Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 69: ... bin berührt ---------------------------   __________________________________________   Die Wahrheit wird nicht davon berührt, dass die meisten Menschen sie für die Unwahrheit halten. © Peter Bermes __________________________________________             Ich war kein Genie. Anders als bei Kaiba befürchtete bei mir niemand, dass ich eines Tages die Weltherrschaft an mich riss. Ehrlich gesagt wüsste ich auch nicht, was daran so toll sein sollte. Ich wollte lieber meine Ruhe, die Nacht durch zocken und den Tag verschlafen, mit meinen Freunden abhängen, in Herrn Mutos Garten grillen und auf dem Weihnachtsmarkt ganz in Ruhe Glühwein trinken. Ich hatte lange Zeit gedacht, wenn man berühmt und reich wäre, hätte man keine Sorgen. Ich wollte gebraucht werden, wichtig sein und Aufmerksamkeit. Ich wollte nicht unsichtbar bleiben. Dann wäre ich glücklich, hatte ich gedacht. Ich lag falsch.   In der Schule waberte ein beklemmendes Gefühl in den Gängen, über unseren Gesprächen, zwischen den Unterrichtsstunden. Ich begriff nicht, wie unsere Mitschüler so sorglos kichern und quatschen konnten, während wir hier unseren Kopf zerbrachen, was Christian als nächstes plante. »Ich hatte es verloren. Ich habe gedacht, es taucht schon wieder auf.« Mokuba trat von einem Bein aufs andere und ich pustete mir eine Strähne meines Ponys aus der Stirn. »Ganz ehrlich, er hat es doch geklaut«, murrte ich. Mir konnte niemand erzählen, dass es ein Zufall war. Mokuba verlor sein Handy und – so eine Überraschung – es tauchte bei Christian auf, der mich damit anrief. Wir standen in der Hofpause beisammen und ich versuchte, nicht loszustürmen und mir Christian persönlich vorzuknöpfen. Hörte diese Scheiße nie auf? Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken und gemeinsam trotteten wir Richtung Schulgebäude. »Muss aufs Klo«, verabschiedete ich mich kurzangebunden und meinte damit »Lasst Mokuba nicht aus den Augen«. Wer wusste schon, was Christian noch einfallen würde. Wir jedenfalls würden Mokuba nicht im Stich lassen. Unsere Mitschüler stampften durch die Flure, riefen, lachten und redeten. Es war ein unheimlicher Tumult, in dem ich das Gefühl hatte, unterzugehen. Das Gefühl, unsichtbar zu sein. Dann schlüpfte ich durch die Tür der Jungentoilette. Stille. Ein Gestank von Urinstein wehte mir entgegen. Und das Echo meiner Schritte. Mit angewidert verzogenem Mund war ich gerade dabei meine Hose zu öffnen und hielt inne. »Wheeler.« Irritiert drehte ich mich um. Das war jetzt nicht wahr. »Du wirst ja wohl ohne meine Hilfe pissen können?« Christian verengte seine Augen. Scheinbar verstand er meine Ansage nicht, mich in Ruhe zu lassen. »Ich habe gedacht, unser Gespräch wäre bei dir angekommen.« Ich seufzte und wedelte mit meiner Hand, als könnte ich ihn wie eine lästige Mücke vertreiben. »Zwischen Mokuba und Kaiba ist wieder alles soweit in Ordnung. Du hast verloren. Lass es gut sein.« Meine Blase drückte und ich hatte wirklich keine Nerven mehr, mich mit seinen Pseudoproblemen herumzuschlagen. »Du kapierst es wirklich nicht.« Er kam auf mich zu. Jeder Schritt füllte den Raum und ich wollte am liebsten an ihm vorbei aus dem Raum stürmen. Oder ihn gegen die nächste Wand drücken und sein Lächeln in die Fliesen hämmern. »Was meinst du?«, fragte ich genervt. Er stand ganz nah vor mir, lehnte sich vor und betrachtete meine Lippen. Sein Blick schweifte über mein Gesicht, dann starrte er mir in die Augen. »Das ist doch dein Problem, nicht?« Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. »Alle unterschätzen dich. Aber dein größtes Problem ist: Du unterschätzt dich selbst.