Jumays Kinder von -Izumi- (Part 5: Kinder des Wassers - Verloren im Sand) ================================================================================ Kapitel 17: Vergeltung ---------------------- „Du hast gesagt, es würde schon gut gehen!“ Uda Magafi stützte sich wie ein enttäuschtes Kind am Schreibtisch seines Vaters ab, der bekümmert dahinter saß und zu ihm hinauf sah. Man hatte ihnen tatsächlich den Krieg erklärt, zumindest formell. „Ich hab dich bloß ermutigen wollen, ich konnte doch nicht wissen, dass es so kommt, meine Güte...“, er lehnte sich zurück, „Es wird trotzdem schon irgendwie gehen, du wirst es sehen. Aber wo es jetzt eh nicht mehr schlimmer kommen kann, hast du nicht ein wenig Lust, Dummheiten zu machen?“ Der Jüngere zog beide Brauen hoch. Diesen Unterton kannte er. „In wie fern?“ Es würde bloß Unglück bringen... „Du hast einmal eine Tochter gehabt, erinnerst du dich?“ Femeese Magafi hatte beunruhigt beobachtet, wie sich sein Sohn mehr und mehr in seine Arbeit geflüchtete hatte, die schmerzlichen Gedanken an das verlorene Leben seiner Frau und das unbekannte Verbleiben seines Mädchens vollkommen verdrängend. Aber das war nicht richtig so, seine Enkelin verdiente diese Aufmerksamkeit, auch wenn sie wahrscheinlich längst bei ihrer Mutter und ihrem Bruder im Himmelreich war. Wahrscheinlich, aber es musste nicht sein und so lange es Hoffnung gab, gab der alte Mann auch nicht auf. Eine der Eigenschaften, die die Magafi-Familie so mächtig gemacht hatte, der Glaube an das Gute. Aber das schien sein Erbe nach all den Jahren noch nicht verstanden zu haben. „Meine geliebte kleine Prinzessin...“, seufzte er da und ließ seinen Blick sehnsüchtig aus dem Fenster schweifen, „Ich träume oft von ihr, als sie noch klein war, wie sie die Angestellten immer herum gescheucht hatte... oder erinnerst du dich? Als sie hingefallen war und sich den Finger gebrochen hatte? Sie hat drei Tage lang durchgeschrieen und man musste ihr alle Wünsche erfüllen, weil sie sonst noch einen Tag dran gehängt hätte... sie war so niedlich.“ „Definitiv.“, bestätigte der Vater ebenfalls resigniert. Ohne Choraly fehlte etwas. „Wir müssen endlich nach ihr suchen.“ -- Choraly ging es schlecht. Nicht nur ein bisschen, sondern richtig schlecht. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“, erkundigte sich die ebenfalls ziemlich mitgenommene Dafi in Schlafklamotten vor der Badezimmertür, während die Andere sich dahinter gerade übergeben hatte und nun vor sich hin hustete. „Nein...“, kam es brüchig von drinnen, „Ich denke nicht, geh wieder schlafen...“ Das wäre die kleine Magierin gern, wenn sie ehrlich gewesen war. Ihr Kopf dröhnte wahnsinnig und ihre kantigen Knie zitterten. Sie hatte sich viele Gedanken gemacht über den armen Jiro und immer wieder kam sie zu dem Schluss, dass es ihre Schuld sein musste. Himmel, es war so schrecklich! Sie kam sich so schäbig vor, so abgrundtief widerlich. Tainini und sie waren Freundinnen gewesen, wie sollte sie je wieder normal mit ihr sprechen können, wenn sie doch ihren Bruder auf dem Gewissen hatte? Nein, das ging nicht... Aber jetzt musste sie sich zusammenreißen, dem Mädchen aus der großen Stadt ging es zumindest körperlich ja noch schlimmer als ihr. „Ich komm gleich nach... aber bitte bleib bei mir im Bett!“ „Na gut...