Jumays Kinder von -Izumi- (Part 5: Kinder des Wassers - Verloren im Sand) ================================================================================ Kapitel 20: Abwesenheit ----------------------- „Meine Güte, jetzt musst du aber so schnell nicht mehr zur Schneiderei.“ Mayora betrachtete ehrfürchtig den riesigen Stapel Kleidung, den er durch das Dorf tragen durfte. Tafaye hatte so getan, als hätte er keine Tasche, damit er ihn auslachen konnte... Ein wenig Gekicher nahm er so wie so wahr, wenn er an manchen Leuten vorbei ging, er sah einfach dämlich aus, wie ein altes Waschweib. Aber er konnte schließlich unmöglich von der armen, zierlichen Choraly verlangen, das Zeug selbst zu tragen, das ging ja überhaupt nicht. Sie für ihren Teil war bester Laune und das war es ihm wert. Wo sie doch so wenig Freude hatte... „Nein, ganz so schnell nicht mehr!“, bestätigte sie ihm da lächelnd, „Aber findest du nicht auch, dass Tafaye genial ist? In Wakawariwa gibt es niemanden, der so tolle Kleidung macht wie er! Ich liebe den Kerl einfach...“ „Ehrlich?“ Sie trat sachte nach ihm. Zu doll ging nicht, sonst hätte er die schönen Klamotten noch auf den sandigen Boden fallen lassen. „Doch nicht so, du Missgeburt! Ich mag ihn, weil er sein Handwerk so gut versteht, deshalb!“ Der Junge grinste sie breit an. „Ich sag doch, hier ist es viel besser als in Wakawariwa! Jetzt siehst du es ja...“ Vermutlich war das nicht wirklich überzeugend, aber auf einen Versuch konnte man es ja ankommen lassen, fand er. Sie schnaubte. „Du warst noch nie in Wakawariwa!“, entgegnete sie stolz, „Mein Haus dort ist so groß wie halb Thilia und mit unserem Garten ist unser Grundstück sicher größer als das Kaff hier! Und es gibt alles, was du dir vorstellen kannst, oder auch nicht. Es würde dir gefallen.“ Sie stolzierte gut gelaunt vor ihm her. Oh ja, in der großen Stadt gab es alles. Sie dachte an die Schule, die sie bis vor kurzem noch besucht hatte. Sie war in der letzten Klasse gewesen... jetzt hatte sie keinen Abschluss. Und hier war sie sogar Analphabetin. Ach, positiv denken, wozu brauchte man schon lesen und schreiben? Imera kam schon sein ganzes Leben ohne aus, also. Und wenn selbst der das schaffte... „Ich will die große Stadt niemals sehen.“, riss Mayora sie da aus ihren Gedanken und sie hielt blinzelnd inne, „Ich bin hier nämlich sehr glücklich. Dieses Dorf hat mich aufgenommen, als ich allein und mittellos war, als ich meine alte Heimat verloren hatte. Deshalb gibt es nichts, was mich dazu bewegen könnte, diesen Ort zu verlassen.“ Er stolperte weiter voran und lächelte leicht, vermutlich stolz, dass er so zu konsequent gewesen war, seinen Standpunkt zu vertreten, ohne zu kuschen. Choraly ihrerseits machte sich auf seine Worte hin ganz andere Gedanken. „Du kommst nicht aus Thilia, sondern aus diesem komischen anderen Kaff, Morika, oder?“ Das war wohl auch diese gewisse Verbindung zwischen ihm und Imera. Er stoppte wieder und sie konnte sein Nicken bloß vermuten, weil er sich ein wenig in den Klamotten versteckte. „Warum bist du dann jetzt hier und nicht bei deinen Eltern, wenn ich fragen darf?“ Er antwortete ihr nicht und einen Moment lang wurde sie wütend und hatte das Bedürfnis, ihn anzuschreien für seine verweigerte Antwort, dann erinnerte sie sich an ihre Erkenntnis vom letzten Mal. Er war eine ganz bemitleidenswerte Kreatur, wenn er nicht antwortete, hatte das sicher seinen Grund und sie seufzte leise. Dann trat sie neben ihn, um in sein monotones Gesicht sehen zu können. „Alles in Ordnung?“ Er nickte leicht und ging langsam weiter, sie blieb an seiner Seite. „Tut mir Leid.“, kam dann ungeahnt irgendwann von dem Jungen, „Ich habe meine Eltern leider vor langer Zeit schon auf etwas unschöne Art und Weise verloren, ich denke auch nicht gern an sie zurück. Ich wollte dich nicht verärgern.