Jumays Kinder von -Izumi- (Part 5: Kinder des Wassers - Verloren im Sand) ================================================================================ Kapitel 12: Sturm ----------------- „Wer bist du?“ Sie sah aus wie Choraly, sie sprach wie Choraly, aber sie war es nicht. Oder? Die Brünette lachte. War sie nicht glaubwürdig genug? „Ich bin ich!“, machte sie gut gelaunt und nahm ihre Hand wieder von seiner Schulter, ihn freundlich anlächelnd und er rückte sicherheitshalber ein Stück zur Seite. „Hat dir jemand gedroht oder so?“, erkundigte er sich verunsichert und sie blinzelte. Da war sie einmal nett zu ihm und dann stellte er sich so an. Konnte der nicht ein wenig dankbar sein? Frechheit... „Man hat mir nicht gedroht.“, brummte sie so leicht angesäuert und wandte den Blick ab, „Wenn du dich jetzt hinlegst und ich mich ein wenig um dich kümmere, dann geht das Fieber sicher schnell wieder weg.“ Was tat sie nicht alles? Wenn sie erst einmal wieder zu Hause wäre, würde sie sich ja sowas von verwöhnen lassen, das konnte man sich gar nicht vorstellen... irgendwie kam sie sich lächerlich vor. Vor allem, als sie merkte, wie er sie ansah. „Du meinst es ernst.“, stellte der Junge fälschlicher Weise fest und sie nickte, dann lächelte er. „Ich weiß zwar nicht, wie du plötzlich zu diesem Entschluss kommst, aber das freut mich!“ Na endlich. War ja doch ganz einfach. „Aber ich will nicht zu viel von dir verlangen, ich komm schon allein klar.“ Er erhob sich und rannte bester Laune die Treppe hoch. Sie trottete ihm seufzend nach. Der Kerl war ja wirklich sowas von leichtgläubig... „Du musst dich nicht um mich kümmern!“, machte er abermals, als sie an seinem Zimmer ankam und hob beschwichtigend die Hände, sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will aber.“, sie lächelte aufgesetzt, „Als Wiedergutmachung dafür, dass ich in den letzten Tagen so gemein zu dir war, ja?“ Eigentlich wollte sie nicht, ganz und gar nicht. Bei dem Gedanken, der Missgeburt freiwillig etwas Gutes zu tun, kam ihr fast die Galle hoch, aber sie brauchte ihn zum Freund, hatte Imera gesagt. Und der wusste sicher, wovon er sprach. Also in den sauren Apfel beißen... „Na gut.“, er grinste ergeben, „Tut mir trotzdem Leid, dass ich dir deine kostbare Zeit stehle.“ So ganz geheuer war ihm ihr plötzlicher Meinungswechsel nicht, aber Mayora wollte sich nun einmal keine negativen Gedanken machen. Dazu tat es zu gut, gemocht zu werden. Außerdem machte es ihn stolz, wenn ein Mädchen ihn so anlächelte... „Als ob ich etwas zu Tun hätte...“, erwiderte die Brünette da und er sah wieder auf, „Magst du etwas zu Trinken? Oder zu Essen? Nicht, dass ich etwas zubereiten könnte...“ Vielleicht sollte sie sich allein zu dem Zweck, hier Eindruck zu schinden, Kochen beibringen, überlegte sie sich, während er nachdachte. Und ihren Vater würde es sicher auch stolz machen. „Ein Becher Wasser fände ich nicht schlecht.“, antwortete der Junge da und zog sich seinen Pulli aus, sie nickte und verschwand sofort nach unten. Halbnackt musste sie ihn wirklich nicht noch einmal sehen, das erste Mal hatte sie schon traumatisiert genug. Nicht, dass es etwas abartiges an ihm gegeben hätte, aber er war ein Himmelsblüter... igitt... -- „Na, was sehe ich denn?“ Chatgaia starrte halb positiv, halb negativ überrascht auf ihre ziemlich mitgenommen aussehende Küche und die mittendrin vor dem Herd (oder eher der modernisierten Feuerstelle) stehende Choraly, die voller Elan in einem Topf herum rührte. Mit Wasser war es nicht getan... „Ich koche!“, machte sie, verbissen ihrer Arbeit folgend. Die Magierin trat näher und schaute ihr über die Schulter. „Sehe ich. Und was?“ Die Brühe hatte eine seltsame gelb-bräunliche Färbung und roch nicht unbedingt schlecht, aber irgendwie beunruhigend... „Keine Ahnung!“, antwortete man ihr da und sie hob beide Brauen, „Irgendeine Suppe oder so. Ist auf jeden Fall flüssig...