das war kein Nein. Ich drehte mich wieder nach vorne und grinste und begann mir irgendwelche Notizen zu machen. Es blieb Zeitverschwendung. Aber wir verschwendeten sie gemeinsam. Ich unterbrach mein Geschreibsel, als Tristan mir wieder einen Zettel auf meinen Block schob. »Von Spencer. Meint, er hätte eine Nachricht von einem alten Freund?« Es klang nach einer Frage und ich runzelte die Stirn. Mein Blick suchte den von Spencer, einem Typen, der mich null interessierte, der mein Leben überhaupt nicht berührte. Nur der Zufall, in derselben Klasse gelandet zu sein, verband uns, das war es. Er strich sich durch seine schwarzen Haarsträhnen und seine Lippen kräuselten sich und ich wusste schon, bevor ich das erste Wort las, dass es mir unter die Haut gehen würde – in jedem negativen Sinn. Ich entfaltete den unordentlich abgerissenen Zettel und las den Satz mehrmals, atmete tief durch und verengte meine Augen. Da war so eine Säure in meinen Adern, das Bedürfnis, aufzuspringen und ihm das Papier in seinen Hals zu stopfen. Tristan schaute mich von der Seite an, stieß mir mit dem Ellenbogen an den Arm. Ich schob ihm den Zettel so hin, dass er und Yugi ihn lesen konnten. Ich hörte, wie Tris die Luft einsog und mich dann musterte. Yugi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn du noch nie eine Freundin hattest, woher weißt du dann, dass du auf Schwänze stehst?«, stand da. Das war so billig, dass ich fast darüber gelacht hätte. Fast. Und jetzt?, fragte Tristans Mimik. Lass dich nicht provozieren, mahnte Yugis. Sie hatten beide Recht. Ich zerknüllte den Zettel unbeeindruckt, beobachtete den Lehrer, der sich einen Moment später wieder an die Tafel wandte, und warf den Papierball Spencer an den Kopf. Er schnellte herum. Ich lehnte mich zurück und grinste. Sein Gesicht färbte sich rot und ich wusste, ich hatte diese Runde gewonnen.   »So ein Idiot«, empörte sich Thea in der Pause, nachdem Tristan und Yugi ihr von dem Vorfall berichtet hatten. Ich zuckte die Schultern und öffnete meine Brotbox. »Was soll’s.« Meine Mutter bestand darauf, dass ich das Frühstück mit in die Schule nahm. Die ersten Male hatte ich es – nicht angerührt – einfach wieder in die Küche gestellt. Aber das war irgendwie Verschwendung. Doppelt, wenn man bedachte, dass ich mir stattdessen etwas Anderes zu essen kaufte. Also aß ich es. Nicht, dass ich ihr groß dankbar war. Dafür war sie mir noch etliche Schulbrote schuldig. Ich tauschte mit Tristan meinen Apfel gegen eine Birne – und fragte mich, ob er sich selbst sein Pausenbrot belegte. »Du hättest dem Lehrer davon berichten sollen«, beharrte Thea, aber ich winkte ab. Ich wollte wirklich nicht, dass irgendein Lehrer die Notwendigkeit sah, mit der Klasse darüber zu sprechen. »Das ist jetzt wirklich egal«, erwiderte ich. »Wir haben ganz andere Probleme, oder nicht?« Und als ich es ausgesprochen hatte, fragte ich mich, seit wann meine Probleme auch deren Probleme geworden waren. »Stimmt wohl«, murmelte Tris, »eins nach dem anderen.« Seit wann ich zugeben konnte, dass ich nicht alles alleine schaffte. »Hast du mit ihm jetzt mal gesprochen?«, fragte Thea. Seit wann wir gemeinsam in Bibliotheken und nach Hause und in die Schule und sonst wo hingingen. »Tolles Gespräch, freu ich mich schon drauf«, murmelte ich und stopfte mir das Salamibrötchen zwischen die Lippen, kaute und spülte alles mit dem Wasser herunter, das mir Serenity immer in den Rucksack steckte. Natürlich im Auftrag meiner Mutter. Keine Cola, als würde mich ausgerechnet Cola umbringen. »Hey, Kaiba. Wir haben in deiner Vergangenheit so herumgekramt und jetzt wollte ich dich einfach mal fragen, wie deine verkorkste Kindheit war, nachdem deine Eltern gestorben sind und –« Ich verschluckte mich fast. »Wie sind eigentlich seine Eltern gestorben?