“ Sein Blick war noch immer kalt und starr auf die Straße vor ihm gerichtet, so weit er sie hinter dem Klamottenberg sah. Das Mädchen schaute vorsichtig zu ihm auf. „Muss dir nicht Leid tun, wenn du nicht darüber sprechen magst, ich bin auch nicht ärgerlich!“ Sie hatte ein wenig Respekt vor ihm, wenn er so unnahbar war. Anfangs war er oft so gewesen, aber all zu lange hatte er es nicht geschafft, diese Fassade aufrecht zu erhalten, fiel ihr auf. War ihr auch lieber... „Du warst verärgert, wenn auch nur kurz.“, erwiderte er darauf dann kühler, als er gewollt hatte und es versetzte ihm selbst einen Stich, dass ihm der Satz so über die Lippen gekommen war. Er durfte das arme Mädchen nicht noch zusätzlich verletzen... „Nein!“, wunderte sich die Jüngere nur, „Echt nicht!“ Doch, war sie. Aber er nahm es lieber einfach so hin, als noch weiter seine komische Laune an ihr auszulassen, das wäre gemein gewesen. Außerdem hatte er auch keine Ahnung, wie er ihr hätte erklären können, woran er gemerkt hatte, dass sie sauer gewesen war... -- Dafi rannte kreischend durch ihr Zimmer, was vermutlich nicht wirklich gut für ihre ohnehin drangsalierte Stimme war. Aber das war ihr egal. Denn das, was sie da gerade zu hören bekommen hatte, war einfach schlimm! „Das kannst du mir nicht antun!“, schrie sie ihre etwas bleiche Cousine an und hielt vor ihr inne, „Das kannst du nicht machen!“ „Ich bin ja nicht für immer weg...“, entgegnete diese bloß kleinlaut und sah zur Seite. Dumm gelaufen. „A-aber für ein halbes Jahr!“, fuhr sie die andere an, „Ein halbes Jahr willst du mich allein lassen und mich nicht mitnehmen! Bloß wegen deiner blöden Arbeit, du miese Egoistin!“ Es reichte der Jüngeren, ein für alle mal. Sie tat so viel für Pinita und jetzt wollte die sie auch noch allein lassen, das war so abartig! Und nur wegen ihrer dummen Arbeit, für die ging sie ja bekanntlich so wie so über Leichen. Das war so gemein! „Nun mach mal halblang, ja?“, empörte sich die Blonde da doch, allerdings nicht halb so energisch, wie es sonst ihre Art war, „Du bist 16 Jahre alt, benehme dich gefälligst auch so! Ich muss beruflich weg, denkst du denn, ich sei besonders scharf darauf, in Fides zu hocken? Ich bin in großen Städten doch verloren, ich lebe hier seit 14 Jahren! Also mach mir keine Vorwürfe!“ Sie schnaubte, dann verließ sie der Elan, der sie während ihrer Rede kurzzeitig gepackt hatte und sie ließ sich auf dem Bett der kleinen Magierin nieder. Ihr war gar nicht gut... „Hör mal“, begann sie dann wieder leiser, „Mir ist ganz und gar nicht wohl bei der Sache, weil...“ Sie brach ab. Mit ihrer beunruhigend weißen Gesichtsfarbe brachte sie ihre Cousine dann auch dazu, sich zu beruhigen. Wobei Dafi so wie so nie besonders lang böse sein konnte... „Was stimmt nicht mit dir, Cousinchen?“, machte sie so etwas außer Puste, aber behutsamer und setzte sich ebenfalls, legte sanft einen Arm um sie. Und sie hatte sie schon so verflucht, dabei hatte sie doch etwas auf dem Herzen. Die Wut hatte wohl ihren Blick vernebelt... „Nichts schlimmes...“, entgegnete die Ältere bloß leicht lächelnd und wich dem Blick der Anderen aus, „Und wenn ich zurück komme, werde ich eine Überraschung für dich haben.“ Und was für eine. „Klingt gut!“, Dafis Stimme klang dennoch traurig, „Und wann gehst du weg?“ „Übermorgen.“ Übermorgen kam sehr schnell, sehr zum Bedauern der beiden jungen Frauen. Im Stillen hatte Dafi sich gefragt, ob es nicht vielleicht möglich gewesen wäre, Choraly mit nach Fides zu nehmen, von dort aus wäre es ihr schließlich ein Leichtes gewesen, sich zuhause zu melden, doch Pinita hätte sicherlich irgendetwas dagegen gehabt und sie wollte ihre letzten Tage zusammen nicht unbedingt mit unnötigen Streitereien verbringen. Das war sicherlich sehr egoistisch, wo die Kleine doch so wenig Aussichten auf eine Rückkehr hatte und das wusste sie auch, aber irgendwie hatte der Gedanke, so lange allein zu sein, sie wahnsinnig ernüchtert und ihrer Kraft beraubt. Nicht, dass sie je besonders stark gewesen