“ Das Mädchen hatte so ziemlich alles, was halbwegs genießbar ausgesehen hatte, genommen und auf gut Gelingen in den Topf geworfen. Vielleicht schmeckte es ja. Und wenn nicht, einfach gut würzen. Brachte zwar nicht wirklich etwas, aber so hatte ihre Mutter es immer zu vertuschen versucht, wenn sie das Essen versaut hatte. Nicht, dass sie oft gekocht hätte... außerdem war es so wie so nur für Mayora, würde sie halt fasten... „Du willst uns doch nicht etwa vergiften...?“ Die Stimme ihrer Gastgeberin riss sie aus den Gedanken. Irgendwie hatte sie einen seltsamen Unterton... „Erstens ist das viel zu wenig für uns alle, weil ich bloß Ihren Neffen bekoche und zweitens, nein, mit Giften kenne ich mich leider nicht aus.“ Sie drehte sich um und grinste frech. So etwas ließ sie sich nicht unterstellen, niemals. Bloß weil sie diese Möchtegern-Menschen verabscheute, würde sie doch keinen von ihnen töten. Wobei, vielleicht war das Gebräu ja wirklich schädlich? ... Dann war es jedenfalls keine Absicht. „Ich koste lieber vor.“ Chatgaia hatte sich einen Löffel genommen und probierte nun vorsichtig, ehe sie dem Mädchen einen seltsamen Blick zuwarf und sich ihr Gesicht dunkelrot verfärbte. Dann atmete sie keuchend aus. „Viel zu scharf!“, ihre Stimme klang krächzend, „Du hast doch nicht etwa was von den gelben Beeren rein getan?“ Die Jüngere lächelte lieb. „Das hat die schöne Farbe gegeben!“ -- „Pass auf, ist feurig!“ War ihr doch egal, ob das Zeug scharf war, sie hatte es schließlich ganz allein für die Missgeburt gekocht, da sollte er es auch essen. Seine Tante war ja ziemlich skeptisch gewesen, aber Choraly hatte sich vom Servieren nicht abhalten lassen. Sie selbst hatte übrigens nicht probiert... Dafür tat Mayora es gut gelaunt. Für einen Fieberkranken allerdings etwas zu gut, für den Geschmack der jungen Frau. Der Anblick, wie auch seine Wangen sich verfärbten und er einen Moment nach Luft rang, war dafür aber köstlich. „Ich hab dich ja gewarnt!“, gackerte die junge Frau, während sie sich jede seiner Regungen genau anschaute. War lustig. „Ja! Wirklich feurig!“, bestätigte er ihr da etwas geschockt und starrte sie aus großen roten Augen an, „Isst man bei dir daheim immer so, Mädchen aus der großen Stadt?“ Sie setzte sich zu ihm ans Bett. „Nein. Ich hab die Suppe gerade eben extra für dich erfunden. Du darfst dich geehrt fühlen.“ Er nickte und nahm tapfer noch einen Löffel. „Du musst mich wirklich lieben.“, kam dann stimmlos und die Brünette hob eine Braue. „Soweit sind wir aber noch nicht. Außerdem bin ich doch vergeben, erinnerst du dich?“ Was bildete der sich denn ein? Der Junge nickte jedoch und sah grinsend auf. „Meine Mutter hat immer gemeint, scharf kocht man bloß für Leute, die man liebt.“ Ach so. Sie lächelte. „Na, dann solltest du das ja eigentlich gewöhnt sein.“ Sie kicherte und ehe er antwortete, aß er noch einen Löffel voll. „Meine Mutter hat nie scharf gekocht.“ -- Die Woche ging schnell vorüber. Choraly beobachtete die Menschen und Himmelsblüter, die mit jedem Tag beschäftigter und gehetzter schienen zwar mit größtem Interesse, kam sich selbst dabei aber ein wenig blöd vor. Man bezog sie überhaupt nicht mit ein und sie selbst konnte sich doch nicht dazu hinab lassen, nach Arbeit zu fragen. Sie war schließlich adlig oder so ähnlich. Aber es machte ihr auch ziemlich schwer, ihren unausgereiften Plan in die Tat umzusetzen, Mayora war ständig bei irgendwelchen alten Omas um Blumentöpfe unter Dach zu tragen oder sonstige unwichtigen Dinge zu erledigen. Pinita ließ sich auch nicht mehr blicken, genauso wie Dafi. Von wegen beste Freundin, die würde etwas zu hören bekommen... Am Ende war es dann so, dass sie wieder ständig in Jiros staubiger kleiner Hütte herum hing und die Leute dort nervte. Aber das war nicht weiter schlimm, die nervten ja auch zurück. „Flechtest du mir die Haare?