“ Sie schlief nicht gern mit Fremden in einem Bett, bloß wenn sie sich nicht gut fühlte manchmal bei ihrer Cousine. Gut, die ein oder andere Ausnahme hatte es schon einmal gegeben. Aber bei Choraly? Sie wünscht es sich. Es würde schon gehen... Nachdem die Jüngere aus ihrem Alptraum erwacht war, ging es den beiden so mies und sie wussten nicht, was sie dagegen tun konnten, als sich einfach gegenseitig ein wenig zu trösten. Aber wenn es ihnen schon so ging, wie ging es dann manch anderen...? -- Lilliann lag in ihrem Bett. Nein, sie lag in Jiros Bett. Sie konnte nicht schlafen, dazu hatte sie keine Nerven. Sie verbrachte den stillen Moment einfach damit, das Unbegreifliche zu begreifen. Einen Tag zuvor zur selben Zeit hatte sie sich noch an die nackte Brust ihres Geliebten geschmiegt und er hatte durch ihr Haar gestrichen und ihr gesagt, wie wichtig sie ihm war und wie sehr er sich auf ihr Kind freute, obwohl er besorgt war. Und jetzt war alles anders. Er war weg, einfach so. Und nicht nur er, alles war weg. Es kam dem Mädchen so vor, als hätte ihr Verlobter alles, was ihr Leben wertvoll gemacht hatte, mit sich genommen und sie als unbedeutende Hülle vergessen. Sie fühlte nach ihrem rundlichen Bauch. Ihr Baby hatte vor wenigen Tagen begonnen, sich richtig zu bewegen. Es war ein so schönes und überwältigendes Gefühl gewesen und hatte sie so unsagbar glücklich gemacht. Und gerade jetzt, in diesem Moment, hatte sie es wieder gespürt. Doch dieses Mal war es anders, sie fühlte nichts. Es war ihr egal. Alles war egal. War doch gleich, ob das Ding in ihr geboren wurde oder nicht, sie würde sich so wie so nicht darum kümmern können, dazu war sie nicht in der Lage. Nicht ohne Jiro. Wenn es in wenigen Monaten das Licht der Welt erblicken würde, dann müsste sie es an irgendwen abgeben. Sie schaffte das nicht. Die Zimmertür öffnete sich leise und eine schmale kleine Gestalt kam vorsichtig hereingetappst und auf sie zu, krabbelte auf das Bett und kuschelte sich schließlich vorsichtig an sie. „Meine Niemals-Schwägerin.“, begrüßte die Ältere die Kleine kalt und wie auf Kommando erzitterte sie. „Darf ich bei dir bleiben?“ Tainini war den ganzen Abend bei ihrer Mutter gewesen, die auf die Todesnachricht wieder schwer krank geworden war. Jetzt war sie eingeschlafen. „Ich kann dich ja schlecht wegschicken, oder?“ Die Jüngere erwiderte nichts darauf, streckte stattdessen suchend die Hand nach dem Bauch der Anderen aus und wechselte das Thema. „Was wird jetzt aus Choraly?“ Ihre Schmerzen wurden noch größer, als sie an das Mädchen dachte, das jetzt für immer hier fest saß. Ihr Bruder hatte ihr nicht helfen können. „Imera hat sie zur Zeremonie gebracht... als sie es gesehen hat, hat sie so geschaut, wie du heute morgen. Es geht ihr wohl auch dementsprechend... und dabei wollten wir sie strahlen sehen, so ein Jammer.“ Vielleicht war es doch nicht so schlecht, wenn man sie ihrer Einsamkeit beraubte? Es lenkte ab und verlieh ihr neues Leben. Die Jüngere sah es natürlich nicht, aber Lilli musste unwillkürlich ein wenig lächeln, als sie nach der ziellos in der Gegend herum tastenden Hand griff und sie auf ihren Babybauch legte. -- „Er wird morgen beigesetzt?“ Chatgaias düsterster Handlanger saß auf einem kleinen Sofa im Schlafzimmer der Frau und musterte sie interessiert, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und irgendetwas ausfüllte. „Ja.“, antwortete die Magierin, ohne aufzusehen, „Aber mal nebenbei, dürfte ich dir eine Frage stellen?“ Der Andere lachte amüsiert auf. „Ehrenwertes Dorfoberhaupt, nur zu!“ Die Frau seufzte und wandte sich doch zu ihrem Gast. Vermutlich machte sie sich nun absolut lächerlich. „Als ich dich nach deiner Meinung nach dem weiteren Vorgehen gefragt habe, hast du mir deine Dienste angeboten. Du bietest sie mir sehr oft an, seit knapp 10 Jahren tust du es schon. Und dennoch habe ich oft Zweifel. Haben wir denn das Recht, eine Todesstrafe zu verhängen, ohne dem Angeklagten eine Verteidigung zu gewähren?