wäre, wie sie nach dem Tod ihrer Familie hatte bemerken müssen... Der Abschied war nichts besonderes, auch wenn dem Mädchen dabei zu heulen zu Mute gewesen war. Ihre Cousine hatte sich kalt gestellt, das tat sie immer, wenn sie traurig war. Und nach einer kurzen Umarmung war sie einfach in die Flugmaschine gestiegen, ohne noch einmal zurück zu sehen. Und dann in den Weiten des Himmels verschwunden. Da war sie also allein. -- Im Dorf selbst hatte man davon nicht viel mitbekommen, bloß die Wenigsten wussten Bescheid. Choraly gehörte nicht dazu, aber das war wohl auch besser so, sonst hätte sie sich nur wieder unnötig über die verpasste Chance geärgert. So lebte sie unwissend vor sich hin und übte kochen. An anderen Tätigkeiten hatte sie sich auch schon versucht, aber das machte ihr noch immer am meisten Spaß. Vor allem, weil Mayora ihr ja ungefragt hinter her räumte, sie musste danach nichts sauber machen oder so. Und dabei bat sie ihn noch nicht einmal darum. Dem Jungen war es seinerseits jedoch sehr Recht, wenn er ihr helfen konnte. Seine Tante schonte ihn viel zu sehr in letzter Zeit, er kam sich so furchtbar nutzlos vor. Da konnte er sich auch ein wenig um seine Mitbewohnerin kümmern. Wobei das nicht wirklich der Plan von Chatgaia gewesen war. Du sollst dich ausruhen und ein wenig dein Leben genießen!, hatte sie einen Abend zuvor geschimpft, als das Stadtmädchen gerade unter der Dusche gewesen war, Ich lasse dir nicht so viel Freizeit, damit du der Göre hinterher räumst! Natürlich nicht, das wusste er auch. Aber er wollte nun mal kein Nichtsnutz sein wie Imera, da tat er doch lieber das. Außerdem hatte er ja auch Spaß dabei und das konnte doch gar nicht schaden, oder? Choraly war eigentlich sehr nett, hatte er herausgefunden. Sie hatte ein gutes Herz, an ihrer arroganten Art war die Umgebung, in der sie hatte aufwachsen müssen, Schuld. Ganz sicher, diese reichen Menschen, die gar keine Menschen waren, weil sie kein Herz besaßen, konnten ihre Kinder eben bloß zu ihren Ebenbildern erziehen, das hatte er schon erleben dürfen. Aber für Choraly war es noch nicht zu spät, es war gut, dass sie jetzt hier war. Gut für sie, bald würde sie es auch merken. Und gut für ihn, wenn er ganz ehrlich war. Er hatte seine Tante sehr lieb, doch war sie als Dorfoberhaupt seit jeher sehr beschäftigt gewesen und hatte nur wenig Zeit für ihn gehabt. Natürlich hatte sie für ihn gesorgt, als er es noch nicht selbst gekonnt hatte und gepflegt, wenn er mal wieder krank gewesen war, aber die Momente, in denen sie einfach mal etwas Spaßiges zusammen gemacht hatten, konnte er an einer Hand abzählen und das wollte etwas heißen, denn all zu gut war er in Mathematik nicht... Dafür konnte er aber sehr gut lesen und schreiben. „Schau her, es ist ganz einfach.“, er deutete auf ein mit Schriftzeichen beschriftetes Blatt Papier, oder etwas ähnliches, Choraly kannte es nicht, „Jedes Zeichen steht für einen Laut, man muss sie einfach nur richtig zusammensetzen!“ Klang ja simpel. Ja, das Mädchen hatte sich tatsächlich dazu überreden lassen, sich von ihm lesen und schreiben beibringen zu lassen. Wo er so von ihrer angeblichen Intelligenz geschwärmt hatte, war es auch ziemlich schwer gewesen, seiner Bitte nicht nachzukommen. Außerdem war es ja auch zu ihrem besten. Aber lernen war eklig, sie war an sich schon etwas erfreut darüber gewesen, nicht mehr zur Schule zu müssen. Nicht, dass sie dumm gewesen wäre, ganz sicher nicht, aber eben auch nicht auffällig schlau. Sie hatte für gute Noten immer lernen müssen und sie hatte es gehasst. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt, schlechte Noten schickten sich nicht für kleine Prinzessinnen. Wobei die Missgeburt sie ja andererseits nicht benotete, da gab es keinen Zwang. Überhaupt, in Thilia war man zu viel weniger gezwungen als in der großen Stadt. Man musste zwar arbeiten, aber alles in allen lebte jeder, wie er wollte. Sie erinnerte sich an Jiro, der immer vor Dreck getrieft hatte. Aber es hatte weder ihn, noch irgendjemand anderen gestört, er war glücklich so gewesen. Sie schämte sich fast, ihn anfangs eklig gefunden zu haben, mittlerweile fand sie sein Auftreten doch so in Ordnung... ... aber vielleicht war das auch nur so, weil er jetzt nicht mehr da war. In der großen Stadt hingegen gab es so viele Regeln, die sie seit ihrer Geburt immer ohne sich Gedanken darum zu machen eingehalten hatte, deren massive Sinnlosigkeit ihr aber nun mit jedem Tag, den sie mehr in der Wüste verbrachte, bewusst wurde. Warum machte man sich das Leben so unnötig schwer? Sie müsste ihren Vater einmal darauf ansprechen, falls sie ihn jemals wiedertreffen würde. „Chorilein?“ Sie zuckte zusammen. Mayora betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. „Hör mal, wir müssen das nicht machen, wenn du nicht magst. Du hast noch viele andere Dinge im Kopf, das verstehe ich, also...“ Sie nickte bloß und ließ ihn allein am Tisch zurück, auch wenn es unhöflich war. Lernen war eh doof... -- Er war sehr nett zu ihr, obwohl so viel geschehen war. Obwohl sie so oft ihren Hass beteuert und auch gezeigt hatte und obwohl auch er Fehler gemacht hatte. Das war seltsam. Er war seltsam. Sie hasste ihn nicht mehr. Eigentlich hatte sie ihn auch nie gehasst, sondern nur das, was er war. Mittlerweile war es ihr jedoch recht egal. Es war weder besser noch schlechter, als ein Mensch zu sein. Obwohl, seine Krankheitsanfälligkeit war schon ziemlich übel... Mit solchen Gedanken befasste sich die junge Frau den ganzen restlichen Tag, bis in die Nacht hinein. Von ihrem Mitbewohner hielt sie sich fern, er hatte schon Recht, ein wenig nachdenken war nicht schlecht. Ewig verdrängen konnte sie es ja nicht. Und so entkam sie auch dem Lernen... Alles war komisch, irgendwie. Ihre Mama war weg, Atti, Jiro... ihren Vater würde sie wohl auch nie wieder sehen. Und trotzdem machte es ihr nicht mehr so viel aus, wie vor ein paar Tagen noch. Nein, Wochen waren es. Ach, egal. Sie verstand es selbst nicht und das hielt sie lange wach und raubte ihr schließlich auch den Schlaf, als sie mitten in der Nacht aufschreckte. Vielleicht hätte sie doch lieber schreiben üben sollen... Die letzten Tage waren doch idyllisch gewesen, sie hatte sich gar nicht gefragt, ob etwas nicht richtig war. Aber jetzt auf einmal... ach, es war die Schuld der dummen Missgeburt, ende. Den Titel Missgeburt würde er sicher auch nicht mehr los werden. Sie tappste durch die Dunkelheit in die Küche, um etwas zu trinken. In Wakawariwa hatte man ihr in ihrem Zimmer immer schon etwas bereit gestellt gehabt und Mayora konnte sich einfach irgendetwas herzaubern. Sie war gerade voll benachteiligt, wie unfair, wenn man schon nicht schlafen konnte. Aber ließ sich nicht ändern... Etwas getrunken und die Treppe wieder hinauf gestiegen erlebte sie eine böse Überraschung. Ihr Blick wanderte verwirrt zur Zimmertür ihres Mitbewohners, hinter der man ungewöhnliche und irgendwie ungesund klingende Geräusche hören konnte. Moment – starb dieser kränkliche Idiot etwa gerade vor sich hin?! Sie quiekte, riss seine Tür auf und verstummte irritiert. „Hä?“ Mayora, noch halb am Schlafen, aber feuerrot im Gesicht, blinzelte sie keuchend an. „W-was...?!“ „Stirbst du?“, irgendwie sah er nicht so aus, als würde es ihm sonderlich schlecht gehen, aber warum...? Sie verzog das Gesicht. „Was macht deine Hand da...?“ „M-meine Hand?“, wiederholte er blöd und folgte ihrem Blick, „Die macht... äh... nicht das was du denkst!“ Er schnappte nach Luft und zog die Decke über den Kopf. Gerade rechtzeitig, sonst hätte ihn ein 300-Seiten Lexikon über giftige Wüstentiere, das unpraktischer Weise auf einem kleinen Schränkchen neben der Tür gelegen hatte, volle Kanne getroffen. So spürte er es bloß dumpf durch das Bettzeug. „Du Perverser!