Außenwelt von Memphis (Multistabile Separatrizenmatrix) ================================================================================ Unsichere Komponente -------------------- Es geht nicht darum schwul zu sein, oder nicht. Es geht darum sich auf Menschen einzulassen und jemanden zu vertrauen. Mir fiel es seit jeher nicht sonderlich leicht, mein Misstrauen gegenüber anderen Menschen abzulegen. Wenn ich auf Personen zu gehe,dann immer mit dem Gedanken, sie werden dich nicht leiden können, es sei denn du überzeugst sie vom Gegenteil. Wie ich zugeben muss, ist das eine recht anstrengende Art zu leben und meistens sind mir die Personen nicht wichtig genug um ihre Gunst erwerben zu wollen. Wenn ich wo neu bin, warte ich auf eine Person, die mich vielleicht leiden könnte und wenn ich dies mal gefunden habe, bemühe ich mich um niemanden mehr. Ich kann mich eh nur schwer auf mehr als einen Menschen konzentrieren, fang schnell an, andere zu vernachlässigen. Leider steckt auch in mir der leidige Wunsch jemand haben zu wollen, der mehr nur als Freundschaft für mich empfinden kann. Jemand, der mich liebt, mir Komplimente macht und mir das Gefühl gibt, gemocht zu werden. In gewisser Weise bin ich schon immer in einem Dilemma dieser Art stecken geblieben. Ich möchte keine neuen Menschen kennen lernen, habe schon einen Menschen, der wichtig für mich ist, aber der nie mehr für mich empfinden könnte als Freundschaft. Und tief in mir drin, sagt mir immer wieder etwas, dass man mich nicht lieben kann. Jeder der mich näher kennen lernt, so nah, dass ich mehr von mir Preis gebe als ich sollte, wendet sich auf kurz oder lang von mir ab. Ich bin kein einfacher Mensch und werde wohl zu meinem Leidwesen nie einer werden. Manchmal bin ich voller Bewunderung zu den Menschen, die trotz allem eine Freundschaft mit mir tragen können. Ich erwarte nicht mal mehr von ihnen, dass ich mehr verdient haben könnte als das. Und so kämpft der Wunsch nach Liebe gegen den Hass gegen mich selbst. Meistens gewinnt der Zweit genannte und es ist auch vernünftig. Denjenigen, den ich lieben würde, könnte es mir sowieso nicht zurückgeben und müsste mich zwangsläufig verletzten und das ist das was er am wenigsten wollen würde. Zumindest hatte er das einmal zu mir gesagt. Eigentlich bin ich ihm verfallen, trotz jedes hartnäckigen, logischen Verstandes, der mich sonst davon abhält. Vielleicht kann man sich auch Personen wie ihm nicht verwehren. Man sieht ihn und mag ihn. Zumindest ging es mir so. Wenn man mich fragen würde, was es sei, könnte ich viel aufzählen und in hirnlose Schwärmerei verfallen, das werde ich nicht tun. Er ist einfach ein wunderbarer Mensch für mich und er kann mich leiden. Das muss reichen. Vermutlich kommt bald der Punkt in dem ich ihn enttäuschen werde, um dann wieder meiner Wege zu gehen, weg von Gefühlen, die ich nicht erwidert haben möchte. Ich renne gerne vor ihnen weg, das ist ein Teil meiner Selbst, der dafür sorgt, dass man sich doch einmal von mir abwendet. Wahre Freunde würden über so etwas stehen, aber ich lasse ihnen nicht einmal die Chance, genau solche für mich zu werden. Mein Verhalten bestärkt mich natürlich noch mehr in meinem Glauben keine Liebe verdient zu haben. Aber es ist doch auch so, ich zieh Menschen um mich herum runter. Nach dem sie mich kennen geht es ihnen schlechter. Sie schieben es nicht auf mich, aber ich sehe es. Wenn sie dann von früher erzählen, von schönen Zeiten und sie ein Art Leuchten in den Augen haben, waren es immer Zeiten, in denen sie mich noch nicht kannten. Sie können sich wahrscheinlich auch nie direkt an Ereignisse erinnern, bei denen man gemeinsam Spaß hatte. Ich glaube, sie bilden sich das sowieso nur ein, dass sie mal Spaß hatten in meiner Anwesenheit, aber in jedem Fall nicht aufgrund meiner Anwesenheit. Und trotzdem tut es doch weh, wenn ich mir bekannte Gesichter sehe und mich dann bewusst von ihnen abwende, den Blickkontakt abbreche, kein Wort des Kennens über meine Lippe bringe. Sie damit verletzte, was sie mir antun wollten. Bald ist es wieder soweit. Ein Mensch ist mir so wichtig geworden, dass ich seine Existenz kaum noch ertrage, weil er sie nicht mit mir teilen sollte und vielleicht auch gar nicht will... „Was ist das für ein Bullshit?“, wutentbrannt schmiss der Junge mit der brauen Wuschelmähne mein kleines, blau gebundenes Büchlein der Geheimnisse vor mich hin. Wenn ich in schlimmen Selbstmitleidsphasen bin, schreib ich oft solche Dinge, ein ganzes Buch voller Selbstmitleid und dummen, kleinen Geheimnissen. Das er das jetzt alles gelesen hat, ist okay. Es ging in den Einträgen nicht um ihn. Es ging dort um Menschen vor ihm. Ihm wäre vielleicht bald ein Eintrag dort gewidmet worden, aber noch stand noch nichts von ihm darin. Aber es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. „Mein Leben.“, ich lächelte ihn an. Hätte ich im Moment mein Gesicht im Spiegel gesehen, hätte ich bemerkt wie bitter es aussah, aber zum Glück blieb es mir erspart. Das zornige Gesicht meines besten Freundes reichte mir zu dem schon völlig. „Du kannst doch nicht ernsthaft so über dich denken?