Jumays Kinder von -Izumi- (Part 5: Kinder des Wassers - Verloren im Sand) ================================================================================ Kapitel 18: Leben ----------------- Irgendwie war es seltsam, wieder zuhause zu sein. Zuhause, in Chatgaias Haus. Nach der furchtbaren Nacht in der Forschungsstation (was natürlich nicht an Dafi gelegen hatte), fühlte sie sich hier wirklich wieder heimisch, auch wenn sie auf das Dorfoberhaupt in ihrem Inneren einen tiefen Groll verspürte. Aber sie ignorierte es weitgehend, ehe noch etwas schlimmeres geschah. Bei dieser Frau wusste man ja nie... „Vielen Dank noch einmal, dass du das machst!“ Mayora riss sie aus ihren Gedanken, wie er vor ihr auf einem Hocker im Badezimmer saß und sie seinen Hinterkopf wieder in Ordnung brachte. In Ordnung bringen hieß in diesem Fall, seine Kopfhaut von dem verkrusteten Blut zu befreien und die versengten Haare ein wenig abzuschneiden. Sie tat es hauptsächlich aus Schuldgefühlen ihm gegenüber, wie hatte sie das bloß machen können? Jiro rächen war ja schön und gut, aber sie bezweifelte inzwischen, dass der Junge das überhaupt gewollt hätte. Und Mayora war doch auch bloß ein Opfer seiner selbst. „Nichts zu danken.“, erwiderte sie so bloß und lächelte, „Aber denk nicht, dass du keine Missgeburt mehr bist!“ Sie legte den Lappen mit den letzten Blutresten bei Seite und er lachte. „Wie könnte ich? Ich habe ja einen Spiegel und apropos....“, er drehte sich zu ihr um und musste leicht zusammenzucken, weil sein Kopf noch immer unangenehm pochte, „Kannst du versuchen, meine Haare nicht zu kurz zu schneiden? Ich mag sie doch so gern...“ Ihm war bekannt, dass sich seine Frisur und vor allem die Farbe nicht der absoluten Beliebtheit erfreute, aber er fand sie eigentlich ganz schön so und da wollte er natürlich auch nichts dran ändern. Was hatte Chatgaia sie auch verkohlen müssen?! Das Mädchen kicherte darauf nur. „Ich werde es versuchen, Matsch-Haar!“ -- Während Mayora und Choraly sich ausnahmsweise einmal gut verstanden, brodelte es im Inneren des Dorfoberhauptes nur so. Sie saß in der Küche und trank zur Beruhigung einen Tee, während sie an das Stadtmädchen dachte. Sie hätte sie fast ihres Neffen beraubt, wenn Shakki nicht gewesen und sie rechtzeitig gewarnt hätte. Und dann erwiderte er ihre Liebe noch nicht einmal mehr, er war so undankbar! Stattdessen wünschte er sich, wieder mit dieser verwöhnten Prinzessin zusammen leben zu können, dabei hatte sie ihn so grauenhaft fertig gemacht, dass es der Frau bei dem Gedanken daran säuerlich aufstieß. Wäre es nicht sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, sie zu behalten, dann hätte sie die junge Frau noch am selben Tag eigenhändig zerfetzt, da waren ihr die Regeln egal. So ein bösartiger unbelehrbarer Mensch konnte sie hier nicht gebrauchen, obendrein war sie ja fast so nutzlos wie Imera. Allem Anschein nach musste sie sich einmal ernsthaft mit ihrem Neffen unterhalten. Wenn er sich so für sie einsetzte, dann konnte er auch dafür sorgen, dass sie dem Ort, auf dessen Kosten sie frech lebte, einen Nutzen brachte. Irgendetwas konnte sie sicher, in Wakawariwa hatte man ihr bestimmt etwas hochnäsiges beigebracht. Sie schnaubte leise und schaute ihr verschwommenes Spiegelbild in der halbleeren Tasse an. Choralys Vater würde sie auch gerne einmal treffen, wenn sie schon dabei war. Wie konnte man zulassen, dass aus einem Kind so etwas wurde? Durch und durch nutzlos und intrigant, sicher hatte er sich nie richtig um sie gekümmert, als sie klein gewesen war. Reiche Menschen kümmerten sich bloß um ihr Geld und nie um ihre Familien, so hatte es ihr ihr eigener Vater beigebracht, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, sie sollte dankbar sein, dass es in ihrem Dorf keinen Reichtum in diesem Sinne gab. Und das war sie auch. Die Stadtgöre hatte ihr zum wiederholten Male bewiesen, was er aus Menschen machen konnte. Oder Alhata Timaro, Mayoras Vater, der obendrein noch nicht einmal mit seinem Verdienst, oder seiner Abzocke, wie man es nennen wollte, umgehen hatte können. Es war traurig, fand sie. Wenn man wirklich soweit gehen wollte, konnte man dem Geld alle Schuld der Welt geben, fiel ihr da auf. „Hättet ihr nicht so viel Geld, dann wärt ihr nie mit einer Flugmaschine geflogen und abgestürzt, Choraly...