Philosopher's Game von Schangia (Wichtelgeschichte für Kekune) ================================================================================ Prolog: page. 0 | Game Over --------------------------- Als Mello damals Wammy's House verlassen hatte, war für Matt eine Welt zusammengebrochen. Die erste reale, nicht nur in einem Videospiel bestehende Welt, und seit er erleben musste, wie schmerzhaft solch ein Verlust sein konnte, wollte er bei seinen Spielen nie wieder die verhängnisvollen Worte ›Game Over‹ über den Bildschirm flimmern sehen. Dass sein bester Freund – er hatte immer geglaubt, dass er das war – ohne ein Wort des Abschieds gegangen war, nagte heute noch an ihm. Er hätte nicht versucht, Mello aufzuhalten, wenn er wirklich hätte gehen wollen. Warum also war das Einzige, das Mello ihm hinterlassen hatte, eine hastig auf irgendein Schokoladenpapier geschmierte Handynummer? Obwohl so viele Stimmen in ihm danach geschrien hatten, die Nummer umgehend anzurufen, war es der Stolz, der letzten Endes gesiegt hatte. Wenn Mello es nicht für nötig hielt, sich anständig von ihm zu verabschieden, hielt er es nicht für nötig, sich bei ihm zu melden. Sein Freund war schlau. Wenn er wirklich wieder mit Matt reden wollte, würde er ihn schon ausfindig machen können. Doch all das lag schon einige Jahre zurück, und mit der Zeit hatte er versucht sich einzureden, dass er die Tage, Wochen und Monate nicht mehr zählte. Er lebte in den Tag hinein, hatte sich distanziert von allem, was Gerechtigkeit, Kriminalität und Detektiv schrie und verdiente sich als Spieltester ein wenig Geld. Etwas anderes blieb ihm nicht wirklich übrig, aber er war größtenteils zufrieden mit seinem Leben. Auch, wenn ihm sein einziger sozialer Kontakt verloren gegangen war. Selbstgespräche waren schließlich auch etwas Schönes. Sein Tag endete heute wie so oft damit, dass er kurz seine Wohnung verließ, um in einem Convenience Store das Nötigste für den nächsten Morgen zu kaufen. Über die letzten paar Monate hinweg war es für ihn zur Routine geworden, den gleichen Store (der nur viereinhalb Minuten von seiner Wohnung entfernt lag; knapp sechs, wenn er sich Zeit ließ) aufzusuchen, sechs Energy Drinks, zwei Sandwichs und eine Packung Zigaretten zu kaufen. Eine andere Routine war, dass er auf dem Rückweg immer vor dem Elektrofachhandel hielt und auf einem der Fernseher in den Schaufenstern die Nachrichten sah. Diese Routinen waren schon immer sein größtes Problem gewesen. Sie machten sein Verhalten vorhersehbar, konnten fremden Menschen eine Art Macht über ihn geben, die ihm irgendwann gefährlich werden konnte. Mello hatte ihn schon damals, als sie beide noch nicht einmal auf ein zweistelliges Alter kamen, davor gewarnt, dass er sich solchen Gewohnheiten nicht zu sehr hingeben sollte. Sachte schüttelte er den Kopf, wollte nicht an den anderen denken. Matt hatte seine Gründe gehabt, warum er den Kontakt zu Mello abgebrochen hatte. Dass er Angst davor hatte, auf dem Nachhauseweg von Fremden überrascht, durch unnötig gewalttätige und harte Schläge bewusstlos geprügelt, tatsächlich in eine Art Sack gesteckt und entführt zu werden, war nur einer von vielen. Und bis zu diesem Abend hatte er gerade diese Angst immer für die unbegründetste gehalten. Kapitel 1: page. 1 | Reset -------------------------- Als er mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens aufwachte (und das hieß etwas für jemanden, der den Großteil seines Tages vor einem Bildschirm verbrachte), befand er sich immer noch in diesem grässlichen Sack. Irgendwo an seinem Hinterkopf pochte es stetig, er konnte die eine Hälfte seines Gesichts nicht ganz spüren und nahe seines linken Knies musste sich eine Wunde befinden, denn ein wenig Blut rann an seinem Bein hinab. Kurz gesagt, er fühlte sich nicht nur absolut beschissen, sondern verspürte auch den dringenden Wunsch, jemandem weh zu tun. Irgendwann spürte er, wie er auf dem Boden abgesetzt wurde. Unsanft zwar, aber wenigstens wurde er jetzt nicht mehr permanent durch die Gegend geschwungen oder (beabsichtigt oder aus Zufall) gegen Wände gestoßen. Der Boden war kalt, das spürte Matt selbst durch den dicken Stoff, und fühlte sich uneben an. Spontan würde er sagen, dass es sich um Stein handelte, aber sicher war er sich nicht. Er wusste nicht einmal, ob er sich in einem geschlossenen Raum oder immer noch draußen befand. Matt schloss die Augen. Auch, wenn es dunkel genug war, konnte er sich so um Einiges besser konzentrieren. Erst jetzt nahm er die Geräusche um sich herum bewusst wahr. Neben dem Grunzen und Schnaufen der Männer, die ihn bis eben getragen hatten, hörte er ein hohles Platschen - vermutlich von einem Leck in einer Wasserleitung - und ganz entfernt den Klang von Sirenen. Die Männer murmelten irgendetwas, erklärten ihrem Boss wahrscheinlich gerade, was sie mit ihm gemacht hatten. Fast wie in einem Actionfilm, in dem der Held von Mafiamitgliedern entführt wurde. Na ganz klasse. Genau so hatte er sich seinen Abend vorgestellt. Matt wollte sich gerade überlegen, wie er sich am besten aus dieser prekären Lage befreite, als: »Ihr inkompetenten Schwachköpfe!« Erstaunt horchte er auf. Die Stimme war laut und dominanter als die der anderen Leute im Raum (zumindest wenn er nach dem ging, was er bisher gehört hatte) und klang äußerst gereizt. Doch das bekam er nur am Rande mit. Matt kannte diese Stimme nur zu gut, und eigentlich hatte er gedacht, sie nie wieder zu hören. Ehe er jedoch einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, wurde der Sack in dem er sich befand mit einem kräftigen Ruck nach vorne gezogen und geöffnet, sodass er mit einem gedämpften Aufschrei auf den harten Fußboden fiel. Sobald er sich an das helle Neonlicht gewöhnt hatte, sah er auf und blickte dem Menschen ins Gesicht, den er momentan am wenigsten sehen wollte. »Als ich meinte, ihr sollt ihn hierher bringen, war das weder eine Aufforderung dazu, noch habe ich euch die Erlaubnis gegeben, ihn halbtot zu prügeln!«, fuhr Mello die zwei bulligen Männer vor ihm an, die umgehend zurückzuckten und Entschuldigungen stammelten. Mello brachte sie mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Ich will eure Ausreden nicht hören. Jetzt geht mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse.« Die beiden warfen Matt einen letzten Blick zu, dann verließen sie leicht gebückt den Raum. Wie er nun sehen konnte, befanden sie sich in einer Art Lagerhalle. Es standen zwar hier und dort einige billige Ledermöbel, doch wirklich heimisch fühlte man sich nicht. Mellos lautes Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. »Du siehst echt scheiße aus, weißt du das?