«, fragte ich. Sie schauten mich an, schwiegen. Ich sah, wie es in Theas Kopf rumorte, wie Tris seine Stirn in Falten legte und Yugi seinen Finger ans Kinn lehnte. Als wäre es selbstverständlich, dass ich mit meinen Fragen nicht alleine dastand. Wir diskutierten noch eine Weile mit zusammengesteckten Köpfen über die Zeitungsartikel, Pressefreiheit und Privatsphäre. Es fühlte sich gut an – trotz Theas Belehrungen und Tristans Nörgeleien und Yugis Schlichtungsversuchen – und ich vergaß fast, dass es noch andere Themen gab.   Nach Schulende warf ich meinen Block und Stift in den Rucksack und schlenderte zu Kaiba, der seinen Laptop in eine Tasche einpackte, als wäre es ein atmendes Geschöpf. »Ich muss in die KC«, sagte ich und lehnte mich gegen den Tisch, an dem er gewöhnlich saß und den Unterricht ignorierte. Kaibas Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das mich an ein Krokodil erinnerte. Eines, das darauf wartete, sein Opfer ins Wasser zu zerren und zu verschlingen. »Das wäre mir neu.« Es hatte mich noch nie davon abgehalten, mein Ding durchzuziehen. »Wollte da noch was erledigen«, fuhr ich fort und beobachte nebenher, wie Yugi und Tristan mit einem Blick auf Kaiba und mich aus der Klassentür verschwanden. »Und das wäre?« »Ich will deine Firma nicht übernehmen, Geldsack, chill mal. Ich wollte nur hallo sagen. Smalltalk. Zeug, womit du dich nicht abgibst.« Einen Augenblick dachte ich, ich hätte es zu weit getrieben und er würde mich mit wehendem Mantel stehen lassen, einen fiesen Spruch auf den Lippen und meinen genialen Plan damit erst einmal in Luft auflösen. Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre. »Wenn du sie von ihrer Arbeit abhältst, lasse ich dich rauswerfen.« Nicht, dass das das erste Mal wäre. Mit einem Grinsen folgte ich ihm.   Wir warteten schräg vorm Schultor an der Limousine. Kaiba schritt hin und her, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte etwas. Es tütete. Niemand hob ab. Kaiba fluchte leise und schritt wieder hin und her. Nach einer Viertelstunde vibrierte mein Handy. Als ich die Nachricht gelesen hatte, musste ich schlucken. »Ähm«, begann ich und verlagerte mein Gewicht von meinem einen auf das andere Bein. »Mokuba muss noch etwas für eine Gruppenarbeit machen. Er kommt später alleine nach Hause.« Kaiba betrachtete mich, als wäre ich daran schuld, schnaubte, stieg hinten in das Auto ein und schlug die Tür zu. Ich seufzte, atmete tief durch und stieg auf der anderen Seite ein.   Der Weg zur KC war still. So eine Stille ohne Ruhe, in der ich am liebsten dummes Zeug gelabert hätte, weil ein spöttischer Kommentar von Kaiba immer noch besser war als dieses Schweigen. Mokubas Nachricht hing in der Limousine wie ein widerlicher Gestank. Kaiba runzelte seine Nase, während er in die Tasten des Laptops schlug und ich öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder, weil mir einfach nichts einfallen wollte. Also starrte ich aus dem Fenster und zählte innerlich die vorbeirauschenden Baumstämme, bis wir vor zur Firma fuhren. Die Kaiba Corporation ragte so weit hinauf, dass es mir immer wieder