Wüstenkinder von -Izumi- (Fortsetzung zu "Kinder des Wassers") ================================================================================ Kapitel 9: Folgen ----------------- Mayora war sauer. Er versuchte es zu unterdrücken, weil seine Töchter mit im Raum waren, aber er war es. Und er wusste nicht einmal genau warum. Er war töricht... aber seine Götter gaben ihm ein flaues Gefühl, sie warnten ihn. Und seine Götter sprachen immer die Wahrheit, so konnte er sein Misstrauen, das in seiner Stimme mitschwang, nicht ganz unterdrücken. „Was suchst du denn hier?“ Seine Frau sah stirnrunzelnd zu ihm. „So begrüßt man Besuch aber nicht.“, sie blickte zu dem blonden jungen Mann, der auf die Frage errötet war, „Kura hatte heute Nachmittag frei und hat mich besucht, wir hatten viel Spaß. Wir haben uns ja schon gut verstanden, als er noch klein gewesen ist, aber jetzt, wo man sogar mit ihm reden kann, muss ich sagen, ist es viel schöner.“ Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. Ihr Gatte verengte die roten Augen zu schmalen Schlitzen. Wir hatten viel Spaß. „Aha.“, schnappte er unfreundlich und hob seine jüngere Tochter Dyami auf, die mit einer Puppe auf dem Boden spielte, um sie väterlich an sich zu drücken, „Hat er denn keine Familie?“ Kura passte es nicht besonders, dass Mayora so von ihm sprach, als sei er nicht da, während er daneben saß. Früher hatten sie sich gut verstanden, heute misstraute er ihm aus irgendwelchen Gründen. „Was denkst du bitte von mir?“, erlaubte er sich in seinem üblichen, sehr leisen, aber verständlichen Ton zu fragen und der Ältere warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Ehe er etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Samili erstarrte, als sie öffnete. „Genda...?“ Ein leichter Rotschimmer schlich sich in ihr Gesicht... warum hatte sie sich gleich noch einmal auf einen solchen Kerl eingelassen? Moment, so hässlich war der gestern aber noch nicht gewesen... „Was ist denn mit dir geschehen?“ Er ging nicht auf sie ein, schien sie nicht einmal zu sehen und zwängte sich einfach an ihr vorbei ins Haus. Als er schon beinahe an der Stubentür war, hielt er noch einmal inne und küsste das Mädchen kurz auf die Lippen. „Unwichtig.“, antwortete er da doch noch auf ihre Frage, „Ist dein Vater da?“ Er strich ihr kurz durch ihr grünes Haar und sie erschauderte, nicht nur dank der Berührung, sondern auch wegen des ungewohnt brüchigen und leisen Klangs seiner Stimme. Ihre Götter versetzten sie in Alarmbereitschaft – hier bahnte sich irgendetwas sehr schlechtes an. Sie deutete auf die Tür, durch die er ohnehin hatte gehen wollen. Er nickte und betrat den Raum schnellen Schrittes, sie folgte ihm. Die drei Erwachsenen sahen verwundert auf, als sie den Jungen sahen. Mayora überkam ein ähnliches Gefühl wie seine Tochter und er setzte Dyami wieder ab, ehe er näher an seinen Fast-Neffen trat. „Du hast dich aber ordentlich geprügelt.“, stellte er stirnrunzelnd fest, „Das sollten wir kühlen.“ Sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf und sah ihn gequält an. „Du musst mitkommen.“, seine Stimme war noch schwächer als zuvor, „Meiner Mutter geht es nicht gut.“ Choraly fuhr geschockt auf. Moment, Lilliann? „Was hat sie?!“ Genda antwortete nicht, senkte bloß den Blick und fuhr sich durch sein übel zugerichtetes Gesicht. Er blamierte sich... aber er fühlte sich furchtbar! Er konnte gar nicht sagen, was geschehen war, irgendetwas zog sich dabei zu schmerzhaft in ihm zusammen. Ihm kamen wieder die Bilder vor Augen... dieses schleimige Blut, vermischt mit den Überresten seines Geschwisterchens, das niemals leben würde. Und seine Mutter schwach und verwirrt mittendrin. Verdammt, das verdiente sie doch nicht! „Komm mit!“, forderte er nur energischer und das Paar nickte sich kurz zu. „Ich kann bei den Mädchen bleiben.“, wagte Kura sich ebenfalls besorgt einzumischen und seine Gastgeberin lächelte ihm dankbar zu. Hier würde ihr lieber Ehemann hoffentlich nichts einzuwenden haben. Diese Missgeburt... über sein feindseliges Verhalten musste sie unbedingt noch einmal mit ihm sprechen. Aber nicht jetzt, dazu war nun keine Zeit. Samili ihrerseits war nicht einverstanden. „Ich möchte auch mitkommen!“, beschloss sie und Genda sah kreidebleich zu ihr. „Nein!“ Sein Klang duldete kurzzeitig keine Widerrede und das Mädchen schnaubte. Was bildete der sich denn ein, er hatte ihr überhaupt nichts zu sagen... „Bleib lieber hier.“, stimmte ihr Vater dem Jungen sehr zu ihrem Leidwesen jedoch zu und sie war gezwungen, sich zähneknirschend geschlagen zu geben. Mayora und Choraly blieb das Horrorszenario erspart. Die Badezimmertür war geschlossen, Lilliann gewaschen – ihr Sohn hatte ihr geholfen. Nun lag sie auf dem Rücken in ihrem Bett und starrte die Decke an, während ihr Schwager sie untersuchte. Dessen Frau war mit Genda in der Küche. „Meinst du, sie hat davon gewusst, dass sie ein Baby bekam?“, fragte sie behutsam, während sie sein Gesicht vorsichtig mit einem kalten Lappen abtupfte. Sie war verwundert darüber, wie kindlich dieser Kerl doch noch wirken konnte. Sie erinnerte sich versonnen daran, wie sie mit ihm gespielt hatte, als er selbst noch ein Neugeborenes gewesen war... wie sie ihn gewiegt und irgendwie geliebt hatte. Jetzt war er beinahe erwachsen. Jiros Sohn. „Ja, hat so geklungen.“, antwortete er wieder etwas gefasster, „Aber vielleicht war es besser so.“ Die Frau nahm entsetzt den Lappen weg und starrte ihn an. Wenn er nicht schon so übel zugerichtet gewesen wäre, hätte sie ihm dafür noch eine Ohrfeige verpasst. „Bitte? Das wäre einmal ein Baby geworden, deine Eltern hätte es sicher sehr glücklich gemacht! Liegt dir denn so wenig an deiner Familie?“ Einen Moment später schämte sie sich dafür, den Jungen so angefahren zu haben, hielt es zunächst jedoch für besser, sich nicht zu entschuldigen. Er senkte den Blick. „Nein. Aber wir haben im Moment andere Probleme, noch ein Kind wäre jetzt fehl am Platz, fürchte ich. Zu einer anderen Zeit meinetwegen, auch wenn ich nicht scharf auf noch einen Nachkommen von Imera bin, aber jetzt nicht.“ Er wirkte nicht so, als wollte er weiter darauf eingehen. Choraly legte mitleidig den Kopf etwas schief. Er wusste, wovon er sprach. Sie hatte kein Recht, sich einzumischen... zumindest in diesem Moment, in dem sie noch keine Ahnung hatte, wie tief ihr eigener Familienzweig mit in diesen Problemen steckte. Sie entschloss sich, das Thema zu wechseln. Nicht zu Gendas Vorteil, allerdings. „Was ist denn mit deinem Gesicht geschehen? Du hast dich geprügelt – aber mit wem?“ Er konnte sein linkes Auge kaum noch öffnen, das sah echt heftig aus. Irgendwie passte diese brutale Ader ja zu ihm... aber was sollte sie sonst sagen? „Mit jemandem – ist völlig egal.