“ Sie drehte sich schnell wieder ab, hatte aber noch aus den Augenwinkeln wahrgenommen, wie sich die andere Person erhob und ein paar Schritte auf sie zu trat, beide Brauen hebend. „Ehrenwertes Dorfoberhaupt.“, begann es überaus überrascht und auch ein wenig belustigt, „Sie zweifeln doch nicht ernsthaft an ihren Taten? Nein... das tun Sie nicht. Das haben Sie vor 10 Jahren genau so wenig wie vorgestern, als Sie mich zu sich haben rufen lassen. Es ist etwas anderes. Ihr Neffe zweifelt, hab ich Recht? Weil er Jiro verraten hat. Machen Sie sich keine überflüssigen Gedanken und bringen Sie ihm bei, dass es unsere Pflicht ist, manchmal Dinge zu tun, die uns nicht gefallen...“ Dinge, die einem nicht gefielen? Chatgaia erhob sich nun ebenfalls. „Im Gegensatz zu dir mache ich mir erst Gedanken, ehe ich ein Todesurteil spreche. Du würdest doch deine eigenen Eltern töten, wenn ich es dir erlauben würde, bloß weil es dir gefällt, du krankes Biest.“ Ihr Gegenüber kicherte kindisch und wandte sich zum Gehen. „Stimmt.“, gab es an der Tür zu, „Ich liebe es und mit meinen Eltern hätte ich sicherlich kein Mitleid. Mit keinem.“ Dann ließ es die Ältere allein zurück. „Und wie soll ich ihm jetzt die Realität erklären...?“, fragte das Dorfoberhaupt dennoch in den leeren Raum und setzte sich auf ihr weiches Bett. Ihr Neffe stellte sich blind und taub, verschloss alle Sinne vor Dingen, die ihm nicht gefielen. Ein verhängnisvoller Fehler, vielleicht sein Größter, der ihm das Leben bisher bloß unnötig schwer gemacht hatte. Ihm war egal, ob die Leute um ihn herum vollkommen abartig zu ihm oder dritten waren, bloß wenn er sich selbst für etwas verantwortlich machte, hatte er so fürchterliche Schuldgefühle, dass er jedes Mal Fieber bekam. Sicher würde es dank Jiro ganz besonders hoch werden. Sie hatte ja bereits versucht, seinen Charakter zu stärken, war bisher aber immer gescheitert. Vielleicht, weil sie durchgehend im Hinterkopf hatte, dass er mit dieser Schwäche auch seine Berechenbarkeit verlieren würde? Ach, sie wusste es nicht. Sie würde es so lassen, wie es war. -- Chatgaia kannte den Jungen allerdings wirklich gut, denn er lag bereits ein paar Räume weiter fiebernd in seinem Bett. Er war fassungslos und je länger er über das nachdachte, was er angerichtet hatte, desto fassungsloser wurde er. Er hatte Jiro auf dem Gewissen. Sie hatten sich so lange gekannt, er war so sympathisch gewesen! Und seine Tante hatte ihm zuvor noch nicht einmal gesagt, was sie vorhatte. Vielleicht hätte er sie ja aufhalten können? Ach, es war unsinnig, ihr die Schuld in die Schuhe schieben zu wollen, sie hatte nach den alten Regeln gehandelt und war nicht im Fehler. Er war es, er hätte einfach die Klappe halten sollen. Es hätte dem Dorf sicher nicht geschadet und der seltsamen Forschungsstation auch nicht. Es hätte im Gegenteil bloß viele Menschen glücklich gemacht. Familie Raatati wäre so stolz gewesen. Und Choraly selig. Choraly. Er hatte ihn ihretwegen verraten, weil er ihr allen ernstes hatte weh tun wollen. Sie sollte nie wieder ihren Vater und ihre restlichen Verwandten sehen, sollte sie doch hier wahnsinnig werden! Sie sollte leiden, wie er hatte leiden müssen! Sie hatte ihn Götterschande genannt. Das vergaß er ihr nicht. Das würde er ihr niemals vergessen. Aber vergessen war nicht vergeben, wenn er ehrlich war hatte er dem Mädchen tief in seinem Inneren längst verziehen. Sie hatte nicht gewusst, was sie sagte, wie tief sie ihn damit wirklich traf. Und dabei wusste er noch nicht einmal genau, was so schlimm an ausgerechnet