« Er hatte sich wohl verhört. Obwohl es Mello war, der diese Schränke auf zwei Beinen angeordnet hatte, ihn zu kidnappen und zu ihm zu bringen, tat er nun wieder so, als wäre es Matts Schuld, dass er so zugerichtet wurde. Es war typisch. So typisch, dass Matt sofort in ihren alten Trott verfiel und ihm antwortete, als wäre er nie fort gewesen. »Hättest deine Schoßhündchen halt besser abrichten sollen.« Mit aller Würde, die er momentan aufbringen konnte, setzte er sich auf und verschränkte die Beine zu einem Schneidersitz, während er schmollend die Unterlippe vorschob. Für einen Moment war er Mello nicht mehr böse. Für diesen einen Moment wollte er ertrinken in der Glücksseligkeit, seinen Freund nach so langer Zeit wiederzusehen. »Sie lernen noch.« Mello lachte kurz, dann schwieg er, so als müsste er seine Gedanken erst noch ordnen. Nach einer Weile fuhr er fort: »Jedenfalls, der Grund, aus dem ich dich hierher geholt ha—« »Was auch immer.« Seelenruhig stand Matt auf und klopfte sich ein wenig Dreck von der Hose. Dabei vermied er es, seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen. Er konnte sich den irritieren Blick nur zu gut vorstellen: die schmalen Augenbrauchen waren so hoch gezogen, dass sie unter dem Pony verschwanden, die Nasenflügel zuckten und seine Augen schrien ihm wohl ›Willst du mich verarschen?!‹ entgegen. Für gewöhnlich unterbrach er Mello nicht. Sie alle hatten damals in Wammy's House gelernt, dass es nur böse enden konnte, wenn man ihm Widerworte gab. Doch momentan scherte er sich nicht darum. Ob der andere nun wütend wurde oder nicht änderte nichts daran, dass Matt seinen Frust für lange Zeit verdrängt und komprimiert hatte. Etwas davon musste er jetzt, wo der Grund für seine Trauer vor ihm stand, einfach rauslassen. »Wieso gehst du davon aus, dass ich dir einfach so verzeihe?« »Ach komm schon, so grob können die beiden doch nicht gewesen sein«, maulte Mello und winkte ab. Er wusste zwar, dass sein Freund eine kleine Mimose war, aber etwas anderes konnte Matt doch von ihm nicht gewohnt sein. »Das meine ich nicht.« Matts Stimme war ruhig, stoisch. Er wartete geduldig, während Mello erst erstaunt blinzelte und schließlich genervt aufstöhnte, als er auch nach reichlicher Überlegung nicht verstand, worauf der andere hinauswollte. »Jetzt komm mir nicht schon wieder mit deinen kryptischen Antworten! Die haben mich damals schon genervt.« »Bist du deshalb gegangen?« Die Frage war dumm, das wusste er, aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Darum geht es dir? Alter, wir sind Freunde, das kannst du mir doch nicht immer noch nachtragen.« Er rollte mit den Augen, so als wäre seine Annahme vollkommen logisch. Doch Matt schwieg eisern. Er war nachtragend. Er war gekränkt. Er hatte Mello vermisst. Er hatte Angst gehabt, dass sein Freund bereits gestorben war. Und er wusste, dass Mello in seinem Schweigen lesen konnte, schon seit sie sich als Kleinkinder im Waisenhaus kennengelernt hatten. Früher hatte er nicht gut mit Worten umgehen können, also hatte er kaum etwas gesagt, um von den anderen nicht geärgert zu werden. Mello jedoch war immer ein Meister darin gewesen, seine Stille richtig zu deuten. Auch in diesem Fall war Matts Schweigen Antwort genug für ihn. Seufzend gab er nach, ließ das Thema fürs Erste unbeachtet. »Ich zeig dir erst einmal dein Zimmer. Danach besorg ich was, womit wir deine Wehwehchen behandeln können.« Damit setzte er sich in Bewegung und ging zielstrebig auf einen schmalen Korridor zu, ohne sich die Mühe zu machen, zurückzublicken und zu überprüfen ob Matt ihm folgte. Beide wussten, dass er es tun würde. Hätte Mello ihn damals nicht allein zurückgelassen, wäre Matt ihm sogar gefolgt, bis die unheilvollen Worte ›Game Over‹ über ihren Köpfen geflackert hätten. Träge setzte er sich in Bewegung, schlurfte desinteressiert hinter Mello her. Bevor er erfahren hatte, auf wessen Befehl er überfallen und hierher gebracht worden war, waren tausende Fragen durch seine Kopf gegeistert. Zwischen den typischen Fragen ›Wer?‹, ›Wohin?‹ und ›Was genau?‹, die er zuerst hatte beantworten wollen, war immer wieder das ›Warum?‹ aufgetaucht. Jetzt, wo sich die offensichtlichen Fragen geklärt hatten, wollte er die Antwort auf das ›Warum?‹ gar nicht mehr wirklich wissen. Obwohl so viel in ihm danach schrie, Mello zu verzeihen und ihm vor Wiedersehensfreude um den Hals zu fallen, zwang sein Stolz ihn dazu, einfach nur still neben dem anderen herzulaufen. Und dieses eine Mal war er seinem Stolz dankbar dafür, dass er sich zu Wort meldete. Einige Momente später hielt Mello vor einer dunklen Tür an. Wie er sie von den anderen ebenso dunklen Türen in diesem Gang unterscheiden konnte, war Matt ein Rätsel, aber er war zu ausgelaugt, um nachzufragen. Wahrscheinlich lag es an Mellos Angewohnheit, sein Umfeld genau zu beobachten und zu analysieren. Ob er erst wenige Tage oder sogar schon ein paar Jahre hier war, ließ sich nicht davon ableiten, denn er kannte sich meistens schon innerhalb der ersten Stunden in einer für ihn neuen Umgebung aus. »Wenn du noch was brauchen solltest, melde dich einfach.« Er klang so müde, wie Matt sich fühlte. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen, zu groß war die Empörung, war die Wut in seinem Inneren. Über seine Antwort musste er nicht lange nachdenken: »Zigaretten. Und alle Teile von Assassin's Creed samt zugehörigen Konsolen.« Als Mello nicht reagierte, schaute Matt vom Boden auf und sah ihm ins Gesicht, war nur milde überrascht, dass sein Gegenüber ihm einen geschockten Blick schenkte. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst«, brachte Mello nach einigen Augenblicken unangenehmen Schweigens hervor. Fast hätte Matt gelacht. »Es gibt viele Dinge, die du nicht von mir weißt.« Damit öffnete er die Tür, trat ins Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Zu gerne hätte er Mellos Gesichtsausdruck gesehen, aber wenn er sich umgedreht hätte, wäre sein zugegeben ziemlich cooler Abgang ruiniert gewesen. Er konnte sich allerdings nur zu gut vorstellen, wie perplex der andere dreinblicken musste. Allein der Gedanke daran brachte ihn zum Lächeln. »Glaub bloß nicht, dass ich mir deine Launen gefallen lasse!« Mello hatte fast eine gesamte Minute gebraucht, um ihm das zu sagen. Matt konnte hören, wie er laut fluchend davon stapfte und wahrscheinlich Dinge rief wie ›Dieser undankbarer Sack!‹ oder ›Will der mich eigentlich verarschen?!