“ Der würde seine Abreibung schon noch erhalten... oh ja, er würde ihm alle Zähne ausschlagen für diese Schande! Jeder würde ihn auslachen, wenn herauskam, dass es Serenka gewesen war, dessen hysterischem Wutanfall er zu Opfer gefallen war. So eine Hühnerbrust war er gar nicht, er war verdammt stark für seine noch recht geringe Körpergröße. Wenn er erst einmal erwachsen war, würde er ein stattlicher Mann sein, soweit das als Magier möglich war. Da kam er wohl nach seinem Vater... der war Genda zumindest recht kräftig vorgekommen. Ach ja, auf den war er ja auch noch wütend... aber zur Rache hatte er das Zerbersten seiner Familie liebevoll beschleunigt, das hatte der gute Mann nun davon. Mayora war verwirrt. Die Frau hatte sich artig untersuchen lassen, obwohl er das Gefühl gehabt hatte, dass es ihr nicht passte, dass ausgerechnet er das tat, auch wenn sie mittlerweile wieder ziemlich normal miteinander umgingen. Aber sie hatte sich nicht beschwert. Sie hatte kaum gesprochen, bloß deutlich auf seine Fragen geantwortet, wenn er welche gestellt hatte. „Bin ich krank?“, wollte sie zum Schluss dann doch von selbst wissen und er kratzte sich am Kopf. Darüber wunderte er sich. „An sich nicht, nein. Ich meine... ich kann nichts finden. Am Alter liegt es auch wohl kaum, also... was soll ich sagen, versuche es einfach noch einmal!“ Versuche es noch einmal. Dazu hatte sie im Moment gewiss keine Lust. Auch dieses Kind war ein Versehen gewesen... aber sie hatte sich gefreut, als sie es gemerkt hatte. Der Gedanke, wieder ein Baby in den Armen halten zu können, hatte sie unheimlich glücklich gemacht, wo ihre anderen Kinder bereits so groß waren. Sie war gerne Mutter. „Fällt... dir kein Grund ein, was es gewesen sein könnte?“, versuchte sie es abermals und ihr Schwager musterte sie eine Weile, dann wandte er den Blick ab. „Hast du Kummer?“ Choraly war so nett gewesen, das Badezimmer zu reinigen. Ihre Bereitschaft hatte alle Beteiligten überrascht und sie selbst konnte nicht benennen, warum sie der Familie diesen Gefallen tun wollte, aber sie tat es. Als ihr Mann kurz nach Hause gegangen war, um Lilliann Medikamente gegen die Schmerzen zu holen, hatte sich seine Tochter Samili nicht mehr abhalten lassen, auch wenn man ihr den Schock deutlich ansah. Aus irgendeinem Grund hatte sie gemeint, unbedingt mit zu müssen. „Ich möchte gern hier bleiben.“, sprach sie auch zu ihren Eltern, als diese sich wenig später auf machen wollten. Lilli hatte gemeint, sie wollte alleine sein, um sich ordentlich ausruhen zu können. Sie war eine starke Frau. Vermutlich lag ihr weniger an der Ruhe, als an der nötigen Zeit, den ersten Schock zu verarbeiten – sie weinte nicht vor den Augen anderer. Nie. „Ich will auf Teneri warten... ich meine, wir sind Freundinnen und wenn ihr Papa nicht hier ist...“ Ihre Mutter seufzte. Eigentlich gab es ja niemanden, der etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte, aber dennoch. „Na schön.“, seufzte sie, „Aber nerve bitte niemanden. Komm nach Hause, wenn man dich darum bittet.“ Sie nickte. Kurz darauf war sie mit Genda allein. Er saß am Küchentisch und hielt sich noch immer einen nassen Lappen auf sein geschwollenes linkes Augenlied, ohne ihr weitere Beachtung zu schenken. Sie würde ihn vorerst nicht danach fragen... vorerst. Sie war neugierig, irgendwann würde er es ihr sagen, aber im Moment ging es ihm wohl schlecht genug. Sie war nicht wegen ihrer besten Wüstenfreundin geblieben, zumindest nicht nur – sie sorgte sich auch um den Jungen. Dabei hatte sie selbst doch genügend Probleme... dieser Kerl hatte ihr die Jungfräulichkeit gestohlen! Oder zumindest einzureden versuchte sie sich das. Samili hatte es selbst so gewollt in einem plötzlichen, unbekannten Schwall von Hitze in ihrem Unterleib, aber das gehörte sich nicht für ein Mädchen von ihrem Rang, also fiel es ihr auch äußerst schwer, sich das einzugestehen. Es war aber eine Tatsache, er hatte nichts getan, womit sie nicht einverstanden gewesen wäre. Manche Einzelheiten hatte sie im Nachhinein ein wenig bereut, den Großteil schändlich genossen... es war alles genau so gewesen, wie sie es gewünscht hatte. Er hatte sie in einem kleinen Badezimmer auf dem Geburtstag ihres Halbonkels zur Frau gemacht. Das war so... sie wollte nicht wissen, was ihre Eltern wohl mit ihr getan hätten, wenn sie es erfahren hätten. Einmal davon abgesehen schämte sie sich nicht nur der Tatsache selbst, sondern auch des Jungen, der ihre Erster war. Sie kam sich undankbar vor, sich noch immer darüber Gedanken zu machen, dass er überhaupt nicht hübsch war – er war schließlich trotz seines unsympathischen Charakters im großen und ganzen sehr nett zu ihr gewesen. Außerdem konnte er doch nichts dafür... aber dennoch, das war Genda! Sie setzt sich ihm vorsichtig gegenüber, während er mit seinem weitgehend unversehrten Auge die Tischplatte anstarrte. Samili wollte ihm irgendwie helfen... „Willst... du dich vielleicht mit mir unterhalten?“ „Nein.“ Sie verzog das Gesicht beleidigt. Na so eine Überraschung, aber was hätte sie sonst sagen sollen? Er war eben kein Mann der großen Worte... Moment, Mann? Wie alt war er eigentlich? Sie hörte einen Moment in sich hinein und stellte fest, dass ihr das nie jemand gesagt hatte. Sie beschloss, einfach danach zu fragen. Letztendlich half ihm schließlich doch nur Ablenkung, so dachte sie sich. „Wie alt bist du eigentlich?“ Das Mädchen wusste, dass die Frage ziemlich grob in den Raum gestellt war, aber die Regung in seinem ausdruckslosen Gesicht gefiel ihr. „Vierzehn.“, entgegnete er jedoch ohne weiteres, „Bald fünfzehn... ich sehe älter aus, ich weiß.“ Er sah ihren Unglauben und konnte ihn nicht ertragen, also wandte er den Blick von ihrem hübschen Gesicht wieder ab und starrte wieder das Holz unmittelbar vor sich an. Es nagte an ihm... „Ja!“, bestätigte sein Gegenüber ohne böse Absichten darauf, „In der Tat, ich habe dich gedanklich bereits als Mann betitelt, dabei bist du noch ein Junge, wie seltsam!“ Er sagte nichts darauf. Sie schwiegen lange. Hatte sie ihn damit verärgert? Diesen Jungen, der kaum älter war als ihr großer Bruder... Es beruhigte sie ungemein, als Genda irgendwann von selbst begann, wieder zu reden. Er wechselte das Thema. „Meine Schwester kann noch eine ganze Zeit lang auf sich warten lassen.“, gab er zu bedenken, „Sie ist gerne draußen und nutzt es aus, wenn sie schulfrei hat.“ Sein Gegenüber schenkte ihm darauf einen bedeutungsvollen Blick und wenn er Magier gewesen wäre, dann hätten ihm seine Götter in diesem Moment in die Ohren gelacht. Sie wollte bei ihm bleiben, nicht bei Teneri. Er brauchte lange, um das zu begreifen, dann räusperte er sich. „Du törichtes Ding!“, kam dann, „Ich habe dich benutzt und du sorgst dich um mich, ha!“ Er war sich nicht sicher, ob benutzt das richtige Wort dafür war. Sie schien es jedenfalls nicht zu glauben, als sie ihre schmalen Brauen etwas senkte. „Ich hatte meinen Spaß!“, erwiderte sie erstaunlich offen darauf, „Und weshalb ich hier bin, weiß ich irgendwie selbst nicht mehr genau – jedenfalls werde ich mich so schnell nicht vertreiben lassen!“ Es waren seltsame Worte, die ihren Mund verließen. Sie war verwirrt, sie wusste selbst nicht genau, warum sie sie aussprach. Die Reaktion des Jungen war ebenso verwirrend, missfiel ihr jedoch nicht. Er erhob sich und schritt Richtung Flur. „Komm.“, forderte, „Wir gehen jetzt in mein Zimmer.