“, brüllte er. Sein Gesicht ganz nah vor meines gebeugt. Rot vor Wut. Seine Augen waren etwas glasig. Es war nicht nur Wut, auch Unglauben und vielleicht sogar ein bisschen Verzweiflung. Als ich zur Antwort nur mit den Schultern zuckte, packte er mich gerade an diesen, kam mir noch näher. Ich blickte ihn ausdruckslos an, mied noch nicht seinen Augenkontakt. Kurz schien es, als wollte er mir noch einmal etwas in mein Gesicht schreien, aber dann ließ er mich los und drehte sich abrupt um. Seine Hände hatte er allerdings zu Fäusten geformt. Sein Kopf nach unten gesenkt. Selbst wenn er mir nicht den Rücken zu gedreht hätte, könnte ich seine Augen nicht mehr sehen, sie wären von seinen Haaren verdeckt worden. Kurz drehte er sich wieder zu mir, in seinen Augen glitzerten wieder Tränen. Er hatte beim Lesen wohl geheult. Ich war nicht dabei, ich war duschen gewesen und hatte das Buch nicht weggeräumt gehabt. Ich lese es gerne, wenn ich anfange zu vergessen, wer ich eigentlich bin. „Liebst du mich?“, fragte er mit brüchiger Stimme. Die Frage hätte ich eventuell erwarten könnten, aber ich tat es nicht. Schließlich war der Text noch nicht auf ihn bezogen gewesen. „Ist doch egal, wenn es so wäre.“ Begleitet von einem Schulterzucken. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich mich so wenig mochte, oder? „Verdammte Scheiße! Nein, es ist nicht egal.“ War er so wütend über den Fakt, das er einen schwulen Freund hatte, oder das mir meine Gefühle egal waren? „Das bin doch nur ich. Außerdem geht es da gar nicht um dich.“ Meine Stimme war noch immer völlig ruhig und kühl. Als hätte ich wirklich keine Gefühle. Und ich spürte im Moment auch gar nichts, mein Körper war irgendwie taub, eigentlich alles an mir. „Du tust so, als würdest du gar nicht zählen!“ Er schaute mich wieder direkt an, braune, zornige Augen. Sie bohrten sich förmlich in meine. Schienen etwas zu suchen, aber nichts zu finden. Es würde ihm eh nicht gefallen, wenn er was finden würde. „Tu ich auch nicht. Ich bin unwichtig, glaub mir. Mein Verlust würde auch niemand betrauern.“ Ich hab mir oft vorgestellt, wie es wäre, wenn ich einfach sterben würde. Aber eigentlich wüsste ich niemanden der wirklich lange über mich trauern würde. Nicht mal er, wie er jetzt so vor mir stand und sich sicher wäre, einen großen Verlust zu erleben, wenn es mich nicht mehr gäbe. Er hat viele Freunde, überraschenderweise. Normalerweise bin ich mehr mit Außenseiter befreundet, passen besser zu mir. Er verbrachte zwar oft Zeit mit mir, aber das gilt für viele Menschen, um ihm herum. Wahrscheinlich war er auch nur mit mir befreundet, weil er ein netter Kerl ist und Mitleid hatte. Und wenn ich ihm jetzt unrecht damit tue, ist es egal, tu ich ständig. „Natürlich!“, er schrie wieder und packte mich. Es tat mir leid, dass ich ihn so aufwühlte, es war nicht meine Absicht gewesen. Aber daran könnte ich jetzt auch nichts ändern. „Du würdest nicht lange trauern.“ Schließlich war ich kompliziert, anstrengend und einfach zu ersetzen. Er würde vielleicht erst mal eine kleine Lücke in seiner Zeit haben, aber die könnte er sich relativ schnell stopfen. Der Gedanke schmerzte und sollte genau das tun. Wenn es darum geht mich selbst fertig zu machen, war ich 1A Spitzenklasse. War aber auch schon das einzige was ich konnte. „Woher willst du das wissen?“ Wieder nur ein Schulterzucken von mir. Ich hätte ihm sagen können, dass es immer so ist, wenn ich gehe. Schnell war ich sonst immer ersetzt. Aber ich mochte es ihm nicht sagen. Er mochte nicht mit anderen Leuten verglichen werden. Obwohl er meistens gut abgeschnitten hätte, wenn ich ihn verglichen hätte. Er ist der Mensch, der mich bis jetzt am längsten ertragen hat und bei dem ich mir noch nicht überlegt hatte, bald zu gehen. Das ich gehen würde, wusste ich zwar, aber es wäre nicht so bald gekommen. Wenn das Gespräch jetzt nicht gewesen wäre. Irgendwie macht es mich traurig, aber es ist nicht zu ändern und nichts zu verbessern. Er hat angefangen im Zimmer auf und ab zu tigern. Mich bewusst nicht ansehend, weil er sich gerade zu beruhigen versuchte. Eigentlich sollte ich jetzt etwas sagen, die Situation entschärfen. Alles zurücknehmen was ich gesagt habe, was zwar nicht viel war, aber doch anscheinend schwerwiegender als ich zu erst dachte. Ich könnte ihm beteuern, dass die Phase in der ich das geschrieben habe schon längst vorbei ist. Das ich mich mag, vor Gefühlen nicht wegrennen würde und er mein bester Freund bleiben würde, nichts mehr, nichts weniger. Lügen gehen mir leicht über die Lippen. Aber mir war nicht danach gewesen. „Tut mir Leid.“ Es war ehrlich gemeint und nicht mehr wie ein leises Flüstern. In mir machten sich nämlich langsam Gefühle breit. Ich zerstöre wieder erfolgreich eine Freundschaft und zwar bewusst. „Was tut dir leid?“ Jetzt war es kein Schreien mehr, aber in der Stimme schwang ein Zittern mit. Er hatte mit dem hin und her laufen aufgehört und blickte wieder zu mir. „Das ich kein besserer Mensch sein kann.