‹. Dennoch; spätestens am nächsten Morgen würde das, was Matt gefordert hatte, vor der Tür stehen. Samt einer Tafel Schokolade, weil das seit Jahren Mellos Art war ihm zu sagen, dass es ihm leid tat. Kapitel 2: page. 2 | New Game ----------------------------- Die Sommer in Winchester, Südengland zählten zu den wärmsten in Großbritannien. Zu dieser Jahreszeit konnten die Kinder in Wammy’s House in ihren Pausen getrost in den großen Garten gehen, um dort zu spielen. Die Sonne kitzelte angenehm auf ihrer Haut, ebenso das hohe Gras. Zwischen all den ausgelassenen Schreien und dem lauten Kinderlachen konnte man die Blätter der Laubbäume rings um den Garten im Wind rauschen hören, vermischt mit gelegentlichem Vogelgezwitscher und dem Summen und Zirpen einiger Insekten. Momentan spielten die meisten Kinder Baseball. Seit einigen Tagen nahmen sie im Unterricht amerikanische Kultur durch, also hatten die Betreuer auch die Freizeitaktivitäten darauf anpassen wollen. Als eines der Kinder mit dem Schläger traf, folgte Matt interessiert der hohen Kurve, die der Ball durch die Luft flog. »Komm vom Fenster weg, Matt.« Der Angesprochene horchte auf, wandte den Blick aber zunächst nicht von den Kindern im Garten ab. Zu gebannt war er von dem, was draußen vor sich ging. »Du weißt doch, wie schlecht die anderen zielen. Nachher trifft dich ein Foul Ball am Kopf.« Dieses Mal nickte er. Mit Sport konnte er ohnehin nicht viel anfangen, solange es dafür kein Videospiel gab. Schnell waren die spielenden Kinder vergessen, als er sich umdrehte, auf den von Büchern umringten Mello zuging und sich neben ihn auf den Holzboden setzte. »Was liest du gerade?«, fragte er neugierig. »Shakespeares Hamlet.« »War das ›Sein oder Nichtsein‹?« Matt war etwas näher gerückt, hatte den Kopf auf Mellos Schulter gelegt und linste durch seinen Pony auf die Buchseiten. Shakespeare hatte ihn nie interessiert, auch wenn er seinem Freund gerne zuhörte, wenn er ihm aus den Dramen vorlas. »Genau.« Mello nickte knapp, ehe er mit dem Daumen seine aktuelle Seite markierte und zurückblätterte. »Wobei ich die Stelle hier viel schöner finde: ›Das eigentliche Wesen des Ehrgeizes ist nur der Schatten eines Traumes‹«, zitierte er stolz, nachdem er die Seite gefunden hatte. Als Mello auch nach einigen Augenblicken des Wartens nur mit Schweigen bedacht wurde, drehte er seinen Kopf ein wenig, um zu sehen, warum Matt nichts sagte. Der ernste Blick, den der andere ihm schenkte, überraschte Mello ein wenig. »Was?« Er schluckte, wartete auf eine Antwort. »Und was ist dein Traum?« Zunächst wusste er nicht, was er darauf erwidern sollte, obwohl die Antwort offensichtlich schien. Er straffte die Schultern (Matt hatte sich mittlerweile vor ihn gesetzt) und räusperte sich. »Eines Tages Ls Erbe anzutreten! Was denn sonst?!« Matt zuckte gelassen mit den Schultern. »Das wird aber nicht passieren, wenn du nur hier sitzt und Shakespeare liest.« »Deswegen werde ich ja auch bald von hier verschwinden!« Mellos Stimme klang gereizt, harscher als von ihm beabsichtigt. Zwar wusste er, dass Matt ihn nicht verspotten wollte, aber er konnte sein Temperament nur schwer kontrollieren. Außerdem war der andere nicht empfindlich, war es noch nie gewesen. »...du gehst?«, murmelte er geschockt, doch Mello störte sich nicht daran und blätterte seelenruhig die nächste Seite um, nachdem er sich ein paar Notizen gemacht hatte. »Irgendwann bestimmt.« »Wann ist ›irgendwann‹?« »Irgendwann halt! Und jetzt nerv nicht, ich muss das hier fertig kriegen.« Danach waren sie lange still. Matt sah sich desinteressiert im Raum um, verfluchte dabei innerlich den kleinen Near, der gestern seine Ladekabel versteckt und bisher noch nicht rausgerückt hatte. Wären nicht die Akkus all seiner Spielkonsolen leer, hätte er gezockt, während Mello arbeitete, aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu langweilen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Mello Drama, Notizblock und Stift beiseite legte und sich ausgiebig streckte. Jetzt konnte Matt die Frage stellen, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. »Nimmst du mich dann mit?« »Hä?« Mello hatte ganz vergessen, worüber sie gesprochen hatten, also wiederholte Matt die Frage noch mal ausführlicher. »Nimmst du mich mit, wenn du gehst?« Beiläufig mit den Schultern zuckend griff Mello nach dem nächsten Buch. »Schätze schon. Hast ja hier ohne mich eh nichts zu tun.« »Versprochen?« Ehe er eine eindeutige Antwort bekam, wollte Matt nicht locker lassen. Nicht, dass Mello sich nicht über diese Hartnäckigkeit freute. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, denn gebraucht zu werden war ein schönes Gefühl. »Ja, versprochen.« Lügner. Seit seiner ersten Nacht in Mellos temporärem Hauptquartier schlief er schlecht, und jeden Morgen erwachte er mit diesem Gedanken aus einer Kindheitserinnerung. Er musste keinen Psychologen fragen um zu wissen, was ihm diese Träume sagen wollten. Das wusste er schon lange, und so konnte er sie wenigstens leichter ignorieren. Träge setzte er sich im Bett auf, rieb sich die Augen und versuchte das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das diese nutzlosen Erinnerungen immer auslösten. Noch ehe er das Licht anschaltete, tastete er nach den mehr oder minder verheilten Wunden an seinem Körper. Sehr zu seinem Erstaunen hatte man ihm nicht mal eine Stunde, nachdem Mello davon gestampft war, einen Verbandskasten und ein paar Schmerzmitteln vorbeigebracht. Vielleicht sollte er sich dafür bei Mello bedanken. Vielleicht sollte er überhaupt mal wieder mit ihm reden. Auch, wenn er schon fast zwei Wochen hier war, hatte er insgesamt mehr mit den Kriminellen gesprochen, die sein soziopathischer Freund angeheuert hatte, als mit diesem selbst. Da Mello sich allerdings auch nicht um ihn bemüht hatte, hielt sich Matts schlechtes Gewissen in Grenzen. Was ihn hingegen minimal störte war, dass er nicht wusste, was um ihn herum geschah. Davon abgesehen, dass er Assassin’s Creed schon fünfmal durchgespielt hatte, konnte er hier weder Nachrichten schauen noch Zeitung lesen. Normalerweise tat er das auch nicht jeden Tag, aber gerade weil Mello ihn nicht in seine Pläne einweihte, wäre ein bisschen Abwechslung angenehm gewesen. Matt musste schmunzeln. Abwechslung. Dafür würde er jetzt selbst sorgen. Mello ausfindig zu machen war keine Herausforderung. Wie so oft saß er in dem Teil des Gebäudes, der wohl als Aufenthaltsraum dienen sollte (das war der Raum, in dem man ihm aus dem Sack geworfen hatte), aß munter Schokolade und ließ sich von seinen Schergen beweihräuchern. Der Anblick hatte etwas Vertrautes, denn so ähnlich hatte es damals in Wammy’s House auch ausgesehen. Nur, dass es damals andere Genies waren, die um Mello herumstanden, und keine Kriminellen. Als Matt leise den Raum betrat, war Mello gerade dabei, lautstark von seinem grandiosen Plan zu erzählen, zumindest vermutete er das. Etwas, das er sagte, jagte Matt jedoch einen Schauer über den Rücken. »...dann entführen wir das dumme Gör und locken ihn aus der Reserve.« Er wusste nicht, um welches Mädchen es ging oder wen er mit diesem Plan austricksen wollte. Alles, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging war die Tatsache, dass Mello eine unschuldige Person, noch dazu ein Kind in etwas hineinziehen wollte, dem nicht einmal Erwachsene ausgesetzt sein sollten. »Du willst ein Kind entführen?