“ Meist war es Tai, die sie in Beschlag nahm, weil ihr Bruder auch zum Wohltäter geworden war und sich nicht mehr besonders oft blicken ließ. Lag doch hoffentlich nicht an ihr... „Deine Haare sind doch schon geflechtet!“ Das Mädchen seufzte. Die Kleine schien es auch mit dem Gedächtnis zu haben, so etwas kam andauernd vor. „Dann mach nochmal!“, bat sie dennoch und die Ältere ergab sich. Tainini hatte ja sonst nicht viel am Leben, wenn es sie denn so glücklich machte, dann sollte es nicht daran scheitern. Und so machte sie ihre Zöpfe zum vierten Mal an dem Tag wieder auf und begann von Neuem. Zöpfe flechten konnte sie schon, seit sie ganz klein gewesen war, Atti hatte es ihr beigebracht. Wobei es ihr selbst eigentlich unverständlich war, warum ihr Kindermädchen das gekonnt hatte, wo sie doch selbst immer so kurzes Haar gehabt hatte. Aber ihr Bruder hatte es auch gekonnt, fiel ihr ein. Und der hatte noch Kürzere gehabt... -- Und während sich das Mädchen aus der großen Stadt so seine Gedanken über Frisuren machte, hatte Shakki ganz andere Sorgen. „Heute Abend...“, murmelte sie, während sie auf ihrer Terrasse stand und ein ungewöhnlich starker Wind ihr um die Nase wehte. Kinai, der im Hintergrund in einer riesigen Schüssel herum hopste und seltsame lila Beeren zerquetschte, sah gelangweilt auf. „Gestern hieß es noch in vier Tagen. Du bist auch nicht mehr das, was du einmal warst.“ Er lachte, doch sie ignorierte es. Er hatte ja keine Ahnung. Das, was sie zu viel hatte, hatte er zu wenig, wie ihr Vater es immer so schön sagte und die Sprache der Götter zu verstehen hieß nicht, die „Alte Sprache“ zu beherrschen. Es war wesentlich komplizierter. Und das war zu viel von dem Jüngeren verlangt. Manchmal machte es ihn traurig, das wusste seine Schwester, aber eigentlich kam er gut damit klar, zumindest das war beruhigend in Zeiten wie diesen... „Das Mädchen bringt Unglück.“, sprach sie ihre Gedanken laut aus, „Sie sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden.“ „Und wohin bitte?“, wollte der Junge wissen und hielt in der Bewegung inne. Die Schwarzhaarige drehte sich um und visierte ihn kalt. „Chatgaias Windgeist.“ Ein Dorfoberhaupt durfte nicht töten, aber jeder in Thilia wusste, dass Chatgaia es dennoch tat. Nicht mit eigener Hand, doch sie hatte jemanden, der es für sie erledigte. Da man die Windgeister für den Tod verantwortlich machte, betitelte man diese ominöse Person einfach damit, denn sie gab ihre Identität natürlich nicht Preis. Manche hatten Mayora im Verdacht, weil er schließlich alles für seine Tante tat, aber Kinai hielt das für völlig absurd. Sie konnte ihrem Neffen schließlich nicht eine solche Bürde auferlegen, das wäre völlig taktlos und widerlich. Theoretisch konnte es genau so gut jeder andere sein. Das einzige, was den Jungen störte, war, dass seine Schwester die Einzige war, die wusste, wer der Mörder war, es aber niemandem verriet. Das war doch gemein. Gemein fand er auch den Gedanken, das Stadtmädchen zu töten, bloß weil sie ein „Unglücksbringer“ war. „Aber sie kann doch nichts dafür.“, er verließ die Schüssel und putzte sich die Füße an einem Lappen ab, seine Schwester nicht aus den Augen lassend, „Sie hat es doch schwer genug!“ „Sie ist eine Egoistin, sie wird uns alle in den Tod schicken, bloß um wieder von goldenen Tellern essen zu können!“ Shakki schnaubte. Sie wusste das besser als er, er sollte sich bloß nicht anmaßen, mit ihr darüber zu diskutieren! Sie ahnte, was passieren würde, die Stimmen gaben ihr Andeutungen genug. Die Stimmen, die in ihrem Kopf immerhin nicht mehr ganz so dominant waren, weil die schlimmsten Tage vorbei waren. „Bist du dir wirklich sicher?“, versicherte sich der Jüngere stattdessen bloß und sie senkte ihr Haupt. „So gut wie.