schwindelig wurde, wenn ich nach oben blickte. Wahrscheinlich war genau das das Ziel von Kaibas Architekten gewesen. Es war noch frisch, ganz klar Frühling und lange kein Sommer, aber die Sonne schien und da oben zogen weiße Schäfchenwolken vor einem blauen Himmel. Am liebsten wäre ich draußen geblieben. Ich versuchte erst gar nicht, mir einzureden, das hätte etwas mit dem Wetter zu tun, als Roland in die Tiefgarage der KC fuhr. Der Weg in der KC war alles andere als still. Die Mitarbeiter grüßten mich oder nickten mir zumindest zu. Natürlich fiel meine Schuluniform zwischen den teuren Anzügen auf. Natürlich war ich jünger als die meisten hier. Und natürlich standen mir noch immer viele kritisch gegenüber. Aber das war alles okay. Es war, als wäre ich nach einem langen Urlaub endlich wieder zurückgekehrt. Und trotz Kaibas eisernem Schweigen konnte ich nicht anders, als mich wohl zu fühlen. »Bis später«, verabschiedete ich mich von ihm und trat aus dem Fahrstuhl. Kaiba nickte und die Türen schoben sich zu.   Ich klopfte an die Bürotür und sie zog sie mit einem Schwung auf, der mich mitriss. »Oh, Schätzchen, hallo! Es freut mich, dich zu sehen! Seto hatte schon gemeint, du hättest Sehnsucht nach mir.« Sie lachte mich an und ich grinste und trat ein. Sarahs Büro lag immer noch oder wieder im Chaos. Ganz anders als in Kaibas lagen hier Unmengen an unvollendeten Skizzen, Plakate beklebten jeden Zentimeter an der Wand zu, Flyer lagen zur Auswahl bereit und Designs zur Verpackung neuester Modelle stapelten sich auf ihrem Schreibtisch. »Dieses und das Design?«, fragte sie mich plötzlich und hob mir zwei Skizzen entgegen, die offensichtlich die neuen Starterpacks kleiden sollten. Ich öffnete den Mund und starrte. »Das sind die –« »Richtig.« »Darf ich die überhaupt schon sehen?« Sie zwinkerte mir zu und lachte. »Also welches Design?« »Rechts«, sagte ich und betrachtete die ineinander verschlungenen Buchstaben. Es hatte etwas von Graffiti, während die andere Skizze mich eher an eine schlichtere Computerschrift erinnerte. »Gut, du hast nichts gesehen«, sagte sie und ich schnaufte. Kaiba wäre sicherlich alles andere als begeistert, wüsste er, dass mich Sarah in eine aktuelle Produktion einweihte. Auf der anderen Seite hatte er mich angewiesen, sie nicht vom Arbeiten abzuhalten. Das war also das Gegenteil, oder? »Wie geht es dir, Joey? Hast du keine Hobbies und Freunde oder warum sitzt du hier bei einer alten Frau herum?«, fragte sie, während sie Papiere auf ihrem Schreibtisch ordnete. Es klang nicht harsch, sondern wie ein Witz unter alten Bekannten. »Quatsch, du bist nicht alt«, erwiderte ich grinsend. »Und ich habe Hobbies. Und Freunde!« »Gut. Nimm dir kein Vorbild an unserem Seto«, sagte sie, um mich dann mit Schalk im Blick zu mustern. Sie wusste, dass das hier mehr war, als nur ein Höflichkeitsbesuch. Ich sah es in ihren Augen. Wahrscheinlich war es falsch, sie zu fragen. Wenn nicht falsch, dann doch zumindest nicht richtig. Sie bot mir einen Kaffee an, den ich höflich ablehnte und sie erzählte ein wenig über die Animation Studios und den Gang der Dinge. In der KC herrschte immer Stress, immer irgendeine Deadline, die vor dem Team lag, immer wieder Zahlen, die es galt zu übertrumpfen mit dem nächsten Projekt. Es gab niemals Stillstand. Der Weg führte immer weiter, höher, am besten schneller. Vielleicht war es unterwegs gewesen, wo Kaiba Mokuba aus dem Blick verloren hatte. So konnte es nicht weitergehen. Aber wie sollte ich sie darauf ansprechen? Worte waren echt nicht so meins. »Bist du hier wegen der Sache mit Mokuba?