« Er war nähergekommen, stand nun direkt vor der Couch, auf der Mello sich beinahe schon räkelte. Niemand hatte ihn bis jetzt bemerkt, manche kannten ihn gar nicht, und so griffen einige der Schergen automatisch nach ihren Waffen. Mit einer Handbewegung bedeutete Mello ihnen, dass sie gehen sollten, und obwohl die meisten Matt wohl lieber verprügelt hätten anstatt den Raum zu verlassen, leisteten sie seinem Befehl ohne zu murren Folge. In einer anderen Situation, mit einer anderen Vorgeschichte hätten ihn das tief beeindruckt. Nun wusste Matt nicht so recht, ob er Mello angewidert oder verächtlich ansehen sollte für das, was er ganz offensichtlich vorhatte. »Unwichtige Details. Damit musst du dich nicht belasten«, winkte Mello ab, wollte die Angelegenheit entweder runterspielen, um ihn nicht unnötig aufzuregen, oder er empfand das Ganze wirklich als nichtig. Er wartete, bis sein Gegenüber sich aufrecht hingesetzt hatte und ihn ansah, ehe er fragte: »Und wenn ich will?« Für einen Augenblick sah Mello ihn stumm an. »Dann will ich es anders sagen«, seine Hand wanderte zu der Pistole, die an seiner Hüfte ruhte, »damit hast du dich nicht zu beschäftigen.« Matt blieb davon unbeeindruckt. Bereits in ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatte Mello ihn bedroht, es aber niemals ernst gemeint. »Du willst ein unschuldiges Kind mit in die Sache ziehen?«, fragte er skeptisch und fixierte sein Gegenüber mit einem unnachgiebigen Blick. Mello grummelte, biss ein großes Stück Schokolade ab und antwortete, nachdem er gekaut und geschluckt hatte: »Im Kampf um die Gerechtigkeit sind Opfer von Nöten, Matt. Das weißt du genauso gut wie ich.« Darum ging es ihm? »Gerechtigkeit...?« Matt legte die Stirn in Falten, konnte und wollte nicht glauben, was der andere ihm verständlich zu machen versuchte. »Ja, Gerechtigkeit. Kira muss aufgehalten werden, also—« »Nichts ist naiver als der Glaube an die sogenannte Gerechtigkeit.« »Was?« Damit hatte Mello nicht gerechnet. Für jemanden, der wie sie in Wammy’s House aufgewachsen war, war es fast schon ein Tabu, die Existenz von Gerechtigkeit und daraus folgend auch die Existenz einer gerechten Strafe anzuzweifeln. »Es gibt keine Gerechtigkeit. Allein der Wunsch nach ihr ist albern«, wiederholte Matt ruhig, was Mello jedoch nur ein tiefes Knurren entlockte, ehe er antwortete. Zumindest die Möglichkeit sich zu erklären wollte er seinem Freund lassen. Als Matt diese Chance jedoch nicht nutzte, schüttelte Mello kurz den Kopf und fragte höhnisch: »Es soll also keine Gerechtigkeit auf dieser Welt geben?« Sein Gegenüber ignorierte den provozierenden Unterton. Er wollte sich nicht darüber streiten, nicht über ein Thema, zu dem sie beide so unterschiedliche Ansichten hatten. Sie wussten, dass keiner die Meinung des jeweils andere als richtig erachten würde, egal wie gut ihre Argumente waren. Darüber zu diskutieren würde zu nichts führen. Also gab Matt nach, wie so oft. »Wenn du daran glauben magst, steht dir das selbstredend frei. Ich für meinen Teil kann das nicht glauben.« Nicht mehr. »Ich würde zu gerne sehen, wie du das Opfern von Verbrechen ins Gesicht sagst.« Jetzt wurde er sarkastisch. Das tat Mello immer, wenn er nicht wusste, wie er antworten sollte und stattdessen versuchte, Zeit zu schinden. »Gehen wir mal davon aus, dass du recht hast und diese Welt gerecht ist«, wollte Matt ihm einen kleinen Denkanstoß geben, »Ist Gnade dann nicht besser als Gerechtigkeit?« Doch Mello stöhnte nur genervt auf. »Von welchem schlauen Philosophen hast du das denn jetzt schon wieder?«, maulte er, während er sich die Schläfen rieb. »Jetzt überleg doch mal. Kira ist ein manischer Serienkiller mit Gottkomplex. Individuen wie er müssen gestoppt werden.« Nicht im Geringsten überzeugt hob Matt eine Augenbraue. »Indem du zu ebenso niederen Methoden greifst wie er?« »Herr Gott noch mal, du benimmst dich so, als ob ich das Rotzbalg sofort abknallen würde!« »Würdest du?« »Was?!« Beinahe vor Wut schäumend sah Mello ihn entgeistert an. So sehr Matt auch versuchte sich einzureden, dass der andere ihm keine Angst einjagte, wenn er wie ein in die Ecke gedrängtes Tier vor ihm saß und dazu bereit war, sich jederzeit auf ihn zu stürzen oder seine Waffe zu ziehen, wusste er nur zu gut, dass das eine Lüge war. Dennoch hielt er seine ruhige Fassade aufrecht. »Würdest du das Kind töten, wenn es dich deinem Ziel näher bringen würde?« Anfangs sah Mello ihn weiterhin misstrauisch an, dann beruhigte er sich etwas und schwieg. Der gehetzte Ausdruck verschwand aus seinem Blick, als er zu einer Erklärung ansetzte: »Matt, hör zu, es geht darum, dass ich das, was L begonnen hat, beenden kann. Kira muss gestoppt werden.« »Koste es, was es wolle.« Es war viel mehr eine Feststellung als eine Frage, die Mello mit einem knappen Nicken quittierte. Für gewöhnlich hätten sie sich jetzt so lange ein Blickduell geliefert, bis einer von ihnen nachgegeben hätte, aber darauf war Matt jegliche Lust vergangen. Er seufzte lautlos, drehte sich um und wollte wieder zurück zu seinem Zimmer gehen, doch Mellos Stimme ließ ihn kurz innehalten. »Heißt das, wir verfolgen nicht das gleiche Ziel?« »Es heißt, dass der Zweck für mich nicht die Mittel heiligt.« Ohne seinem Freund noch einen weiteren Blick zuzuwerfen, straffte Matt die Schultern und setzte sich wieder in Bewegung. »Viel Erfolg, Mello. Pass nur auf, dass du dich nicht umbringen lässt.« Zu gerne hätte er das Gesicht des anderen gesehen, hätte gerne gewusst, ob für Mello seine sogenannte Gerechtigkeit mehr wert war als sein eigenes Leben. Nicht, dass es etwas ändern würde, zumindest für ihn nicht. Es schmerzte ihn, seinen Freund einfach so zurückzulassen, besonders nachdem sie sich gestritten haben. Dachte er an ihre Kindheit zurück, war nie etwas Gutes dabei rausgekommen, wenn einer von ihnen den anderen nach einer Meinungsverschiedenheit mit sich allein gelassen hatte. Derjenige, den der Streit mehr verletzt hatte, hatte am Ende immer etwas Dummes angestellt. Fast hätte er gelacht. Sie waren mittlerweile alt genug um zu wissen, was sie sich zutrauen konnten und was nicht. Und selbst wenn nicht, würde es Matt nicht so aufwühlen wie früher, wenn Mello die Konsequenzen für sein Handeln tragen musste. Redete er sich ein. Weil Matt es nicht hatte ertragen können, damals von Mello allein gelassen zu werden. Er gab es ungern zu, aber für ihn war Mello immer eine Lichtgestalt gewesen. Jemand, der heller und stärker leuchtete als er selbst und jede Finsternis verscheuchen konnte. Jemand, der ambitionierter war als er, der mehr erreichen konnte, weil er zu Höherem berufen war, und Matt war ihm gerne gefolgt. Heute hatte er feststellen müssen, dass Mello in besagter Finsternis ebenso heimisch war wie ein gewöhnlicher Krimineller. Und