“ -- Serenka hätte vor Erleichterung aufschreien können, als er seinen jüngeren Bruder endlich gefunden hatte. „Takodachen...“, jappste er am Ende und fühlte sich, als müsste er jeden Moment zusammenbrechen, obgleich er eigentlich gar nicht hätte müde sein dürfen. Dennoch kam es ihm so vor, als hätte er den kleinen Jungen stundenlang gesucht. Nun stand er da, regungslos an der seltsamen Klippe, vor der ihre Mutter sie vor nicht all zu langer Zeit einmal gewarnt hatte. Takoda hatte es vermutlich wieder vergessen, er hatte ein sehr, sehr schlechtes Gedächtnis. Die Hoffnung darauf, dass auch Gendas Worte ihm entfallen würden, würde sich jedoch noch als vergebens erweisen. Die Ältere schritt seufzend auf den Anderen zu, fasste ihn von hinten und zog ihn mit sanfter Gewalt etwas zurück. „Du stehst zu dicht am Abgrund.“, erklärte er sein Tun und der kleine Bruder senkte sein Haupt tief. „Ja.“, bestätigte er dann, „Das tue ich.“ Einen Moment geschah nichts, dann sah er mit verheultem Gesicht auf. Sein Gegenüber zuckte leicht zusammen, er weinte nicht oft. Wobei er in diesem Moment alles Recht dazu hatte. Er verfügte über mehr Verstand, als man ihm zutraute. „Was tun wir jetzt, Serenka?“, sprach der Kleine da weiter, „Ich meine... hast du mich überhaupt noch lieb? Du... hattest mich nie lieb, ich denke.“ Er wandte sich schluchzend ab, entfernte sich ein paar Schritte und kehrte seinem Bruder den Rücken. Letzterer sah ihm entsetzt nach. Was sagte er da? „Ich... was?“, erst nach einigen Augenblicken verstand er die Worte, „Nun einmal langsam, bittesehr!“ Es erschütterte ihn etwas, dass der Jüngere tatsächlich dachte, er würde ihn nicht mögen und mit einem Mal biss ihn sein Gewissen. Serenka liebte, vergötterte ihre Mutter, oder hatte es zumindest getan. Aber Takoda bekam mehr Aufmerksamkeit als er, denn er war krank. Er hatte es nie ganz geschafft, damit klar zu kommen, seine Eifersucht beschämte ihn, aber er konnte sie nicht verdrängen. Das alles hatte jedoch nichts mit gern haben oder nicht zu tun. Er folgte ihm schnaubend die wenigen Schritte und drehte das nun weinende Kind abermals zu sich um. „Du sprichst Unsinn! Ich liebe dich und habe dich immer geliebt, du bist mein Bruder, egal, was geschieht.“, er zwang sich zu einem Lächeln, „Was wir tun, liegt auf der Hand., wir gehen schlicht nach Hause und schauen einmal, wie es da so aussieht. Genda spricht viel, wenn der Tag lang ist, wer weiß, vielleicht ist es ja nur halb so schlimm, wie es klingt?“ Das war möglich, aber Takoda glaubte es nicht. Er konnte es nicht, es klang einfach zu einleuchtend, wenn selbst er es verstehen konnte. Im Gegenteil, es hätte ihm viel früher auffallen müssen, er hatte doch einen Spiegel, er wusste doch, wie er aussah! Nicht ein einziges Haar hatte er mit Uda Magafi gemeinsam, während sein Gesicht mit dem von Imera beinahe identisch war! Wie idiotisch, warum war da nie jemand drauf gekommen? Er erschauderte. Der Ältere nahm ihn an der Hand. „Komm.“, forderte er, „Wir wollen nun nachsehen, was unsere Eltern dazu sagen, einverstanden?“ Zuhause war bloß Chatgaia. Sie saß am Küchentisch und sah nicht auf, als ihre beiden Söhne den Raum betraten. Instinktiv wusste sie, was als nächstes geschehen würde – dazu musste sie keine Seherin sein. Ihr angeschwollenes Gesicht verbarg sie hinter einer Haarsträhne. „Hallo Mama.“, begrüßte Serenka sie zunächst einmal und allein an seinem Ton erkannte sie, dass er es wusste, „Vorhin sind Takoda und meine Wenigkeit auf Genda Timaro getroffen... nun ja. Er hat ziemlich harte Worte über dich verloren und dir gar schreckliche Dinge unterstellt. Ich glaube nicht, dass sie wahr sind, bei allen Göttern, aber für den Fall, dass sie stimmen – hat er Recht?“ Er sprach absichtlich nicht aus, worum es sich genau handelte. Es war eine Art Test an die Frau, die er am meisten liebte. Er hoffte, sie würde ihn nicht enttäuschen. Er hoffte, sie würde „Welche Dinge?“ fragen. Sie tat es nicht. „Wie er es formuliert hat, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen.“, erwiderte sie stattdessen, ohne eines der Kinder dabei anzusehen oder sich überhaupt irgendwie zu regen, „Eine eindeutige Antwort kann ich euch nicht geben. Es ist gut möglich. Es ist... wahrscheinlicher, als dass alles so ist, wie es sein sollte. Ich bin im Fehler. Mehr müsst ihr nicht fragen, denn mehr weiß ich nicht.“ Einen Moment lang regte sich nichts, dann fasste Serenka seinem kleinen Bruder sachte an die Schulter. Als dieser daraufhin aufsah, erkannte er in den roten Augen eine gewisse Strenge, die er ansonsten nur von seinem Vater kannte... nein, dem Mann seiner Mutter. Er hatte ihre Antwort nicht ganz verstanden, wenn er ehrlich war, und war so in erster Linie etwas überfordert, was den Schock und das sich langsam bildende Verständnis für diese fatale Situation kurzzeitig überdeckte. „Geh jetzt in dein Zimmer.“, verlangte der Ältere da, „Rasch! Ich schaue nachher nach dir.“ Er konnte nicht anders, als zu gehorchen, denn dem strengen Blick von Uda Magafi konnten sich bloß die Wenigsten widersetzen. Wo er wohl war...? Serenka wartete, bis er hörte, dass sich die Zimmertür seines kleinen Bruders schloss. „Wo ist Vater?“ „Weg.“ „Kommt er wieder?“ „Wenn er möchte.“ Sie beachtete ihn kaum. Er kam sich vor wie ein kleines Kind, dass seine Eltern bereits stundenlang mit irgendwelchem Spielen genervt hatte und nun nur noch teilnahmslose, erzwungene Halb-Aufmerksamkeit bekam. Er schnaubte leise. Konnte sie sich das im Moment wirklich erlauben...? „Du betrügst ihn wirklich?“ „So nennt man das.“ „Warum?!“ „...“ Sie saß starr da, trotz ihrer Verletzung und ihrer Schande stolzer und schöner denn je, doch damit betörte sie ihren älteren Sohn nun nicht mehr. Er liebte sie von ganzem Herzen... aber seinen Vater liebte er auch. „Und Takoda ist wahrscheinlich... mein Halbbruder?“ „So sieht es aus.“ Serenka ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass die Knöchel weiß hervor traten. Unmerklich spannte er seinen kompletten Körper an. Diese törichte Frau... „Nun gut.“, er gab nicht auf und versuchte mit bebender Stimme weiter, sie aus ihrer aufgesetzten Ignoranz zu ziehen, „Du betrügst deinen Mann mit deinem Neffen, schiebst ihm ein Kind von ersterem unter, das vermutlich dank der schmutzigen Verbindung seiner Eltern todkrank ist und als es aufgedeckt wird, ist es dir völlig gleich, wohin dein rechtmäßiger Gatte verschwindet und was dein behinderter kleiner Sohn davon denkt? Wunderbar. Ich bin beeindruckt.“ Sie rührte sich minimal, belohnt seinen Einsatz mit einem beinahe gelangweilten Blick. Ihre Frage darauf brachte seinen Geduldsfaden zum reißen. „Warum erzählst du mir Dinge, die ich selbst längst weiß, kleiner Junge?“ Hätte er in diesem Moment nicht gesehen, dass ihr schönes Gesicht verletzt war, dann hätte er sie vielleicht geschlagen. Er war im Nachhinein froh, es nicht getan zu haben, denn dazu hatte er nicht das Recht, aber wäre sein Vater ihm nicht zuvor gekommen, dann hätte er es sicherlich getan. „Und dann sitzt du hier?!