“ Sie war sich fast nichts mehr ganz sicher, es war zum Verzweifeln. Sie hatte ihre Gabe zu Deuten verloren. Nun gut, verloren war vielleicht etwas übertrieben, aber sie konnte die Worte nicht mehr so klar interpretieren wie noch vor wenigen Wochen. Sie wollte nicht daran denken, dass es möglicherweise ja an Mayora seltsamen Tee gelegen hatte, aber seitdem war es so. Wenn er so weitermachte, dann würde sein Vorhaben sicher gelingen. Was für eine grauenhafte Vorstellung... -- „Du Idiot!“ Herr Beviri fauchte. Er war so sozial gewesen, Jiro ein paar Tage zu beschäftigen, weil er die Hälfte seiner tausend Werkzeuge und was er sonst noch brauchte draußen lagerte und die nun nach drinnen mussten. Formen zum Fensterscheiben herstellen waren schließlich unsagbar schwer zu bauen, die durften in dem blöden Sturm natürlich keinen Schaden nehmen und weil es so ziemlich viel zu tun gab, kam ihm der Junge eigentlich gerade recht. Bloß leider handelte es sich bei seinem Gehilfen um einen furchtbaren Trottel, der so eben die Hälfte der Glasbecher, die er zuletzt hergestellt hatte, mit einer falschen Bewegung in tausend Scherben hatte zerspringen lassen. Der war aber auch ein Trampel... „Tut mir so furchtbar Leid!“, machte er, während er verzweifelt mit einem Strohbesen versuchte, die Splitter zusammen zu kehren, „Ich bin so... ach, verdammt...“ „Du gehörst genau so in die Tagebauten wie dein Vater, möge er im Himmelreich seinen Frieden gefunden haben...“ Der Mann setzte sich seufzend auf einen vertrockneten Baumstumpf. Konnte er ja auch ein wenig Pause machen... Tado Raatati, Jiros Vater, war selten zu Hause gewesen, denn die unterirdischen Vorkommen an Erz, Salz, Kristall und sonstigen Bodenschätzen befanden sich genau am anderen Ende der Oase und die war schließlich nicht gerade klein. Eigentlich hatten auch nur Männer aus Morika in den Bergwerken gearbeitet, weil deren Weg wesentlich kürzer war, aber von Thilia hatten dort dann dennoch irgendwann ein paar schuften müssen. Und das war immer eine peinliche Sache gewesen, denn wenn das Dorf jemanden in die dreckigen Höhlen geschickt hatte, hieß das immer, dass man die Person für nichts anderes gebrauchen konnte. Heute war das natürlich ein wenig anders. Es gab eine provisorische Siedlung dort und auch viele Freiwillige aus Thilia (wobei böse Zungen behaupteten, die Männer würden bloß von zuhause weggehen, weil sie so schreckliche Ehefrauen hatten) konnte man dort vorfinden. Jiro war allerdings gezwungen, im Ort zu bleiben, weil er sich ja nebenbei noch um seine Familie kümmern musste. Herr Beviri seufzte. Tag für Tag rannte er durch die Straßen und bat um Arbeit, damit er nicht betteln musste. Dabei hätte wirklich jeder seiner Familie freiwillig gegeben, wo sie doch so bemitleidenswert waren, keiner hätte ihnen etwas verweigert. Aber vermutlich war dem jungen Mann die Schande zu groß. Anders als sein dämlicher Vater schien er nämlich so etwas wie Stolz und Pflichtbewusstsein zu kennen. Der Glaser hatte Tado Raatati nie gemocht. Er hatte kaum seinen Namen schreiben können, aber immer gern einen über den Durst getrunken und dann den nächst Besten grundlos verprügelt, auch seinen Sohn immer öfters. Wirklich, der Junge konnte einem Leid tun, das war wohl auch der Grund, weswegen jeder ihn bei sich mithelfen ließ, obwohl er immer nur Schaden anrichtete... -- Aber all zu lange sollte er nicht bleiben, denn der Mann schickte den trotteligen Jungen schon früh nach Hause. Zu früh für seinen Geschmack. Jiro war wirklich wesentlich stolzer, als man ihm auf den ersten Blick zutraute und er hasste es, so nutzlos zu sein. Er war nicht Shakki, er wusste nicht mit Sicherheit was die Zukunft brachte, er hatte ja noch nicht einmal magisches Blut. Aber er hatte seine Intuition, das Einzige, worauf ein klein wenig Verlass war, fand er. Auch wenn ihm das niemand abkaufte, aber es war immer noch so gewesen. Damals, als Tai gesagt hatte, dass ihre Augen immer mehr brannten, hatte er geahnt, dass sie blind wurde und es hatte sich bewahrheitet. Das war doch das beste Beispiel, er vertraute darauf. Und wenn er auf diese kleine Stimme in seinem Inneren hörte, dann sagte