ohne seine Lichtgestalt, die ihn selbst im Licht gehalten hatte, blieb Matt nichts anderes übrig, als genauso hinab in die Dunkelheit zu fallen wie sein Freund. Ironischerweise fand er noch Gefallen an dem Gedanken, dass sie wenigstens gemeinsam im Dunkeln verrotten konnten. Kapitel 3: page. 3 | Critical Hit --------------------------------- Nachdem Mello gestern Abend gegangen war, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, hatte Matt ihn nicht mehr gesehen. Zugegeben, er hatte seitdem sein Zimmer nur zum Essen verlassen, aber der andere hätte sich ruhig von ihm verabschieden können. So konnte er nicht viel mehr tun als auf seinem Bett zu liegen und nachzudenken. Dummerweise endete das immer darin, dass er sich (wenn auch schweren Herzens) dazu entschied, sich bei Mello zu entschuldigen, selbst wenn es eigentlich nicht seine Schuld war. Dabei hatte er nicht einmal was dagegen, sich mit anderen zu streiten, ganz im Gegenteil. Ein angeregter Streit war für ihn manchmal etwas ziemlich Angenehmes. Er wollte sich nur nicht mit Mello streiten, das war alles. Seufzend schloss er die Augen für einen Moment, ehe er aufstand und sich auf den Weg machte. Am klügsten wäre es wohl, direkt vorm Eingang zu warten, dann würde er Mello nicht verpassen. Dann wiederum würde ihn das wie einen Hund wirken lassen, der auf die Heimkehr seines Herrchens wartete, und mit diesem Bild konnte Matt sich nicht im Geringsten anfreunden. Also entschied er sich letzten Endes dafür, im improvisierten Aufenthaltsraum zu warten, bis Mello entweder triumphal hineingestürmt kam oder schmollend an ihm vorbeizog, weil sein Plan nach hinten losgegangen und er so weit wie vorher war. Welcher Anblick ihn schließlich erwarten würde, wäre Matt im Traum nicht eingefallen. Es dauerte ungefähr zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten, bis etwas geschah. Beinahe gleichzeitig krachte die Eingangstür auf, ein halbes Dutzend Männerstimmen schrie auf mindestens drei verschiedenen Sprachen wild durcheinander, Gegenstände fielen laut zu Boden und über dieser Geräuschkulisse hörte man dennoch Mello, der mit gebrüllten Befehlen versuchte, seine Schergen zur Ruhe zu bringen. Matt, der zuvor ein wenig gedöst hatte, war mit einem Mal hellwach, sprang aus dem zerschlissenen Sessel und blieb erst einmal unschlüssig stehen. Anscheinend wusste bis auf Mello niemand, was gerade vor sich ging, und er wollte sich ungern zwischen all die Kriminellen mit ihren Waffen begeben um mit eigenen Augen zu sehen, was geschehen war. Also wartete er angespannt, den Blick starr auf den Gang gerichtet, der diesen Raum mit dem Eingang verband. Die Stimmen kamen näher, obwohl sie mittlerweile schon um Einiges leiser waren. Dann setzte Mello den ersten Schritt in den Raum, und Matts Atem stockte. Fast das gesamte Gesicht ebenso wie die Haare des anderen waren blutverschmiert, die Kleidung an den meisten Stellen zerrissen und dreckig. Obwohl er sein Möglichstes tat, aufrecht zu gehen, konnte Matt sehen, wie schwer es seinem Freund fiel, nicht vor seinem Gefolge ohnmächtig zu werden. Schwäche war nicht gestattet. Selbst wenn man sie das nicht in Wammy’s House gelehrt hätte, würde Mello sich danach richten. Als Mello ihn endlich wahrnahm, blieb er abrupt stehen, die Augen vor Schock geweitet (soweit er das unter all dem Blut richtig erkannte). Beiden kam es so vor, als würde die Zeit langsamer verstreichen als üblich; die Geräusche klangen nur noch dumpf an ihre Ohren, die anderen Männer bewegten sich langsamer und träge. Nach ungezählten Augenblicken fand Matt seine Stimme wieder. »Was ist passiert?« Darauf schnalzte Mello mit der Zunge, sah zur Seite und machte den anderen Männern im Raum mit einem bedrohlichen ›Verschwindet!‹ klar, dass er sie in nächster Zeit nicht mehr sehen wollte. Sobald sie allein waren, wankte er auf die Couch zu und sagte an Matt gewand: »Nichts.« Dieser konnte nicht fassen, was der andere ihn glauben machen wollte. »Nichts?! Du siehst aus, als o—« »Es ist nicht so gelaufen wie geplant, okay? Herr Gott, was muss ich...« Seine Stimme wurde immer leiser, die Worte immer unklarer, bis schließlich seine Augenlider flatterten und er bewusstlos zur Seite kippte. Sofort war Matt bei ihm, drehte ihn mit zitternden Händen auf den Rücken und wollte gerade mit Erste-Hilfe-Maßnahmen anfangen – bis ihm einfiel, dass er gar nicht wusste, was zu tun war. »Sei mir nicht böse, wenn’s am Ende nur unzureichend behandelt ist, Kumpel«, murmelte er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen, als er sich Mellos Arm um die Schulter schlang und sich auf den Weg zu dessen Zimmer machte. Leise stöhnend erwachte Mello, nur um sich wenig professionell in Bandagen eingewickelt zu finden. Sein Kopf dröhnte, hinter seinem linken Auge pochte es unangenehm und seine rechte Körperhälfte lag tiefer als die andere, weil irgendein Gewicht auf seine Matratze drückte. »Endlich bist du wach!« Der Druck zu seiner Rechten ließ nach, dafür schrie ihm nun jemand ins Ohr. Wenigstens musste er sich jetzt nicht mehr fragen, wo Matt war. Träge öffnete Mello die Augen, blickte in das besorgte Gesicht seines Freundes, der sich über ihn gebeugt hatte und ziemlich hilflos aussah. »...Scheiße. Hast du etwa geheult?« »Q-quatsch!« Hastig rieb Matt sich über die Augen und sah zur Seite, doch Mello wusste genau, was er gesehen hatte. Er gab es nicht gern zu, aber ein Teil von ihm – der Teil, der damals Wammy’s House nicht hatte verlassen wollen – war glücklich zu wissen, dass der andere sich immer noch um ihn sorgte. Nicht, dass er ihm das sagen würde. Matt war ein schlaues Köpfchen, er würde schon von selbst darauf kommen. »Wie hast du mich eigentlich bandagiert, du Schwachkopf?«, murrte Mello, als er sich aufsetzte und seinen Körper abzutasten versuchte. Matt schnaubte nur abfällig. »Oh entschuldige, dass ich mich niemals mit Erster Hilfe beschäftigt habe.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war kaum zu überhören, aber Mello würde da gar nicht drauf eingehen. »Wie lange sind wir schon befreundet?« Anklagend zeigte er mit dem Finger auf Matt, ignorierte dabei geflissentlich, dass er auf dem linken Ohr kaum hörte. »Du hättest wissen müssen, dass ich irgendwann mal deine Hilfe brauche, was das angeht.« Entgegen seiner Erwartungen lächelte Matt darauf. »Hätte ich wohl.« Nur mit größter Mühe konnte er sich davon abhalten, ebenfalls zu lächeln. Stattdessen schloss er die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. »Schön, dass du das einsiehst.