“, schrie er sie an, „Tu etwas! Suche deinen Mann! Tröste deinen Sohn! Entschuldige dich! TU ETWAS!“ Er hatte das Gefühl, sie ärgerte ihn mit Absicht, als das einzige, was sie darauf tat, ein leichtes Schulterzucken war. Dann erhob sie sich tatsächlich, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen, sondern begab sich an die Küchenzeile, um das angefangene Essen fertig zu machen. „Und was würde das bringen?“ Sie schnitt seelenruhig Gemüse, wie sie es in letzter Zeit oft getan hatte, als sei nichts geschehen. Heimlich war sie gespannt auf seine Antwort, ließ es sich aber nicht anmerken. Was konnte sie schon tun? Takoda töten? Es gab nun einmal Dinge, die man nicht wieder rückgängig machen konnte. Dass sie nach ihrer erneuten Ankunft in der Wüste wieder dem Verlangen nach dem jüngeren Mann erlegen war, war ein großer Fehler gewesen, dass man es heraus gefunden hatte, war eben dumm gelaufen. Aber sie konnte es nun nicht mehr ändern. Takoda würde ihren Trost nicht wollen... er sollte sich ausruhen und dann abwarten, was aus seiner Familie wurde. Es würde sich sicher eine Lösung finden, das würde der größte Trost für das nun sicherlich sehr verwirrte Kind sein. Es würde alles wieder in Ordnung kommen – musste, allein wegen der Gesundheit des Jungen... die Uda Magafi an sich egal sein konnte. Aber ihre Götter sagten ihr, dass sie das nicht war und nie sein würde. Was ihr Ehemann nun weiter tun wollte, lag bei ihm. Sie hoffte, er setzte sich nicht in die nächstbeste Flugmaschine und ließ sie alle hier, ohne noch ein Wort mit ihr zu wechseln... aber selbst, wenn er das tat, war es sein Recht. Jedoch musste er zumindest Serenkas Vater bleiben, denn dessen Erzeuger war er ohne Zweifel. Sie zur Frau würde er ohnehin nicht mehr wollen. Seine Schande war zu groß. Aber es schmerzte sie trotzdem... Sie bemerkte, dass der Junge langsam auf sie zutrat. Selbst, wenn sie nicht darauf geachtete hätte, hätte sie es seinem bedachten Gang zu Trotz gehört, denn er hatte seine hochhakigen Schuhe nicht ausgezogen. Er mochte solche Fußbekleidung, weil er dank ihr neben seinen Klassenkameraden nicht so winzig wirkte, aber das war nun nebensächlich. Sie ließ sich von ihm mit sanfter Gewalt umdrehen, worauf sein hübsches Gesicht, das dem seines Vaters so ähnlich sah, direkt vor ihrem war. Er war ihr unangenehm nah, aber die Absichten in seinen roten Augen erschlossen sich ihr nicht. „Und was würde das bringen?“, wiederholte er dann ihre Worte von zuvor erstaunlich leise und brüchig, „Du hättest eine Chance darauf gehabt, meine Liebe nicht völlig zu verlieren.“ Er wandte sich ab und schritt zur Tür. „Die Zeit, in der du meine Mutter warst, war wundervoll.“ Dann verschwand er. -- Imera war vollkommen ahnungslos. Er betrat sein Haus, als es dämmerte, wie jeden Tag. Es war still, doch bereits vor der Küchentür wurde er abgefangen. Obwohl er nicht der Hellste war, war er verunsichert, als seine älteste Tochter, wie auch sein gefühlter Sohn den selben Gesichtsausdruck hatten, wo sie sonst nur selten einer Meinung waren. Verwundert nickte er ihnen zu und entledigte sich seiner Schuhe, ehe er sich ihnen entgegenstellte. „Guten Abend.“, machte er, sich keine Mühe gebend, seine Verwunderung zu verstecken und registrierte am Rande, dass es anders als sonst zu dieser Zeit nicht nach Essen roch. Irgendetwas war hier doch faul... „Wir müssen reden.“, knurrte Genda darauf nur und Teneris rosa-rote Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Der Mann erschauderte. „Okay...“, kam dann gedehnt, „Setzen wir uns?“ Wieder ging der Jüngere nicht darauf ein. „Ich habe dich gesehen.“, sprach er es ohne Zögern aus und seine kleine Schwester erschauderte kurz, ließ sich ansonsten aber nichts weiter anmerken. Sie wäre froh gewesen, wenn Samili hätte bleiben können, aber Genda war der Meinung gewesen, dass man das im engen Familienkreis klären sollte und so hatte er sie, nachdem sie sich sehr lange in seinem Zimmer unterhalten hatten, nach Hause geschickt. Sie schienen sich nun besser zu verstehen, was die junge Frau verwunderte, aber nicht stören sollte. Je mehr Frieden es im Moment um sie herum gab, desto besser. Wie immer war das Dorfoberhaupt im Geiste nicht besonders schnell. „Gesehen? Ich... sehe dich auch...“ Der Jüngere schnaubte verächtlich, als der den verwunderte Blick bemerkte, der nun sein Gesicht genau musterte. Ja, verdammt, er war von einem kleinen Jungen in Rüschenklamotten verprügelt worden, als ob es im Moment nichts wichtigeres gegeben hätte, Himmel... „Schalte ein einziges Mal in deinem Leben dein Hirn ein!“, verlangte er genervt, „Ich habe euch gesehen! Dich... und deine Tante. In dieser komischen kleinen Gasse. Und ich kenne ihr Geheimnis – ich wette, du hast es nicht kapiert, obwohl es reichlich offensichtlich war, nicht?“ Dem Mann klappte die Kinnlade herunter. Teneri wandte sich ernüchtert ab. Wie hatte er das tun können? Wie hatte er ihnen das antun können? Ihre Mutter hatte es geahnt! Deswegen war ihr Baby jetzt tot! Die Enttäuschung ließ irgendetwas in ihrem Inneren zerbrechen. Es... tat weh. „Wie...?“, keuchte Imera nur und erbleichte. Er hatte ihn gesehen? Toll, nun wusste er, warum er die ganze Zeit über ein so mulmiges Gefühl gehabt hatte! Als Sohn einer Himmelsblüterin war er den Göttern nicht so fern wie andere Menschen es waren... man hatte ihn vorwarnen wollen... und er war zu taub gewesen. Lächerlich. Er war und blieb nun einmal ein Idiot. „Ja, wie!“, fuhr Genda ihn an und seine Stimme wurde unwillkürlich lauter. Er riss sich bereits mit aller Macht zusammen. Er wollte sich auf ihn stürzen und ihn töten für seine Taten! Aber er tat es nicht. In Absprache mit der älteren seiner Schwestern hatte er schließlich doch entschieden, diese „Sache“ mit Takoda nicht ihre Mutter wissen zu lassen... das wäre unnötig gewesen und hätte das Ganze bloß noch schwieriger gemacht. Sie litt im Moment ohnehin genug. „Wie habe ich mich auch gefragt!“, machte der Junge da weiter, „Wie konntest du nur?! Wie konntest du uns alle verraten?! Du bist das Dorfoberhaupt! Der Mann meiner Mutter! Unser Vater! Warum?!“ Es dauerte etwas, bis Imera antwortete. Er hielt zunächst den Blick gesenkt, erschauderte und ballte seine Hände zu Fäusten. Dann sah er mit einem unbeschreiblichen Ausdruck zu den Kindern auf. Beinahe stolz... aber voller Reue. „Weil ich ein widerlicher, unvernünftiger Idiot bin.“ Er machte sich nicht die Mühe, irgendwelche Ausreden zu erfinden. Spontan war er darin ohnehin nie gut gewesen, einmal davon abgesehen dass er sich sein letztes bisschen hart erkämpfte Würde erhalten wollte, indem er zu seinen Taten stand. Das hatte er verdient... eine gerechte Strafe für seine Dummheiten. Aber seine arme Familie doch nicht... Dabei war er sich so sicher gewesen, über seine schöne Tante hinweg zu sein. Er hatte sich auf sie gefreut, rein im familiären Sinne und dann hatte sie plötzlich vor ihm gestanden und hatte ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit bereits irgendwie erregt. Er schämte sich dessen zutiefst, würde aber alle Konsequenzen tragen. Zu hoffen blieb nur, dass Lilliann ihm nicht all zu wütend sein würde... das würde sie. Nein, zu hoffen war eher, dass sie ihm wieder verzeihen konnte... Das würde sie können, dachte sich unterdessen die Frau, die von innen an die Schlafzimmertüre lehnte und dem Gespräch lauschte. Die Kinder dachten, sie würde schlafen... das tat sie nicht. Aber es musste alles wieder in Ordnung kommen... sie vertrug keinen Unfrieden in der Familie im Moment. Ihre Liebe zu Imera war gigantisch... aber ihr Vertrauen kaum noch vorhanden. Er würde es sich wieder erkämpfen müssen. Aber so lang er das tat und es ihm nicht einfach egal war, war es nur halb so schlimm, so versuchte sie es sich, einzureden. „Schön, dass du das selbst weißt!