« Ich spürte, wie sich meine Augen weiteten. »Erzähl doch nicht so einen«, meine Stimme versagte. Er beugte sich zu mir, so nah, dass ich einen Schritt zurückstolperte. Christian lachte leise und machte einen weiteren auf mich zu. Ich stand an der Wand, spürte die Kacheln in meinem Rücken und er beugte sich zu mir. »Glaubst du, Kaiba weiß dich zu schätzen?«, hauchte er in mein Ohr. »Glaubst du nicht, er sieht in dir nur einen Angestellten, den er austauscht, sobald jemand Talentierteres vorbeikommt?« Er ließ mir kaum Raum zum Atmen. »Oder ist dir das egal? Hängst du an ihm, weil er dir Liebe schenkt?« Er sprach ›Liebe‹ so verächtlich aus, als wäre es eine ansteckende Krankheit. »Ist es dir egal, dass sie von einem widerwärtigen Arschloch kommt, den es einen feuchten Dreck kümmert, was aus dir wird? So wie bei deinem Vater?« »Erzähl keinen Scheiß! Was weißt du von meinem Vater?« Mit einer Bewegung kesselte er mich ein, wie eine Umarmung, die mir die Luft nahm. »Nimmst du dieses Gefühl, beachtet zu werden, von jedem?«, sprach er weiter, als hätte ich gar nichts gesagt. »Ich kann es dir geben. Besser als Seto Kaiba.« Dann presste er sich an mich, seine Hände drückten meinen Po und er sich an meinen Schritt. Ich erstarrte. Meine Gedanken schrien. Das hier war nicht okay, das hier war nicht okay, das hier war NICHT OKAY! Aber ich konnte mich nicht rühren. Dann lachte er in mein Ohr und ich wollte ihm meine Faust gegen seine Zähne schlagen, aber ich konnte nicht. Er rückte von mir ab und wollte etwas sagen, als eine Stimme meine Starre sprengte. »Gibt es hier ein Problem?« Mein Blick jagte zu Seto Kaiba, der in seinem teuren Mantel und mit Aktenkoffer hier so deplatziert aussah, wie Designermöbel an einem Bahnhof. »Oh, Wheeler. Dein Herrchen ist hier«, flüsterte Christian und rückte von mir ab. Meine Muskeln spannten sich instinktiv an, als er mich anschaute – einen Moment zu lange, als es angebracht gewesen wäre. Aber was war hier überhaupt noch angemessen? »Einen lieben Gruß«, sagte Christian zu mir und strich mir einfach über die Wange, ich glaubte, mich zu verschlucken, »von deinem Vater.« Was zur Hölle? »Fass mich nicht an!«, zischte ich. Er lächelte. »Ich würde nie etwas tun, was du nicht willst, Joey.« Dann zog er seine Jacke gerade, ging zurück und lächelte Kaiba an, als er an ihm vorbei durch die Tür trat. »Was wollte er?« Ich starrte die Tür an, die sich schon längst wieder geschlossen hatte. »Was machst du hier?«, fragte ich ohne zu antworten. Kaiba verzog sein Gesicht, während sein Blick über das Pissoir glitt. »Ich habe gesehen, wie er dir hierher gefolgt ist.« Er schaffte es, dass seine Anmer kung nicht nach Sorge, sondern einem Termin klang, den er eben zu erledigen hatte. »Also? Was wollte er, Wheeler?« Als stünde irgendwo zwischen Meeting mit dem Komitee und der Besprechung für das nächste Quartal: Wheeler auf die Schultoilette folgen, um irgendein creepy Zusammentreffen mit Christian zu unterbinden. Zu spät, zu spät, zu spät, hallte in meinem Kopf. »Ich habe ehrlich keinen Plan.« Ich spürte noch immer seine Berührung und wollte mir am liebsten mein Gesicht waschen, meine Kleidung verbrennen und mich komplett duschen. Ich hatte mich noch nie so dreckig gefühlt.   