«, fragte sie und ich sah sie mit großen Augen an. Die Lockerheit und das neckische Funkeln in ihren Augen verschwanden hinter einem Schleier aus Ernst. Ich nickte langsam und sie legte die Papiere zur Seite und nippte an ihrem Kaffee. »Was weißt du über die Gozaburo? Du hast ihn gekannt, oder?«, fragte ich leise und Sarahs Lächeln verschwand. »Ja, ich habe für ihn gearbeitet«, antwortete sie nüchtern und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Es ist schon eine ganze Zeit lang her.« Ich wollte gar nicht wissen, was sie für ihn gearbeitet hatte. Ihr Blick verdunkelte sich, als erinnerte sie sich an Dinge, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte. Und es gab Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte. Aber ich musste wenigstens fragen. »Was war er für ein Mensch?« Sarahs Blick schweifte in die Ferne, aus dem Fenster, als zeigten sich ihr dort Bilder aus der Vergangenheit. Sie seufzte. »Kein einfacher Mensch«, antwortete sie und lehnte sich zurück. Ich runzelte die Stirn. »Er hat alles gefordert, was man ihm geben konnte. Er akzeptierte keinen Durchschnitt und er setzte alles zu seinem eigenen Vorteil ein.« Andere Worte für widerlicher Bastard. Ich rümpfte die Nase und Sarah klopfte mir auf die Schulter, lachte leise auf, was so gar nicht zu der Atmosphäre passen wollte. »Gozaburo Kaiba war kein böser Mensch, Joey. Er war ambitioniert und selbstbewusst. Aber Rücksichtslosigkeit und Arroganz sind die anderen Seiten der Medaille. Er war genau das, was Seto nicht gebraucht hat – und trotzdem bekam.« »Aber – warum –« Ich verstand es nicht. Es gab so viele Ungereimtheiten. Wenn es doch Gozaburos Ambition gewesen war, warum hatte Kaiba dann nicht nach dessen Tod die Firma einfach verlassen? Warum hatte er – im Gegenteil – die Firma übernommen? »Ich denke, du solltest ihn das selbst fragen, Schätzchen. Er mag es überhaupt nicht, wenn sich Leute über seine Kindheit unterhalten.« »Warum?« Sie lachte, aber dann wurde ihre Mimik ganz ernst. »Mmmh«, machte sie, »vielleicht weil er vergessen will, wie es einmal gewesen war. Wie es hätte sein können. Ich weiß es nicht.« Vielleicht war er nicht der einzige, dem es so ging. Ich runzelte meine Stirn, den Kopf zur Seite geneigt und schaute sie an, als hätte sie behauptet, Kaiba wäre kein arroganter, selbstgefälliger Arsch und würde an das Herz der Karten glauben. Sie erhob sich, trat zu einem der Aktenschränke und öffnete ihn. In der Innenseite klebte ein Foto. Ich trat hinter ihr heran, um es besser zu sehen. »Was denkst du, passiert mit einem Kind, dem alles abverlangt wird? Und das es nie gut genug machen kann?«, flüsterte sie und betrachtete das Foto, als wäre er ein süßes, liebevolles Kind gewesen mit zu viel Talent und Ehrgeiz, als dass es ihm gutgetan hätte. »Weißt du, um Seto zu verstehen, solltest du nicht fragen, wer er jetzt ist, sondern vor allem nach seinem Weg dorthin.