“ -- Am Abend wurde Jiro beigesetzt. Und wo in diesem Dorf Geburtstage so enorm wichtig waren, war es bei Todesandachten scheinbar genau umgekehrt. Choraly durfte nicht daran teilnehmen, genau so wenig wie Mayora, Dafi oder Imera. „Nur die engsten Freunde und Verwandten sind zugelassen!“, hatte das Dorfoberhaupt die junge Frau etwas grantig belehrt, während sie vor ihrem riesigen, etwas gruseligen Spiegel gestanden und ihr langes Haar gekämmt hatte, um es daraufhin zu einer aufwendigen Frisur hochzustecken. Sie war eine stolze Frau, der man möglichst viel Respekt zollen musste, da hatte die Missgeburt schon Recht gehabt, wie das Mädchen sich im Nachhinein dachte. Noch einmal würde sie das Schicksal nicht herausfordern, sie wollte nicht, dass wegen ihr noch jemand zu Schaden kam, diese eine Schmach war schlimm genug. „So viel ich mitbekommen habe, werden bloß seine Mutter, seine Schwester, Lilliann und Naga dort sein, meine Tante einmal ausgenommen, versteht sich.“, hatte ihr Mitbewohner ihr beim Abendessen auch wie selbstverständlich geantwortet, als sie nach den Teilnehmern der traurigen Veranstaltung gefragt hatte. „Erdmagier haben heute früh schon alles vorbereitet, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie verstand. Es tat ihr weh, sich nicht noch einmal von dem jungen Mann verabschieden zu können, aber sie wollte ja von nun an artig sein und immer brav auf Chatgaia hören, auch wenn es sie nervte. Außerdem hatte sie ihn ja noch einmal in ihrem Traum treffen dürfen, das war ein Privileg. Apropos Traum, da fiel ihr doch noch etwas ein. „Sag mal...“, ihr Gegenüber am anderen Ende des Tisches sah auf, „Wir hatten doch mal diesen Traum... du weißt schon, den mit meiner Mama und Atti... und den komischen Kindern! Der total Komische, der ja ein ach so schlechtes Zeichen war, oder was du gesagt hast. Weißt du mittlerweile was darüber?“ Der Junge blinzelte und schluckte erst einmal sein Essen, ehe er zur Antwort ansetzte. „Ich hab mir ehrlich gesagt nicht mehr so viele Gedanken darum gemacht.“, gab er zu, „Aber ich hätte so eine Vermutung, über die ich mich ehrlich gesagt lieber zuerst mit meiner Tante unterhalten würde, wenn es genehm ist.“ Sie nickte und aß weiter. Mayora war unterdessen höchste erfreut über ihre Entwicklung. Vor nicht all zu langer Zeit hätte sie ihn für eine solche Antwort noch zerfetzt, jetzt nahm sie sie einfach hin. Ob sie ihn nun wirklich ernster nahm oder einfach resigniert hatte, wusste er natürlich nicht, wollte er auch gar nicht, aber so war ein Gespräch mit ihr doch wesentlich angenehmer, fand er. Dabei musste sie ihn doch so hassen. Er kam noch immer nicht darüber hinweg, dass der arme Jiro wegen ihm jetzt tot war. Natürlich verstand er seine Tante auch irgendwo, das hatte er immer, aber war das moralisch auch wirklich richtig? Er bezweifelte es langsam. Und es gab niemanden, mit dem er diese Zweifel teilen konnte, entweder waren die Leute für oder gegen Chatgaias Art der Dorfpolitik, keiner sah das Positive und das Negative daran. Außer ihm natürlich. Ach, war das kompliziert... -- Für den nächsten Morgen hatte Choraly sich viel vorgenommen, fand sie. Eigentlich ja bloß eine Sache, aber die war extrem wichtig und auch ziemlich schrecklich, für sie zumindest. Sie wollte Familie Raatati besuchen. Vor ein paar Tagen hätte sie damit keinerlei Probleme gehabt, aber heute war das natürlich anders. Der Jiro in ihrem Traum hatte ihr zwar