diesem Wort war. Natürlich, es war die größte Beleidigung für jeden mit magischem Blut, aber ansonsten war es dem Jungen doch auch egal, was wer über ihn sagte. Aber das war anders gewesen, irgendwie. Und jetzt war wegen seiner Wut ein Mensch tot und viele tief verletzt. Und wo das Mädchen aus der großen Stadt war, wusste niemand, außer Imera und Shakki natürlich, die wusste ja ohnehin fast alles. Und er war besorgt. Er vermisste sie. Er würde sich mit ihr unterhalten, sobald sie auffindbar und er wieder auf den Beinen war, idealer Weise natürlich schon am nächsten Morgen. Vielleicht brachte das eine gewisse seelische Erleichterung für ihn. -- Der nächste Morgen ließ auch nicht lang auf sich warten. Nicht nur Mayora ging es wie erhofft zumindest körperlich wieder besser, auch Choraly und Dafi hatten sich in der restlichen Nacht erholt und waren nun auf den Weg ins Dorf. Imera hatte es nicht mehr geschafft, Klamotten vorbei zu bringen, so hatte die kleine Himmelsblüterin ihren Gast dazu gedrängt, mit ihr zurück in den Ort zu gehen und sich welche in Chatgaias Haus abzuholen, auch wenn es schwer fiel. Aber früher oder später musste das Mädchen so wie so wieder dorthin zurückkehren, egal wie sehr es sich sträubte. Sie konnte nicht ewig bei ihr bleiben, je eher sie sich wieder an den Gedanken, mit den beiden Grünhaarigen unter einem Dach zu leben, gewöhnte, desto besser war es für alle Beteiligten. Auch wenn ihr die Tatsache nahezu grausam vorkam, es ging nicht anders. Aber es tat ihr Leid. Sie schenkte der Kleineren einen flüchtigen Blick und musste unwillkürlich grinsen, als sie daran dachte, wie sie es letzten Endes geschafft hatte, sie zu überzeugen. „Ich ersticke!“, hatte die Brünette gekrächzt, als ihre Freundin das von ihr geliehene Kleid verschlossen hatte, „Das ist viel zu eng!“ Aber etwas größeres hatte es nicht gegeben, so musste sie sich halt quälen. Auch wenn Dafi ein wenig Schuldgefühle hatte, wenn sie dem schweren Atem der Jüngeren lauschte. Aber es ging. „Wir sind da.“, riss sie sich in dem Augenblick auch schon selbst aus den Gedanken und hielt vor der Tür des Dorfoberhauptes, die Hand bereits hebend, um anzuklopfen. „Geh du!“, forderte die leicht blau angelaufene Choraly da aber und trat ein paar Schritte zurück. Es war schlimm genug, sich in diesem Ort aufhalten zu müssen, dieses Haus konnte und wollte sie nicht betreten! Nicht, wenn sie seine Bewohner in nächster Zeit noch töten müsste... Ihr Gegenüber seufzte ergeben. „Meinetwegen, aber bloß dieses eine Mal.“ Sie klopfte und Chatgaia persönlich öffnete ihnen, blinzelte einmal überrascht und grinste dann herrisch. „Guten Morgen.“, machte sie aber zeitgleich nahezu unschuldig, „Ich hab mir gedacht, dass ihr heute zusammen sein würdet. Ihr wollt sicher Kleidung, damit die kleine Prinzessin nicht erstickt?“ Sie ließ ihre Blutsschwester eintreten und wandte sich dann selbst nach drinnen, allerdings ohne die Türe zu verschließen. „Mayora!“, rief sie, „Sie ist hier, jetzt kannst du mit ihr reden! ... oder was du halt mit ihr machen willst.“ Noch ehe die junge Frau etwas hätte einwenden können, hörte sich schon die bekannten Schritte auf der Treppe. Mayora hatte eine sehr eigene Art, die Treppe zu gehen, das war ihr bereits aufgefallen und sie hatte es sich unbeabsichtigt eingeprägt. Und so stand sie dem jungen Mann, gegen den sie tief in ihrem Inneren einen gewaltigen Groll hegte, gegenüber. „Guten Morgen.“, machte er emotionslos, „Können wir etwas spazieren gehen?“ Sie hatte ja schlecht nein sagen können. Lange schritten sie schweigend nebeneinander her, bis sie die an diesem Tag einsamen Kaliri-Plantagen erreichten. „Hör zu, Choraly...