Es gab Gefühle, für die es keine Namen gab. Zum Beispiel wenn du dich fragst, was du falsch gemacht hast, obwohl du keinen Fehler begangen hast, während in deinem Kopf immer wieder dieselbe Szene abspielt. Wenn es dir peinlich ist, obwohl du nichts getan hast, was dieses Gefühl rechtfertigt. Und du das weißt. Wenn du glaubst, du hättest anders reagieren müssen, obwohl du nicht konntest. Wenn du fürchtest, dir würde man die Verantwortung, ja, die Schuld zusprechen, obwohl du angegriffen worden bist. Oder zum Beispiel wenn man gleichzeitig glücklich, aber auch traurig war, weil man sich gerne an etwas erinnerte, aber einem klar war, dass es nie wieder so sein würde, weil man selbst nicht mehr der war, der man gewesen ist und eigentlich wollte man auch gar nicht, dass es wieder war, wie es gewesen ist, weil es gut war, wie es jetzt war. Yugi hatte melancholisch vorgeschlagen, aber das traf es nicht genau. Oder wenn man sich an etwas klammerte, obwohl man wusste, dass man loslassen sollte, aber dafür noch nicht bereit war, weil man wusste, man würde es vermissen, obwohl es einem zuletzt nur Schmerzen zubereitete. Im Nachhinein war es klar, dass es so kommen würde, aber im Nachhinein war man immer schlauer. Am einfachsten schien es, solche Gefühle zu verdrängen.   Freitags um Punkt sechzehn Uhr rauschte ich direkt vom Spielladen von Yugis Großvater in die Kaiba Corporation, sprang in den Fahrstuhl, fuhr damit in die oberste Ebene und nickte der Sekretärin mit einem breiten Grinsen zu. Sie lächelte zurück, ohne über meine abgewetzten Jeans oder das ausgewaschene Sweatshirt die Stirn zu runzeln. Mein Handy vibrierte, aber ich ignorierte es und stürmte in Kaibas Büro, natürlich ohne anzuklopfen. Das hier war kein Date. »Hey ho!«, rief ich und Kaiba legte seinen Finger auf den Mund, lauschte der Stimme am anderen Ende des Hörers und sprach dann über Aktien und Kurse, Deadlines und Lizenzen. Gähnend lehnte ich mich gegen seinen Schreibtisch. Einem Impuls folgend, legte ich meine Hand in sein Haar und ließ meine Finger durch seine Strähnen gleiten. Es war so sanft, ganz anders als meines. Er schloss die Augen, ohne das Gespräch zu unterbrechen und machte keine Anstalten, mich von meiner Berührung abzuhalten. Als er das Gespräch beendete, schnappte ich wie aus einer Trance und packte die Hände in meine Hosentaschen. »Du bist früh«, sagte er und legte das Telefon zurück, lehnte seine Finger gegeneinander und schaute hinaus über die Dächer Dominos. »Wir hatten sechzehn Uhr ausgemacht!«, widersprach ich verwirrt. Er schnaubte, dann schaute er zu mir hoch. Nur Seto Kaiba schaffte es, einem das Gefühl zu geben, auf Augenhöhe zu sein, während er saß und ich stand. »Eben. Und du bist überraschenderweise pünktlich.« Ich streckte ihm die Zunge heraus, schritt zur Garderobe und warf ihm seinen Mantel in den Schoß. »Hopp, hopp«, sagte ich, »ich habe Hunger.« »Wann nicht?«, murmelte er und ein Grinsen zupfte an seinem Mundwinkel. Niemand starrte mich hier an, wenn wir durch die Flure gingen. Als wäre es normal, dass ich hier auftauchte. Mein Handy vibrierte und ich verzog genervt meinen Mund. Meine Mutter wollte wissen, wo ich war. Hatte ich es ihr nicht tausendmal gesagt? Ihr ging es doch am Arsch vorbei, was ich sagte. Oder nicht sagte. Uns begrüßten ein paar Angestellte im Vorbeigehen mit einem Kopfnicken und als ich in den Lift sprang, Kaiba folgte mir gemächlich mit dem Aktenkoffer in der Hand, fragte ich mich, seit wann ich mich so fühlte, wenn Kaiba bei mir war. Wann war es so leicht mit Kaiba geworden? Ich drückte meine Nase gegen die Glasscheibe des Lifts und beobachtete die Anzugträger unter uns. Seit wann fühlte ich mich hier wohl? »Wheeler, du hinterlässt überall Pfotenabdrücke.« »Oh, sorry«, sagte ich abwesend und schob meine Hände in die Hosentaschen. »Hey, Geldsack!