“, sprach nun Teneri weiter, ihn aus nassen Augen ansehend. Nass, aber stark. Es waren die Augen einer Kämpferin. „Aber was willst du jetzt tun? Und vor allen Dingen, weißt du denn von dem, was dir Chatgaia laut Genda hat mitteilen wollen?!“ Der Mann hob seine Brauen leicht, wandte sich wieder dem Jungen zu, der vor Wut zitterte und sich auf seine Unterlippe biss. Da hatte er wohl etwas missverstanden. „Chatgaia hat mir deiner Meinung etwas sagen wollen? Und du weißt, was es ist?! Das verwundert mich.“ Er war ehrlich, auch wenn er arroganter klang, als er gewollt hatte. Arrogant zu sein konnte er sich im Moment wahrlich nicht erlauben. Eine kalte Schauer überkam ihn, als es ihm langsam dämmerte, was seine Situation alles bedeuten konnte... „Sollte es eigentlich nicht!“, antwortete man ihm da, „Deine Dummheit solltest du eigentlich kennen, aber nun gut, ich helfe dir. Deine tolle Tante hat Takoda angesprochen... sie hat dich gefragt, was du tun würdest, wenn er dein Sohn wäre... hat dich das nicht stutzig gemacht?!“ Augenscheinlich nicht. Der Mann schüttelte irritiert den Kopf. Er erinnerte sich in der Tat an diese Frage... und auch später hatte sie noch ein paar Mal von ihrem jüngeren Sohn gesprochen, so wie bisher bei fast jedem Treffen getan hatte. Was war schon dabei? „Sie spricht öfters von dem Kleinen.“, entgegnete er so auch ehrlich ahnungslos und beide Kinder warfen sich zeitgleich den selben genervten Blick zu, ehe Genda ihn über den Sachverhalt aufklärte. Er sollte es wissen! „Deine Schlampe war hier zu der Zeit, als er gezeugt wurde! Ihr habt ihn gemacht, deshalb ist er krank! Takoda ist dein Sohn, Imera!“ Noch ehe der Mann darauf etwas erwidern konnte, öffnete sich die Schlafzimmertür. Lillianns Gesicht war bleich, als sie ihrem Gatten entgegentrat. Sie hatte es gehört. Genda schlug sich eine Hand vor den Mund – augenscheinlich war er zu laut gewesen. Vor Anspannung begann er zu zittern, denn so sehr er seinen Ziehvater auch verabscheute, er wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn seine Mutter sich von ihm trennte. Das Paar hatte immerhin zwei Töchter hervorgebracht, die darunter sehr leiden würden. Es wäre eine Schande gewesen. Es würde eine sein. „Hast... du das gewusst?“, fragte die Frau leise und zur Überraschung aller Anwesenden begann sie zu lächeln, „Das... das freut mich! Während ich heute ein Kind verloren habe, hast du dennoch eines gewonnen... dann muss ich mich auch nicht so... schuldig fühlen...“ Imera wusste nicht, was er erwidern sollte. Kind verloren? Gewonnen? Takoda?! Träumte er. „Mama... hatte eine Fehlgeburt...“, half Teneri ihm kleinlaut, die Situation zumindest im Ansatz zu verstehen und erschauderte, „Ich glaube... weil du sie traurig gemacht hast.“ „Nein!“, widersprach ihre Mutter ihr noch immer apathisch lächelnd, „Alles ist gut so. Dein Vater hat einen Sohn... ich habe ihm nie einen schenken können... einen Erben. Für mich ist kein Platz...“ Sie taumelte an ihm vorbei und aus der Tür hinaus. Genda wollte ihr zunächst folgen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Irgendetwas sagte ihm, dass sie zurückkehren würde, wohlbehalten, denn sie war stark. Und so hielt er geistesgegenwärtig auch Imera zurück, der ihr in seiner grenzenlosen Dummheit einfach nachstürzen wollte. -- Serenka war verzweifelt. Beinahe grob strich er durch das Haar seines kleinen Bruders, während dieser apathisch starrend und flach atmend in seinem Bett lag und sich seit Stunden nicht mehr gerührt hatte. Fast hätte er einen Anfall bekommen... Der Ältere seufzte erschüttert. Als kleiner Junge hatte Takoda immer mal wieder solche Krankheitsanfälle gehabt, es war ein grausames Bild gewesen, wie das Kind zusammengebrochen war, die Augen verdreht hatte. Wie seine Glieder wahllos gezuckt hatten und er nicht mehr atmen hatte können. Mayora und seine Kollegen hatten in dieser Zeit fieberhaft nach Medikamenten gesucht, die dieses Leiden, das in Stresssituationen auftrat, vermeiden zu können oder zumindest die Häufigkeit des Auftretens zu lindern und waren recht erfolgreich gewesen. So hatte der ältere Bruder ihm sofort, als er bemerkt hatte, dass sich etwas in dieser Richtung ankündigte, Medizin eingeflößt und so wohl auch gerettet... er erschauderte. Leute wie der Kleine starben unbehandelt beim Eintritt in die Pubertät. Takoda hatte diesen bereits knapp hinter sich und war so recht alt für einen Betroffenen und durch seine gute ärztliche Versorgung hatte man ihm ein noch höheres Alter prophezeit, dennoch konnte er nicht mehr das aushalten, was er fünf Jahre zuvor noch vergleichsweise leicht hatte einstecken können. Einen Anfall in seinem Alter hätte ihn töten können... Serenka schüttelte sich bei dem Gedanken daran, dass er dem Jüngeren aller Wahrscheinlichkeit nach gerade das Leben gerettet hatte. Das war alles so fürchterlich... Er erschreckte sich, als er die leise, brüchige Stimme des Kleinen vernahm. „Was... wird jetzt aus mir?“, wollte er wissen, ohne sich jedoch weiter zu regen. Er sah den Älteren nicht an, zeigte kein Zeichen der Besserung. Der Bruder dachte nach. Einen Moment lang fragte er sich selbst, ob diese Frage berechtigt gewesen war oder nicht. Er versuchte, zu antworten. „Du sorgst dich zu sehr. Alles wird gut, wir lieben dich.“ Er wartete kurz, dann musste er lächeln. Der Atem klang mit einem Mal etwas ruhiger, das Kind entspannter... noch während der große Bruder gesprochen hatte, war er eingeschlafen. Seltsam. Aber es war gut, denn so lange er schlief, war die Gefahr, dass ihm etwas zustieße, gering. Und bei der Menge an Medikamenten tat er ersteres meist gut... -- Ein leichter Wind fuhr unaufhörlich über die unendliche öde Landschaft hinweg. Das war schon immer so gewesen... Lilliann fragte sich, ob es überhaupt jemals eine Zeit gegeben hatte, in der ihre Heimat anders ausgesehen hatte. Freundlich, vielleicht? Ihre Hände lagen auf ihrem noch immer schmerzendem Unterleib. Durch Mayoras Medikamente war es erträglich geworden, doch sie gehörte noch immer ins Bett. Ihre Fehlgeburt war erst wenige Stunden her, was sie tat, war Irrsinn. Aber es war ihr egal. Sie senkte den Blick auf die sehr simple steinerne Platte am Boden vor ihr. Viele waren auf dem einsamen Gelände um sie herum verteilt, es war gepflastert damit, aber die Meisten waren kaum noch zu erkennen, denn der Wind trug den Staub der nahen Wüste