Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 59: … bin kein netter Mensch ------------------------------------   __________________________________________   Sei immer nett zu anderen. Wenn das nicht geht, sei schnell! © Frank Wisniewski   __________________________________________             Ich war ein netter Mensch. Zumindest zu neunzig Prozent meiner Mitmenschen. Die einzige Ausnahme waren Arschlöcher. Ironischerweise gab es davon zu viele auf der Welt. Ich hätte nur nicht gedacht, dass Kaiba irgendwann zu den zehn und den neunzig Prozent zählen würde. Gleichzeitig. »Mokuba, was ist passiert?« Sarah brachte die Worte zusammen, die in meinem Mund irgendwie auseinanderfielen, ohne Sinn zu ergeben. »Ich habe etwas erledigt.« Wahrscheinlich schaffte es nur ein Kaiba mit aufgeplatzter Lippe und aufgerissener Kleidung dreinzuschauen, als wäre er über solche Fragen erhaben. Aber anders als in den Augen seines Bruders flackerte etwas in Mokubas. Er wich meinem Blick aus. »Von wem wurdest du verprügelt?«, hakte Sarah nach und griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch. »Nein.« Mokuba hielt ihr Handgelenk fest. »Wenn du jemanden rufst, dann kriegt es Seto mit.« Ich seufzte und legte meine Hand auf seine Schulter. Er verzog das Gesicht und ich zuckte zurück. »Sorry«, murmelte ich. »Aber glaubst du nicht, er bekommt das eh mit? Du stehst gerade in seiner Firma.« »Ich bin hier aufgewachsen«, sagte er nur. Wie er es schaffte, mich von oben herab anzuschauen, obwohl er kleiner war als ich, kapierte ich nicht – aber ich fand es irgendwie beeindruckend. »Unter einer Bedingung.« Sarah schaute Mokuba über den Rand ihrer Brille an. »Du erzählst, was los ist.« Mokuba seufzte, dann schob er das Kinn vor und schaute sie an. »Schön. Ich sage es dir.« Sarah hob die Augenbrauen und legte den Hörer zurück in die Ladestation des Telefons. »Oh«, machte ich, als mir dämmerte, was Mokuba nicht sagte. »Ja, ich – geh‘ dann mal.« Er sah an mir vorbei und irgendwie verpasste es mir einen Stich. Ich hatte gedacht, er würde mir vertrauen. Dass er mit mir reden würde, wenn ihn etwas belastete. Das hatte er doch schon einmal, oder? Aber was hatte ich damals gemacht? Hatte ich überhaupt gehandelt? Oder war ich nicht viel zu sehr mit meinen eigenen dummen Problemen beschäftigt gewesen? Ich erhob mich langsam, spürte das Schweigen auf meinen Brustkorb drücken und schloss die Tür hinter mir.   Ich versuchte ein netter Mensch zu sein. Sicherlich war mir das schon verdammt oft nicht gelungen, so richtig nach hinten losgegangen und manchmal war ich selbst das Arschloch gewesen. Aber spätestens seit Yugi mein Kumpel war, bildete ich mir ein, dass ich meine Arschloch-Jahre hinter mir gelassen hatte. Dass mir gewisse Menschen vertrauen konnten. »Mokuba macht mir Sorgen«, brummte ich. Wir saßen unter den Bäumen hinter dem Spielladen und Yugi schaute vom Mathebuch auf, das ich in meinen Händen ohnehin grundsätzlich ignorierte. »Was ist los?« Wahrscheinlich war das Problem, dass ich genau das nicht wusste. Ich erzählte Yugi, wie Mokuba gestern in Sarahs Büro aufgetaucht war. »Mh, ich glaube, es war klar, dass so etwas irgendwann passiert. Mokuba ist nicht dumm – im Gegenteil. Und ich glaube nicht, dass er sich einfach prügelt, weil er Bock drauf hat. Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass er sich überhaupt auf so etwas einlässt. Ich weiß nicht.« Natürlich war das Unsinn. In jedem von uns steckte die Möglichkeit, ein Arschloch zu sein. Das konnte niemand einfach ablegen wie eine abgetragene Jacke. Manchmal waren wir grantig, weil wir müde waren oder keinen Bock auf sinnlosen Smalltalk hatten. Manchmal waren wir in Eile und stießen jemanden an. Und manchmal prügelten wir jemanden, weil derjenige nicht unserer Meinung war oder weil wir glaubten, wir hätten das Recht dazu, weil wir uns stärker fühlten, wenn wir schwächere fertigmachen konnten. Wenn wir endlich mal nicht die Schwachen waren. »Du glaubst, Mokuba wird gemobbt?« Yugi starrte mich mit seinen großen Augen an. Er strahlte so eine Geduld aus, so eine Zuversichtlichkeit, dass ich fast selbst glaubte, es würde sich alles klären – ohne Probleme, ohne Eskalation. Und dann musste ich daran denken, dass Yugi wusste, wie es war, gemobbt zu werden. »Keine Ahnung«, murmelte ich und senkte meinen Blick auf die Seiten des Mathebuches. Ich war damals echt ein Arschloch gewesen.   