“ Ich lächelte wieder. Noch immer traurig. Hätte aber nicht erwartet, dass er darauf reagieren würde. Generell hatte ich gar nichts mehr erwartet. „Wie kommst du überhaupt darauf, ein schlechter Mensch zu sein?“ „Erfahrung... Kenn niemand, den ich noch nicht enttäuscht oder verletzt hätte.“ „Das ist doch kein Grund, jeder tut das zwangsläufig mal!“, gab er zurück, wieder aufgebracht von meiner Antwort. Er dachte wohl, das mehr dahinter sein müsste. Ganz unrecht hatte er ja nicht. „Wenn du meinst.“ Langsam wurde ich müde von dem Gespräch, so war das immer, wenn bei mir Gefühle einsetzen, sie ermüdeten mich. „Herrgott!“ Man konnte genau sehen wie machtlos er sich im Moment fühlte. Er wusste nicht mehr was er erwidern sollte, wie er mich überzeugen könnte, das ich doch ein guter Mensch bin. Da war eben das Problem. Ich bin kein guter Mensch, deswegen konnte man es mir auch nicht beweisen. Das er sich so machtlos fühlte, war nicht meine Absicht gewesen. Ich wollte ihn eigentlich auch nicht mit mir belasten. Nicht in der Form. Jetzt war es allerdings zu spät. „Was hat man dir angetan, dass du so geworden bist?“ Noch immer funkelten die Augen voller Emotionen. „Nichts, ich bin so... war es schon immer gewesen.“ Das stimmte zwar nur zum Teil, als Kind war ich ein glückliches, aber irgendwann mal war es weg. Vielleicht war auch einfach nur die Hormonumstellung Schuld, wer weiß, das Zeug stellt ja allerhand an. Stille setzte nun ein, beunruhigende, erwartende Stille. Etwas müsste sie brechen. Aber sie verharrte im Raum, bedrückend, erdrückend. Ich konnte spüren, wie noch immer sein Blick auf mir brannte, aber ich schaffte es nicht, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. Konnte ihn nicht ansehen und im Moment wünschte ich mir nichts mehr, als das er endlich gehen würde und dem allem hier ein Ende setzen würde. So dass ich in Frieden wieder einen Menschen verlieren konnte, um mir zu zeigen, wer ich bin. „Und liebst du mich nun?“, seine Stimme klang etwas kratzig und die Frage war nicht laut, eher ängstlich. Denn egal, was ich antworten würde, es würde alles ändern. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie gewichtig die Frage war. Und vorhin bin ich sie nur so übergangen. War sie mir da egal? Vermutlich, da hatten noch nicht die Gefühle eingesetzt. Jetzt hatte ich Angst antworten zu müssen. Es könnte nur falsch sein, was ich sage und auch nicht wahr. Damit sie der Wahrheit entsprechen konnte, müsste ich es erst einmal wissen. „Sag was.“, es klang verzweifelt und ich konnte es verstehen. Wenn ich in seiner Situation wäre, würde ich nicht anders reagieren. „Ich kann nicht.“, gab ich zu und es war mehr Ehrlichkeit darin, wie es in meinem Antworten üblich war. „Warum ist es dir überhaupt so wichtig, das zu wissen?“ Gegenangriff war noch immer die beste Verteidigung und angegriffen fühlte ich mich mittlerweile ziemlich. Ich hasste es Leuten mehr Einblick in mich gewähren zu müssen, als ich selbst wollte. Außerdem interessierte mich das wirklich. Wollte er es etwa wissen, um sein Ego zu schmeicheln? Nicht mal ein Junge kann ihm widerstehen? Oder hatte er Angst um unsere Freundschaft? Begründet. Lange würde sie nicht mehr leben können, leider. Er schien nicht mit der Frage gerechnet zu haben. Verwirrt blinzelte er. Er war irritiert, dass sah man ihm deutlich an. Irritation war vielleicht besser als diese Verzweiflung von vorhin, aber sie würde nicht lange halten, das wusste ich. Noch einmal blinzelte er und wandte den Blick von mir ab. Er schien selbst nicht wissen, warum meine Antwort so wichtig für ihn war. Eine Antwort, die er von mir nicht bekommen würde. Ich sage nicht gerne Dinge, bei denen ich nicht sicher bin, dass sie absolut gelogen oder absolut ehrlich sind. Um genau zu sein, verabscheue ich es, wenn etwas unsicher ist. Das nagende Gefühl zwischen Hoffnung und Verzweiflung, das Gefühl, dass ich wohl irgendwie in ihm geweckt hatte. Und was mir aufrichtig leid tat. Ich wusste, dass er unsichere Dinge, genauso wenig mochte, wie ich. Obwohl ich vielleicht genau das war. Ich machte selten klare Aussagen, ich schwieg lieber darüber. Das verunsicherte andere oft, gab aber mir Sicherheit. Und hier stand er nun, gesenkter Kopf, seinen Blick zur Seite gerichtet, seine Hände verkrampft in sein T-Shirt verkrallt und nicht wissend, was er sagen sollte. Mein Gegenangriff hatte also funktioniert, er schwieg und fragte nicht mehr. Das war gut, vielleicht. Ich fühlte mich ein bisschen schlecht deswegen. Er hatte es sicher nicht böse gemeint, er hatte sich wohl nur Sorgen gemacht, um mich, unser Freundschaft. Aber er hatte doch völlig falsche Schlüsse aus dem Geschrieben gezogen und nach Dingen gefragt, die ich niemand wissen lassen will. Auch ihm nicht. „Ich... also ich...