“, schrie Choraly ihn da an, ungeachtet der Tatsache, dass Chatgaia sie hören und sich durch ihre Lautstärke belästigt fühlen könnte, „Wie kann man so eklig sein, ich war besorgt und du...! Igitt, fasse mich nie wieder mit der Hand an, du notgeile Missgeburt!“ Ungehalten fluchend stampfte sie wieder in ihren Raum und knallte die Tür lautstark zu. Der Junge lugte höchst verlegen wieder unter der Decke hervor. Wie gemein, er hatte doch geschlafen... und dabei etwas komisches geträumt... „Meine Güte!“, wunderte sich das Dorfoberhaupt wenige Zimmer weiter, „Was haben die denn?“ „Weiß ich nicht, aber hat sie gerade notgeil gesagt?“, erkundigte sich ihre kleine Affäre und kuschelte sich an sie, „Mayora ist notgeil? Ich hab es ja geahnt...“ Die Frau seufzte belustigt. „Wer weiß? Er ist schließlich auch nur ein Mann...“ „Was soll das denn heißen?!“ Nachdem sich Chatgaias Liebschaft im frühen Morgengrauen abenteuerlich durch ihr Fenster verabschiedet hatte, trafen sich die drei übrigen ein paar Stunden später nach und nach am Frühstückstisch. Die Älteste war dabei am frühesten an gewesen und hatte die Gütigkeit besessen, das Essen zu machen und ihren Neffen, als er irgendwie etwas gerändert in der Küche erschien, nicht nach der vergangenen Nacht zu fragen. Nach notgeilen Sachen fragte man als Tante besser so wie so nicht. Welch Ironie... Wobei sie mit Choralys Erscheinen doch recht neugierig wurde. Das Mädchen begrüßte sie höflich, ließ ihrem Mitbewohner hingegen bloß ein empörtes Schnauben zukommen und aß schweigend. Dabei waren die Beiden in den letzten Tagen doch so toll miteinander ausgekommen, wie seltsam. Aber sie sollte es nicht stören. -- „Die wollen uns verarschen!“ Uda Magafi schlug wütend auf seinen armen Schreibtisch ein und der kleine, zur Abwechslung einmal nicht potthässliche Laufbursche mit den hellblonden Engelslöckchen zuckte erschrocken zusammen. „W-wer?“ wagte er zu fragen mit einem scheuen Blick auf das Dokument, das er dem Politiker so eben gebracht hatte, ohne dessen Inhalt zu kennen. Er konnte nicht lesen. „Mon'dany, Kamake, wer auch immer! Die verarschen uns!“, fuhr der Mann ihn lautstark an, stand auf und begann in seinem riesigen Büro auf und ab zu gehen. „Sie drohen uns Krieg an, und jetzt rüsten sie heimlich wie bekloppt, denken die, wir merken das nicht? Halten die uns für dumm oder was?“ Der Kleine zuckte unwissend mit den Schultern. Konnte er doch nicht wissen. „Die werden was erleben!“, empörte sich der Ältere da auch weiter, „Wenn die einmal etwas machen, was mir nicht gefällt, verlass dich drauf, die werden ihre Angehörigen in Einzelteilen einsammeln können!“ Dabei war dem Mann noch nicht einmal so genau klar, wer 'die' waren. 'Die' konnten viele sein. Andererseits konnte er ja auch viele Menschen zerstückeln lassen, so war es ja nicht. Zerstückeln. Da kam ihm doch glatt seine Frau wieder in den Sinn. Er hatte nicht besonders um sie getrauert, sie hatten eh kaum noch etwas miteinander zu tun gehabt. Ihre Berufe hatten sie zu sehr eingespannt und seit dem Tod ihres gemeinsamen Sohnes hatten sie ohnehin das Interesse aneinander verloren. Zusammen geblieben waren sie ja bloß wegen des Ansehens und ihrer kleinen Tochter, die allerdings auf die eine, wie auch auf die andere Weise nicht viel von ihren Eltern gehabt hatte. Aber jetzt war es zu spät. Für Choraly aber vielleicht noch nicht, der Mann hatte eine erneute Suchaktion für sie in Auftrag gegeben. Bisher hatte er aber noch keine Rückmeldung. Und große Hoffnung eigentlich auch nicht. Währenddessen, irgendwo in der großen Wüste: „Haben Sie schon einmal dieses Mädchen gesehen?“ Der Nobokaer Offizier stand kerzengerade vor einem etwas primitiv wirkenden Mann und zeigte ihm seriös ein Bild der jungen Frau. Der Kerl blinzelte blöd und murmelte dann irgendwelche Worte auf einer unbekannten Sprache. Der Offizier schnaubte. „Antworten Sie anständig!“, verlangte er und packte das Bild wieder weg. Der Typ kicherte blöde. „Happa happa!