sie ihm, dass es dunkel war. Sehr dunkel, er würde Lilli nicht der Mann sein können, den sie verdiente und ein schlechter Vater würde er noch dazu werden. Und wieder verfluchte er die Götter, dass seine Liebste ausgerechnet jetzt ein Baby bekommen musste. Das passte so schlecht. Warum hatten sie denn nicht aufpassen können? Sie Idioten... Wenn er an das Gesicht von Lillianns Vater dachte, dass er gemacht hatte, als man ihm davon erzählt hatte, bekam er eine Gänsehaut. So hasserfüllt und voller Abscheu. Er war der Rektor der Schule von Thilia, ein gebildeter und erhabener Mann, der seiner einzigen Tochter alle Annehmlichkeiten beschert hatte, die ein Vater seiner Tochter eben bescheren konnte. Dumm nur, dass Klein-Lilli das nie besonders toll gefunden und lieber mit dem Nachbarsjungen im Matsch gespielt hatte. Ihr Vater hatte so oft darüber geschimpft und die anderen Nachbarn hatten ihn immer ausgelacht, weil er in ihren Augen übertrieben hatte, aber er war im Recht gewesen, wie Jiro nun wusste. „Es fängt an, dass sie mit diesem unzivilisierten Bastard im Dreck spielt und ehe man sich versieht, hat er ihr ein Kind gemacht!“ Das waren seine Worte gewesen. Und er hatte Recht gehabt, verdammt. Nicht, dass er kein Kind wollte, nein, er wollte auf jeden Fall eine Familie, aber doch nicht jetzt. Er würde seine Geliebte nur ins Unglück schicken! Seine Geliebte, wie war es eigentlich dazu gekommen...? -- Mayora stand auf dem flachen Dach eines Hauses und starrte gebannt gen Westen, wo die Luft zu glitzern schien. Sand. Heute Nacht war es also soweit. Er musste Choraly noch einsammeln, aber wo war die? Es tat ihm Leid, dass er in den letzten Tagen so wenig Zeit für sie gehabt hatte. Sie war so lieb geworden und hatte es dabei so schwer und er überließ sie einfach sich selbst, das war mehr als nur unhöflich. Sie schien sich auch gut mit Dafi zu verstehen, überlegte er sich, aber die hatte in letzter Zeit selbst sehr viel um die Ohren, weil es irgendwelchen politischen Stress gab, aber was scherte es ihn? Jedenfalls war sie wohl nicht zugänglich für das Stadtmädchen. Wo konnte sie sonst sein? Bei Imera? Er war sich nicht so sicher, ob es klug war, sie dorthin abholen zu gehen. Andererseits war es ja auch möglich, dass sie sich wo ganz anders befand und in Gefahr war, er sollte lieber einmal nachschauen... na toll. „Choraly? Die lebt noch?“ Der Brünette schaute sein perplexes Gegenüber blöd an. Er hatte vor seinem Haus auf einer kleinen Mauer herum gehangen und irgendwie gar nichts gemacht. Wie so oft, er hatte noch nie besonders viel zu tun gehabt... „Warum soll sie nicht mehr leben?“, erkundigte sich der Jüngere verwirrt, „Ich dachte, ihr seid ja so verliebt?“ Imera grinste. „Eifersüchtig?“, fragte er, „Ich hab sie dummes Huhn genannt, seitdem war sie nicht mehr hier und ich sehe es auch nicht ein, ihr nachzurennen. So notgeil bin ich schließlich noch nicht.“ „Nein, solange du deine Hände hast.“ „Da kannst du aber auch ein Lied von singen.“, er erhob sich und streckte sich gähnend, „Der Sturm kommt heute noch, oder?“ Mayora nickte. „Ihr wisst ja Bescheid. Falls du das Mädchen aus der großen Stadt siehst, kannst du sie ja nach hause schicken.“ Damit war alles gesagt und er wandte sich zum Gehen. „Ich soll sie zu Fuß nach Wakawariwa schicken?“, wunderte sich der Andere gespielt und der Junge hielt noch einmal inne, „Vergiss es, Missgeburt, Thilia wird sie nie als ihr 'zu Hause' akzeptieren können, genau so wenig wie ich. Es kann nicht jeder so gewissenlos sein wie du.“ Der Grünhaarige drehte sich langsam wieder um und blickte in das düstere Gesicht des Größeren. Was hatte der jetzt schon wieder für ein Problem? Gewissenlos?! „Noch ein falsches Wort und ich reiß dir deine Zunge heraus, Imera.“, zischte er leise, aber verständlich und ein starker Windstoß fegte über sie hinweg, wirbelte den Staub auf der Straße auf und ließ sie so aussehen wie Jiro normalerweise. „Tu es.