“ Er stotterte. Das tat er selten. Es lag daran, dass er nicht wieder diese Stille um sich haben wollte, aber auch nicht wusste, wie er antworten sollte. Ich hätte ihn aufmuntern können, weiter etwas vor sich hinzustammeln, aber ich hatte mich an die schweigende Stille schon gewöhnt, kam mit ihrer alles einnehmenden Macht klar. Meistens. Ich musterte ihn, beobachtete wie er weiter um Worte rang. Noch immer schaute er nicht zu mir. Ich schien dabei zu sehr abzulenken. Aber plötzlich traf mich sein Blick, ein Flehen lag darin. Ein Flehen, dass mir sagen sollte, dass ich doch einfach antworten möge und meine Fragen vergesse. Vielleicht hätte ich diesem stummen Flehen nachgegeben, wenn ich gekonnt hätte. Aber ich konnte nicht und so wand er seinen Blick wieder von mir ab, schwieg mittlerweile wieder. Er hatte seinen Grund nicht heraus gebracht, einen Grund, den es nicht mal gegeben hat. Ich konnte sehen, wie er tief Luft holte, als wollte er sich zu etwas schwierigen durchringen. Hatte ich vielleicht zu vorschnell aufgegeben, eine Antwort zu erwarten. Hatte er wirklich einen Grund es wissen zu wollen? „Okay, kurz und schmerzlos, bevor ich wieder den Mut verliere...“, seine Stimme zitterte leicht. Er schluckte. Schien doch noch mit sich zu ringen. Ich blickte ihn nur weiterhin schweigend an. Keine Reaktion. Ich wartete. Ich konnte auch ohne eine Antwort leben. Schließlich spielte das Gespräch nicht mehr wirklich eine Rolle, es war schon so soweit voran getrieben, dass ich wusste, dass ich ihn danach nicht mehr kennen würde. Ihm einen Eintrag in meinem kleinen, blauen Buch des Selbstmitleids widmen würde und dann ignorieren. Wie ich es schon so oft getan habe. Ich starrte ihn weiterhin an. Die Antwort von ihm kam noch nicht. Sein Mut schien wohl nicht lange gerecht zu haben. Armer Kerl. „Ich, also, warum ich dich gefragt habe... warum es mir so wichtig ist...“ Ich hätte gerne die Augen verdreht, auf Grund des Gestammels, aber das wäre selbst für mich taktlos gewesen. Ich sah, dass er sich abquälte, wegen mir für mich. Und eigentlich fand ich es unheimlich ... lieb von ihm. Aber was erhoffte er sich davon, mir ehrlich zu antworten, wenn es ihm anscheinend so schwer fiel? Er hätte auch schweigen dürfen. Und so im Nachhinein, hätte ich diese Variante auch bevorzugt, vielleicht, zumindest kurz darauf. „Ich... mag dich... irgendwie... also... anders... als... du weißt schon.“ Er war beim Reden rot geworden. Was mir erst jetzt auffiel. Nun blickte er wieder zu mir, mit einem schüchternen Lächeln im Gesicht. Langsam sickerten die Worten auch in meinem Geist, verharrten dort kurz und zerliefen dann dort in heilloses Chaos. Er mochte mich?! „Fuck.“, war das Einzige was ich über die Lippen brachte. Leise und entsetzt. Das machte doch alles so schrecklich kompliziert und unnötig. Jetzt fing ich an unsicher zu werden, würde irgendwas in seine Worte hinein interpretieren wollen, das nicht da war. Mir Hoffnungen machen, einmal die Chance zu haben, mich auf Gefühle einzulassen, dass zu kriegen für was ich immer zu feige war. „Du... du klingst nicht sehr begeistert.“, stellte er mit einer rauen Stimme fest. Was hatte er erwartet?! Dass ich aufspringe, die Arme um seinen Hals schlinge und ihm dann verkünde, dass ich ihn liebe, um ihn daraufhin stürmisch zu küssen? Seinem Anblick nach, hatte er das. Er wirkte so niedergeschlagen von meiner Reaktion. Ich wäre es sicher auch, aus diesem Grund ließ ich sowas ja bleiben. Aber manchmal war er einfach zu naiv... „Fuck...“, murmelte ich nochmals. Ich konnte seinen herzzereißenden Anblick nicht mehr ertragen, ich zog meine Beine an, schlang meine Arme darum und lehnte meine Stirn auf die Knie, wobei ich die Augen schloss. Es war so eine verkommene Scheiße. „Ich geh jetzt wohl besser...“ Seine Stimme nahm ich nur noch am Rande war, auch, wie er sein Zeug hastig in seinen Rucksack stopfte und fast fluchtartig mein Zimmer verließ. Fuck. Fuck. Fuck. Die Definition des Endlichen ---------------------------- Ich bin ein Idiot. Ein echtes Arschloch. Ja, Selbsterkenntnis ist ja eigentlich der erste Weg zur Besserung, aber wer hat gesagt, dass ich mich verbessern möchte. Sicher, es ist nicht übermäßig toll, ein Arschloch zu sein, aber manchmal ist es einfach... angenehmer. Auch wenn ich im Moment nichts davon merke. Eigentlich geht es mir deswegen sogar so richtig scheiße. Und das will was heißen bei mir, da ich mich selten, wirklich gut fühle. Naja, Schuld daran hat, wie er euch denken könnt, der werte Herr, der dachte, er müsse irgendwelche Gefühle, die er mir gegenüber hat, gestehen. Hätte ich bloß nicht nachgefragt, er hat mir als Freund viel bedeutet und vielleicht, aber auch nur vielleicht, sogar ein bisschen mehr als das. Aber ein Vielleicht ist so eine unsichere Komponente, deswegen hab ich es bereinigt. Auf eine Art, die mir vertraut war. Nach dem ich aus meinem Mantra, dass aus einem immer wieder gemurmelten „Fuck“ bestand, beendet hatte und langsam wieder meine Umgebung wahrgenommen hatte und auch die Abwesenheit von meinem bis dahin besten Freund, wurde ihm ein Eintrag in meinem kleinen Buch gewidmet. Er war kurz, mit zittriger Hand geschrieben, kaum leserlich. Ich glaub, ich hatte dabei sogar geheult. Aber ganz sicher kann ich es nicht sagen, weil ich mich nur noch vage erinnere. Aber etwas verschwommene Tinte deutete daraufhin. Was darin steht kann ich euch noch nicht wiedergeben, weil es mir weh tut... Weil wieder diese beschissenen Gefühle