Die Schule war ein Sammelpool an Arschlöchern. Auf dem Pausenhof herrschte die Regel, die Stärksten konnten tun, was sie wollten – solange sie nicht von den Lehrern erwischt wurden. Die anderen hielten sich heraus oder provozierten Probleme. Zivilcourage war für Dumme, die, die ihr Maul zu weit aufrissen und am Ende noch draufbekamen. »Wheeler!«, rief jemand quer über den Schulhof. Ich blieb stehen und drehte mich um, während ich in mein Salamibrötchen biss. Tristan verstummte mitten im Satz und folgte meinem Blick. Es war dieser Typ, dessen Namen ich nicht einmal kannte. Er stand da, umringt von irgendwelchen Klassenkameraden, vor allem Mädels, die ihn bewundert anblickten. Sein Grinsen war kein freundliches. »Hey, ja, Wheeler, sag mal«, rief er, »bist du schwul?« Die Leute um ihn herum begannen zu gackern. Ich ballte meine Hände und Tris legte mir fast gleichzeitig seine auf die Schultern. »Lass ihn dumm reden. Komm, Yugi und Thea warten da hinten.« Er hatte Recht. Kaiba hatte es mal selbst so ähnlich gesagt. Und ich stimmte ihnen zu. Mit solchen Typen verschwendete man seine Zeit – und vor allem seine Nerven. Ich zeigte dem Typ meinen Mittelfinger und Tristan schob mich weiter. Das machte es aber nicht einfacher. Die Schule war eine Ansammlung verlorener Zeit. Oft genug starrte ich aus dem Fenster und hätte das Zeug, das mir da vorne jemand vorkaute, schneller auf YouTube und mit Yugi und Tristan gelernt. Und ich hätte mir die ganzen Idioten, die die Schule bevölkerten, nicht antun müssen. Als ich mich nach der Pause auf meinen Sitzplatz fallen ließ – Yugi erzählte gerade, dass sie bald wieder neue Kartenpacks in den Spielladen geliefert bekommen würden – erstarrte ich. Mein Blick klebte auf der Tischoberfläche. »Joey?«, hakte Yugi nach und berührte meinen Oberarm, als ich nicht antwortete. »Was ist denn –« Er beugte sich zu mir und folgte meinem Blick. Tristan atmete tief durch, als er es las. Jemand hatte »geldgeile Schwuchtel« auf meinen Tisch geschrieben. Ich nahm mir genau zwei Sachen vor. Erstens, ich würde Kaiba nichts davon sagen. Der hatte genug Stress mit Mokuba und hätte mir wahrscheinlich eh nur gesagt, dass ich darüberstehen sollte. Zweitens, ich würde dem Idioten zeigen, der meinen Tisch verunstaltet hatte, was es hieß, sich mit mir anzulegen. »Abgesehen davon, dass du selbst darauf herumkritzelst«, bemerkte Tris, als wir auf dem Heimweg waren und ich schnaubte. »Natürlich geht es um den Inhalt, Blödmann«, erwiderte ich. Er seufzte. »Und wie willst du das herausfinden? Das kann jeder gewesen sein. Jemand aus unserer Klasse, aber auch aus jeder anderen Klasse, die in unserem Saal Unterricht hat.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und kickte einen Stein vor mich her, die Hände in die Hosentaschen vergraben. »Und wir wissen beide genau, wer es gewesen war. Dieser Typ«, brummte ich. »Und du kannst nichts beweisen«, erwiderte Tris. Natürlich nicht. Alles war nur eine gut durchdachte Vermutung. »Soll ich das einfach auf mir sitzen lassen?«, murrte ich. Tris schaute hoch in den Himmel, als stünde dort die Antwort. »Wahrscheinlich nicht«, murmelte er. Wir verabschiedeten uns und ich bog zum Bahnhof ab. Früher wären wir gemeinsam bis nach Hause getrottet. Aber irgendwie hatten wir es aus dem Loch geschafft. Und ich hatte keinen Bock jetzt ins nächste zu fallen. Vielleicht war es wirklich besser, es einfach auf mir sitzen zu lassen, die Sache zu ignorieren und drüber zu stehen. Was würde Kaiba an meiner Stelle tun? Am Bahnhof eilten Menschen vorbei, drängten, hetzten irgendwelchen Plänen hinterher. Ich trottete den Bahnsteig entlang. Ein Pärchen fiel sich in die Arme und küsste sich. Ich verzog das Gesicht und schaute auf die Uhr und redete mir ein, dass ich nicht an Kaiba dachte. Und daran, dass wir niemals dieses Pärchen wären.   Es war seltsam, nach der Schule begrüßt zu werden, gemeinsam zu essen und gefragt zu werden, ob man Hausaufgaben machen musste, wie es lief und wie es einem ging. Ich zuckte mit den Achseln, antwortete »Jo« und »Gut« und manchmal glaubte ich es mir fast selbst. Manchmal fühlte es sich fast echt an, wenn meine Mutter mich anschaute und über ein Erlebnis lächelte, von dem ich Serenity und Jacob erzählte. Oder wenn sie besorgt schaute, aber sich nicht reinhängte. Weil sie wusste, es ging sie nichts an, dass ich nicht die ganze Wahrheit sagte. Es war ihr all die Jahre am Arsch vorbeigegangen. Jetzt war es mir egal, was sie davon hielt. Wir lebten unsere Leben aneinander vorbei. »Joey, willst du noch etwas essen?