“, machte er dann und zeigte auf seinen Mund. Sein Gegenüber hob entsetzt beide Brauen. Der würde das arme Mädchen doch hoffentlich nicht gegessen haben...? -- „Die suchen schon wieder nach ihr.“ Kinai warf seiner Schwester einen besorgten Blick zu, als er neben ihr auf der Terrasse stand und ihr dabei zusah, wie sie in die Ferne starrte. Sie hatte ihr Trauma, nicht gewollt zu werden, weitgehend überstanden und war für ihre Verhältnisse wieder recht normal, solange man das böse M-Wort nicht erwähnte. Aber das musste man ja auch nicht, war überflüssig. Er würde es zumindest ganz sicher nicht tun, wenn es nicht überlebensnotwendig war. „Und was machen wir jetzt?“ Sie sah ihn nicht an. „Nichts. Sie werden sie nicht finden. Noch nicht.“ Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es geschehen würde, da war sich die junge Frau ganz sicher. Diese Städter waren fürchterlich. Choraly ließ sich noch im Zaum halten, aber was ihr Vater fernab des großes Meeres tat, konnte hier leider niemand kontrollieren. Shakki erkannte ihn auch bloß verschwommen in ihren Träumen. Selbst Seher hatten irgendwo Grenzen. Schwache Seher. Sie war nicht immer schwach gewesen, dass sie es jetzt war, verdankte sie... sie wollte nicht an ihn denken. Er hatte es absichtlich getan, da war sie sich sicher. Er hatte sie schwächen wollen. Aus welchen Gründen auch immer, er hatte genau gewusst, dass dieses Gesöff dauerhaft schaden würde. Moment, hinterging er damit nicht auch seine Tante? Wenn er die Seherin schwächte, schwächte er auch das Dorf. Das Dorf, für das Chatgaia schon so viel getan hatte, für das sie so litt. Und damit schwächte er letzten Endes auch sie. Dieser Bastard schien wirklich ein Wolf im Schafpelz zu sein. „Hallo, Schwester! Noch anwesend?“ Sie schreckte auf und wandte sich an ihren kleinen Bruder neben ihr, der sie aus seinen schmalen, aber doch noch recht kindlich wirkenden gelben Augen musterte. „Ich hab dich gefragt, was du mit 'noch nicht' meinst!“ Er schnaubte. Wie er es hasste, wenn sie ihm nicht lauschte! Sie schüttelte bloß den Kopf. „Nichts bestimmtes.“, gab sie zu hören, „Bloß, dass die Stadtmenschen Ausdauer haben...“ -- Dafi war allein. Sie hatte sich in den letzten Tagen halb tot gearbeitet, um sich von ihrer Einsamkeit abzulenken. Das hatte auch ganz gut geklappt, bloß hatte es den Nachteil, dass sie zum Einen nun sämtliche Aufträge der nächsten drei Monate erledigt hatte (ja, die Dame hatte auch nachts durchgemacht) und zum Anderen, dass sie nun einfach nur noch hundemüde und ausgelaugt war. Sie hatte zwischendurch den starken Drang verspürt, einmal ins Dorf zu rennen, aber irgendwie kam ihr das komisch vor, nach allem, was geschehen war. Dennoch wollte sie es in den nächsten Tagen einmal machen, sie konnte sich ja nicht ewig in ihrem Zimmer verkriechen und Pinita vermissen. Das tat sie schließlich so oder so. Aber hier fehlten ihr auch Tainini und Choraly. Auf eine sehr eigene seltsame Art und Weise ihre besten Freundinnen. Und das musste ja nicht sein, sie war schließlich nicht ganz allein. Und die Blonde hatte Recht, sie war 16 Jahre alt, langsam musste sie auf eigenen Beinen stehen und zurecht kommen. Genau! Aber wenn sie auf eigenen Beinen stand, hieß das auch, dass sie selbst entscheiden konnte, was sie tat und was nicht. Dann durften Pinita und auch niemand sonst ihr in ihre Entscheidungen reinsprechen. Das klang doch gut. Sie betrachtete aufmerksam ihr Spiegelbild im Badezimmer. Sie gefiel sich nicht im geringsten, aber das ging ja schon jahrelang so. Da musste sich doch auch etwas machen lassen. In gewisser Weise hatte sie ja sturmfrei, wenn ihre Cousine nicht da war. Sie grinste, dann griff sie nach einer kleinen Schere auf einem Regal. -- Tai stand dämlich kichernd vor Lilliann, die schnaubend die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Wieso hast du diesen Vollspasten herein gelassen?