eingesetzt haben. Gefühle, die nicht einfach mit Langeweile oder Ablenkung betäubt werden konnten, wie die meisten anderen, die ich hatte. Seit dem Bucheintrag und auch dem ... Gespräch sind nun schon einige Tage vergangen. Das heißt, es dauert noch mindestens die gleiche Zeit, bis ich auch nur ansatzweise eine Verbesserung meines Gemüts spüre. Bis dahin werde ich meine Zeit mit Selbsthass, Vorwürfen und vor allem Selbstmitleid verbringen. Ehrlich, manchmal, manchmal hatte ich das Gefühl, als würde es mir regelrecht Spass machen, mich leiden zu lassen. Willentlich. Und es gab auch allen Grund zu dieser Annahme, weil ich mich in den Tagen zwang ihn wieder zu sehen. Ich hätte die Schule schwänzen sollen, das war nichts, was mich sonderlich kümmerte. Aber ich ging hin, weil ich wusste, dass er dort war. Er würde nie die Schule schwänzen, egal, wie schlecht es ihm ging. Zumindest dachte ich das. Die ersten zwei Tage nach dem Streit, also Dienstag und Mittwoch, war er nicht da gewesen. Die Lehrer hatten sich bei seinen Freunden, also nicht ich, sondern die anderen Leute mit denen er nach der Schule oft was unternahm und nicht so assozial, wie ich, veranlagt waren, erkundigt, was mit ihrem Musterschüler war. Sie wussten es nicht genau. Hatten seit Montag nichts von ihm gehört. Nach mir würde sich übrigens niemand erkundigen, wenn ich mal zwei, drei Tage oder auch mal eine Woche fehlen würde. Das weiß ich deshalb, weil ich das öfter mal tue. Nur wenn Klassenarbeiten vor der Türe stehen, werden manche Lehrer nervös und fragen generell in die Klasse, ob jemand etwas wussten. Sie wussten ja nicht, mit wem ich so befreundet war und wen sie speziell fragen sollten. Meistens kam wohl nur ein Schultern zucken, oder ein Witz. Hm... ich glaub, ich vermittle gerade ein falsches Bild meiner Freundschaft zu ihm. Es ist nicht so, als würden wir in der Schule keinen Kontakt miteinander pflegen, aber ich legte es auch nicht darauf an, dass jemand wusste, das wir uns gut verstanden. Und er... naja, er ist viel beschäftigt. Wie gesagt, er hat eigentlich viele Leute, mit denen er seine Zeit verbringen konnte und die meisten kamen im Ranking der Wichtigkeit vor mir. Der Gedanke hatte mich nie gestört, ich fand ihn, oftmals auch sehr beruhigend. Aber ich bekam langsam das Gefühl, dass ich mir vielleicht etwas falsches erdacht hatte. Schließlich hatte er gemeint... dass er mich mochte, mehr als... Als was eigentlich?! Die Frage, hatte ich mich öfter gestellt. Zu oft. Mir wurde mittlerweile übel von dieser Frage. Allgemein, wenn ich an das Gespräch zurück dachte. Es bereitete mir Kopfschmerzen und ein flaues, unangenehmes Gefühl im Magen. Psychosomatisch, nehm ich mal an. Was mich desweitern noch störte, dass ich alte, beruhigende Gedanken in Frage stellte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, dass ich ihm vielleicht wichtiger war, als ich angenommen habe. Es war etwas, was mir irgendwie ein bisschen Hoffnung gab, aber gleichzeitig auch störend war. Das war das, was ich meinte, mit sich selber quälen. Ich stellte mir diese Fragen schließlich nicht einmal, sondern immer öfter, um nur immer mehr daran zu verzweifeln. Warum ich überhaupt daran verzweifele, könnte man sich fragen. Immerhin war da, mein bester Freund, der mich auf eine verquere, aber vermutlich ehrliche Art gern hatte, möglicherweise sogar mal lieben könnte. Das war doch das, was ich mir insgeheim in meinem kleinen, blauen Büchlein gewünscht hätte, nicht? Aber es war alles viel komplizierter, oder viel mehr, ich war es. Zum einen war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich mir einfach was in seine Worte hinein interpretiert habe auf Grund des leidigen Wunsches nach Liebe und zum anderen wusste ich nicht, ob ich das alles überhaupt wollte. Ich fühlte mich nicht bereit, mein Vertrauen an jemand weiter zu gehen, mich auf jemand einzulassen. Mich überhaupt zu verlieben. Der Gedanke machte mir einfach nur fürchterlich Angst. Ehrlich sein, jemanden offen darzulegen, wer man war, sich vielleicht lächerlich machen. Ich wollte mich schlicht und ergreifend nicht verlieben. Und das genau das passieren könnte, wegen ihm, das ärgerte mich irgendwo. Deswegen hat er seinen Eintrag im Buch bekommen und war damit abgehakt. Ich war einfach noch nicht bereit, mich auf Menschen einzulassen. Vielleicht hätte ich es in ein paar Jahren gekonnt, mit ihm. Aber nicht jetzt... es war einfach schlechtes Timing gewesen. Wie sovieles. Freitags war er wieder in der Schule. Er sah... aus wie immer. Munter, grinsend und zufrieden. Keine Augenränder, nicht blass. Kurzum das sprühende Leben. Er hatte mich mit einem Lächeln gegrüsst, als er das Klassenzimmer betreten hat. Ich hab nur weggeschaut. Demonstrativ. Damit er es wusste. Es schien ihm nichts ausgemacht zu haben. Manchmal drehte ich mich in den Stunden leicht zu ihm um. Wollte wissen, ob er mich beobachtete, aber er redete nur mit seinem Banknachbarn, oder arbeitete an den Aufgaben, die uns der Lehrer gegeben hatte. Oder beides gleichzeitig. Mir war durchaus klar, dass ich durch das ständige