“, begann der junge Mann zögernd und hielt den Blick gesenkt, „Ich habe euch verraten, das ist eine Tatsache. Aber... es ist nicht so, wie es scheint, weißt du?“ Sie schnaubte und erwiderte nichts. Nein, sie wollte am liebsten gar nichts mit ihm zu tun haben, sie wollte bloß seinen Tod, egal, was er ihr erzählte. Neben ihr am Boden lag ein schöner Stein... „Jedenfalls... ich war an dem Abend sehr wütend auf dich, du hast... mich ziemlich verletzt, mit dem Wort, das du zu mir gesagt hast. Ich hab mich an dir rächen wollen, nicht an Jiro oder Lilliann oder Tainini... ich habe nicht weit genug gedacht, um zu merken, dass die dabei ja in Mitleidenschaft gezogen werden würden. Und mir war auch nicht bewusst, wie sehr ich dich dabei verletzen würde. Ich weiß, das war egoistisch und deshalb wollte ich...“ „Du willst gar nichts mehr, Missgeburt!“ Auf ihren hysterischen Aufschrei hin folgte ein grausamer explosionsartiger Schmerz im Kopf des Jungen, der ihn lähmte, ihn nach Luft schnappend in die Knie zwang und die Welt um ihn herum dunkel werden ließ. Die junge Frau starrte entsetzt auf den blutverschmierten Stein in ihrer Hand. Oh Himmel. Hatte sie es etwa wirklich getan? Sie war eine Magafi, sie stand zu ihrem brutalen Wort, wie es schien. Der Grünhaarige lag seinerseits regungslos vor ihr in der Wiese, an seinem Hinterkopf klaffte eine Platzwunde, die man selbst durch seinen dichten Haarschopf erkennen konnte. Sie hatte es geschafft, wie es schien. „Man hat mir zu oft weh getan, ab jetzt wehre ich mich.“, sprach sie kalt zu dem bewusstlosen Jungen und bückte sich zu ihm, um zu schauen, ob es wirklich schon vorbei war, oder ob sie noch einmal draufhauen musste. Dazu drehte sie ihn auf den Rücken, was ihr überraschend leicht gelang und musterte ihn kurz, ehe sie eine Hand an seinen Hals legte, um nach seinem Puls zu fühlen. Seine Augen waren nicht ganz geschlossen, sie schimmerten ihr blass und leblos entgegen, was sie seltsamer Weise so überhaupt nicht berührte. Vielleicht, weil er noch nicht ganz tot war, wie sie an seinem langsamen, aber vorhandenen Herzschlag fühlen konnte. Der Spruch 'Unkraut vergeht nicht.' schien wirklich wahr zu sein, dachte sich die Brünette; sie hatte ihm den Stein mit aller Kraft an die ihrer Meinung nach empfindlichste Stelle am Kopf geschlagen. Aber vielleicht war das bei Missgeburten ja anders als bei normalen Menschen? Auch egal, gleich war es eh vorbei... Sie nahm abermals aus, dieses Mal wollte sie ihm den Schädel frontal zerdeppern. Sie hasste ihn. Sie hasste ihn so sehr. „Stirb!“ „NEIN!“ Ein Schwall aus Feuer schlug ihr den Stein seitlich aus der Hand und verbrannte ihre Fingerspitzen leicht, was sie aufschreien und von ihrem Opfer wegstolpern ließ. Als sie sich nach wenigen Sekunden des Schocks wieder gefasst hatte, sah sie Chatgaia, Dafi und Shakki, Letztere starrte sie bösartig an und fauchte irgendwelche Worte in der alten Sprache. Das Dorfoberhaupt hockte inzwischen schwer atmend vor ihrem Neffen und flüsterte ebenfalls unverständliche Worte, während sie ihn abermals umdrehte und seine Wunde vorsichtig zu betasten und notdürftig zu versorgen begann. Und Dafi hatte sich schlicht und ergreifend entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen und war völlig neben der Spur. Verdammt. Sie hatte versagt. Was jetzt...? „So wach doch auf...“ Die grünhaarige Frau versorgte die Verletzung nach all ihren Möglichkeiten, wandte dabei auch bestimmte Feuerzauber an, mit denen sie nebenbei etwa alle Haare seines Hinterkopfes um die Hälfte versengte, was ihr allerdings reichlich egal war. Sollte er sie eben kürzer schneiden, die wuchsen ja wieder. Wenn er denn wieder erwachte. Sie würde diese Göre vierteilen. Mindestens. „Nicht aufgeben!