“, erkundigte sie sich in entsprechend liebevollem Ton, ungeachtet der Tatsache, dass der 'Vollspast' einen Meter neben ihr am Tisch saß und etwas verlegen wurde. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich wieder kommen werde, Lilli...“, maulte er leise, wurde aber ignoriert. „Ich hab ihn doch nicht verjagen können!“, rechtfertigte sich die Jüngste da auch schon aufgesetzt empört, „Das wäre sehr unhöflich gewesen. Außerdem hätte es ja auch Choraly oder Dafi sein können, ich sehe das ja nicht durch das Fenster. Anders als du, wenn dir mein Besuch nicht passt, geh du doch das nächste Mal an die Tür!“ Die Kleine drehte sich schnaubend um und verließ die Küche, ließ 'ihren Besuch' damit mit der Älteren allein. Die ist gut!, dachte diese verärgert, behielt es sich jedoch vor, das auch noch auszusprechen. So etwas gehörte sich schließlich wirklich nicht. Nicht, dass das sie ehrlich interessiert hätte, aber trotzdem... „Tut mir Leid, wenn meine Anwesenheit dir so unangenehm ist, aber ich wollte so gern noch einmal nach dir sehen...“, schaltete sich Imera da ein, als die Gastgeberin sich ergeben seufzend zu ihm setzte. „Schon gut.“, tat sie es nun doch einfach ab, gab schließlich wirklich schlimmeres, „Aber was genau willst du von mir? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je viel miteinander zu tun hatten und auf Mitleid jeglicher Art, soll heißen, egal ob echtes oder geheucheltes, kann ich ganz getrost verzichten, danke.“ Der Junge hob beide Brauen und blinzelte. „Moment mal.“, begann er, „Dass wir nie viel miteinander zu tun hatten liegt aber ganz sicher nicht an mir, ich hab mich immer schon mit dir anfreunden wollen!“ Und das sagte er nicht nur so, das stimmte wirklich. Sie grinste dümmlich. „Du? Mit mir? Jetzt spinnst du herum, rede gefälligst keinen Müll.“ Da konnte sie sich aber ganz sicher nicht dran erinnern. Er sollte endlich mal auf den Punkt kommen und ihr sagen, weshalb er sie ständig belästigte. Den Gefallen tat er ihr jedoch noch nicht. „Ich rede ganz sicher keinen Müll!“, empörte er sich und lehnte sich etwas über den Tisch, „Überleg mal. Hand aufs Herz, ich bin dumm wie Brot, ich war doch schon in der Schule verloren. Und das hab ich damals auch schon gewusst. Und trotzdem bin ich zu deinen Eltern in die Nachhilfe gekommen, in der Hoffnung, dich ein wenig besser kennen zu lernen.“ Er lehnte sich wieder zurück und seufzte. „Was ja gehörig nach hinten losgegangen ist. Du hast dich bloß jede freie Minute über mich lustig gemacht, weil du meine Blödheit in allen Fassetten gekannt hast. Das war ziemlich... verletzend.“ Ihr Grinsen verschwand. Du liebe Güte, das machte ja Sinn. Sie hatte ihn voll fertig gemacht und dabei hatte der arme Kerl bloß Anschluss gesucht. Wie peinlich... Sie senkte beschämt ihr Haupt. „Tut mir sehr Leid.“ Mehr wusste sie darauf nicht zu erwidern. Zu ihrer Überraschung lachte er. „Ach was, muss nicht, das ist ja lange her! Außerdem bin ich auch nicht hier, um dir Vorwürfe zu machen oder so, sondern bloß, weil...“ Er hielt inne. Ja, warum? Weil es sich so gehörte. Aber das klang ja dann wieder nach der Mitleidstour, die sie nicht leiden konnte. „Weil ich mich nach dir erkundigen wollte. Ach ja... und ich wollte dir sagen, dass ich dir gern helfe, wenn du einmal Hilfe brauchen solltest!“ Bei allem Scham für ihr blödes Verhalten von vor ein paar Jahren, ein Schnauben konnte sie sich nicht verkneifen. „Bei jedem Anderen hätte ich jetzt gesagt, dass ich mich geehrt fühle, aber bei dir...? Da komm ich mir ja eher verarscht vor, du kannst doch gar nichts! Du bist ein völliger Versager, so nötig habe ich es echt noch lange nicht!“ Ach, jetzt war sie ja schon wieder fies zu ihm gewesen. Aber was sollte sie denn machen? Schließlich war sie im Recht und in der Disziplin Blatt vor den Mund nehmen war sie sehr zum Leidwesen ihrer Eltern noch nie sonderlich gut gewesen. Er seufzte gekränkt. „Na hör mal!