« Vielleicht war das, der Kern der Sache. Oft dachten Menschen, sie kannten einander, weil sie nahe beieinander wohnten. Aber in Wirklichkeit sah jeder nur, was er sehen wollte. »Nein, danke. Ich bin voll satt. Muss noch hoch, Zeug für die Schule machen.« Niemand schaute hinter das freundliche Lächeln und die oberflächlichen Floskeln. Oben in meinem Zimmer starrte ich statt in meine Schulbücher aus dem Fenster.   Das Problem mit Familien war, dass jeder dachte, seine eigene wäre die schlimmste. »Glaubst du, dass es nur deswegen ist, weil Kaiba kaum mehr Zeit für Mokuba hatte? Oder steckt da mehr dahinter?«, fragte Serenity und ich zuckte die Schultern. Wir saßen am Abend im Garten hinter dem Haus, nachdem mich meine Schwester beim Aus-dem-Fenster-Starren erwischt und mich nach draußen gewinkt hatte. Es war sogar warm im Schatten, als hätte die Natur von einem Tag auf den anderen entschieden, dass es lange genug kalt gewesen war. Die Blumen blühten und das Gras war perfekt auf drei Zentimeter geschnitten, so wie es meine Mutter am liebsten mochte. Überall waren ihre Spuren, in jeder Ritze des Hauses und selbst hier im Garten. »Und wie geht es dir bei der ganzen Sache?« Es war nervenzerreißend. Es gab kein Unkraut. Keine Gänseblümchen oder Löwenzahn auf der Wiese. Es war, als hätte jemand den Rasen gemalt. Und nur Grün zur Verfügung gehabt. »Keine Ahnung.« Ich hasste es. »Du weißt, dass es nicht deine Aufgabe ist, ihr Leben zurechtzurücken, oder?« Weil ich nicht einmal mein eigenes richtig geordnet bekam? »Wie kommst du darauf? Als würde ich das wollen. Ich bin nur da, wenn es den beiden irgendwie hilft. Kaiba war auch ständig für mich da, auch wenn ich es da oft nicht gerafft hatte.« »Joey, du musst nichts beweisen.« Ich zupfte ein wenig an den Grashalmen, spürte, wie sie zwischen meinen Fingern kitzelten und riss sie dann aus. Es tat gut. »Beweisen? Was sollte ich beweisen wollen?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und öffnete den Mund wieder, um diesen Frust in meinem Mund loszuwerden. Aber Serenity legte ihre Hand auf meinen Arm und ich verstummte. »Das weißt du am besten, Bruderherz.« Dabei hatte ich das Gefühl, den Durchblick komplett verloren zu haben.   Meistens dachte man, Leute zu kennen und erst irgendein Ereignis zeigte, wie falsch man lag. Man nahm an, das Leben würde immer so weitergehen, wie man es kannte und plötzlich wackelte es und brach in sich zusammen. Erst dann verstand man, wie naiv man gewesen war. Ich fand Briefchen in meinem Spind, auf denen »Schwuchtel« stand. Es war mir egal. Tris und Yugi hatten Recht. Es würde nur unnötig Stress geben, herauszufinden, wer das tat. Wahrscheinlich würde es nichts bringen. Die Leute tuschelten, wenn sie dachten, ich bekäme es nicht mit. Ich gewöhnte mich dran. Es war okay. Ich hätte es so weiterlaufen lassen. Es war Alltag und manchmal fragte ich mich, wann es das geworden war. Kaibas Büro war mir so vertraut wie er. Und Mokubas und sein Schweigen wurden so alltäglich, wie meine Besuche in Kaibas Villa. Wie das Gekicher und Getuschel in der Schule. Wie das Gefühl, immer weiter weg von Kaiba und Mokuba zu rücken. »Wo warst du, Mokuba?« Er blieb wie angewurzelt stehen, als Kaiba im Türrahmen zur Küche hochragte wie ein lauernder Schatten. Ich saß am Küchentresen und wünschte, ich wäre doch schon gegangen. »Seit wann interessiert dich das?«, murrte Mokuba und nahm sich einen Apfel, biss hinein und wollte einfach an seinem großen Bruder vorbeischlüpfen. Kaiba hielt ihn an seinem Ärmel fest und ich sah förmlich vor mir, wie die Ader an Kaibas Schläfe zu pochen begann. Er atmete tief durch und zwang sich mit ruhiger Stimme zu antworten. »Du weißt, dass du mir wichtig bist, Mokuba. Wenn es etwas gibt, worüber –« »Nope.« Damit riss er seinen Ärmel los und schritt an seinem Bruder vorbei. »Mokuba«, Kaibas Stimme klang wie zum Zerreißen gespannt, »warum riechst du nach Zigarettenrauch?« »Ich habe vorhin eine geraucht.« Mir klappte der Kiefer herunter. Ich hätte jede Wette verloren, denn Kaiba explodierte nicht. Im Gegenteil. Er schritt zurück in die Küche, ließ Mokuba im Türrahmen stehen, setzte sich ohne etwas zu sagen, nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, stellte es wieder auf den Küchentresen. Mokuba beobachtete seinen Bruder. Vielleicht wartete er auf die Explosion wie ich, vielleicht kannte er seinen Bruder besser und wusste, was als nächstes geschehen sollte. »Was willst du damit erreichen?