“, vernahm sie Shakkis Stimme dicht neben sich und registrierte aus den Augenwinkeln noch, wie sich das Mädchen zu ihr kniete und die Hand des Bewusstlosen liebevoll in ihre Eigene schloss, „Wenn Sie jetzt dran bleiben, wird er es schaffen. So stark ist diese... Frau auch wieder nicht.“ Das spornte doch an. Sie gab sich nochmal so viel Mühe wie zu Beginn und keuchte vor Anstrengung. Heilzauber waren wesentlich schwieriger als normale, besonders wenn man Feuer als sein Element hatte. Aber es ging um ihren tatsächlich geliebten charakterlosen Neffen, den sie nicht verlieren wollte. Konnte. Shakki atmete erleichtert aus. „Er schafft es. Gleich wacht er auf.“ Choraly entgleisten die Gesichtszüge bei dem Anblick, der sich ihr bot. Bei Chatgaia, die alles wieder kaputt machte. Bei dem noch immer halbtoten Mayora, der jetzt erzitterte und die Augen vorsichtig komplett aufschlug. Und bei der Zigeuner-Schlampe, die... ... die sich über ihn beugte und leidenschaftlich auf den Mund küsste? Was. War. Das?! „A-alles in Ordnung...?“ Es fiel dem Mädchen schwer, sich Dafi zuzuwenden, die sich nun zu ihr gehockt hatte und besorgt über ihren Kopf strich. „Ja...“, antwortete sie keuchend, „Was tut sie da?“ Sie deutete auf das Paar und ungewollt auch auf das Dorfoberhaupt, dass sich ja bei dem beiden befand und nun erschöpft lächelte. Shakki ließ noch immer nicht von dem jungen Mann ab, der noch gar nicht so recht mitbekam, was da mit ihm geschah. Dafi seufzte. „Eigentlich hat sie ja mit ihm Schluss gemacht... jetzt sind sie wohl wieder zusammen?“ Die Jüngere hustete. „Wie jetzt? Die waren ein Paar?“ Mit ein wenig Überwindung schaffte es die Schwarzhaarige, sich von dem Verwundeten loszureißen und zu den anderen, insbesondere Choraly, aufzusehen. „In der Tat.“, erwiderte sie, „Und wir werden auch wieder eins. Ich werde die Mutter seiner Kinder sein!“ Sie hatte grauenhafte Dinge geträumt, die niemals wahr werden durften. Es würde ihr schwer fallen, mit einem Partner zu leben, aber das war völlig zweitrangig, es ging schließlich um Mayoras Glück, das sie bewahren musste. Und das würde sie. „Meinetwegen.“, entgegnete die Andere da, „Macht doch so viele Missgeburten wie ihr wollt...“ „W-was...?“ Die Blicke wandten sich allesamt an den Grünhaarigen mit der versengten Frisur, der jetzt benommen durch die Runde schaute. Alles war verschwommen und dröhnte... „Und?“, hörte er die besorgte Stimme seiner Tante. Moment, sie war besorgt? ... dann war er ihr also wirklich wichtig? „... ich weiß nicht.“, antwortete er verwirrt und richtete sich vorsichtig auf, zu Shakki schielend, „Ich hatte gerade einen seltsamen Traum...“ „Das war kein Traum.“, erriet sie seine Gedanken und lächelte ihn liebevoll an, „Ich bin wieder dein.“ Es vergingen ein paar Sekunden und er senkte die Brauen. „Ich will dich aber nicht mehr.“ Zuerst machte sie ihm schöne Augen, beraubte ihn seiner Jungfräulichkeit, dann ließ sie sein Herz zerbersten und als er sich gerade damit abgefunden hat, will sie ihn wieder? Nein. Selbst er hatte irgendwo, tief in seinem Inneren, so etwas ähnliches wie Stolz und Prinzipien. Das ließ er sich nicht gefallen, das konnte sie sich abschminken. Auch wenn ihr entsetzter Blick weh tat, genau so sehr wie der Ausdruck seiner Tante. Die Seherin ihrerseits hatte schon vermutet, dass das passieren würde, hatte die Möglichkeit aber die ganze Zeit über verdrängt. Vielleicht war es unprofessionell gewesen, aber immerhin angenehmer, als sich mit den Gedanken an eine Abfuhr zu befassen. So wie es aussah, wäre es aber leichter in diesem Moment gewesen, wenn sie diese Antwort doch schon miteinkalkuliert gehabt hätte... „Mayora!