“, entgegnete er leise, „Ich tue mehr, als bloß den ganzen Tag auf irgendeiner Mauer zu sitzen und mich zu langweilen, ja? Ich versuche das Schreinern, das Handwerk meines Onkels zu erlernen, schon seit Jahren, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht besonders erfolgreich damit bin. Zumindest nicht erfolgreich genug, dass Chatgaia es ernst nehmen würde... aber ich versuche es. Genau so versuche ich mich um Kura zu kümmern. Und ich hab wieder eine Freundin, beeindruckend was?“ Er lehnte sich stolz grinsend zurück und die Jüngere hob beide Brauen. „Aber wenn du so beschäftigt bist, dann brauchst du doch nicht andauernd bei mir herum zuhängen, oder?“ War doch wahr. Er nervte. Und er musste wohl seine Niederlage einsehen. Dabei hatte er bloß ein einziges Mal etwas gutes machen wollen, indem er der armen, schwangeren und allein stehenden Lilli etwas unter die Arme gegriffen hätte. Wäre nicht schlecht für sein Ego gewesen und so viel Nettigkeit hätte die gute Chatgaia sicher auch begeistert. Ach, er war echt ein Verlierer... Der Junge erhob sich seufzend. „Ist schon gut, du magst mich einfach nicht und damit hat es sich. Ich gehe jetzt lieber. Aber wenn du doch mal auf die Idee kommen solltest, möglicherweise meine Hilfe gebrauchen zu können, zögere nicht, mich zu rufen.“ Dann ging er. -- Pinita war weit, weit weg in Fides. Den Großteil ihrer Arbeit hatte sie wie geplant schon in den ersten Tagen dort erledigt, heute hatte sie einen wichtigen Termin bei ihrem Chef persönlich. Sie war nicht besonders aufgeregt, sie kannte den alten Mann schon, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Er hatte ein gutes Herz und ein offenes Ohr für alle Probleme seiner Angestellten. Sie mochte ihn. Und er mochte sie, wie sie an dem erfreuten Lächeln irgendwo unter seinem viel zu langen Bart erkennen konnte. „Pinitachen!“, begrüßte er sie, als sie sein Büro betrat und vor seinem Schreibtisch Platz nahm. „Es freut mich sehr, Sie nach so langer Zeit wieder zu sehen.“, erwiderte sie freundlich und er lachte. „Wie förmlich du bist!“ Sie grinste ebenfalls. „Muss sein. Ich habe schließlich eine große Bitte an Sie.“ Ihr Gegenüber hob gespannt die Brauen. „Und die wäre?“ Pinita war eine seiner loyalsten Angestellten, wie auch schon ihr Vater, dessen Vater und alle Mitglieder ihrer Familie zuvor, soweit er zurück denken konnte, es gewesen waren. Er würde ihr also wohl kaum eine Bitte abschlagen. Das Mädchen senkte verlegen den Kopf, als sie begann. „Ich bin schon so gut wie fertig mit meiner Arbeit hier. Aber das Projekt meines Vaters, Sie wissen, welches ich meine, ist durch die Unfähigkeit mancher Personen da unten erheblich ins Stocken geraten. Ich würde gerne noch ein halbes Jahr hier bleiben, um von hier aus alles perfekt zu planen. Ich habe hier viel bessere Möglichkeiten als in der Wüste.“ Sie sah wieder auf in das nun ziemlich verwunderte Gesicht ihres Chefs. „Nun, an mir soll es nicht liegen.“, entgegnete er, „Aber Pinitachen, sag mir, was du brauchst, und ich schaffe dir diese Möglichkeiten auch in der Station, das ist doch kein Problem.“ Er war ziemlich mächtig und konnte alles mögliche bewirken, sie hätte ihn ruhig direkt darum bitten können! Der Mann lächelte gütig. „Hör mal, ich weiß doch, dass du da unten deine liebe Cousine hast und dass du dich hier nicht zuhause fühlst. Das wäre doch eine Qual für dich!“ Die Jüngere seufzte kaum hörbar. Sie hatte die Nettigkeit dieses Mannes weit unterschätzt. „Aber es ist nicht nur das.“, sprach sie leiser weiter, ohne ihm in die Augen zu sehen, „Es ist... wegen meines gesundheitlichen Zustandes. Ich will dazu keine großen Worte verlieren, sorgen Sie sich nicht. Aber ich bin hier im Moment wesentlich besser aufgehoben als in der Wüste.“ ----- ALDA! O____o Ich hab Mayoras dumme Vergangenheit jetzt endlich durch! Die ist jetzt insgesamt 55 Seiten lang! *umfall* So viel interessiert doch keinen.... »' Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)