« Dieser Zwischenfall hatte etwas verändert. Etwas an der Art, wie sie miteinander umgingen war anders, war wieder mehr wie damals, als sie noch ihre Kindheit miteinander verbracht hatten. Sie lachten gemeinsam, nicht nur über den anderen, und verbrachten fast den ganzen Tag zusammen, was vielleicht auch daran lag, dass Mello bei einigen Tätigkeiten noch Unterstützung brauchte. Es war wie früher. Und das war es, was Matt ängstigte. Trotzdem riss er sich zusammen, als er die Tür zu Mellos Zimmer hinter sich schloss und seinem Freund zur Begrüßung kurz zunickte. Heute würden sie ihm den Verband vom Gesicht nehmen und schauen, wie gut die Verletzung nach den letzten Wochen verheilt war. Mello wartete schon ungeduldig auf seinem Bett und bedeutete Matt mit einem Blick, der keine Widerworte zuließ, dass er endlich seinen Arsch zu ihm schieben und an die Arbeit gehen sollte. Seufzend leistete Matt der stummen Aufforderung Folge, ging auf den anderen zu und wickelte langsam die Bandagen ab. Als er die Narbe sah, die fast die gesamte linke Seite von Mellos Gesicht einnahm, sog er scharf die Luft ein. »Sieht schlimm aus, was?« Mello lächelte, doch Matt wusste, dass ihn seine Reaktion verletzt hatte. Er wollte sich entschuldigen, doch der andere fuhr fort: »Du hast eh immer gesagt, ich wäre ein Kinderschreck.« Sofern ihn diese Erkenntnis traf, zeigte er es nicht. Mello hatte schon immer großen Wert darauf gelegt, dass er der Einzige war, der über seine Gefühle bescheid wusste. Seiner Meinung nach gingen diese andere Menschen nichts an. Matt war nie so gewesen. Er hatte weder das Durchhaltevermögen, seine Emotionen immer unter Kontrolle zu halten, noch das Verlangen, seine Freunde im Dunkeln darüber tappen zu lassen, wie es ihm ging. Deswegen setzte er sich neben Mello aufs Bett und fuhr sanft mit den Fingern seiner rechten Hand über die unebene Haut im Gesicht seines Freundes. »Ich finde deine Narbe schön.« Sie war ein Zeichen dafür, dass der andere gelernt hatte. Dass er eine Herausforderung angenommen hatte und gescheitert war. Für ihn waren Menschen am schönsten, wenn sie von Narben gezeichnet waren, in denen er lesen konnte, was derjenige in seinem Leben hatte erfahren müssen. Erst zuckte Mello zurück, doch er entspannte sich schnell. Schließlich wusste er, dass Matt nicht log. Das war einer der Gründe, aus denen sie immer noch befreundet waren. Als Matt seine Hand wieder zurückzog, begann Mello zu lachen. »Eigentlich musst du das doch ziemlich lustig finden.« Fast schon amüsiert schaute er den anderen an. »Das habe ich nun davon, dass ich Gerechtigkeit wollte.« Sie hielten den Blickkontakt lange aufrecht, bis Matt den Kopf senkte. »Gerechtigkeit kann auch töten.« ›Sei froh, dass du noch lebst‹ war der Nachsatz, der ungesagt zwischen ihnen stand. Eine Weile saßen sie nur stumm nebeneinander. Irgendwann fing Mello an, mit dem Rosenkranz zu spielen, der um seinen Hals hing. Es war der Gleiche, den er auch in Wammy’s House immer versteckt unter seinem Shirt getragen hatte. »Warum trägst du das Ding immer noch?« Matt war aufrichtig erstaunt darüber. Nach allem, was Mello in den Jahren seiner Abwesenheit getan haben musste, erschien es ihm furchtbar ironisch, dass er diesen Rosenkranz so öffentlich trug. »Modeschmuck«, war die einsilbige Antwort. Doch Matt wusste es besser. Sie hatten auch früher nicht viel über ihre individuellen Vergangenheiten gesprochen, aber ein Tag ist ihm im Gedächtnis geblieben. Es war im Dezember gewesen, kurz vor Mellos Geburtstag. Er hatte schon den ganzen Tag auf ihrem gemeinsamen Zimmer verbracht, und auch wenn das nichts Ungewöhnliches war, hatte Matt sich Sorgen gemacht. Also hatte er nach ihm gesehen. Anfangs wollte Mello ihm nicht erzählen, warum er leise schluchzend auf dem Bett saß, während der Rosenkranz am anderen Ende des Raumes am Boden lag, weil er ihn wütend gegen die Wand geworfen hatte. Nachdem Matt ihm jedoch einige Minuten still Gesellschaft geleistet hatte, erzählte er ihm, was ihn beschäftigte. Er erzählte von seiner Familie, vor allem von seiner Mutter, die ein sehr gläubiger Mensch gewesen war. Als er noch jünger gewesen war, hatte Mello auch an Gott geglaubt, doch als er sehr früh seine Eltern verloren hatte, konnte und wollte er das nicht mehr. In seinen Augen hatte dieser ominöse Gott ihn enttäuscht, obwohl er ihn verzweifelt um Hilfe gebeten hatte. Den Rosenkranz, so hatte er damals zugegeben, trug er nur noch, weil er die einzige Erinnerung an seine Mutter war und ihm Halt gab. »Ich kann nicht gläubig sein.« Fast hätte Matt überhört, dass Mello mit ihm sprach. »Warum nicht?« Interessiert beobachtete er, wie sein Gegenüber von dem Rosenkranz abließ, den Kopf in den Nacken legte und an die Decke starrte, so als schwebten dort oben die Antworten auf all seine Fragen. »Um für den Glauben Platz zu schaffen, müsste ich erst mein Wissen aufgeben.« Das ließ ihn aufhorchen. Seit wann beschäftigte sein Freund sich denn so intensiv mit Immanuel Kant, dass er ihn zitieren konnte? »Das könnte ich nicht.« Denn es war sein Intellekt, der Mello zu dem Menschen machte, der er war. Zumindest glaubte er das. Matt konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Wovor hast du Angst?« Davor, einsam zu sein. Matt wusste das, weil sie sich diese Angst teilten. Jeder, der seine Kindheit in Wammy’s House verbracht hatte, tat das. Mello machte sich nicht die Mühe darauf zu antworten, hielt er es doch für eine rhetorische Frage. »Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister«, meinte Matt nach einiger Zeit. Das war von Arthur Schopenhauer, aber er ging nicht davon aus, dass sein Freund das wusste. Wie erwartet lachte er nur traurig darauf, ließ den Kopf wieder hängen. Während Matt diese Unaufmerksamkeit nutzte, um ein wenig näher zu rutschen, fuhr Mello so lange mit seiner linken Hand über die Bettdecke, bis sie Matts berührte. »Ironischerweise kommt all unser Leid jedoch daher, dass wir nicht allein sein können«, erklärte er weiter und beobachtete Mellos Reaktion. Dieser schnaubte kurz, schüttelte den Kopf und legte seine Hand auf Matts. »Bist du wieder schlau heute.« Aber da war nichts Anklagendes in seiner Stimme. Stattdessen seufzte er laut, drückte die Hand seines Freundes und warf ihm einen wehmütigen Blick zu. »Zusammengefasst heißt das für uns beide also, dass wir einen Heidenschiss davor haben, allein zu sein. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Genies nichts anderes können, als allein zu sein.« Darauf nickte Matt, war zunächst zu abgelenkt von dem warmen Gefühl von Mellos Hand auf seiner. Zögerlich biss er sich auf die Unterlippe, überlegte fieberhaft, ob er seinen nächsten Gedanken aussprechen sollte oder nicht. Er redete sich ein, dass er nichts zu verlieren hatte (eine schamlose Lüge) und atmete einmal tief durch. »Was wäre, wenn zwei Genies sich zusammentäten, um nicht allein zu sein?