“, grinste sein Gegenüber, „Dann werde ich deine Augen auskratzen und deine Augenhöhlen mit Sand füllen, damit es nicht so sehr blutet. Wir wollen doch keine Sauerei...“ Er griff an seinen Gürtel, wo sein geliebtes Kurzschwert steckte, bereit, es jeden Moment zu ziehen. Er war wütend und an der Missgeburt hatte man sich noch immer gut abreagieren können. Obendrein besaß er auch noch das Privileg, ihn als einziges reizen zu können, bei ihm wehrte er sich wenigstens richtig. Einerseits spaßig, andererseits ließ es ihn brodeln. Der Himmelsblüter war nicht wütend auf ihn und er hasste ihn auch nicht, dass hatte Chatgaia ihm alles eingeredet! Diese miese... „Du willst es also wirklich darauf ankommen lassen?“ Der Kleinere schaute rasch nach links, die Straße hinab. Die Dünen am Horizont waren hinter einem glitzernden orangen Nebel verschwunden. Mist. „Das verschieben wir, ich mache, dass ich nach Hause komme. Aber glaub mir, irgendwann kriege ich dich.“ Er ging. „Ja ja, irgendwann, feige Sau...“ Auch Imera ließ seinen Blick schließlich gen Westen wandern. Wo war Choraly, verdammt, sie durfte doch nicht zu Schaden kommen! Er brauchte sie doch noch! Aber so, wie es im Moment aussah, war es eh sinnlos. Sie hatte sich von ihm abgewandt, nach so kurzer Zeit schon. War es denn ein solcher Fehler gewesen, sie dummes Huhn zu nennen? Er wollte sich nicht bei ihr entschuldigen. Erstens, weil er in seinen Augen im Recht gewesen war und zweitens, weil er sich vor unangenehmen Überraschungen fürchtete. So sehr, dass es ihm schon Alpträume bereitete. Jetzt kommst du? Ich hab schon längst einen Neuen, geh mir doch aus den Augen. Du bist noch widerlicher als Mayora... Er hörte sie in seinem Inneren kalt lachen und erschauderte. Wie war er auch auf die Idee gekommen, sich eine Freundin zu nehmen? Dummer Junge, selbst Schuld, Imera... -- „Wenn du so nervös bist, ist das bestimmt nicht gut für dein Baby.“ Tai saß ruhig auf einem Stuhl in der kleinen dämmrigen Küche, genau so wie Choraly, während ihre Fast-Schwägerin wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend rannte. „Ich weiß!“, machte sie verzweifelt, „Aber wenn der Sand kommt und Jiro ist nicht da... argh! Es ist ein schleichender Sturm, die Götter des Windmondes haben allen genügend Zeit gegeben, sich in Sicherheit zu bringen, weil jeder den Staub gesehen hat, aber... mein Verlobter ist ja eben etwas anders!“ Sie raufte sich ihr rot-blondes Haar und die Jüngere seufzte. „Ja, er ist halt... nicht besonders aufmerksam.“ Das Stadtmädchen senkte den Blick. Lilliann und Tainini taten ihr Leid, sich jetzt so sorgen zu müssen. Sie selbst hatte es für besser befunden, diesen ominösen Sturm als Grund um eine Nacht in menschlicher Gesellschaft zu bleiben zu verwenden. Wobei sie die ganze Situation so wie so verwunderte. In den Abenteuerbüchern, die sie in Wakawariwa oft gelesen hatte, waren die Leute immer in der Wüste gewesen und auf einmal war der Sandsturm da, tötete ein paar unwichtige Nebenfiguren und ließ die Helden über sich hinaus wachsen. Das echte Leben war doch irgendwie anders, auch wenn es ihr eigentlich noch immer schwer fiel, das, was ihr in den letzten Tagen, oder Wochen, erlebt hatte, als Realität zu sehen. Es kam ihr vor, wie ein einziger, überlanger Traum, der einfach nicht enden wollte. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie noch nicht wahnsinnig geworden war? Weil sich irgendetwas in ihr noch immer an den Gedanken, Naputi Magafi und Atti seien in Sicherheit, klammerte? Das war erbärmlich, sie musste es verdrängen... „Wisst ihr was, ihr unterschätzt Jiro!“, hörte sie sich so selbst sagen, ohne es bewusst kontrollieren zu können, „So unaufmerksam kann er ja nicht sein, er hat mich schließlich auch in der Wüste gefunden! Ohne ihn wäre ich tot, ich finde ihn toll...