«, fragte Kaiba und rückte seine Krawatte zurecht, als befände er sich in einer Verhandlung. Wahrscheinlich wünschte er sich das. Es wäre etwas gewesen, worin er sich auskannte. Sein Gegenüber zu manipulieren, Geschäfte gewinnbringend abzuschließen. Aber das hier war etwas völlig Anderes. »Ich will nichts erreichen. Ich will nur tun, was mir gefällt. Was ich für richtig halte«, knurrte Mokuba und ließ seinen großen Bruder stehen. Kaibas Blick wanderte zu mir und ich schrumpfte in mir zusammen. »Verschwinde endlich, Wheeler.«   Menschen sind die meiste Zeit nicht nett zu anderen. Sie haben Besseres zu tun. Meistens kümmern sie sich um sich selbst und ignorieren, dass andere Menschen auch Sorgen mit sich herumschleppen. Dass sie sich Problemen stellen müssen, obwohl sie glauben, nicht die Kraft dafür zu haben. Dass sie sich mit Ängsten quälen, während sie denken, sie würden es nie schaffen. Ich sah doch auch nur meine kleine Welt, obwohl ich glaubte, zu verstehen, was andere durchmachten. Letztlich war es nur eine Illusion.   Wir rückten in der Pause die Köpfe zusammen, als Tris erklärte, er hätte etwas herausgefunden. Ich dachte an Kaiba und unser Vorhaben, mehr über seine Vergangenheit zusammenzutragen und daran, was mit Mokuba los war. Ich wusste nicht, ob das eine mit dem anderen helfen würde. Aber ich hoffte, mehr Informationen würden mich aus meiner Ahnungslosigkeit befreien. Es war so ein Tag, an dem ich mir wünschte, es wären Ferien. Wir hätten am Weiher liegen können oder wenigstens im Garten sitzen. Stattdessen mussten wir uns im Unterricht mit Idioten und in der Pause mit Arschlöchern herumschlagen. »Dieser Typ«, begann er, »ist in der 9. Klasse, sein Name ist Christian. Ich habe gehört, er war früher mit Ushio befreundet.« Ich legte meinen Kopf in den Nacken und hielt meine Stirn. Das durfte doch nicht wahr sein. Thea runzelte die Stirn und Yugi rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Natürlich würden mehr Informationen nur mehr Chaos in meinem Leben verursachen. »Welcher Typ? Und wer ist Ushio?« Tristan erklärte kurz, was letztens im Unterricht passiert war, obwohl ich von dem Thema ablenken wollte. Es war wirklich keine große Sache und Thea würde das alles nur wieder dramatischer sehen, als es war. Doch sie blieb ganz gefasst, atmete tief durch und fragte dann nochmals nach Ushio. »Ein alter Freund«, spöttelte Tris und ich schnaufte. »Das ist Jahre her«, fiel ich ihm ins Wort und winkte ab. »Und warum sollte er jetzt deswegen Joey mobben?«, fragte Thea, als verhörte sie Zeugen. »Das ist doch kein Mobbing. Er ist nur ein Idiot, der sonst keine Hobbies hat«, sagte ich. »Irgendwann findet er etwas Anderes und dann ist das wieder alles okay. Es gibt eben Arschlöcher auf der Welt und –« »Mobbing bedeutet, er hat es auf dich abgesehen und greift dich systematisch über längere Zeit an. Das muss nicht körperlich sein«, fuhr sie mir über den Mund, als ich etwas einwerfen wollte. »Das ist nicht in Ordnung, Joey, und wir sollten etwas dagegen übernehmen. Am besten du gehst zu einem Lehrer und –« Tris und ich wechselten ein Blick. »Ich weiß, ihr habt nicht unbedingt die beste Erfahrung mit Lehrern, aber nicht alle sind so inkompetent und es gibt Maßnahmen gegen Mobbing.« Wahrscheinlich hatte sie Recht. Wir waren nicht gerade die Lieblingsschüler, aber es gab auch richtig gute Lehrer, die uns nicht im Stich lassen würden. Aber trotzdem. »Thea, ich glaube, du übertreibst. Echt jetzt. Wir haben ganz andere Sachen, um die wir uns kümmern sollten«, sagte ich und wollte endlich über diese wirklich wichtigen Dinge reden. Thea schaute mich mir diesem Blick an, diesem »Ich-werde-das-Thema-nicht-fallen-lassen-auch-wenn-du-es-herunterspielst-Joey-Wheeler«-Blick. Ich seufzte. »Und ich gehe zu einem Lehrer, wenn das mit dem nicht besser wird.« Sie hob lediglich die Augenbrauen und Yugi schaute zur Seite, als würde ich so nicht sehen, wie er grinste. »Versprochen«, setzte ich resigniert nach und endlich ließ sie es dabei.   Früher hing Mokuba um Kaibas Beine, sah zu ihm auf und redete in einem Ton von seinem Bruder, der jeden neidisch machen konnte. Inzwischen verließ Mokuba das Zimmer, wenn Kaiba es betrat, sah an ihm vorbei und redete kein Ton mit ihm. Kaiba ertrug es. Auch, wenn das hieß, dass er sich versuchte in Arbeit zu ertränken. Seine Launen hingen nur knapp über Null und er hatte kaum einen Blick für etwas, das sich nicht auf seinem Laptopbildschirm befand. Es war vielleicht ironisch, dass Kaiba gerade darin, was Mokuba ihm wortlos vorwarf, Zuflucht suchte. Ich besuchte Sarah fast täglich in ihrem Büro. Wir brainstormten, lachten, unterhielten uns über die KC und »rein hypothetischen« Ideen zu Projekten.  