“, allerdings war es doch Chatgaia, die als erste etwas erwiderte, „Was soll das? Du wirst keine bessere Frau finden als sie, weil es keine bessere Frau gibt! Nehme sie und mache sie glücklich, ich will in spätestens 10 Monaten dein erstes Kind in den Armen halten können!“ Sie schnaubte. Endlich bekannte sich das Mädchen wieder zum Erben des Dorfes und dann lehnte er sie ab! Dabei war er so verletzt gewesen, als sie Schluss gemacht hatte, dann sollte er jetzt doch Dankbarkeit zeigen! Sie war schließlich wirklich ein ganz anderes Kaliber als er... „Ich will sie aber nicht!“, empörte er sich nun lautstark an seine Tante gewandt und ein gewaltiger Schmerz erfüllter seinen Kopf daraufhin wieder, ließ ihn kurz nach Luft schnappen, „Ich weiß ja nicht, weshalb sie plötzlich wieder Interesse an mir hat, aber meinerseits ist sie mir vergangen und damit ist das Thema für mich durch!“ Da konnte die Älteste so viel meckern, wie sie wollte, darauf ließ er sich nicht ein. Und wenn sie so gern ein Baby haben wollte, sollte sie gefälligste selbst eins bekommen, und nicht erwarten, dass er eins für sie machte, schon gar nicht mit Shakki. Stattdessen wandte er sich demonstrativ Choraly zu, die in mit unergründlichem Blick musterte. Er lächelte. „Bitte sag mir, dass wir jetzt quitt sind.“ Sie zögerte. Hatte sie dann nicht ihr Versprechen gebrochen? Ihren Schwur? Es fiel ihr schwer, aber der knochige Ellbogen, den Dafi ihr diskret in die Seite rammte, veranlasste sie dann schließlich doch zum Nicken. Sicherlich würde sie wieder eine Gelegenheit für Rache bekommen, auch bei der alten Hexe. Für den Moment war zumindest ihre Wut abgeklungen, was blieb war die Trauer, die sie so schwach und willenlos machte und am liebsten hätte sie sich einfach nur irgendwo verkrochen. Chatgaia machte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung „Wie kannst du es eigentlich wagen, meinen Jungen so heimtückisch anzugreifen?!“ Sie hatte sich bedrohlich vor der Jüngeren aufgebaut, die das Haupt nun gesenkt hielt. Ihr langes braunes Haar fiel in ihr Gesicht und verdeckte die Tränen, die plötzlich bei ihr aufgekommen waren. „Mayora war immer gut zu dir!“, sprach sie da erzwungen gefasst weiter, „Wäre er nicht gewesen, wärst du schon längst genau so tot wie Jiro. Denkst du denn, ich hätte nicht mitbekommen, wie du dich benimmst, bloß weil ich meist nicht zuhause bin? Lächerlich. Du hast mich zutiefst erbost und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat...“ Ihre orangen Augen funkelten sie bösartig an und Dafi kam sich so hilflos vor wie noch nie. In die Angelegenheiten des Dorfes durfte sie sich nicht einmischen, wo sie so wie so schon in Chatgaias Ungunsten stand. Schließlich war sie ja ebenfalls in diese Rettungsaktion verwickelt gewesen. Ihre Sprache hatte jedoch ihr persönliches Oberhaupt übernommen... „Tante, lass sie bitte“ Die Frau fuhr herum, als auch Mayora sich mit größter Mühe aufraffte und neben sie trat, sich dabei schließlich an ihrer schmalen Schulter abstützend. „Sie ist kein schlechter Mensch, sie hat ein gutes Herz und hat einfach gedacht, damit könnte sie ihre Schuld begleichen. Eine Schuld, die sie gar nicht trägt, im Übrigen. Ich hab sie ja auch verletzt, wie gesagt, wir sind quitt. Ich wünsche mir...