« Ich erinnerte mich an das Bild, das sich in meiner Hosentasche befand und in mir umklammerte eine eiskalte Faust meinen Magen. »Ich weiß nicht, ob ich es kapiere«, murmelte ich und war mir ziemlich sicher, dass ich es nicht verstand. Warum trug er noch immer den Namen des Mannes, der ihn auf diesen Weg getrieben hatte? Warum war ihm diese verdammte Firma so wichtig? »Aber Mokuba hat ein paar Probleme, glaube ich. Ich weiß nicht genau, was los ist. Aber ich versuche –« Was versuchte ich hier eigentlich? Die Welt der Kaibas besser zu verstehen? Überhaupt etwas zu begreifen? Die beiden wieder dazuzubekommen, miteinander normal zu reden? Ich seufzte. »Ich weiß auch nicht«, schloss ich und rieb mir über die Augen. Sarah nickte, als wüsste sie genau, wovon ich sprach, als hätte sie es selbst durchgemacht. Und seltsamerweise glaubte ich ihr. Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees und spielte mit ihren beringten Fingern am Rand der Tasse herum. »Wusstest du, dass man in der Regel erst jemanden adoptieren kann, wenn man 25 Jahre alt ist?« Ich runzelte die Stirn. Was hatte das jetzt mit alldem zu tun? Was hatte das mit Mokubas Problem zu tun? Und dann bröckelte das Unverständnis. Kaiba war erst siebzehn. Ich stammelte etwas von wegen, dass ich keine Ahnung davon hatte, wie das sein könnte und warum Kaiba und Mokuba dann nicht mehr im Heim lebten – oder bei jemand anderem. »Meinetwegen. Ich wohne mit bei ihnen. Es ist mein Zweitwohnsitz.« Ich riss meine Augen auf. »Aber – ich habe dich dort nie –« Warum hatte ich sie nie dort angetroffen? »So ein Zufall«, murmelte ich. »Zufall? Glaubst du das wirklich?« Außer natürlich Kaiba wollte nicht, dass ich sie dort traf. »Aber warum hat er mich hier dann arbeiten lassen? Mit dir? Und warum würde er nicht wollen, dass ich dich bei ihnen zu Hause sehe?« »Oh, das ist ganz einfach. Hier ist Seto der Chef. Er ist mein Vorgesetzter. Aber bei ihnen zu Hause bin ich ihre Pflegemutter. Seto trennt ganz sauber zwischen Geschäftlichem und Familiärem. Vielleicht glaubt er, dass das alle Menschen so halten?« Mein Kopf schwirrte. Kaiba und Mokuba hatten eine Pflegemutter? Sarah war ihre Pflegemutter? Und sie wohnte in der kaiba'schen Villa? Wie ein Geist? Wie hatte Kaiba es geschafft, uns dort voneinander fernzuhalten? Warum das alles? Und was hatte das alles mit Mokuba zu tun? Sarah riss mich mit einem Summen aus meinen Gedanken. »Umso erstaunlicher seid ihr beiden.« »Wer? Wir?« Ich hob die Augenbrauen und folgte ihrem Blick zum Aktenschrank, dann wieder zu ihr. Sarah lächelte. »Wahrscheinlich ist dir gar nicht bewusst, wie viele seiner Ideale und Grundsätze er für dich loslässt. Wie sehr du ihn beeinflusst.« Es war fast lustig, wie sehr man manchmal seinen Einfluss unterschätzte. Was war schon der Messwert? Wie viele Menschen? Wie lange? Oder wie sehr? Mein Einfluss reichte gerade von meinen Freunden zu meiner Familie. Und selbst das bedeutete kaum etwas. Kaiba konnte Millionen von Menschen erreichen, beeinflusste mit seinen Innovationen hunderttausende und mehr in ihrem Alltag. Mit seinem Geld und seinem Namen konnte er anderen den Weg weisen. Aber wer wies ihm den Weg? Wer beeinflusste ihn? Mein Blick fiel wieder auf das Foto an der Innenseite der Tür des Aktenschrankes, als plötzlich jemand an die Bürotür klopfte. Ich drehte langsam meinen Kopf, noch völlig in Gedanken versunken und kämpfte gegen die Verwirrung an. Mokuba trat ein. Als sein Blick auf mich fiel, formte sein Mund ein stummes »Oh« und ich hob meine Brauen. Seine Stoffhose war aufgerissen, sein Shirt voller Grasflecken, als hätte er sich auf einer Wiese gewälzt. Seine Arme waren voller blauer Flecke, seine Lippe aufgeplatzt. In seinem Haar hingen noch Grashalme und Dreck. »Erzählt es nicht Seto«, murmelte er und wich meinem Blick aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)