Aber sobald ich versuchte herauszubekommen, was Mokuba ihr anvertraut hatte oder wie ich Kaiba in etwas Erträglicheres als einen sarkastischen Roboter verwandeln konnte, schüttelte Sarah nur traurig lächelnd den Kopf.   Was bedeutete schon, sich nahe zu stehen? Wenn man nur die schönen Tage zähle. Was bedeutete schon, sich zu stützen? Wenn man ebenfalls wegknickte. Und was hieß es schon, jemand zu sein? Wenn man sich selbst nicht mochte. »Mokuba, du gehst in die Schule. Du machst deine Hausaufgaben. Und du wirst mit einem blendenden Zeugnis abgehen und studieren.« Es waren die Diskussionen, die immer gleich endeten, egal, wie sie begannen. »Warum?« »Weil du es kannst.« »Warum sollte ich?« »Ich werde nicht zuschauen, wie du deine Zukunft wegwirfst nur aufgrund einer Phase des Trotzes.« »Warum sollte ich das tun, nur weil ich es kann? Oder nur weil es mir jemand vorschreibt?« Was bedeutete es schon, jemanden zu lieben? »Ich bin nicht wie du.« Mokuba rauschte aus dem Zimmer und die Tür krachte hinter ihm zu. Die Stille war dann immer dieselbe. Ich hielt den Atem an und wünschte, Kaiba würde nicht zulassen, wie Mokuba sich immer weiter entfernte. »Vielleicht solltest du –« Etwas, das nicht in Metern zu messen war. »Halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus, Köter.« – ihm nachgehen.   Kaiba verbrachte kaum mehr Zeit in der Schule. Er erarbeitete eigenständig Essays, gab sie als aktive Teilnahme den Lehrern ab und war nur anwesend, wenn schriftliche Überprüfungen anstanden. Ansonsten war er entschuldigt. Ich wusste nicht, wie er es schaffte, trotzdem besser zu sein als jeder in der Stufe. Er war besser als Yugi und Thea zusammen. Kaiba verbrachte kaum mehr Zeit in der Villa. Egal, wann ich anrief, Kaiba war nicht da. Egal, welche Nummer ich wählte. Roland verwies mich auf das Geschäftstelefon und Kaibas Sekretärin erklärte mir mitunter mehrmals am Tag, dass Seto Kaiba gerade leider nicht erreichbar war. Wichtige Geschäftspartner, Termine, Fristen, Kunden. Mehrmals am Tag wollte ich Kaiba sein Telefon – vornehmlich alle, die er besaß – einen Ort hochschieben, der für Telefone ungeeignet war. Irgendwann ließ ich es bleiben und der Zorn verebbte. Die Vorrunden des Turniers standen an und in der KC herrschte ein systematisches Chaos. Und ich bemerkte mit einem bittersüßen Gefühl, wie sehr es mir fehlte. Obwohl mich meine ehemaligen Kollegen so herzlich wie stets begrüßten, war ich nur noch ein Außenstehender. Ich beobachtete, wie mein ehemaliges Team in den Animation Studios neue Designs prüften, die erstmalig in den finalen Runden des Wettbewerbs virtuell ihren Auftritt haben sollten. Spürte die Aufregung, die blankliegenden Nerven und die Begeisterung, wenn alles lief, wie geplant. Aber ich war nur ein Zuschauer. Obwohl ich oft in der KC war, schaffte ich es immer weniger in Kaibas Büro. Niemand hielt mich auf. Nur Kaibas Schweigen, seine Launen, seine sarkastischen Kommentare, die völlig neue Qualität bekamen, ließen jeden seine Gegenwart meiden. Vielleicht war ich zu nett. Vielleicht war es auch reine Dummheit. »Wie geht es dir?«, fragte ich und trat an die Glasscheiben heran. Domino lag unter mir und obwohl ich schon so oft diesen Ausblick gesehen hatte, wusste ich, ich würde mich niemals daran gewöhnen. »Verschwinde, Wheeler.« Genauso wie ich mich niemals an Kaiba hätte gewöhnen sollen. Was bedeutete schon, sich nahe zu stehen? Wenn man nur die schönen Tage zähle. Wirklich nahe kam man sich doch in den anderen Zeiten. Wenn man wusste, dass es galt. Wenn man nur hoffen konnte, dass der andere einen fangen würde, während man im freien Fall auf ein unbekanntes Ende zuraste. »Nein«, sagte ich leichthin und lehnte mich gegen seinen Schreibtisch. »Ich will wissen, wie es dir geht?« Kaiba sah nicht auf, tippte, massierte seine Schläfen und tippte weiter auf den Tastaturen, als spielte er ein Instrument. Ich wusste, meine Finger würden nie so über Tasten fliegen. »Du siehst scheiße aus, weißt du? Du solltest mal wieder schlafen. In einem Bett.« »Ich brauche deine Ratschläge nicht, Köter.« Kaiba brachte alle auf Abstand mit seinen Blicken und Sprüchen. Er baute eine Mauer um sich herum auf mit seinen Worten und der Mimik. Ich wusste das, denn ich tat dasselbe, wenn ich nicht weiterwusste. »Das würdest du nicht sagen, wenn du dich gerade sehen könntest, Idiot.