über das Ödland und versteckte diese letzten Erinnerungen. Doch die vor ihren Füßen war etwas besonderes. Die Frau verengte ihre blauen Augen leicht. In den traditionellen Zeichen war der Name ihres Verlobten darauf eingemeißelt. Jiro Raatati. Nicht nur ihrem Gesundheitszustand ging ihr Handeln zum Trotz, es war auch ein Regelverstoß. Laut der Tradition war das Betreten des Friedhofes den Lebenden nur dann erlaubt, wenn sie einem Verstorbenen hier die letzte Ehre erweisen wollten, ansonsten brauchten die sterblichen Überreste absolute Ruhe. So lange auch nur ein einziger Teil des Körpers unter dem Boden darauf wartete, von der Wüstenerde für immer verschluckt zu werden, so lange konnte auch seine Seele zurückgerufen werden – also auch noch viele Jahre nach dem Tod, denn Knochen hielten bekanntlich oft noch lang. Körper verstarben niemals ohne Grund und so verstand es sich von selbst, dass die Geister nie wieder in ihre Hüllen zurückkehren konnten. Stattdessen wurden sie durch die Störung der Lebenden bei ihrem weiten Weg durch Raum und Zeit aufgehalten... wenn es zu oft geschah, konnten sie ihn gelegentlich überhaupt nicht mehr fortsetzen und so zu bösen Windgeistern werden, die bis zum Ende in der Welt gefangen waren, in der sie zuletzt geboren worden waren. Das war schlecht für die Sterblichen und traurig für die Toten. Lilliann war sich dessen bewusst und sie fürchtete sich davor, dennoch hatte irgendetwas sie hierher getrieben. Sie hatte zu Jiro gemusst. Auf dem Weg hierher hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie hier erwartet wurde. Sie hatte damit gerechnet, dass er hier stand und sich grinsend zu ihr umdrehte, um sie dann zu fragen, warum sie ihn so lange hatte warten lassen. Aber nichts war gewesen. Der Ort der letzten Ewigkeit war still und einsam und dennoch hatte sie den verstaubten Stein, der die Stelle markierte, an der der damals junge Mann begraben worden war, sofort gefunden. Nun stand sie da und fühlte sich beobachtet, von hunderten Augenpaaren längst vergangener Generationen, die sehr wütend waren über ihr törichtes Handeln. „Ich sollte nicht hier sein.“, bekannte sie leise, aber verständlich, „Aber ich habe zu dir gemusst, Jiro.“ Er antwortete ihr nicht. Genauso wie viele Jahre zuvor, wenn sie ihn in Gedanken angesprochen hatte. Ihr letzter gemeinsamer Abend war furchtbar lange her. Längst hätte sie vergessen gehabt, wie seine Stimme geklungen hatte, währe die Gendas der seines Vaters nicht so ähnlich gewesen. „Weißt du, was geschehen ist?“, redete sie nach einer Weile einfach weiter, als sie sich damit abgefunden hatte, keine Reaktion zu erhalten, „Ich wage es nicht auszusprechen. Wenn es einen Tag gibt, der mit seiner Abartigkeit an deinen Todestag heran reicht, dann war er heute. Ich... bin verzweifelt... hilf mir doch!“ Er half ihr nicht. Sie stand da. Ein heftiger Wind ließ sie erschaudern. Die Sonne war noch nicht hinter den Dünen verschwunden, noch konnte kein Hauch in der ganzen Oase kühl sein... sie wusste, was es bedeutete. Hier gehörst du nicht hin. Geh weg. Als Nicht-Magierin bildete sie sich diese Worte letztendlich bloß ein, doch es erschreckte sie und machte sie wütend. Die Frau ballte ihre Hände verkrampft zu Fäusten, während sie gegen ihre Tränen kämpfte. Nicht einmal im Angesicht längst vergangener Leben wollte sie sich diese Blöße geben, denn auch von Geistern ließ sie sich nicht verspotten! „Du hilfst mir nicht, Jiro!“, schrie sie wütend, „Du Feigling! Du hast mich allein gelassen mit Genda, wegen dir geht es mir an diesem Tag so schlecht!“ Auf Lillis Lippen lag noch so viel mehr, was sie dem längst toten Mann sagen wollte, aber ihr erschloss sich mit einem Mal, wie unsinnig das doch war. Allein, ihn als Mann zu bezeichnen... er war sechzehn Jahre alt gewesen, als sein Leben geendet hatte, fast noch ein Junge. Sie war mittlerweile beinahe eine Frau mittleren Alters. Beinahe. Sie schnappte nach Luft und wandte sich ab, um den verbotenen Ort zu verlassen. -- Die nächsten Tage vergingen wie in einem Traum. Imera war ein Fremder in seinem Haus, während seine Familie ihm geisterhaft erschien. Lediglich Namini schenkte ihm ab und an scheue liebevolle Blicke, die er nur schwach erwidern konnte. In Mayoras Haus bekam man davon nicht viel mit. Samili besuchte oft Teneri, so sagte sie, und jedes Mal fragte sie im Namen ihrer Eltern nach, ob Lilliann Besuch wollte, doch immer wieder kam zurück, dass ihr Ruhe im Augenblick ausreichte, sie sich aber sehr über die Bemühungen freute. Dass sie irgendwo die Wahrheit sprach, ließen die Götter des Wassers den grünhaarigen Mann wissen und so ließen er und seine Frau seine Schwägerin zunächst einmal in Ruhe. Irritierender war dabei schon, dass Uda Magafi mit einem Mal unsagbar viel Arbeit in der Station gefunden hatte, wie es schien. Er war bereits vor seiner Tochter dort und blieb noch, wenn sie längst heim gegangen war... und hatte scheinbar irre viel zu tun, denn er hatte nicht die Zeit, Choraly zu erklären, was los war. Auch der Rest der Familie war unauffindbar, von Odohri wussten sie jedoch, dass es daran lag, dass sie sich im Moment sehr um Takoda kümmern mussten, dem die Hitze scheinbar doch zu schaffen machte. Der Junge hatte seinem besten Freund sofort angeboten, seinen Vater vorbei zu schicken, aber der hatte dankend abgelehnt und gemeint, sie hätten alles im Griff. Wirklich glauben tat er ihm das aber nicht, er meldete sich nicht mehr und hatte ihn nicht einmal ins Haus gelassen, als er nach ihm hatte sehen wollen. Irgendwann in nächster Zeit würde er ihn noch einmal besuchen... Er ahnte nicht, dass Serenka genügend mit seiner zerbrochenen Familie zu kämpfen hatte und mit seiner Besorgnis nur wenig anfangen konnte. Takoda kam nicht mehr aus dem Bett, mit seiner Mutter wollte er nicht mehr sprechen und sein Vater war nicht da... es war wirklich furchtbar. Nicht einmal das bemerkte er in den Bemühungen, in denen er steckte, bis der Morgen kam, der ihn aus seinem verschwommenem Traum riss. Er saß gerade am Tisch und würgte sich ein trockenes Kaliri-Brot hinunter, als es geschah. Wie jeden Morgen hatte Chatgaia ihm ein Frühstück vorbereitet, das in der Wüste nicht besser sein konnte, doch er rührte es nicht an. In seinen ganzen Bemühungen um seinen Bruder hatte er nicht vergessen, wie sehr diese Frau ihn verletzt hatte. So versorgte er sich mehr schlecht als recht selbst... immerhin hatte er so herausgefunden, warum es ganz praktisch sein konnte, zumindest so selbstständig zu sein, dass man sich allein anziehen konnte. An diesem Morgen endete jedenfalls seine Einsamkeit, obgleich er sich sein Kaliri-Brot noch länger weiter selbst machen musste. Ganz unverhofft und unangekündigt öffnete sich mit einem Mal die Haustüre und die Person die darauf eintrat war niemand geringeres als Uda Magafi, der zunächst einmal inne hielt, nachdem er hinter sich geschlossen hatte. Serenka wäre beinahe das Essen wieder aus dem Mund gefallen. Er war zurückgekommen? Spielten ihm seine Sinne jetzt schon einen Streich? Die Reaktion seiner Mutter, die ihrem Mann verwirrt ein paar Schritte entgegen schritt, ließ ihn diesen Gedanken jedoch schnell wieder vergessen. Unmerklich verkrampfte er sich. „Wie geht es deinem Gesicht?