versichert, dass es schlimmer sein würde, wenn sie seine Liebsten nicht mehr besuchte, aber dennoch fiel es ihr sehr schwer, bei ihren trauernden Freundinnen vorbei zu schauen. Sie hatte noch immer furchtbare Schuldgefühle und sie wollte gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn sie nicht an diesem einen Abend heulend bei ihnen in der Küche gesessen hätte, wenn sie sich mehr hätte zusammenreißen können. Wenn sie stärker gewesen wäre. Aber sie war es nicht gewesen, also brachte es auch nichts mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Das brachte den armen Jungen ja auch nicht wieder zurück. Wo sie schon bei armen Jungen war, kurz vor Jiros Haus entdeckte sie hinter einem Baum Kura zusammengekauert sitzen. Schwänzte der etwa schon wieder die Schule? „Hey, kleiner Mann!“ Sie entschloss, ihn einfach darauf anzusprechen. Vielleicht erreichte ein schönes Mädchen mit sanften Worten ja mehr als ein brutaler Cousin mit Schläge. Der Junge zuckte zusammen und regte sich nicht mehr, bis sie sich vor ihn kniete und ihn mit sanfter Gewalt dazu brachte, sie anzusehen. Sie machte ein mitleidiges Gesicht. „Du weinst ja.“ Er nickte beklommen und erzitterte am ganzen Leib, als er wieder schluchzen musste. Er war sehr, sehr traurig... „Darf ich dich in den Arm nehmen...?“, erkundigte sich die Ältere da auch schon weiter und er konnte gar nicht sagen, wie dankbar er ihr für das Angebot war und streckte bereitwillig die Arme nach ihr aus. Ja, ein wenig Nähe würde ihm jetzt gut tun. War zwar etwas peinlich, dass er so verschmust war, aber es schaute ja keiner, der von Bedeutung gewesen wäre, hin. Choraly ihrerseits dachte sich nichts Schlechtes dabei, als sie sich zu dem Kleinen setze, ihn auf ihren Schoß zog und ganz fest an ihren Körper drückte. Was auch immer mit ihm geschehen war, ihr Beschützerinstinkt lief gerade auf Hochtouren und sie würde für ihn da sein. Aber es war Kura, bei ihm war das nicht so leicht... „Du willst mir sicher nicht sagen, was passiert ist?“ Er schüttelte den Kopf und schmiegte sich schutzsuchend an sie. Dabei legte er seine linke Hand allerdings etwas unvorteilhaft auf ihrer rechten Brust ab, was er selbst jedoch noch nicht registrierte und das Mädchen bloß beiläufig grinsen ließ. Männer... „Soll ich ein bisschen bei dir bleiben und mit dir knuddeln?“ Er nickte, wie sie bereits vermutet hatte und versuchte demonstrativ, sich noch mehr an sie zu kuscheln, was allerdings dank seines etwas enthusiastischen Handelns zuvor kaum noch möglich war. Unterdessen fragte sich das Mädchen, was sie denn für das Kind tun konnte, wenn es ihr nicht von seinem Problem erzählte. Wenn sie Probleme gehabt hatte, war sie damit immer zu Atti gegangen. Es hatte immer gut getan, mit jemandem darüber reden zu können und es erleichterte ungemein, wenn man verstanden wurde oder jemand einem seine Hilfe anbot. Kura war ein bemitleidenswertes Kind, fand sie. Wäre einmal interessant gewesen, herauszubekommen, weshalb er so stumm war. Irgendetwas sagte ihr, dass die Familienverhältnisse, in denen er aufwachsen musste, nicht die Besten für ihn waren... Sie schreckte aus ihren Gedanken, als der Junge unverhofft doch zu sprechen begann, ganz leise und brüchig bloß, aber er tat es. „...wohin willst du gehen?“, fragte er zunächst und vergrub sein Gesicht etwas oberhalb ihrer Brust, damit er sie nicht ansehen musste. Er war ganz rot... Das Mädchen verstand ihn auf die Überraschung hin nicht sofort und blinzelte verwirrt, dann fiel es ihr ein und sie hatte eine nicht ganz uneigennützige Idee. „Ich wollte zu Lilliann und Tainini, du kennst die beiden doch? Die beiden sind jetzt sehr traurig und ich... wollte sie ein wenig trösten. Ich frage mich, ob du das nicht auch möchtest?