« Aber ich gab nicht so schnell auf wie andere. »Wheeler, momentan stört mich lediglich, dass ich dich sehen kann.« Was bedeutete schon, sich zu stützen? Wenn man ebenfalls wegknickte. Nichts, denn wirklich aufeinander verlassen konnte man sich erst, wenn einer nicht mehr konnte, aber der andere nicht aufgab. Wenn man den anderen trug, wenn er nicht mehr laufen konnte. »Ich weiß nicht, was abgeht. Und du hast keine Ahnung, was Mokuba durchmacht. Aber du tust so, als wüsstest du es. Vielleicht ist das dein Problem. Komm mal klar damit, dass sich nicht alles nur um dich dreht, Geldsack! Dass du nicht alles weißt.« Und was hieß es schon, jemand zu sein? Wenn man sich selbst nicht mochte. »Mein ganzes Leben«, knurrte er, »dreht sich um Mokuba. Mein gesamtes, beschissenes Leben.« Er wurde immer lauter. Die Tastatur verstummte und es blieben nur unsere Worte, die schwer in der Luft hingen. »Wirklich?«, spottete ich. »Mokuba bedeutet mir alles«, sagte er viel zu ruhig. So ruhig, dass ich wusste, dass er kurz vor der Explosion stand. »Oder redest du dir das nur ein, um vor dir selbst dein bekacktes Leben zu rechtfertigen?« Und ich wollte es. Ich wartete darauf, dass er explodierte. Dass dieses Schweigen, das mehr einpackte als nur Worte, zerbrach. Dass die oberflächliche Ignoranz bröckelte und endlich, endlich alles herauskam, was ungesagt war. »Du hast keine Ahnung, was wir gemeinsam erlebt haben und du hast kein Recht, kein Recht –« Er redete dazwischen, hämmerte Worte zwischen meine, die ich ignorierte. Ich hörte ihm nicht zu und es war mir egal, dass er mir nicht zuhörte. »Was würdest du tun, wenn Mokuba dir sagt, dass er diese Firma hasst? Dass sie alles kaputt macht, was ihm wichtig ist?« Ich wollte nur endlich so Vieles loswerden. »Du würdest nichts ändern, Kaiba. Dir wäre es egal. Vielleicht würdest du ihm etwas kaufen, um dein Gewissen zu beruhigen, oder eins, zwei Wochenenden früher nach Hause kommen, aber du würdest eher Mokuba gehen lassen als diese verfickte Firma.« Ich schrie. Ich schrie und er schrie und ich bemerkte es erst, als ich außer Atem damit aufhörte. Kaiba massierte seine Nasenwurzel. Ich hoffte, sein Kopf stand kurz vor der Implosion, denn meiner tat es. Ich hörte mein Herz trommeln und meine Atemzüge und ich fragte mich, wann wir falsch abgebogen waren. Das Schweigen schluckte unsere Worte und Kaiba starrte mich an und dann zog er seine Augenlider zusammen, sein Mund verzog sich und ich wollte einfach nur noch gehen. Ich wusste, das hier würde nicht gut enden. »Hast du nicht deine eigene kaputte Familie, um die du dich kümmern kannst?« Ich schluckte. Da war dieser beißende Geschmack in meinem Mund. Diese bittere Galle, als hätte ich Sodbrennen. Was bedeutete es schon, jemanden zu lieben? »Das stimmt«, ätzte ich. »Warum verschwende ich hier eigentlich meine Zeit?« Ich schlug die Tür hinter mir zu und wusste, es wäre das letzte Mal gewesen.   Es war einfach, Menschen zu verurteilen, wenn sie sich schräg verhielten. Es war schwierig zu verstehen, warum sich Menschen schräg verhielten. Oft suchte man Abstand, wenn man Dinge nicht verstand. Oder wenn man mit Veränderungen nicht umgehen konnte. Manchmal verletzten einen diese neuen Entwicklungen so sehr, dass man gar nicht anders konnte. Ich wollte alles hinschmeißen. Kaibas Vergangenheit interessierte mich nicht mehr und Mokubas Probleme gingen mich nichts an. Ich wollte einfach meine Ruhe. Und ich hielt mich fast zwei Wochen an diesen neuen Leitsatz. »Hey, was ist da vorne los?« Tris reckte seinen Hals, während ich neben ihm und Yugi her trottete. Es war Pause und wir auf dem Weg zu Thea, die an unserem üblichen Platz im Schulhof bestimmt schon auf uns wartete. Ich wollte mich um mein eigenes Leben kümmern. »Hä? Wo?« Ich folgte seinem Blick und sah es endlich auch. Es hatte sich eine ganze Schülermenge angesammelt. Manche riefen etwas, andere lachten. Wir drängten uns vorbei und mir blieb die Frage »Wer da so eine Show veranstaltete« im Hals stecken. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass »mein eigenes Leben« nicht nur »um mich selbst« bedeutete und all diese lahmen Vorsätze brachen ineinander. »Hey! Lasst ihn los!«, brüllte ich über den Tumult hinweg und schob mich an irgendwelchen gaffenden Mitschülern vorbei. Ein Typ hielt Mokuba im Schwitzkasten. Er sah mitgenommen aus, als hätte er sich auf dem Boden gewälzt. Sein Hemd war am Ärmel aufgerissen, Kratzer zogen sich über sein Gesicht, seine Wange geschwollen. Zwei weitere standen um ihn herum. Und dann stand einer da, als würde er über die Situation entscheiden. »Das ist doch dieser Typ, dieser Christian«, sagte Tris so, dass nur ich es hörte und ich biss meine Zähne aufeinander. Ich war ein netter Mensch. Zumindest zu neunzig Prozent meiner Mitmenschen. »Was ist hier los?