Zu-ihm-schauen mein Desinteresse nicht sonderlich gut verdeutlichte, aber das war mir egal. Ich bin in mancher Hinsicht nur halb so konsequent, wie ich es sein sollte... Ich bin ja schließlich auch nur ein Mensch. Und er schien es auch nicht darauf anzulegen, sich mit mir in den Pausen zu unterhalten. Ich wusste nicht genau, ob ich mich darüber freuen sollte, oder einfach nur schreien soll. Ich wusste ganz genau, warum ich mich auf so ein Gefühlsscheiß so ungern einließ und das ich gerade bis zum Hals in dieser Scheiße stand. Aber das war am Anfang immer so. Ich wusste das aus Erfahrung. Bald würde es besser werden und er schien es mir leichter zu machen, wie ich zu erst gedacht hatte. Das Wochenende verbrachte ich trotzdem damit, mich in meinem Selbstmitleid zu ersäufen. Sicher, man konnte Dinge tun, die spannender und auch lustiger waren, aber nicht, wenn sich der eigne Körper wie Blei an fühlt und der Kopf surrt von dummen, unnötigen Fragen. Es blieb mir also fast nichts anderes übrig und eigentlich... ich hatte mich schon lange nicht mehr so richtig bemitleidet. Das war vielleicht mal wieder wichtig gewesen, auch für meinen sicheren Selbsthass, der mich vor Unannehmlichkeiten schützt, vor Dummheiten und Gefühlen. Am Montag war ich dann soweit, dass ich mich nicht einmal mehr aus meinem Bett erheben konnte. Aber was war schon Schule... so unwichtig... Ich musste erst mehr mit mir ins Reine kommen, danach ging es wieder mehr bergauf. Das wusste ich. So verbrachte ich auch noch Dienstag und Mittwoch in meiner kleinen, isolierten Welt. Langsam konnte ich auch eine leichte Tendenz nach oben in meiner Gefühlswelt spüren. Ich malträtierte mein Hirn nicht mehr ununterbrochen mit den Fragen, die mir weh tun und mich verunsichern sollen. Oder zumindest nicht mehr bewusst. Und irgendwie war ich ein bisschen zufrieden, dass alles so gut lief. Natürlich, ich hatte auch schlicht weg Panik in die Schule zu gehen, weil sich dann die leichte Tendenz wieder stark nach unten bewegen würde. Aber im Moment lag das auch noch recht weit weg. Morgen war Donnerstag. Ich mochte Donnerstage noch nie, was bedeutete, dass ich auch morgen nicht in die Schule gehen würde. Ich wusste nicht sicher, ob ich nicht gerade wichtige Termine versäumte... aber ich bin, wie euch vielleicht schon aufgefallen ist, Egoist und so kam ich und mein Gemütszustand vor allem anderen. Meine Eltern hatten das auch schnell gelernt. Ich glaube, insgeheim hassen sie diese Seite an mir tierisch, aber das würden sie mir nie sagen. Aber wenn ich mal wieder einer meiner Launen habe, wie es meine Mutter auszudrücken pflegt, ließen sie mich in Ruhe. Mittlerweile. Am Anfang waren sie noch besorgt, hatten vielleicht Angst, ich würde mir etwas antun. Wollten wissen was los ist mit mir. Ich hab sie dafür angeschrieen, Dinge nach ihnen geworfen, aber keine Antworten gegeben. Als ihnen klar geworden ist, dass ich nicht vorhatte mir selbst etwas zu tun oder gar mein Ableben zu beschleunigen, ließen sie mir meinen Frieden. Vielleicht hatten sie es auch einfach nur satt und keine Lust mehr, sich um mich zu kümmern. Aber das ist möglicherweise auch unfair meinen Eltern gegenüber. Ich sollte dankbar sein, dass sich nicht weiter versuchten mich besser zu verstehen. Weil es da nichts gab, was man verstehen musste. Manchmal fragte ich mich ja, warum ich so geworden bin wie ich jetzt war. So misstrauisch, enttäuscht und so gegen mich selbst. Ganz genau konnte ich es nicht sagen, aber ich hatte mal einen Verdacht, einen schleichenden, leisen Verdacht, der sich bis jetzt noch nicht von mir greifen ließ. Als würde er es bevorzugen bedeckt zu sein, nur kurz unter der Oberfläche des Bewussten zu schwimmen. Und vielleicht tat er gut daran. Die Nächte verbrachte ich zur Zeit nicht mit Schlafen, dafür fand ich leider nicht genug innere Ruhe. Den der Zeitraum zwischen zu Bett gehen und einschlafen bot mir immer zu viel Möglichkeiten nachzudenken und das wollte ich nicht mehr. Ich lenkte mich ab, mit allem möglichen. Es war mir egal, wie stumpfsinnig es war, Hauptsache nicht mehr nachdenken müssen. Ich vertrieb mir viel Zeit am Computer, spielte die Standardspiele, die man mit Windows mitgeliefert bekam, Solitär, Minesweeper und der ganze Dreck. Aber es tat irgendwie gut, sich so abzulenken. Keine Zeit zum Denken zu haben. Damit machte ich mich meistens so müde, dass ich am Schreibtisch einschlief. Bis ich mit Rückenschmerzen irgendwann im frühen Morgen aufwachte und mich ins Bett schleppte. So verbrachte ich auch den Freitag, obwohl ich eigentlich Freitag in die Schule gehen wollte. Es war nicht gut, eine Woche zu fehlen. Nicht, dass es noch zu ändern war, aber die Lehrer sahen es nicht gerne. Aber ich hatte immer noch Angst, gerade jetzt, wo es wieder besser lief. Ein bisschen zumindest. Und irgendwie war gerade alles wieder besser. Etwas vage mit unscharfen Konturen, aber besser, weil nichts da war, um was man sich direkt sorgen machen musste. Keine Schule, keine sozialen Verpflichtungen und vor allem kein Chris, was wohl der wichtigste Punkt war. Aber unterschwellig war es natürlich alles noch vorhanden und sorgten dafür, dass ich mich zumindest nicht ausgelassen über meine Schulabwesenheit freute. Gerade als ich beschlossen hatte, mir endlich mal wieder eine Dusche zu gönnen, um ein besseres Körpergefühl zu bekommen, machte mir ABSOLUT ALLES einen Strich durch die Rechnung. Ein zögerliches Klopfen an der Türe, dann meine Mutter mit ihrer besorgte Miene und unserem schnurlosen Haustelefon in der Hand. „Chris is dran.