«, rief ich dann, als ich seine Worte wirklich registriert hatte, und sprang eine halbe Umdrehung zu ihm. »Ich habe keine –« Ich verstummte, als ich seine Mimik sah. Er grinste. Es war mehr ein Mundwinkelzucken, aber das war in Kaibas Welt schon eine krasse Gefühlsregung. Ich verengte meine Augen und fuhr mit meinem Blick über seine Lippen. Doch das war nicht das ›Du-bist-erbärmlich-aber-dich-auszulachen-ist-unter-meiner-Würde‹. Das hier war ein ehrlich amüsiertes Grinsen. Nichts weiter. Und doch so viel. Er stand da mit dem silbernen Aktenkoffer in der Hand, sein Anzug war faltenfrei, seine Schuhe poliert und sein Haar lag perfekt. Ganz anders als ich. Ich machte einen Schritt zu ihm, stand eine Handbreite vor ihm und atmete ein. Er duftete ganz fein nach Weichspüler und Aftershave. Um seine Augen bildeten sich diese Fältchen und seine blauen Augen strahlten, als würde die Sonne auf das Meer scheinen. Seit wann war seine Nähe so vertraut? Ich lehnte mich zu ihm und spürte, wie er seinen Atem anhielt. »Hier kann uns jeder sehen«, sagte er, wandte seinen Oberkörper genug von mir ab, dass ich mich fühlte, als hätte mich eine eiskalte Dusche erwischt. Er zog sein Handy aus der Stoffhose, um irgendetwas darauf zu tippen. Sein Ernst? »Ja«, krächzte ich, räusperte mich, wandte mich zur Glaswand des Lifts und starrte hinaus. Das hier war kein Date. Bei Dates hielt man die Hand des Anderen und himmelte ihn an. Ich redete mir den gesamten Heimweg über ein, dass Kaiba eine private Person war, dass er Berufliches und Persönliches trennte, dass er nicht vor seinen Angestellten mit einem Mitschüler irgendwie zu vertraut erscheinen wollte. Das war nachvollziehbar, das war professionell, das war zu akzeptieren. Ich redete mir ein, dass ich ihm nicht peinlich war. Und glaubte es mir fast. Das hier war kein Date. Bei Dates ging man in teure Restaurants. »Gib mir mal die Pommes! Und das Ketchup!« Oder ins Kino. Wir saßen auf dem Boden zwischen Couch und Tisch und schauten fern, während ich mein Kartendeck aufrüstete, Karten aussortierte und mit meinem Handy Strategien recherchierte. Mein Handy vibrierte und vibrierte und vibrierte. Kaiba hob die Augenbraue. »Nur meine Mutter«, murmelte ich irritiert. Kaiba schob die Packung Pommes in der Papiertüte herüber und sich selbst ein Stück Pizza in den Mund, während er seinen Laptop aufklappe. Man traf sich auf einen Drink. »Hier«, sagte er und drehte mir den Bildschirm zu. »Ich habe recherchiert und wahrscheinlich herausgefunden, warum Christian diese Obsession entwickelt hat.« Man zog teure Kleidung an und spazierte durch einen Park, um die Sterne zu beobachten. »Hä?«, machte ich und schaute ihn verdutzt an. »Du machst dir doch die ganze Zeit Gedanken darum.« Bei seinem Namen spürte ich die Galle in meiner Lunge. »Woher –?« »Du weißt, dass Mokuba bei seinen Freunden ist. Den versammelten Kindergarten hast du heute Nachmittag nach der Schule gesprochen und soweit ich weiß gibt es derzeit mit ihnen keine Konflikte. Du hast deine Hausaufgaben mit Mokuba gemacht. Also keine schulische Thematik. Damit bleiben nur deine Familie und das Problemfeld Christian.« Ich starrte ihn an, dann den mir zugewandten Bildschirm, dann wieder ihn. »Du vermeidest grundsätzlich über deine Familie zu reden, also habe ich auf Christian getippt. Vor allem nach der Begegnung, über die du auffällig unauffällig nicht redest.« Mir wurde flau im Magen. Christians Nähe war ekelerregend, obwohl er von den Mädels in der Schule umschwärmt wurde. »Wir könnten seinem Klassenlehrer davon berichten«, sagte Kaiba, als schlug er eine neue Strategie für das anstehende Turnier vor. »Wovon?« Kaiba fixierte mich. Ich wusste wovon er sprach und er wusste, dass ich es wusste. »Ist es deswegen?