“ Als er aufsah und sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen wischte, strahlte sie ihn an. Es war ein herzerwärmendes Lächeln, das seine Mutter vor langer Zeit auch einmal auf den Lippen getragen und ihn glücklich gemacht hatte. Und es konnte ihn noch immer aufheitern. So nickte er und lächelte ebenfalls zaghaft. Er hatte ja mitbekommen, was geschehen war und fand es ganz schrecklich. Der Kleine hatte Jiro im Stillen immer bewundert, weil er so laut und lustig gewesen war, eben genauso, wie er immer hatte sein wollen. Und jetzt war er weg. Für seine Familie musste es sicher furchtbar sein, sie hatten sich ja alle so lieb gehabt. Er stellte sich dieses Gefühl etwa so vor, als würde Imera jetzt sterben.... oh Himmel, was für ein grausiger Gedanke! Er erschauderte unwillkürlich. Wobei seine Eltern sicher nicht um seinen Cousin trauern würden... aber er würde es, und wie. Er hatte ihn doch so lieb. Er hatte doch alle so lieb. Aber warum hatte niemand ihn lieb? -- Eigentlich benahm sie sich ja schon wieder verdammt egoistisch, dachte sich Choraly, allerdings nicht willig, etwas dagegen zu unternehmen. Sie hatte das Gefühl, mit Kura an ihrer Seite wäre sie stärker. Und Lilli würde nicht wagen... was eigentlich? Sie anzuschreien? Zu weinen? Wenn sie es genau nahm, hatte das Mädchen eigentlich keine Ahnung, was sie erwarten würde. Wie die Mädchen auf sie reagierten. Und ob es wirklich so gut war, einen kleinen lieben Jungen, dem es selbst allem Anschein nach ziemlich mies ging in eine solche Trauergesellschaft zu bringen. Sie würde sehen. Jiros Haus sah aus wie immer. Natürlich, ein Gebäude veränderte sich mit dem Tod eines seiner Besitzer auch nicht, zumindest nicht äußerlich. Aber es strahlte etwas seltsames, erdrückendes aus, als sie vorsichtig an die hölzerne Tür klopfte. Vielleicht ist ja niemand zuhause, überlegte sie sich irrsinniger Weise, ehe Tainini ihr die Tür öffnete und ihr ausgezehrter Anblick sie nach Luft schnappen ließ. Von dem hübschen jungen Mädchen war kaum noch etwas übrig, sie wirkte blass und hatte tiefe dunkle Ringe unter den trüben Augen, ihr langes Haar fiel ihr offen, ohne tolle Frisur über die Schultern. „Wer ist da?“, erkundigte sie sich da leise, als niemand etwas sagte, sei es auf ihren schrecklichen Anblick hin oder aus purer Schüchternheit. Aus diesem Grund hasste die 14-jährige es, zur Türe zu gehen... „I-ich...“, rang sich Choraly da doch zum Sprechen durch und blinzelte ein paar Mal ungläubig auf die Kleinere hinab, die nun ungläubig den Mund öffnete. „Prinzessin...“ Sie sprach den Titel, den man der jungen Frau vor nicht all zu langer Zeit aus Spaß gegeben hatte, andächtig aus. Sie war also tatsächlich noch einmal gekommen... Nach einem kurzem Moment des Zögerns warf sie sich schluchzend in die Arme ihres Gegenübers und knuddelte es. Sie war da, sie war tatsächlich da! „Ich hab gedacht, du würdest uns jetzt hassen!“, weinte die Kleine und das Stadtmädchen nahm es überrascht in die Arme, „Weil wir unser Versprechen nicht haben halten können!“ Sie erstarrte. Nein. Die hatten jetzt nicht ernsthaft Schuldgefühle? Sie schluchzte auch. Wie gut konnten Menschen denn sein? Kura begann obendrein ebenfalls wieder zu weinen, weshalb, wusste er allerdings selbst nicht so genau. Vermutlich, weil er dazu gehören wollte... „Tainini!“, machte die Brünette unterdessen neben sich, „Ich bin euch doch nicht böse! Ich dachte, ihr wärt mir böse, weil... weil es doch mein Schuld ist...“ Die Jüngere guckte verwirrt. Sie hatte scheinbar einen ganz anderen Blickwinkel als sie. Wobei Blickwinkel gut gesagt war... „Dann bist du wirklich gar nicht böse?“, versicherte sich die Kleinere noch einmal und ließ von ihrem Gegenüber ab, stieß dabei an Kura und quiekte, „Da ist ja noch jemand! Konntest du mir das nicht sagen? Ich hab mich total erschreckt!“ „Oh.“, erwiderte Choraly bloß etwas perplex, während der kleine Junge nach ihrer Hand angelte, „Ja, ähm, hier ist Kura, genau.