“, meinte sie. Schaute mich erwartungsvoll an. Sie schien zu hoffen, dass es mir wieder besser gehen würde, wenn ich mit einem Freund sprechen würde. Soziale Verpflichtung. Ich schaffte es nicht ihr zu sagen, dass sie sich mit dem verfickten Telefon sonst wo hin scheren sollte. Immerhin war ich mittlerweile alt genug, so etwas nicht mehr zu sagen, oder nicht mehr so oft. Ich nahm also mit schweißnasser Hand den Hörer entgegen und schwieg hinein. Von mir aus sollte er mir etwas erzählen, aber ich würde nichts zu ihm sagen. Eigentlich hätte ich auflegen sollen, um konsequent zu sein, aber ich brachte es nicht über mich. Noch hatte ich die Phase in der mir Chris nicht mehr wirklich wichtig war, nicht erreicht, das würde noch dauern, sicher ein paar Wochen. Leider. Schweigen kam aus dem Gerät zurück. Vielleicht wusste er nicht, dass er mittlerweile jemand an der Strippe hat, mich. Nach einer Weile kam dann aber ein zögerliches „Ich... ich kann dich atmen hören.“ Was irgendwie... gruselig klang. Hätte er nicht sowas sagen können, wie „Hey, bist du dran?“ oder „Ich weiß, dass du mich gerade anschweigst.“, aber „Ich kann dich atmen hören.“ Was war das überhaupt für ein Satz?! Und ihr werdet gerade Zeugen einer meiner erfolgreichsten Methoden, mir eine Person zuwider zu machen. Alles an ihr kritisieren und in Frage stellen, bis es mich wütend machte. Aber ganz wollte es mir noch nicht gelingen. Aber das würde noch kommen. „Red doch mit mir... bitte.“, wieder dieses Flehen. Es... es kümmerte mich. Es tat mir irgendwie weh. Es war noch alles viel zu früh. Ich hatte doch gedacht, er würde es mir einfach machen wollen. Ich schwieg weiterhin. „Geht´s dir denn gut? Du warst die Woche nicht in der Schule...“ Ich konnte hören, wie er zu einem weiteren Satz ansetzen wollte, sich aber selbst dabei unterbrach, bevor er das erste Wort zu ende gesprochen hat. Ich wusste auch so, was er sagen wollte oder besser fragen. „War es wegen mir?“ Und da haben wir sie ja, die Frage. Er hatte sie doch ausgesprochen. Die scheißverdammte Frage. Dass er auch nichts verstand, dass er jetzt doch anfangen musste, es mir schwer zu machen. Es war unfair von ihm. Ich merkte, wie in mir eine verwirrende Wut wuchs, eine Wut, die mir Tränen in die Augen trieb. Verdammt peinliche Wut. Ich hasste sie, weil sie ein großer Teil von mir war. „Ich... also es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Ich weiß... dass du nicht... also... Aber weißt du... Naja, als ich das alles gelesen habe... du weißt schon...“ Ich war froh, dass er mich nicht sehen konnte. Nicht sehen konnte, wie mir diese dämlichen Tränen über die Wangen rinnen und auf meinen Wangen brannten. Wie sie in meinem schmutzigen T-Shirt-Kragen verschwanden, gefolgt von weiteren. Und warum schaffte er es nicht einen Satz zu ende zu bringen?! Nein, ich wusste nicht... ich wusste verdammt noch mal gar nichts. Was soll ich denn wissen, was erwartest du überhaupt von mir? Ich hätte es im gerne entgegen geschrien. Aber ich wusste, dass, wenn ich den Mund geöffnet hätte, nur ein Schluchzen heraus gekommen wäre und dann weitere gefolgt wären. Damit er schließlich bemerkte, dass ich gerade heulte. Und darauf konnte ich wirklich verzichten. Verdammte Wut auf mich selbst... sie macht alles so schwer... „Ich... du musst nicht... also es is okay, wenn... Also... es is nicht so schlimm, wenn du...“, immer wieder unterbrach er sich selbst. Wusste wohl nicht wirklich, was er mir sagen wollte, oder er brachte es nicht über sich. Hatte wahrscheinlich Angst, wieder alles kaputt zu machen. Recht hatte er. Allein das er angerufen hat, hat schon soviel kaputt gemacht. Ich fühlte mich emotional jenseits tief der Hölle. „Wenn wir... nur Freunde sind.“ Er schluckte. Ich wusste nicht, ob ich es hörte, oder es einfach wusste, weil ich ihn schon lange kannte. Der Satz, den er gerade heraus gebracht hatte, tat ihm verdammt weh. Es war nicht okay, wenn wir nur Freunde waren. Sowas war nie okay, nicht so kurz danach! „Ich möchte dich nur nich... also verlieren. Das klingt jetzt alles so unglaublich dumm. Ich weiß ja, und du willst das alles gar nich hören, oder?“, verzweifelt war er wieder. Oder immer noch? Und nein, ich wollte es nicht hören, aber ich konnte auch nicht auflegen. Und ich glaube, ich hab in dem Moment daran auch gar nicht gedacht. „Es ist einfach so... dass du mir so wichtig bist... Okay, ich glaub, dass is unser Problem... aber wirklich, wenn... wenn... also wenn du nur Freundschaft willst, ist das wirklich... okay für mich. Ich meine... tut mir wirklich Leid, dass ich da so ne Scheiße verzapft hab. Können wir das nich einfach alles vergessen?