«, fragte ich diesen Idioten, der dastand, als wäre er etwas Besseres. Er strich eine Strähne seines schwarzen Haares zurück und grinste mich an. »Oh, du bist da, Wheeler«, machte er und schritt neben Mokuba, betrachtete ihn wie eine Trophäe, die ihren Glanz verloren hatte. »Sag mal, lässt du dich immer wie eine Prinzessin verteidigen?« Mein Blick wanderte zu Mokuba. »Lasst ihn in Ruhe!«, knurrte er und stierte diese Typen an. Was zur Hölle lief hier? Er wich meinem Blick aus, ballte seine Fäuste und zappelte, entkam dem Griff des Riesen hinter ihm aber nicht. »Na, na, Mokuba. Ich finde, wir sollten darüber reden, nicht?«, spottete dieser Typ. »Alter, lass ihn los«, sagte ich. Langsam ging er mir mehr als auf die Nerven. Seine Gorillas machten ihn nicht gerade sympathischer und die gaffenden Leute um uns herum ließen meine Nerven noch dünner werden, als sie eh schon waren. »Hattest du eigentlich schon mal eine Freundin?«, fragte Christian mich und ich runzelte die Stirn. Ich warf Tris einen Blick zu, er zuckte die Schulter und ich atmete tief durch. »Ich entnehme deinem entgeisterten Gesichtsausdruck, dass das nicht der Fall ist. Also woher weißt du es? Wenn du noch nie eine Freundin hattest?« »Woher weiß ich was?« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, was Mokuba damit zu tun hatte und eine nicht vorhandene Freundin. Ich wusste aber, dass es nur Gülle sein konnte, so wie Christian gehässig seinen Mundwinkel hob. »Dass du eine Schwuchtel bist.« Die Blicke stachen mir in den Rücken. Die Typen beobachteten meine Gestik, als rechneten sie damit, dass ich jeden Moment auf sie zustürzte. »Wow«, erwiderte ich. »Damit hast du mich jetzt echt getroffen, Arschloch.« Früher hätte ich das vielleicht getan. Früher hätte mich so etwas in meiner Ehre verletzt. Aber jetzt gab ich nichts mehr auf Meinungen von Typen wie Christian. »Jeder hier weiß, dass du nichts Anderes als Kaibas kleine Schlampe bist«, spuckte er mir vor die Füße. Früher hätte ich ihn gepackt, Tris hätte ihn festgehalten und wir hätten ihn verprügelt, bis er vergaß, weswegen. Aber jetzt baute sich meine Ehre anders auf. Ich brauchte niemandem etwas beweisen. Nicht so. »Wie lange hast du das denn vor dem Spiegel geübt?«, spöttelte ich und Tris brach in Gelächter aus. Das irritierte die Typen anscheinend dermaßen, dass sie sich verwirrt anschauten. Ich verdrehte nur die Augen und schritt langsam auf Mokuba zu, der noch immer von diesem Riesen festgehalten wurde. »Wenn ihr nicht aufhört, kommt gleich ein Lehrer und ihr seid dran«, sagte ich. »Lasst Mokuba endlich los oder ihr bekommt richtige Probleme.« Und ich zählte innerlich bis zehn. »Wir reden doch nur«, behauptete Christian höhnisch. Eins. »Habt ihr Mokuba schon öfters so zugerichtet? Wart ihr das?«, fragte ich mit unterdrücktem Zorn und spürte, wie mir die Galle hochkam. Zwei. Da war etwas in mir, das ich versuchte unter Kontrolle zu halten. Ich wollte nicht wissen, was passierte, wenn mir das nicht gelang. »Mokuba hat die Auseinandersetzung gesucht«, behauptete er. »Er hat uns gegenüber einfach angefangen handgreiflich zu werden. Wir wehren uns nur.« Drei. »So ein Schwachsinn«, sagte ich. Mokuba würde nie einfach jemanden angreifen. Sollte er tatsächlich etwas getan haben, mussten sie ihn richtig provoziert haben oder er hatte sich nur verteidigt. »Schön, es kann sein – Wahrscheinlich gefiel ihm nicht unsere Meinung über seinen Bruder und dich. Aber hey, Meinungsfreiheit und so.« Die Typen hinter Christian lachten wie Affen. Mokuba verzog das Gesicht zu einer finsteren Grimasse. Vier. »Ihr verbreitet Lügen, ihr miesen Arschl-« »Na, na, Mokuba. Solltest du solche Wörter in den Mund nehmen? Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass sich das nicht gehört?« Unsere Mitschüler tuschelten. Tristan neben mir zog scharf die Luft ein und ich hörte den Puls in meinen Ohren rauschen. Fünf. »Ach, stimmt. Das konnten sie ja nicht. Sie sind ja tot. Sorry.« Ich beobachtete in Mokubas Mimik, wie etwas bröckelte. Die Fassade des Jugendlichen, dem es egal war, was Menschen über seine Familie sagten. Der darauf getrimmt war, eine Mauer zwischen sich und die Meinungen anderer aufrecht zu erhalten. Der das Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren hatte. Es bröckelte wie alter Verputz und zurück war der Junge, der die Bewunderung für seinen großen Bruder in jedem Gesichtszug trug. Der nie die Möglichkeit gehabt hatte, seinen Eltern dasselbe zu zeigen. »Was glaubst du ist besser, Wheeler? Tote Eltern oder Eltern wie deine?