“ Lilliann stand schon im Flur, als die Gäste eintraten, und begrüßte sie mit einem traurigen, aber so durch und durch liebenswürdigem Lächeln, dass den Beiden schon wieder die Tränen kamen. „Ich hab so gehofft, dass du wieder kommen würdest, Choraly.“, sagte sie dann doch und kam auf die Andere zu, um sie zu umarmen. „Und ich hab so gehofft, ihr würdet mich nicht hassen!“, erwiderte die Kleinere darauf nur und schluchzte abermals. Sie fühlte sich so mies, wenn sie von so vielen durch und durch reinen und fehlerlosen Menschen umgeben war. Sie kam sich so dreckig und verabscheuungswürdig vor, dass sie am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte um hinaus in die Wüste zu rennen und dort ihren Tod zu suchen. So ein widerlicher Mensch wie sie verdiente das Leben doch überhaupt nicht. Es war Kura, der sie plötzlich aus ihren düsteren Gedanken riss, als er die beiden Mädchen auseinander drängte, um dann selbst Lilli zu umarmen. Dabei legte er sein Köpfchen zärtlich auf ihrem rundlichen Bauch ab und die Frau lächelte gerührt. „Wo hast du den kleinen Schwänzer denn wieder aufgetrieben?“, fragte sie lächelnd und tätschelte seinen blonden Kopf, „Hör mal Kura, es ist nicht nett, einfach nicht in die Schule zu gehen, hörst du? Außerdem bekommst du dann doch schlechte Noten!“ Er reagierte nicht. Das Mädchen seufzte. „Mein Vater ist dein Lehrer, Kura. Ich weiß, wie schlimm die Anderen zu dir sind. Aber lass dir von diesen Idioten doch nicht auch noch deine Zukunft kaputt machen!“ Choraly wagte nicht, noch weiter darüber nachzufragen, sie wollte den Jungen nicht beschämen. Aber er tat ihr unendlich Leid. -- „Zu Lilli? Da sollte ich auch mal hin!“ Imera knallte einen nun leeren Becher auf den hölzernen Tisch in Chatgaias Küche und schnaubte. Wenn er schon nicht zur Beerdigung gedurft hatte, dann wollte er ihr wenigstens so sein Beileid aussprechen. Mayora, ihm gegenüber sitzend, stützte bloß gelangweilt den Kopf auf den Händen ab. „Jaa.“, machte er gedehnt, „Aber wenn ich fragen dürfte, warum beehrst du dann mich?“ Der Andere grinste und beugte sich ein wenig über den Tisch. „Hast du aber ein Ego entwickelt.“, machte er, „Ich wollte nicht zu dir, sondern zu Tantchen. Wo ist sie denn?“ Als ob er freiwillig die Missgeburt besuchen würde, soweit käme es noch... Aber eben diese hob nun beide Brauen. „Meine Tante ist nicht da. Was willst du von ihr?“ Nicht da? „Das, was du nicht willst!“, antwortete der Braunhaarige patzig und lehnte sich wieder zurück. Warum war die nicht da? „Wo ist sie?“ „Geplatzt, hast du es nicht knallen hören?“ Die Jungen schauten sich gleichermaßen blöd an. Irgendwie konnten die Beiden kein wirklich konstruktives Gespräch mehr führen. Hatten sie eigentlich nie können, aber früher hatte Mayora immer gekuscht und sich nicht quer gegen die Aussage des Älteren gestellt, da war das besser gegangen. Konnte der nicht einfach antworten? „Sag schon!“ „Dann sag du, was du von ihr willst!“, der Grünhaarige wedelte theatralisch mit dem Finger in der Luft herum, „Am Ende willst du sie abstechen oder so!“ Der Andere blinzelte. „Klar doch, ich hab ja nichts besseres zu tun.“, hatte er echt nicht, „Aber mal was Anderes, was macht ihr jetzt mit Choraly?“ Mayora nahm sich wieder zusammen und seufzte. Stand der immer noch auf sie? Oder wurde er am Ende noch sozial, dass er sich so sehr um andere sorgte? „Was sollen wir mit ihr machen? Sie wohnt hier und... ist nun einmal da, was dagegen?“ Er verengte seine roten Augen. Man konnte dem Spinner nicht trauen. „Nein, ich hab nichts dagegen.... aber ich würde bei euch durchdrehen.“ Er lächelte lieblich. Ernsthaft, mit der Missgeburt unter einem Dach zu wohnen war nicht schön, vor allem nicht, nachdem was passiert war. So wie so, warum war sie nach so kurzer Zeit schon wieder von Dafi abgehauen? Das konnte er nicht nachvollziehen. „Du musst ja auch nicht bei uns wohnen.