“, wollte der Mann von ihr wissen und sie brauchte zunächst einen Augenblick, um die Situation zu registrieren und schließlich zu antworten. „Ich spüre kaum noch Schmerz darin, danke...“ Sie sahen sich einige Zeit lang bloß stumm in die Augen. Ihren immer nervöser werdenden Sohn ignorierten sie dabei. Erst als der Mann bemerkte, dass sein Gegenüber zum Sprechen ansetzen wollte, wandte er den Blick demonstrativ von ihr ab und seiner Hand zu, in der er eine selbst gepflückte, aber hübsche Blume hielt. Sie sollte nichts sagen, sie sollte sich ihre Worte sparen. Ihre Taten waren nicht zu entschuldigen, für so etwas brauchte er keine Erklärung, im Gegenteil, so wenige Informationen wie möglich waren am angenehmsten, denn so konnte man leichter vergessen. Genau so wie erhofft blieb Chatgaia stumm, so dachte er sich. In Wahrheit hatten ihre Götter sie dezent darauf hingewiesen... „Es war ein Fehler, dich zu schlagen.“, sprach er so weiter, „Das ist nicht mein Recht und obendrein vollkommen unehrenhaft. Ich hoffe, du nimmst diese Blume an und lässt mich wieder in deinem Haus wohnen...“ Dass sie ihn eigentlich nie herausgeworfen hatte, wunderte die Frau noch am wenigsten. Verwirrt nahm sie die kleine Pflanze entgegen und konnte es sich dann doch nicht verkneifen, auf das wirkliche Thema zurück zu kommen. „Du kehrst einfach so zurück?“, wunderte sie sich, „Was... was wird aus uns? Und Takodachen?“ Uda Magafi lächelte leicht. Nicht einmal die Feuergötter schienen zu bemerken, dass es kein ganz ehrliches Lächeln war. Er hatte viel nachgedacht. „Eine überflüssige Frage!“, entgegnete er, „Ich werde darüber hinweg sehen. Sprich nicht mehr davon – nie wieder und in der Stadt doppelt nicht, es würde mich den letzten kümmerlichen Rest meines Rufes kosten. So jedoch kann ich damit leben.“ Einen Moment hielt er inne, dann begann er tatsächlich zu lachen. „Und Takoda? Denkst du, ich lasse mir meinen Sohn, den ich geliebt und aufgezogen habe, von einem Deppen stehlen, der nicht einmal weiß, was ein Rat ist? Ich bitte dich!“ -- Daraufhin hatte Serenka in seiner unendlich Erleichterung wieder das Haus verlassen. Die Entscheidung seines Vaters verwunderte ihn extrem – er hatte ihn anders eingeschätzt... Doch für die Allgemeinheit war es um so besser. Ein Senatoren-Ehepaar musste schließlich eine gewisse Vorbildfunktion für die Bevölkerung tragen... und ihn freute es. Es war schließlich seine Familie, um die es ging. Er wusste nicht, ob er es ertragen hätte, wenn seine Eltern sich wirklich getrennt hätten. Mit einem Mal fand er sich mitten im Dorf wieder. Seine Gedanken hatten ihn blind hierher getragen und nun fragte er sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Ablenkung wird dir gut tun. Er nickte der Stimme in seinem Kopf unmerklich zu. Sie hatte Recht, zu sehr hatte er sich eingespannt, zu schmerzhaft war die Situation gewesen. Sein Herz schickte ihn zu Odohri, doch er hielt nach wenigen Schritten in Richtung des Hauses seines besten Freundes wieder inne. Er würde schwach werden. Er würde ihm alles erzählen, was niemals seinen Mund verlassen durfte. Das ging nicht, am Ende hätte er damit die zerbrechliche Beziehung zwischen seinen Eltern zerstört. Ein Seufzen entwich seiner Kehle. Aber er brauchte jemandem zum Reden, jemanden, dem er nicht nah genug stand, als dass er Gefahr laufen würde, das falsche Thema anzusprechen, mit dem er aber immerhin vertraut genug war, um sich in seiner Gegenwart zu entspannen. Ihm fiel jemand ein. „Ich weiß nicht, ob ich es gut oder schlecht finden soll, dass du nicht wegen Kleidung hier bist... gut ist, dass ich dir dann keine neue machen muss, dein Stil ist echt aufwendig... und schlecht... nun ja. Die Treppe einfach nach oben, wenn mein Vater dich nervt, stoße ihn selbige herunter.“ Auf diese Aufforderung würde er sicher nicht zurückkommen, dennoch nickte er und betrat den Wohnbereich des Schneiderhauses. Er war Tafaye sehr dankbar, dass er ihn so einfach zu seiner schüchternen Tochter ließ... Als er unverzüglich auf diese traf, reagierte sie ganz, wie er es sich vorgestellt hatte. Er musste leicht lächeln, als sie geschockt nach Luft schnappte und errötete. „Serenka!“, keuchte sie seinen Namen, „Was... warum...?“ Der Junge seufzte etwas verlegen. Er wusste nichts gescheites zum antworten. „Es gibt nichts, wonach es sich zu fragen lohnen würde. Ich bin einfach so hier, ohne bestimmten Grund.“ Nun erbleichte sie. „Meinetwegen?“, erriet sie und nun war er es, dem das Blut etwas in das Gesicht stieg. Er wusste nicht einmal genau weshalb, vielleicht, weil es bei Jungs und Mädchen in ihrem Alter seltsam wirkte, wenn sie sich gegenseitig besuchten... zumindest in der Stadt, eigentlich hatte er angenommen, dass es in der Wüste einfacher damit war. Aber einfach war hier überhaupt nichts. „Du bist eine sehr nette junge Frau.“, zwang er sich dann zur Antwort, „Ich hatte den Gedanken, wenn meine Füße mich schon einmal in diese Gegend getragen haben, dann könnte ich dir doch auch die Ehre eines Besuches erweisen.“ Sie schien einen Moment äußerst verblüfft zu sein, dann erstrahlte sie. „Ich habe wieder Kuchen gemacht!“, verkündete sie fröhlich, „Setzen wir uns in die Küche?“ „Die Früchte, aus denen du diesen, so muss ich mir eingestehen, äußerst köstlichen Kuchen gemacht hast, nennt man Äpfel. Erstaunlich, dass so etwas hier wächst.“ Kirima lauschte ihrem Gegenüber gespannt. Sie konnte es gar nicht glauben – Serenka Magafi besuchte sie freiwillig, bloß, weil er sie nett fand. War das denn gerecht? Sie fühlte sich mit einem Mal wieder wie ein kleines Mädchen. Einer derart edlen Person entgegen zu sitzen, machte sie unheimlich stolz. Er war wahrlich ein richtiger Prinz... „Dieses Obst gibt es auch erst seit wenigen Jahren...“, entgegnete sie so leise und er nickte... er hatte sich gedacht, dass diese Dinge nicht von selbst hier wachsen konnten. Vermutlich hatte irgendwer von der Station sie hier eingeschleppt. Ihn sollte es nicht stören, er mochte Äpfel, obgleich es eher Früchte für die untere Schicht waren. Wobei der Kuchen dafür wirklich zu gut war... „Du warst heute nicht in der Schule. Und gestern auch nicht.“ Er sah das Mädchen verwundert an. „Woher weißt du das?“ Sie selbst hatte doch bereits ausgelernt, wie konnte sie dann von seiner Abwesenheit wissen? Er blinzelte. Da fiel ihm gerade auf, dass sie wohl doch etwas älter sein musste als er... und etwas größer als er war sie auch, obgleich es durch seine Schuhe kaum auffiel. „Wenn du zur Schule gehst und von dort wieder nach Hause, musst du an der Schneiderei vorbei... ich habe aus dem Fenster gesehen. Ich wollte dich hallo sagen.“ Kirima errötete wieder und begann gedankenverloren an einer ihrer sehr langen, beinahe weißen Haarsträhnen zu spielen. Er lächelte. „Du bist ein sehr freundlicher Mensch.“, stellte er richtig fest, „Deine Mühen und Aufmerksamkeit ehrt mich im höchsten Maße, um ehrlich zu sein, und diese Worte bekommen mit Verlaub nur die wenigsten von mir zu hören.