«, fuhr Christian fort, als redete er über das Wetter. Sechs. Ich war ein netter Mensch. Die einzige Ausnahme waren Arschlöcher. Ironischerweise gab es davon zu viele auf der Welt und in der Schule sammelten sich eine Menge davon. »Joey«, murmelte Tristan neben mir und wollte nach meinem Arm greifen, doch ich schüttelte ihn ab. Ich drehte mich um zu Christian, betrachtete seine Mimik, die Genugtuung, weil er glaubte, mir wehtun zu können. »Weißt du, dein Problem ist, dass du glaubst, du wärst sicher«, sagte ich langsam. »Du glaubst, deine Gorillas hier würden dir helfen, wenn es hart auf hart kommt.« Ich spürte ihre Blicke und das angespannte Raunen der Schüler um uns herum. Tristan neben mir trat von einem Bein auf das andere, murmelte Dinge, die mich beruhigen sollten. Er wusste, was kommen würde. Christian konnte mir nicht wehtun. Das Problem war, er war mir egal. Er war nicht einmal den Blick wert, dem ich ihm zuwarf. »Du glaubst, du kennst mich.« Es ging hier nicht um Stolz. Früher wäre es das vielleicht gegangen. Aber ich pfiff inzwischen auf so ein oberflächliches Ehrgefühl. »Du glaubst, ich wäre zu nett, dir zu beweisen, wie falsch du liegst.« Ich seufzte, betrachtete meine neuen Klamotten, während ich meine Ärmel hochkrempelte, ließ meinen Blick gelangweilt über die Menge schweifen. Tris war inzwischen ganz still. »Und du glaubst, weil hier so viele Zeugen stehen, würde ich es nicht riskieren, Ärger zu machen.« Mit einem Ruck sah ich zu Christian, stierte ihm in die Augen. Er grinste und ich schlenderte direkt vor ihn, baute mich vor ihm auf und kam ihm ganz nahe mit meinem Gesicht. Ich sah, wie sein Grinsen wackelte. »Das Problem ist«, flüsterte ich und beobachtete, wie sich seine Augen weiteten, »du hast es geschafft, Mokuba wehzutun.« Es war pures Adrenalin, das durch meine Adern schoss. Jemand schrie etwas. Meine Muskeln zogen sich zusammen und der Aufprall ließ meine Finger knacken. Meine Konzentration blendete alles andere aus. Der Schlag gegen seinen Kiefer pfefferte seinen Kopf zurück, er zog instinktiv die Arme vors Gesicht, stolperte rückwärts über seine Beine und fiel zu Boden. Ich drehte mich langsam um, rieb meine Fäuste und diese Affentypen hoben defensiv die Hände. »Wir wollten gar nicht mitmachen«, behauptete einer und rückte immer weiter zurück. Als mein Blick auf Mokuba fiel, ließ der Riese ihn los, als hätte er sich an ihm verbrannt. »Ich habe nichts gegen den Kleinen, echt nicht«, sagte er und verschwand dann in der Schülermenge. Mokuba stolperte auf uns zu und drückte sich in meine Umarmung, das Gesicht gegen meinen Brustkorb. »Es tut mir leid«, schniefte er, »es tut mir leid.« »Verschwindet endlich«, rief Tris und versuchte die Menge mit Handgesten endlich aufzulösen. Die Schüler kamen langsam in Bewegung, hielten ihre Köpfe zusammen, während sie sich allmählich verstreuten. Jemand beugte sich über Christian und stützte ihn, führte ihn humpelnd weg. »Das wirst du bereuen, das sage ich dir, Wheeler«, rief er, doch die Drohung verpuffte zwischen seinem Gewimmer. Ich strich Mokuba über seine Locken und seufzte. »Du solltest langsam erzählen, was los ist, Mokuba«, flüsterte ich. »Was hattest du mit diesen Typen zu tun?« Er hob sein Gesicht und ich sah die geröteten Augen, seine verschmierten Wangen und schaute verlegen weg. »Jetzt lass uns aber erstmal – ähm.« Ich schaute planlos zu Tristan, der uns mit blanker Miene beobachtete. »Wahrscheinlich sollten wir Kaiba anrufen. Am besten wir gehen ins Sekretariat.« Ich war froh, Tristan zu haben. Er war der mit dem kühlen Kopf. Also schlenderten wir zusammen Richtung Schulgebäude. Mokuba schniefte immer mal wieder und das Geräusch sendete Wellen der Erleichterung durch meinen Körper. Vielleicht war es unsinnig, aber ich hatte das Gefühl, Mokuba war zu mir zurückgekehrt. Ich strich ihm über das Haar und lächelte trotz des Pochens in meiner Hand. »Joey, ich glaube, das gibt richtig Ärger«, murmelte Tris, während wir durch die Korridore gingen. Unsere Schritte hallten wider und je näher wir dem Sekretariat kamen, desto mehr schrumpfte ich. Alle Szenarien, die mir zu dem Telefonat mit Kaiba einfielen, endeten in einer Katastrophe.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)