« Ich wich seinem Blick aus und betrachtete die Pommes zwischen meinen Fingern. »Was?«, fragte er. Die Berührung von Christian überschwemmte meine Erinnerung. Das Gefühl, sich nicht bewegen zu können, obwohl ich ihm am liebsten den Kopf in der Toilette gespült hätte. »Wheeler, was meinst du?« Sein Lächeln, das sagte, er hatte gewonnen, er würde bekommen, was er wollte. Und seine seltsamen Kommentare. »Du willst nicht, dass ich dich berühre«, murmelte ich. Stille. Als er so lange nichts sagte, dass ich glaubte, er hätte mich nicht gehört, sah ich auf. Kaiba starrte mich an. Ich hatte geglaubt, alle seine Gesichtsausdrücke zu kennen. Vor allem seine ›Ich-weiß-alles-besser-als-ihr-kognitiv-limitierten-Gestalten‹-Mimik, der ›Verschwende-nicht-meine-Zeit-mit-deinem-Geschwätz‹-Ausdruck und die ›Trägst-du-deinen-Kopf-eigentlich-nur-damit-es-nicht-in-deinen-Hals-regnet?‹-Gesichtszüge. Aber Kaiba hatte noch nie ehrlich verständnislos meinen Blick erwidert. »Weil – Christian – er wollte mich nur einschüchtern.« Ich legte die Pommes zurück in die Papiertüte und starrte angestrengt auf den Fernseher. Mein Handy vibrierte, aber dafür hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv. Kaiba schwieg und in jeder Silbe, die er nicht sprach, hörte ich, dass er wusste, dass mehr dahintersteckte. »Er hat nur – er wollte mich nur einschüchtern«, wiederholte ich lahm. »Okay«, sagte er und tippte eine Nummer. »Wen rufst du an?«, fragte ich und spürte die Panik in mir hochschwappen. Kaiba würde Christian anrufen oder Mokuba oder meine Freunde. Er würde nachforschen und mir Druck machen, wenn ich nicht damit herausrückte, was passiert war. Mir zog sich der Hals zu. »Ich fürchte, wir brauchen Schokoladeneis und Vanilleshakes, diverse Süßigkeiten, Popcorn, Nachos und eine, nein, zwei Tafeln weißer Schokolade mit Kokos«, sprach Kaiba in den Hörer, als ordnete er wichtige Unterlagen für ein super wichtiges Projekt und legte dann auf. »Was –?«, fragte ich verwirrt. »Wir haben nichts mehr davon im Haus«, sagte Kaiba, als wäre das offensichtlich. Ich betrachtete ihn, als hätte er sich gerade vor meinen Augen in ein DuelMonster verwandelt. Er biss in die Pizza und schluckte. »Mokuba wollte mir nie wirklich sagen, wenn es ihm nicht gut ging«, erzählte er dem Fernseher. »Er hat immer gedacht, ich hätte schon genug Probleme, ohne dass ich mir noch Sorgen um ihn machen müsste. Die Firma, die Presse, alles schien mir über den Kopf zu wachsen. Aber Mokuba hat nie verstanden, dass ich mir immer Gedanken um ihn mache. Also habe ich jedes Wochenende viel zu viel ungesunde Nahrungsmittel besorgen lassen und wir haben die ganze Nacht Filme gesehen und Süßigkeiten gegessen und irgendwann, wenn er es wollte, hat er geredet. Und ich habe zugehört.« Ich starrte Kaiba an. Das hier war kein Date. Auf Dates gestand man niemandem, dass man von jemanden so angefasst worden war, dass einem bei dem Gedanken daran übel wurde.   Kaiba nahm an der Tür die Bestellung von Roland entgegen. Ich hörte, wie sie ein paar Worte wechselten und konzentrierte mich auf den Film, von dem ich die Hälfte verpasst hatte, weil ich so in Gedanken war, dass ich nichts außer ihnen zu hören schien. War das hier Kaibas Art jemandem zu sagen, dass es okay war zu reden, wenn man so weit war? Musste er deswegen erst einmal ausholen und eine jahrealte Story von sich und Mokuba auspacken? Weil er es nicht schaffte, ganz simpel zu sagen: Lass dir Zeit. Ich bin hier. Ich sah ihn und Mokuba vor mir, wie sie Nächte damit verbrachten über Filme zu diskutieren, über Spiele, Karten zockten und ihre Träume und Pläne ausbreiteten und wie Kaiba Mokuba ganz sacht dazu brachte, seine