“, erwiderte sein Gegenüber da ruhig und schaute wieder normal, „Ich weiß, was du denkst, aber es ist wieder alles in Ordnung.“ War er also doch sozial geworden, bemerkenswert... „In Ordnung? So würde ich das aber nicht nennen!“, empörte sich der Braunhaarige darauf jedoch, „Ihr habt einen ihrer Freunde auf dem Gewissen und dabei geht es ihr ohnehin schon so schlecht! Ich weiß ja nicht, wie du sie bestochen hast, aber in Ordnung ist es sicher nicht.“ Er schnaubte. War er gerade schlauer gewesen als jemand anderes...? Der Jüngere senkte den Blick. „Mich trifft tiefe Schuld.“, gab er zu, „Aber sie hat sich bereits an mir abreagiert.“ Fast hätte Imera es sich denken können. Natürlich. Er lachte kalt auf. „Immer noch ganz der Alte, was? Und ich hab vorhin noch gedacht, du hättest ein Ego entwickelt, wie lachhaft!“ Der Angesprochene zuckte zusammen und der Ältere lehnte sich wieder über den Tisch. Da hatte er sich aber blenden lassen... „Ich sag dir jetzt einmal etwas und das solltest du dir zu Herzen nehmen; ich kann durchaus verstehen, dass du in gewissen Lebensbereichen etwas verpeilt bist, aber ein für allemal, wenn man dich verprügelt, heißt das nicht, dass dein Peiniger dich mag, du Vollpfosten!“ Allein für seine absolut nicht nachvollziehbaren Denkweisen verdiente dieser Idiot schon den Titel Missgeburt. Er errötete. „Das weiß ich doch längst.“ erwiderte er kleinlaut und starrte die Tischplatte an. Wusste er garantiert nicht. „Kauf ich dir nicht ab!“, fauchte er so, „Du bist noch genau der selbe Blödmann wie damals, bloß mit anderem Anstrich von Chatgaia! Sei ihr dankbar, ansonsten hätte ja gar keiner Respekt von dir...!“ Er erhob sich. „So wie ich, im Übrigen, weil ich dich kenne. Gib einfach auf, nach Zuneigung zu suchen, dich wird so wie so niemals jemand mögen. Noch nicht einmal Chatgaia mag dich, die benutzt dich nur und lacht sich heimlich schlapp über deine beängstigende Dummheit.“ Er ging ein paar Schritte und hielt noch einmal inne, als er den empörten Blick des Angesprochenen auf sich spüren konnte. „Doch, Tante mag mich!“ „Nein, sie mag dich nicht, du bist nur ihr blöder kleiner Laufbursche, falls sie irgendwann einen Besseren findet, bist du weg vom Fenster. Sie empfindet überhaupt nichts für dich, höchstens Belustigung, weil du so ein leichtgläubiger Idiot bist. Und sie hat völlig Recht, deine bloße Existens ist eine Beleidigung für das ganze Dorf, du erbärmliche Missgeburt!“ Imera schnaubte. Gute Idee, an dem Blödmann konnte man sich toll abreagieren. Das hatte er mal wieder nötig. „Sei still, das ist gemein.“, der Grünhaarige senkte den Blick tief, „Ich will das nicht hören, bitte.“ Als ob er wirklich gewollt hätte, dass er aufhörte. Er wollte gar nichts. In Wirklichkeit war er doch bloß eine Hülle, die nur das machte, was man ihr sagte und nur etwas forderte, damit man nicht bemerkte, wie tot seine Seele in Wahrheit war. Ja, eine tote Seele, das war der passende Ausdruck. „Warum lebst du eigentlich?“, fragte der Ältere da weiter und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Andere sah mit nassen Augen auf. „Was ist das für eine Frage? Weil ich geboren wurde, du Trottel!“ Was stellte der ihm so dämliche Fragen? Und warum beleidigte er ihn nicht einfach, damit er böse auf ihn sein konnte, sondern tat ihm hinterlistig so weh? Und dabei war es eigentlich ja noch nicht einmal wirklich hinterlistig, er sprach ja bloß die Wahrheit. Warum hatten immer alle Recht und er nie? Sein Gegenüber lachte kalt. „Nein, das meine ich nicht. Ich an deiner Stelle hätte mich längst umgebracht oder so...“, er wandte sich zum Gehen, „Ich gehe jetzt Chatgaia suchen und bewerbe mich als dein Nachfolger!“ Dann war er weg. -- „Was willst du jetzt machen?“ Choraly saß noch immer etwas verschüchtert am Küchentisch der Familie Raatati und blickte zu Lilli, die ihr Tee einschenkte. Sie blinzelte. „Wie, was soll ich denn machen?