« Dabei warf er Mello einen vielsagenden Blick zu, von dem er hoffte, dass sein Freund ihn richtig zu deuten wusste. Als er den Ausdruck in den dunklen Augen sah, wusste er allerdings, dass er sich keine Sorgen machen musste, falsch verstanden zu werden. Grinsend legte Mello ihm einen Arm um die Schulter und zog ihn näher, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Manchmal hast du ja doch ganz gute Ideen«, murmelte er gegen Matts Lippen, ehe er den letzten Abstand zwischen ihnen überwand und ihn gierig küsste. Unfähig zu reagieren saß Matt erst einmal nur da, bis endlich seine Instinkte die Zügel in die Hand nahmen, er seine Hand in Mellos Nacken legte und den Kuss eifrig erwiderte. Ihre Problembewältigung würden sie wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Kapitel 4: page. 4 | Final Enemy -------------------------------- Zurückblickend hielt Matt sich für geradezu lächerlich leichtsinnig. Nicht unbedingt, weil er gedacht hatte, Mello würde seine Gefühle nicht auf die ein oder andere Weise erwidern, sondern weil es gefährlich war, sich dem anderen zu nähern, wenn er dazu nicht ganz klar sein Einverständnis gab. Dass Mello stets seine Waffe trug, machte das Ganze nicht einfacher. Trotz seiner Sorgen war aber alles gut gelaufen, wie er fand. Sie waren gestern zwar nicht mehr wirklich zum Reden gekommen, aber das erschien in diesem Moment nebensächlich. Leider wurde Matt heute klar, dass sie ihre Meinungsverschiedenheit, die seit seinem ersten Tag hier bestand, immer noch nicht aus der Welt geschafft hatten. Und das würde früher oder später zu Problemen führen. So, wie er Mello und sich kannte, eher früher. Wie aufs Stichwort klopfte es an seiner Zimmertür. Mello trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten und ging zielstrebig auf Matt zu. Doch ehe sein Freund etwas sagen oder tun konnte, trat er einen Schritt zurück. »Wir haben uns noch nicht ausgesprochen.« Mello stoppte zwar, sah ihn aber mehr als belustigt an. »Ich will lieber etwas anderes machen.« Jetzt konnte die Stimmung nur noch kippen, das wusste Matt. »Mello, es muss sein«, meinte er ernst und bereitete sich auf jede Beleidigung vor, die der andere ihm aus Frustration vielleicht an den Kopf werfen würde. Genervt rollte Mello mit den Augen. »Meine Fresse, was stört dich denn so sehr daran?!« »Die Art, wie du Ls Erbe fortführen willst, erscheint mir einfach falsch«, versuchte Matt eine Erklärung zu beginnen, mit der sie sich hinterher beide zufrieden geben konnten, obwohl er eigentlich bezweifelte, dass Mello etwas anderes als seine Meinung zulassen würde. »Der Zweck heiligt die Mittel. Schon Immanuel Kant hat gesagt—« »Kant hat gesagt, dass nur die Handlung gut ist, die aus gutem Willen geschieht. Dabei sind die Folgen egal.« »Aber—«, wollte Mello widersprechen, doch Matt ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du legst Kant völlig falsch aus. Es geht nicht mal darum, ›etwas Gutes‹ zu wollen, sondern ›gut‹ zu wollen, wie er es nennt. Das ist sein vielzitierter kategorischer Imperativ.« Kants Philosophie, Philosophie im Allgemeinen, war eines seiner Spezialgebiete, da ließ er sich von niemandem etwas erzählen. Schon gar nicht von jemanden, der so darauf beharrte im Recht zu sein wie Mello. »Schopenhauer hat allerdings—« »Schopenhauer war Utilitarist.« Für ihn war es lachhaft, wie Mello versuchte, die Aussagen verschiedener Philosophen so zu interpretieren, dass sie seine Meinung bestärkten. Fast schon niedlich fand er hingegen, dass sein Freund versuchte, ihn in einem Gebiet zu übertrumpfen, mit dem er sich fast ausschließlich befasst hatte, als sie noch in Wammy’s House gelebt hatten. »Und auch bei Utilitaristen unterteilt man in Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus«, setzte er zu einem langen Vortrag an und blendete dabei geflissentlich den giftigen Blick aus, den Mello ihm zuwarf. »Bei Ersterem wird eine Handlung quantitativ berechnet, das heißt im Hinblick auf den größten Nutzen für eine größtmögliche Anzahl von Menschen. Es gibt keine allgemeingültigen Werte wie ›Du sollst nicht töten‹, da solche Werte sich für einen Handlungsutilitaristen aus der jeweiligen Situation ergeben.« Er sah ihn ernst an. »So einer bist du.« »Jetzt hör schon au—« »Dann gibt es noch die Regelutilitaristen; einer der bekanntesten ist John Stuart Mill«, unterbrach Matt ihn erneut. »Hierbei gibt es allgemeingültige Werte, die aufgrund ihrer Nützlichkeit für die Gemeinschaft unbedingt bewahrt werden müssen.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Ich wünschte, so einer wärst du.« Mit einem Blick, der wohl so viel bedeuten sollte wie ›Bist du jetzt fertig?‹ stemmte Mello eine Hand in die Hüfte. »Warum noch mal hast du dich damals so mit toten Philosophen beschäftigt?« Er machte sich keine Mühe, den Sarkasmus in seiner Stimme zu verbergen. Matt antwortete sofort. »Weil du es nicht getan hast.« Das ließ Mello innehalten. Verwirrt blinzelte er einige Male, ehe er verstand, dass Matt ihn damit nicht aufziehen wollte; er hatte sich mit diesem Gebiet befasst, damit Mello sich anderen Dingen widmen konnte. Seufzend schloss er die Augen. Wegen so etwas konnte er Matt nicht böse sein. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, setzte er zu einem ruhigeren Erklärungsversuch an: »Auch wenn du mir vor Augen führst, wie unmoralisch mein Handeln laut einigen Philosophen ist, ändert das nichts an meinen Moralvorstellungen.« Und nur die Moral machte den Menschen zum Menschen. So zumindest Kant. »Ich will nur nicht, dass du dein eigentliches Ziel aus den Augen verlierst und auf einem der Schleichwege umkommst.« »Ich habe dich nie darum gebeten, mein Gewissen zu spielen, nur weil mein eigentliches wohl abhanden gekommen ist«, versuchte Mello seinen Freund aus der Pflicht zu nehmen, aber darauf wollte Matt mit einem weiteren Philosophenausspruch kontern. »Jeder Mensch hat ein Gewissen von Anfang an in sich. Es ist die praktische Vernunft in jedem Menschen, die ihm sagt, welche Pflichten er hat. Gewissenlosigkeit wiederum ist nicht der Mangel des Gewissens, sondern der Hang, sich nicht an dessen Urteil zu halten.« »Kant?« Matt nickte fast schon anerkennend. »Du wirst besser.« Das schwache Lächeln auf Matts Lippen verbuchte Mello innerlich als Etappensieg. Um diese geleistete Vorarbeit jetzt nicht zunichte zu machen, musste er behutsam vorgehen. Er bedeutete Matt ihm zu folgen, und so nahmen sie beide auf der Couch im Zimmer Platz. So weit, so gut. Nun musste Mello nur noch die richtigen Worte finden. »Hör doch einfach auf, die ich meine Angelegenheiten einzumischen.« Das waren sie nicht unbedingt. »Ich mache mir nur Sorgen.« »Musst du nicht.« »Ansonsten gehst du drauf.« »Als ob!«, giftete Mello beleidigt, doch Matt ließ sich davon nicht beeindruckend. Belehrend schüttelte er den Kopf. »Damals schienst du noch so vernünftig, aber heute machst du keinen Hehl mehr aus deinen wahren Absichten.« Für den Bruchteil einer Sekunde wanderte Mellos Blick zu seiner Pistole, doch er entschied sich dagegen und knurrte stattdessen wütend. »Warum bist du dann immer noch hier?!