“ Er verstummte und fasste mit der freien Hand nach seinem pochenden Hinterkopf. Na damit würde er noch viel Spaß haben in den nächsten Wochen... Moment, warum fühlten sich die Haare so komisch an? „Ich wünsche mir, dass wir so, wie vor ein paar Tagen einfach zusammen leben können... fast wie eine Familie!“ „Mit mir könntest du eine richtige Familie haben!“, bot sich Shakki abermals etwas verzweifelt an, wurde aber ignoriert. Choraly glaubte nicht, was sie da hörte. Das war ein Mordversuch gewesen! Dafür wäre sie selbst in Wakawariwa als Uda Magafis Tochter bestraft worden, es war eine ganz schlimme Straftat! Und er nahm es ihr nicht übel? Überhaupt nicht? Das war krank! Sie sah schluchzend zu dem Jungen auf, dessen Gesicht plötzlich die gesunde Farbe einer Leiche angenommen hatte. Das konnte sie so nicht auf sich beruhen lassen... Sie konnte ihre plötzlichen Schuldgefühle nicht erklären, aber in dem Moment wurde ihr klar, dass Mayora genau so wenig Schuld an Jiros Tod traf wie auch sie oder Dafi. Er hatte sich ganz einfach einmal nicht unter Kontrolle gehabt und das war ihm zum Verhängnis geworden. Sie erhob sich weinend und sah ihn an. „Mayora Timaro.“, sein Name kam zitternd über ihre Lippen, „Es ist purer Wahnsinn, was du mir hier vergibst. Um das auszugleichen, will ich mich entschuldigen, dieses Mal ehrlich, wegen meiner Vorurteile und...“ Dafi stützte sie. Sie konnte nicht mehr, das reichte. Das Lächeln ihres Gegenübers bemerkte sie so nicht, aber das Dorfoberhaupt sah es und seufzte leise. Diesem Jungen war nicht mehr zu helfen... und dabei hatte sie sich so sehr auf ihr Enkelkind gefreut, das gar nicht ihr Enkel sein konnte, weil Mayora nicht ihr Sohn war und trotzdem... ach, abwarten. „Ihr werdet alle das Unheil erfahren!“, schallte es von der kleinen Seherin da erbost und als man sich ihr mehr oder minder geschlossen zuwandte, hatte sie ihnen schon den Rücken gekehrt und war davon gerannt. Sie war verletzt, auch wenn sie es nicht gern zugab. Sie war tief verletzt. Ob es sich wohl so für ihren Ex-Freund angefühlt hatte, als sie es mit ihm beendet hatte...? Es war grausam. -- Choraly und Chatgaia hatten dem armen Jungen den Wunsch, wie eine „Familie“ zusammen zu leben, wieder erfüllt. Es war auch einfacher so. Und für Dafi und auch Pinita ungefährlicher. Außerdem hatte sich die Brünette vorgenommen, noch einmal bei Lilli und Tai vorbei zu schauen. In ihrem Traum hatte Jiro schließlich gemeint, dass es viel schlimmer für die beiden wäre, wenn sie sich nicht mehr bei ihnen meldete, als wenn sie wieder zu ihnen ging. Und sie wollte ja das Bestmögliche aus ihrem Leben machen. Aus ihrem Leben, mit dem sie sich nun langsam, aber sicher abgefunden hatte. Sie würde nie wieder nach Hause kommen und ihre Familie, Angestellten und Freundinnen sehen. Das war schlimm. Das war sehr schlimm. Aber sie lebte, das war die Hauptsache. Sie wohnte jetzt in einem kleinen Ort, der weder schön noch hässlich, weder bequem, noch unvorteilhaft war. Umgeben von seltsamen Leuten, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Aber was sollte es? Thilia war doch größer, als es auf den ersten Blick schien, vielleicht fand sich hier ja doch noch ein netter Mann? Einen, den sie heiraten und bekochen konnte, mit dem sie ein paar Kinder bekam und ein einfaches, aber glückliches Leben wie die meisten Frauen in diesem Ort führen konnte. Sie würde einfach versuchen, das, was einst war, zu vergessen. Es gab kein Wakawariwa. Keine Politik. Keine Magafi-Familie, deren letzte Erbin sie war. Jetzt war alles gleich. Sie hatte es begriffen. Sie war nicht grundlos hier, es hatte schon einen Sinn gehabt. Doch welchen wussten bislang bloß die Götter... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)