“ Sie stellte ihr die Tasse vor die Nase und die Kanne weg, um sich schließlich zu ihrem Gast zu setzen. „Na, was du jetzt machen willst... ohne Jiro...“ Sie rührte verlegen im Tee herum und die Ältere lächelte müde, während Kura, der ebenfalls am Tisch saß, von Tai ein seltsames Gebäck serviert bekam. Das Stadtmädchen kannte das Zeug schon, es war eine Süßigkeit. „Na, was soll ich schon tun? Um Jiros Mama steht es wieder ziemlich schlecht, ich kümmere mich jetzt noch um sie, bis sie endlich erlöst ist und dann gehe ich zu meinen Eltern zurück, bekomme mein Baby und verbringe die Zeit damit, es ganz doll lieb zu haben.“ Lilliann war eine sehr tapfere junge Frau, fast schon beneidenswert, hätte sie nichts so schlimmes erlebt. Oder auch vor sich. Sie würde wahrscheinlich ihr ganzes Leben allein bleiben müssen, in Wakawariwa fand eine Frau mit Kind keinen neuen Mann mehr. Aber Moment, da fiel ihr etwas ein. „Und was wird aus Tainini?“ Die Kleine zuckte zusammen. „M-mit mir?“, schüchtern fragend setzte sich dazu, „Ich gehe zu Naga, er will auf mich aufpassen, hat er gesagt.“ Choraly nickte. Dieser Naga musste ein wirklich guter Junge sein, auch wenn er seltsam wirkte. Dennoch, an Dafis Seite konnte sie ihn sich nicht vorstellen. Dazu war er doch zu seltsam. Sollte er sich doch mit Tai zusammentun, wenn er sie schon bei sich aufnahm. Wäre ihr lieber gewesen, aber für solche Gedanken war nun eh der Falsche Zeitpunkt. „Umgekehrt, was wird jetzt aus dir?“ Sie schreckte aus den Gedanken und blinzelte benommen auf Lillianns berechtigte Frage. „Ich weiß nicht.“, gab sie zu, „Ich werde wohl erstmal hier bleiben müssen, irgendwann werde ich schon klar kommen. Und dann.... mal sehen, vielleicht lasse ich mir von der Missgeburt, Entschuldigung, Mayora etwas beibringen, damit ich im Haushalt helfen kann oder so. Wer weiß, vielleicht wird aus mir ja noch eine brauchbare Persönlichkeit, die irgendeinem netten Kerl eine gute Ehefrau sein kann?“ Sie lachte traurig und ihr Gegenüber lächelte. „Das wirst du sicher.“, bestätigte sie, „Es ist sicher schwer, soweit von zuhause und allen geliebten Menschen weg zu sein, aber du gewöhnst dich bestimmt daran. Und du bist intelligent und schön, die Jungen werden sich nur so um dich reißen. Hast du denn schon jemanden entdeckt, der dir zusagt? Abgesehen von Imera, versteht sich.“ Sie stützte ihren Kopf auf den Händen ab und betrachtete ihr Gegenüber interessiert, Tainini tat es ihr unbewusst gleich und Kura knabberte gleichgültig an seinem Gebäck. Choraly lächelte errötend. Lilli wollte nicht über ihre Sorgen sprechen, wenn ihr etwas so belangloses half, dann sollte es so sein. „Na ja, nein, nicht wirklich.“, sie kicherte mädchenhaft, „Aber immerhin weiß ich jetzt, was für ein Vollidiot Imera ist, der ist so blöd, das tut schon weh... aua!“ Alle Augen, sofern sie funktionierten, richteten sich überrascht auf Kura, der die junge Frau ungeahnt bösartig anfunkelte. Er hatte sie getreten. „Nicht sagen....“, grummelte er verärgert und biss wütend in seine Knabberei. Niemand durfte seinen lieben Cousin beleidigen, noch nicht einmal die hübsche Choraly! Imera war der Beste! „Man tritt keine Mädchen.“, belehrte ihn Lilliann darauf etwas angesäuert, „Sie hat es vielleicht nicht gerade schön ausgedrückt, aber eigentlich hat sie doch Recht! Ich hätte es ja nicht geglaubt, aber wenn ich mir jetzt dein Verhalten so anschaue, denke ich fast, du mutierst zu genau so einem Idioten wie er. Viel intelligenter bist du im Übrigen auch nicht, wenn ich das mal anmerken dürfte...“ Er schnaubte empört und sprang auf, machte sich vor der jungen Frau groß und schnappte nach Luft. Verdammt, er musste jetzt etwas sagen! Er war ein Kerl, verdammt, er ließ sich doch nicht von minderwertigen Weibern fertig machen! Irgendetwas total schlagkräftiges, was alle aus den Socken haute, etwas total einfallsreiches, was genau traf... „Du bist blöd!