“ Sie schien wirklich sehr bemüht um ihn zu sein. Es faszinierte ihn, so etwas kannte er in der Stadt nicht. Alle Leute, die dort um ihn bemüht waren, waren mit ihm verwandt oder wurden dafür bezahlt. Es freute ihn wirklich, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben... irgendwie kam ihm plötzlich, dass ein Abschied von ihr sicher schmerzhaft sein würde, obgleich sie bisher nie sonderlich viel miteinander zu tun gehabt hatten. Sie war immer so verlegen, das war... niedlich... „Diese Worte verdiene ich auch gar nicht, so fürchte ich!“, wisperte sie da auch mit flammendem Gesicht und und gluckste unwillkürlich. Durch ihr außergewöhnlich helles Haar erschien ihr Gesicht noch roter, als es eigentlich war. „Du bist eine ganz... bemerkenswerte Person! Du kommst aus der großen Stadt und obwohl ich nichts über sie weiß, verbindet mich etwas damit, denn ich bin auch in einer geboren... Fides, das sagt dir sicher etwas? Außerdem... habe ich schon immer einmal einen echten Prinzen kennen lernen wollen...“ Sie senkte den Blick. Serenkas Grinsen verschwand, als ihm etwas einfiel. Diese Frage spukte ihm schon länger im Kopf herum... „Ja, Fides ist eine sehr große Stadt, genau so wie Wakawariwa... Es geht mich zwar nichts an, aber du scheinst mir eine interessante Geschichte zu haben. Du wurdest in der zivilisierten Welt geboren, lebst aber nun bei deinem Vater in einem winzigen Wüstendorf und übst die Arbeit einer Schneiderin aus, obgleich deine Hände viel zu zart für diesen Beruf sind. Ich nehme an, die Schlüsselfigur ist deine Mutter... was ist mit ihr geschehen?“ Er hoffte bloß, ihr damit nicht zu nahe getreten zu sein, aber ihre Art zu leben irritierte ihn. Dieses Haus war doch kein Ort für ein Mädchen wie sie... er hatte Mitleid mit ihr gehabt, keine Mutter zu haben musste grausam sein. Dabei hatte er seine eigene von sich gestoßen... aber sie hatte ihm auch das Herz gebrochen. Sie hatte es verdient. Kirima lächelte ihr Feenlächeln. „Meine Mutter verstarb, als ich noch ein Baby gewesen bin. Ich weiß ebenso wenig über sie, wie Genda über seinen Vater weiß. Sie war eine Frau aus einer kleinen Stadt in Mon'dany, hatte blondes Haar, blaue Augen und war ziemlich groß. Und hatte angeblich einen ganz anderen Charakter als ich... mehr kann ich dir nicht über sie erzählen.“, sie senkte kurz den Blick, ehe sie weiter sprach, „Ich habe meinen Papa nie nach ihr gefragt. Ich glaube, sie hat ihn sehr schlimm verletzt... ich möchte keine alten Wunden aufreißen. Jedoch...“ Sie sah wieder zu ihm auf, lächelnd. Ihm war die Fröhlichkeit etwas vergangen, weil er es so traurig fand, dass sie so wenig über die Frau wusste, die sie geboren hatte, doch sie wechselte schnell das Thema. „Du findest meine Hände zu zart für diesen Beruf? Das verstehe ich nicht, wir alle müssen doch arbeiten, selbst deine adlige, wohlhabende Familie tut es, wenn ich nicht irre.“ Sie kicherte und er hob kurz beide Brauen. Ihr Lachen erstickte im Hals, als er über den Tisch nach ihren in der Tat sehr zierlichen, weiblichen Händen griff und sie in seine nahm, sie prüfend musternd. „Total verstochen!“ „Was?“, sie keuchte, erneut aufflammend. Er sah ihr wieder in die Augen, sie weiter haltend. „So bezaubernd die Kleidung auch ist, die du in deiner Leidenschaft für die Kunst des Nähens herstellst, so sehr leiden deine hübschen Finger darunter! Natürlich arbeiten auch wir, aber keine Frau mit solchen Händen wie du muss diese in meinen Kreisen in selbigem Ausmaß wie du benutzen oder besser... abnutzen!“ Sie war erstarrt und einen Augenblick lang fragte er sich irritiert, ob sie ihm überhaupt gelauscht hatte, dann verstand er, was mit ihr los war, und fror selbst etwas ein. Irgendwann räusperte er sich kurz, das war alles, was in den nächsten Sekunden geschah. Der Junge dachte nach. Ihm kam Yivakavi in den Sinn, die vor ihm irgendwie zugegeben hatte, dass sie in Takoda verliebt war. Eine seltsame Liebe zwischen zwei seltsamen, kranken Menschen... Er war nicht krank. Aber er hatte sich darüber geärgert, dass sein kleiner Bruder seinen ersten richtigen Kuss noch vor ihm hatte erleben dürfen. Im Moment gab es nichts, worum er den Jungen beneidete... im Moment war er ihm kurzzeitig beinahe egal. Nur in diesem Moment. Kirima war nett zu ihm... sie sah ihm nach... sie lächelte ihn an und errötete dann... nein, so dumm war er nicht mehr, mit einem Mal kam ihm ein sehr einleuchtender Gedanke. Selbst mit hochrotem Gesicht beugte er sich etwas über den Tisch. Die Tatsache, dass die geliebten Rüschen an seinen beiden Ärmeln in den übrig gebliebenen Krümeln seines Kuchenstücks landeten, war ihm mit einem Mal gleich. Sie kam ihm etwas entgegen, damit sie sich erreichen konnten. Einen Moment zögerten beide, dann lächelte er und versuchte sich schüchtern daran, zum ersten Mal in seinem Leben ein Mädchen zu küssen. Er mochte das warme Gefühl darauf, ihre scheuen Lippen, die seine sanft berührten und ihr angenehmer Duft nach irgendeiner Seife, die es nur hier gab. Das war eine wahrlich gute Ablenkung... -- Lilliann wollte keine Ablenkung. Sie war an diesem Morgen ungeahnt beschäftigt. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen zurückgezogen und nachgedacht. Immerzu waren ihre Gedanken zu Jiro gewandert, zu Jiro, den sie noch immer liebte, den sie nie aufgehört hatte zu lieben und dem sie hätte treu bleiben müssen, obgleich sie sehr glücklich um das Leben ihrer Töchter gestimmt war. Sie liebte ihre Mädchen natürlich über alles. Hoffentlich würden sie klar kommen, sie musste noch mit beiden sprechen, fiel ihr ein, als sie einen Großteil ihrer Klamotten in eine Tasche packte. So oft hatte sie an Jiro gedacht... so oft hatte sie ihm fragen gestellt. Sie lächelte. Und er hatte ihr geantwortet. In der vorangegangenen Nacht, als sie schlaflos und mit so viel Abstand wie möglich neben Imera gelegen hatte, der ebenfalls wach gewesen war. Er schlief seit vielen Nächten nicht mehr, ebenso wie sie. Doch kurzzeitig war sie eingedöst, sicher, damit die Geister sie einfache Menschenfrau in ihren Träumen erreichen konnten, so dachte sie sich. Jiro hatte sie erreicht. Mein dummes Mädchen, hatte er gesagt und den Kopf geschüttelt, Was hast du dir nur dabei gedacht? Das tut dir nicht gut! Sie hatte ihn nicht ganz verstanden, aber nachfragen gekonnt hatte sie auch nicht. Ihr geliebter Jiro. Du solltest dahin gehen, wo du auch wirklich hingehörst. Und wo war das? Wo hatte sie sich wohlgefühlt? Sie lächelte, als sie an die Zeit dachte, in der sie mit ihrem Verlobten, Tai und deren Mutter zusammen gelebt hatte. Sie war glücklich gewesen. Tainini war wie eine Schwester für sie. Bei ihrer Schwester war immer Platz. Zufrieden seufzend schloss sie die Tasche, nachdem sie noch ein Lichtbild von ihrem Liebsten hinzu gelegt hatte. ------------------------ Jiro hat nicht wirklich mit ihr gesprochen XD Die Figur in ihrem Traum hat ihr nur das gesagt, was sie selbst hat hören wollen ^^' Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)