Sorgen zu teilen, während er schwieg und lauschte und weiße Schokolade mit Kokos aß. Ich stopfte mich mit den Süßigkeiten voll, verschlang nebenbei noch mehr Pizza, aber das Gefühl der Leere verschwand nicht. Mein Handy vibrierte schon wieder. Meine Beine lagen über Kaibas Schoß. Mit der einen Hand griff er nach den Nachos, mit der anderen strich er mir gedankenabwesend über mein Knie. »Es ist nicht wirklich etwas passiert«, murmelte ich irgendwann nach drei Uhr in der Nacht. Das wusste ich, weil ich die Uhr anstarrte, um Kaibas Blick auszuweichen. »Er hat mich überrumpelt, der Arsch.« Die Leere füllte sich mit Wut und Scham. Ich zog meine Beine ein und setzte mich im Schneidersitz neben ihn. Warum war ich so bescheuert gewesen? So dumm und langsam? Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich blinzelte zu Kaiba herüber. Er sagte nichts, während er ein Stück der weißen Schokolade mit Kokos abbrach und in seinen Mund führte. »Ich hätte schneller reagieren müssen. Ich hätte ihn wegstoßen können oder ihm eine reinhauen. Mein Hirn war einfach zu lahm. Irgendwas hat da nicht gestimmt, sonst hätte er mich nie so einfach anfassen können!« Kaiba schaute mich an, seine Hand zuckte und einen Augenblick lang glaubte ich, er würde mich berühren, aber er tat es nicht. »Wheeler«, sagte er stattdessen scharf und ich zuckte zusammen. »Das Einzige«, er betonte es so, dass ich das Ausrufezeichen förmlich vor mir schweben sah, »das Einzige und nichts sonst, was nicht gestimmt hat war, dass er dich ohne dein Einverständnis angefasst hat!« Meine Augenlider weiteten sich. Scham und Wut verpufften und Erleichterung strömte durch mich hindurch. »Ich weiß«, murmelte ich. Ich war mir bewusst, dass er recht hatte. Denn niemand durfte jemanden schlagen oder verletzen. Niemand durfte einen anfassen, wenn man das nicht wollte. Aber dieses Wissen schloss nicht das Gefühl ein, nicht selbst daran schuld zu sein. Nicht selbst dazu beigetragen zu haben. »Ich weiß«, wiederholte ich bestimmter und dieses Mal berührten Kaibas Finger meine. Ich starrte unsere Hände an. Es schockierte mich, wie anders seine Berührung war als die von Christian. Wie sich mein Bauch mit klitzekleinen Explosionen füllte, die Wärme durch meinen ganzen Körper jagte. Das hier war kein Date. Ich würde es dem Klassenlehrer melden und der Schulleitung. Christian würde nicht damit durchkommen. Als ich in Kaibas Augen schaute wusste ich, dass ich nicht allein gegen Christian würde aussagen müssen. Es würde alles gut werden. Mein Handy vibrierte schon wieder und zerbröckelte den Moment. Genervt angelte ich es vom Tisch und schaute darauf. Zweihundertdreiundvierzigtausend Benachrichtigungen und Erwähnungen. »Was zur Hölle?« Es war auf Facebook. Auf Twitter. Auf Instagram. Überall. Mir wurde schlecht. Alles Blut sackte in meine Zehen. Ich grub meine Fingernägel in meine Kopfhaut. Das war nicht wahr. Das konnte nicht wirklich passieren. Als ich nicht reagierte, riss Kaiba mir mein Handy aus der Hand. Ich würde die Bilder nie wieder loswerden. Die Hashtags brannten mir in den Augen. Lange Zeit hatte ich das Gefühl gesucht, wichtig zu sein, hatte nach Aufmerksamkeit gelechzt. Ein Video. Ich wollte nicht unsichtbar bleiben. Ein Loop. Dann wäre ich glücklich, hatte ich gedacht. Strähnige Haare, eine fleckige Jacke und eine leere Flasche Bier, die er demjenigen entgegenwarf, der die Handyaufnahme machte. Glas zersplitterte auf den Pflastersteinen. »Mein Sohn ist keine Schwuchtel!«, schrie mein Vater in die Kamera. #KaibasSchwiegervater #JoeysAssivater Ich lag falsch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)