“ Ja, das hatte gesessen! Er drehte sich erhobenen Hauptes um und rannte weg. ...hoffentlich hatte er sie nicht zu sehr verletzt... Lilli blinzelte ihm stirnrunzelnd nach. „Schade.“, machte sie, „Ich hab ihn immer für einen niedlichen, vernünftigen Jungen gehalten und jetzt offenbart er mir, dass er eine Miniausgabe von Imera, dem Volldepp, ist. Tragisch...“ -- Es schepperte. Kinai zog geschockt den Kopf in letzter Sekunde weg. „Shakki!“, empörte er sich, „Willst du mich umbringen!?“ „Stirb doch!“, fuhr sie ihn zurück an, „Was sitzt du auch im Weg?!“ Er legte das ziemlich intelligent scheinende Buch zur Seite und erhob sich schnaubend von dem Sofa. Die war doch bescheuert. „Du wütest schon tagelang, reicht es nicht langsam? Du entehrst die Handwerker unseres Dorfes, wenn du alle ihre mit Mühe gefertigten Produkte zerstörst! Mal nebenbei, das war Mutters Lieblingsvase...!“ Er stemmte die Hände in die Hüften und sie kreischte einmal schrill auf. „Ich werde noch wahnsinnig!“, fluchte sie, „Er will mich nicht mehr, dieser Volltrottel, er rennt in sein Verderben und ich kann nichts dagegen tun!“ „Und was kann ich dafür?“, wollte der kleine Bruder schmollend wissen und sie funkelte ihn bedrohlicher denn je an. „Nichts. Aber du könntest zumindest den Willen beweisen, deiner geliebten Schwester zu helfen!“ Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen und begann, unruhig eine ihrer lockigen Strähnen in den Fingern zu drehen. Sie war echt fertig. Der Jüngere antwortete obendrein nichts besonders hilfreiches. „Ja, ich geh jetzt gleich zu ihm und sag ihm, er soll dich gefälligst gut durchnehmen, damit du nicht mehr so dauerwuschig bist, meine Güte...“ Er schaute sie blöd an und sie keuchte empört. „Aber darum geht’s doch nicht!“, erwiderte sie verzweifelt und zog sich unwillkürlich selbst an den Haaren, „Mir ist klar geworden, dass ich keine Wahl habe! Es ist unerträglich, immerzu zu wissen, was der Partner denkt, aber es geht nicht um mich! Die Götter verlangen, dass ich seine Frau werde und auf ihn aufpasse, Mayora ist etwas ganz besonderes und muss beschützt werden.“ Sie seufzte erschöpft und setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe, fuhr sich durch das blasse Gesicht und verstummte. Es war doch zwecklos. Mayora würde nicht mehr zu ihr zurückkehren. Aber schlimmer als der Gedanke daran, ihr Schicksal nicht vollziehen zu können, war die Tatsache, nicht gewollt zu sein. Er hatte sie abgelehnt. Er mochte sie nicht mehr. Es tat so grauenhaft weh, dass ihr die Tränen kamen und ihr kleiner Bruder sie trösten musste... -- Was sie ausnahmsweise einmal nicht wusste, war, dass ihr Liebster im Moment ebenfalls am Boden zerstört in seiner Stube saß und Löcher in die Wand starrte, bis seine Tante irgendwann nach Hause kam und ihn so vorfand. „Hallo.“, begrüßte sie ihn, „War Imera wieder gemein zu dir?“ Er drehte wie mechanisch den Kopf in ihrer Richtung und starrte sie aus glasigen Augen an. „Immer sagst du das.“, erwiderte er brüchig und sie hob ein Braue, „Immer fragst du, ob jemand gemein zu mir war. Imera, Choraly... nun frage ich dich, Tante, bist du gemein zu mir?“ Darauf hob sie beide Brauen. Moment- ... was redete er da? „Ich?“, kam dann perplex, „Warum sollte ich gemein zu dir sein, habe ich dir je weh getan?“ Er senkte den Blick wieder und sie sah, wie er erzitterte. Oh nein... „Ich weiß es nicht...“, antwortete er dann nur noch leise und verstummte dann. Die Magierin beobachtete ihn ein paar Sekunden, dann vergrub sie plötzlich das Gesicht in den Händen. „Nein!“, schrie sie und er fuhr erschrocken auf, „Sag mir, dass du nicht schon wieder Fieber hast, Mayora, bitte! Du wirst sterben, verdammt!“ Es nahm überhand! Das hielt er nicht mehr lange durch! Er senkte bloß bitter den Blick. „Ich kann doch nichts dafür, Tante...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)