« In seinen Worten lag nicht nur eine Anklage, sondern auch die Bestätigung dafür, dass Matts Worte ihn verletzt hatten. Dieser wusste allerdings schon, wie er sich dafür entschuldigen musste. »Man verliebt sich nur in den Schein, man liebt aber die Wahrheit.« »Tch. Und von welchem schlauen Philosophen hast du das jetzt?«, wollte Mello wissen, die Unterlippe minimal zu einem Schmollen vorgeschoben. »Kant.« Nur mit Mühe konnte er ein Lachen unterdrücken. »Findest du, er hat Unrecht?« »Findest du das?«, kam es sofort misstrauisch von Mello, aber Matt konnte darauf nur sanft lächeln. »Ich glaube, du kennst meine Antwort.« Darauf schwiegen sie eine lange Zeit. Irgendwann sackte Mellos Oberkörper ein wenig zusammen, er entspannte sich und legte seinen Kopf auf Matts Schulter. So gerne er es seinem Freund gleichtun und etwas dösen wollte, wusste Matt, dass er ihre Diskussion so nicht unbeendet im Raum stehen lassen konnte. Dass sie heute noch zu einem Kompromiss kommen würden bezweifelte er, aber er wollte es zumindest zu einem zufriedenstellenden Abschluss bringen. »Und um noch mal auf Schopenhauer zurückzukommen.« Er konnte es nicht sehen, aber Matt war sich sicher, dass Mello mit den Augen rollte. »Um Himmels Willen...« Liebevoll knuffte Matt ihn in den Arm, ehe er fortfuhr: »Alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht.« »Das ist nicht sonderlich schmeichelhaft«, stellte Mello trocken fest, machte es sich etwas bequemer an der Schulter des anderen. Auch Matt änderte seine Position ein wenig. Dann, als er seinem Freund wieder ins Gesicht sehen konnte, grinste er ihn frech an. »Wann haben wir uns jemals großartig Komplimente gemacht?« Darauf musste Mello lachen. »Stimmt auch wieder.« Er wollte gerade die Augen schließen und sich an Matt lehnen, als dieser weitersprach: »Verwandte Seelen knüpft der Augenblick des ersten Sehens mit diamantenen Banden.« Damit, dass ihr Gespräch noch weiterging, hatte Mello nicht gerechnet. »Eh?« »Das hat Schopenhauer auch gesagt«, klärte Matt ihn auf, während er ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, um seine Narbe besser sehen zu können. Er ließ es ohne zu murren geschehen, war zu abgelenkt von der Kindheitserinnerung, die ihm mit einem Mal in den Sinn kam. ›Hey du! Ich bin Mello, das schlauste Kind hier!‹ ›Matt. Hallo.‹ ›Was spielst du da, Matt?‹ ›Pokémon.‹ ›Pikachu ist eh am coolsten! Hey, willst du was von meiner Schokolade?‹ ›Den Letzten, der ein Stück wollte, hast du geschlagen.‹ ›Schon, aber dich mag ich. Also?‹ ›...danke.‹ Es war das erste Mal seit Langem, dass Mello ihm ein aufrichtiges Lächeln schenkte. Noch bevor Matt darauf reagieren konnte, hatte sein Freund ihm schon einen flüchtigen Kuss gegeben. »Schopenhauer war ein kluger Mann.« Kapitel 5: page. 5 | Credits ---------------------------- Es ärgerte Matt, dass sie immer noch nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen waren. Egal, wie oft er versuchte, ihr Problem mit Mello auszudiskutieren, endete es am Ende doch immer so, dass sie genauso weit waren wie vorher auch. Aber heute würde er das ändern, ein für alle Mal. Und Matt wusste auch schon wie. Wie immer war es nicht schwierig, Mello ausfindig zu machen. Die Schwierigkeit bestand eher darin, eine vernünftige Diskussion zustande zu bringen, die nicht damit endete, dass sie sich entweder nur noch mit Schimpfwörtern und Beleidigungen bedachten oder sich gegenseitig die Zunge in den Hals schoben. Sehr produktiv. So hatten sie das damals in Wammy’s House aber nicht gelernt. Als er Mello gefunden hatte, saß dieser gerade in dem Raum, in dem man Matt vor über einem Monat aus einem Sack auf den Boden geworfen hatte und las ein Buch. Matt würde all seine Videospiele darauf verwetten, dass es irgendein Werk von Shakespeare war. Beim Näherkommen erkannte er den Titel, ›Hamlet‹, und musste lächeln. Als er unmittelbar vor Mello stand, sah dieser fragend auf, bevor er auf das freie Polster neben sich klopfte. Während Mello nach seinem Lesezeichen griff, um die Seite zu markieren, ließ Matt sich mit den Worten ›Ich gebe auf‹ neben ihn auf die Couch fallen. »Was machst du?« Zunächst dachte Mello, er hätte sich verhört. Ungläubig sah er seinen Freund an. »Ich gebe auf. Du hast gewonnen.« Matt war es ernst. In letzter Zeit hatte er viel darüber nachgedacht, worauf es ihm in seinem Leben eigentlich ankam. L hatte er niemals übertreffen wollen, dafür war er zu faul. Für ihn reichte es vollkommen, wenn er mit Mello zusammen sein konnte, so wie damals in Wammy’s House. Wenn er zurückdachte, waren das seine glücklichsten Erinnerungen. Gestern Abend war er zu dem Schluss gekommen, dass gerade dieses Zusammensein mit seinem Freund ihm wichtiger war als jede noch so glorreich gewonnene Diskussion. »Gewonnen bei wa— ach so«, rief Mello, als er verstand, worauf der andere hinauswollte. Missmutig legte er die Stirn in Falten. »Auf diese Weise will ich aber nicht gewinnen. Wir sollten das ausdiskutieren.« »Jeder ›Sollte‹-Satz ist eine Kriegserklärung an die Wirklichkeit«, meinte Matt belehrend, erntete dafür jedoch nur ein spöttisches Lachen. »Sind wir wieder schlau heute.« Mellos Grinsen wurde noch ein bisschen breiter, als Matt ihm für diesen Kommentar die Zunge rausstreckte. »Ich versuche, in unserer Beziehung die Wogen zu glätten, also sabotier mich nicht.« Wobei es nicht wirklich viel gab, was sie ausbessern mussten. Sicherlich, sie waren noch lange nicht eines dieser romantischen Liebespärchen, von denen in Filmen immer geschwärmt wurde, und Matt war sich auch nicht sicher, ob sie das je sein würden. In seinem bisherigen Leben hatte er allerdings gelernt, dass eine Beziehung – sei es nun eine Freundschaft oder mehr – nur dann größtenteils reibungslos funktionierte, wenn man zwar zusammen stand, dem anderen jedoch nicht zu nah kam. Wenn Mello seine Pläne so durchführen wollte, wie er es für richtig hielt, war es nicht an Matt, ihm das zu gestatten oder nicht. Jeder von ihnen lebte sein eigenes Leben allein, wenngleich sie jederzeit dazu bereit waren, es mit dem anderen zu teilen. Neben ihm lachte Mello laut. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Damit lehnte er sich zurück und zog Matt mit sich. »Hast du sonst noch irgendein Philosophenzitat, das du loswerden möchtest?«, flüsterte er dicht am Ohr des anderen, konnte das Lächeln auf Matts Lippen nicht sehen. »Ich denke, es gibt keinen Philosophen, der je gesagt hat ›Ich will trotz deiner Macken mit dir zusammenbleiben‹.« Und das war es, was Matt als wichtig empfand. »Diese Ignorante.« Wenn er jeden Morgen aufwachte und sich immer noch sicher war, dass er sein Leben mit Mello verbringen wollte, hatte er alles richtig gemacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)