“ Ob sie wirklich so glücklich darüber war, noch zu leben, wusste sie selbst nicht, doch sie hatte den beiden Anderen gleichermaßen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, das war die Hauptsache. „Stimmt, mein Verlobter ist ein Held!“, machte die Älteste und strahlte, „Er ist ein guter Mann!“ Auch Tai nickte. „Er ist mir immer ein toller Bruder gewesen!“ „Ich?“, die Mädchen blickten, soweit sie es konnten, zur Tür, wo der junge Mann gerade aufgetaucht war, verstaubter und schmutziger denn je. „Mein Schatz!“, quiekte seine schwangere Liebste und stürzte sich in seine Arme, ihn darauf heftig auf den Mund küssend. Er erwiderte den Kuss zunächst bloß dürftig, weil er etwas überrumpelt war, legte sich dann aber mehr ins Zeug, seine Hände in ihre Taille legend und sie streichelnd. Die anderen Beiden wurden eiskalt ignoriert. „Wenn die ihre Momente haben, dann ist es ihnen ziemlich egal, wer dabei ist.“, erklärte Tainini ihrem perplexen Gast entspannt lächelnd, „Meistens hauen sie sich, ich finde solche Augenblicke total niedlich, zum Beneiden...“ Sie seufzte. Ja, sie hatte es ja schwerer als andere Mädchen, obwohl sie so bildhübsch war. Das war traurig, fand die Brünette, musste aber ebenfalls lächeln, als sie wieder zu dem Paar blickte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jiro großes Durchsetzungsvermögen hatte, es war wohl eher Lilli, die zuhaute. Aber wahrscheinlich nicht zu doll, die zwei hatten sich wirklich gern, das merkte man. Ob es auf andere auch so gewirkt hatte, wenn sie mit Imera herum geknutscht hatte? Wohl kaum, dachte sie sich, obendrein war er auch kein so berauschend guter Küsser, fiel ihr ein. Er war viel zu schüchtern, als wäre es ihm unangenehm. Oder vielleicht war sie einfach widerlich? Nein, der Gedanke wurde ganz schnell wieder verworfen... „Lilli!“ Jiro war kurz vor dem Ersticken gewesen, deshalb hatte er sich wieder von dem Mädchen gelöst, das sich, ebenfalls außer Atem, an ihn kuschelte. Was war denn in sie gefahren, sonst war sie doch nicht so. „Ich liebe dich!“, schnappte sie, „Wir haben uns um dich gesorgt!“ „Habt ihr?“, fragte er blöd, „Ihr Angsthasen!“ Choraly schnaubte. Angsthasen, der hatte gut reden, wäre doch furchtbar gewesen, wenn ihm etwas geschehen wäre! „Müsstest du nicht nach Hause?“, erkundigte er sich da an seinen Gast gewandt, sein Mädchen noch immer festhaltend und sie blinzelte. „Ich bin schon über zwei Wochen hier, warum soll ich ausgerechnet jetzt nach Hause? Davon abgesehen weiß ich gar nicht, wie ich dahin soll...“ Tainini kicherte und ihr Bruder schien erst einen Moment überlegen zu müssen, was die junge Frau meinte. Ach ja... „Was willst du jetzt eigentlich machen?“, fragte er da und legte den Kopf schief, seiner Verlobten, die sich noch immer an ihn gekuschelt hatte, einen kurzen Blick zuwerfend. Was war denn ihn die gefahren? „Wie, was will ich machen?“ Das Stadtmädchen fuhr sich durchs Haar. Sollte sie von ihrem provisorischen Plan erzählen? Ach, was sollte es schon? „Ich versuche mich bei Mayora einzuschleimen, damit er mir hilft, von hier wegzukommen. Etwas besseres ist mir bisher noch nicht eingefallen, leider, ich werde hier noch verrückt...“ Betretenes Schweigen. Choraly war normalerweise nicht die Art Mensch, die Lilliann mochte, nein. In ihren Augen war sie eine verwöhnte Ziege, die alle Annehmlichkeiten, die man ihr bescherte, schamlos ausnutzte, ohne irgendeine Gegenleistung zu erbringen, mit Ausnahme von Personen, die ihrer Meinung nach ein so furchtbares Leben hatten, dass es selbst ihr Leid tat. Vermutlich, weil ihr Kindermädchen es sie gelehrt hatte oder so. Aber trotzdem war sie ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen, der Furchtbares erlebt hatte und der wohl einfach nichts für das konnte, was er war. Sie seufzte leise und lies endlich von ihrem Verlobten ab. Solche Leute gab es und man musste sie akzeptieren, wie sie waren. Mayora gehörte auch dazu, ebenso wie Imera, fiel ihr ein. Die konnten auch nichts dafür, auch wenn ihr beide nicht besonders geheuer waren. Choraly war wenigstens harmlos... Ein leises Schluchzen riss sie aus ihren Gedanken. „Verzeihung, ich... tut mir Leid!“ Die Brünette wischte sich über ihre nassen Augen und lächelte aufgesetzt. „Alles in Ordnung?“, fragte Tai leise und tastete sich zu dem Mädchen, um sachte einen Arm um sie zu liegen. Der rötliche Wind, der gegen das Haus peitschte, wurde völlig ignoriert, als auch Lilli sich zu ihr setzte und sie mitleidig ansah. „Es... ja, es geht schon!“ Das Stadtmädchen versuchte tapfer, seine Tränen zurückzudrängen, doch es gelang ihm bloß dürftig. Verdammt, sie hätte nicht hier bleiben dürfen, was für ein Fehler! Wie peinlich... Jiro schaute dem Schauspiel bloß geschockt zu. Wie seine Schwester und seine Verlobte das arme Mädchen trösteten und dieses irgendwie immer trauriger wurde und immer mehr schluchzte. Als sie es schließlich aufgab und ihr Gesicht in den Händen vergrub, wurde ihm zum ersten Mal klar, wie bemitleidenswert dieses Geschöpf eigentlich war. Es musste so für sie sein, wie es für Lilli gewesen wäre, wenn man sie ganz allein in die große Stadt geschickt hätte. Also grausam. „Ich helfe dir!“, hörte er sich selbst sagen und alle sahen (mehr oder weniger) auf. „Was meinst du?“, fragte Choraly leise, aber hoffnungsvoll und er grinste sie aufmunternd an. Seine Liebste lächelte. Das war ihr Jiro, darauf hatte sie nur gewartet. „Weißt du, ich arbeite für alle möglichen Leute hier in Thilia.“, begann er zu erklären und setzte sich den Mädchen gegenüber, während der Wind draußen immer stärker über das Land hinweg fegte und man vor dem Fenster nur noch orange sah, „Und wir machen ja auch Tauschgeschäfte mit der Forschungsstation da draußen, da bin ich oft Laufbursche und ich kenne mich da auch schon ziemlich gut aus. Wenn ich das nächste Mal da bin, schaue ich nach einem Funkgerät, ja?“ Er lächelte lieb und stützte sein schmutziges Gesicht auf seinen Händen ab, während in Choralys Antlitz plötzlich alle Tränen weggetrocknet waren. „Das würdest du für mich tun, ja?“, wollte sie ungläubig wissen und Tainini knuddelte sie gut gelaunt. „Mein Bruder ist der Beste, nicht?“, machte sie und lachte. Lilli knuddelte sie derweil von der anderen Seite und lachte mit. War sie gerade aufgewacht oder begann sie jetzt erst zu träumen? Jiro war wirklich ein Held! Sie würde dafür sorgen, dass man ihn und seine Familie groß belohnte, so lieb wie sie waren! „Aber, Choralychen...“, die beiden im Moment etwas hyperaktiven Mädchen hatten wieder von ihr abgelassen und nun schaut sie die Ältere ernst an. „Dich bei Mayora einzuschleimen könnte praktisch für dich sein und wahrscheinlich auch nicht all zu schwierig, so einfach, wie der Laubfrosch gestrickt ist, aber pass bloß auf Chatgaia auf...“ „Sie ist eine Hexe!“, stimmte ihr Verlobter ihr zu, „Sie kann dich töten, wenn sie will, unter uns ist ein Mörder, der jeden bei Seite schafft, den sie nicht leiden kann!“ „Du solltest also nicht versuchen, ihr Mayora komplett auszuspannen, das würde sie vermutlich ziemlich böse machen...“ Auch Tai sprach in seltsamen Unterton zu ihr und sie schaute perplex in die Runde. „Wie? Einen Auftragskiller?!“ Das Mädchen merkte, wie ihr das Atmen plötzlich immer schwerer fiel und ihr Herz bei dem Gedanken zu rasen begann. Oh nein... „Choraly?“, fragte Jiro geschockt. Hatten sie etwas falsches gesagt? „Hey, was ist?“, wollte Lilli wissen und ihre Fast-Schwägerin schlug sich geschockt die Hände vor den Mund. Heute schien wirklich nicht der Tag des Mädchens aus der großen Stadt zu sein... „Mein Bruder!“, jammerte sie kreidebleich, „Semerachen wurde getötet... mir darf nichts geschehen, dann wäre Vater so traurig...“ Sie stammelte vor sich hin und war sich irgendwann selbst nicht mehr so ganz sicher, ob es bloß die Situation war, oder ob sie nun wirklich wahnsinnig geworden war... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)