“ Das hättest du wohl gerne, oder? Nein, hätte er nicht. Das wusste ich selber. Er hätte gerne, dass ich um den Hals gefallen wäre, glücklich endlich jemanden zu haben. Ihn zu haben. Und nicht mich damit abquälen würde ihn los zu werden. „Nein.“ Meine Stimme war so trocken und kratzig. Sie klang mehr wie ein heißeres Krächzen, das lag daran, dass ich seit Tagen nicht mehr gesprochen haben... Mit wem auch? „Aber...“ Es klang entsetzt. Ich legte auf, wischte mir fahrig mit meinem Handrücken übers Gesicht, um die Tränen loszuwerden. Danach hatte ich ehrlich gesagt einen Art Blackout. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gedacht habe oder gefühlt. Ich saß einfach nur da... auf meinem Bett. Fuck... Schnittmenge ------------ Man könnte jetzt annehmen, dass ich auch die nächste Woche auf Grund dieses Telefonats geschwänzt hätte. Tat ich aber nicht und dafür gab es einen ziemliche banalen Grund, er nennt sich Klassenarbeiten. Ich wusste vage, dass ich in der Woche eine wichtige Arbeit hatte und ich es mir bei der Lehrerin nicht verscherzen sollte, da ich in dem Fach, Englisch übrigens, nie sonderlich stark war. Und als ich dann Montagmorgen mit einem flauen Gefühl im Magen, wie immer, wenn ich solange gefehlt habe, das Klassenzimmer betrat, war ich froh, dass Chris noch nicht da war. Eigentlich war er so gut wie nie vor mir da, also von daher war das nichts besonders, aber es war trotzdem ein gutes Zeichen für mich. Und als er das Klassenzimmer betrat schien er bewusst nicht in meine Richtung zu sehen, anders wie er sonst tat. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, aber natürlich tat ich es nicht. Noch war er für mich der einzige Freund, den ich hatte. Nun ja, zumindest von der Gefühlsebene her. Gedanklich hatte ich mit ihm abgebrochen, als ich ihn in das Buch geschrieben habe. Nur leider war es am Anfang immer etwas schwerer sich emotional und rational auf eine Ebene zu bringen. Aber ich konnte das, dass wusste ich... Ich sollte übrigens doch recht behalten, dass er es mir einfach macht. Er hat genauso angefangen mich zu ignorieren, wie ich ihn. Es war... ein bisschen seltsam. Manchmal sah man sich eben, dass ließ sich nicht vermeiden, wenn man in die gleiche Klasse ging. Die Blicke kreuzten sich kurz und dann wandten wir sie beide ab. Es war eben das, was ich damit meinte, eine Person bewusst nicht zu kennen, von der man eigentlich mehr wusste, dass sie einem viel bedeutet. Naja, es tat zu erst ziemlich übel weh. Ich mein, ich fand es einfach beschissen, dass er mich so schnell aufgab. Sicher, ich hab das selber so gewollt. Aber für das, dass er mich eigentlich mochte, hatte er sich auch keine Mühe gegeben. Nicht das er noch eine Chance gehabt hätte, aber trotzdem... Der Gedanke, dass ich ihm vielleicht doch nicht so wichtig war, wie ich dachte, war unangenehm und brachte die Wut zurück, die Wut auf mich. Und die Tränen. Ich war wütend darüber, dass ich gedacht habe, dass er mich wirklich mochte. Ich war wütend darüber, dass ich deswegen alles kaputt machen musste. Wegen etwas, dass vielleicht gar nicht existiert hat. Und ich war wütend, weil ich wieder alles in Frage stellen musste. Auch unsere ehemalige Freundschaft. Ob er einfach nur einen Depp gebraucht hat, bei dem er seinen Seelenscheiß hat abladen können, ohne Angst haben zu müssen, dass er es jemand weiter erzählt, weil ich doch gar niemanden hatte, dem ich irgend etwas über irgend jemand hätte erzählen können. Es kamen mir auch so lästige Gedanken, dass er sich eigentlich nur immer lustig über mich gemacht hat, wenn ich ihm irgendwas persönliches erzählt habe. Das er es als Anekdote seinen dämlichen Freunden weiter gegeben hat, um mit ihnen dann über mich zu lachen. Eigentlich wusste ich, dass er das nicht getan hat. Ich kannte Menschen gut genug, um zu wissen, wenn man ihnen etwas anvertrauen kann und wann nicht... Aber es waren Gedanken, die ich brauchte, um vom allem los zu kommen und sie erstickten soviel, was mich hätte aufmuntern können. Das war auch wichtig, wenn man sich wieder zurück in sein Schneckenhaus verzieht. Mit der Zeit wurde es dann auch endlich besser... Ich konnte in die Klasse gehen, ohne sofort daran zu denken, ob er schon da sein wird, um mich mit einem kühlen Blick zu durchbohren, bevor er mich wieder ignorierte. Und ich spürte auch nicht mehr den Drang, mich im Unterricht zu ihm umdrehen zu müssen, wenn er etwas sagte oder man hören konnte, wie er gerade irgend einen Scheiß machte. Und ganz langsam fand ich auch gar nichts mehr toll an ihm. Nicht seine Witze, die genau meinen Humor trafen, noch sein Lächeln, das mich früher öfters aufgemuntert hat, auch nicht seine Art mit Menschen umzugehen, für die ich ihn immer bewundert habe. Ich fand es albern, dass er so gut in den mathematischen Fächern war und nichts daraus machte, weil er doch irgendwie ein fauler Hund war. Kurz um, ich hatte es geschafft. Yeah, bin ich nicht toll? Ihr entschuldigt sicher, dass sich mein Triumph und Freude in Grenzen hält. Menschen zu verlieren ist immer beschissen, selbst wenn man selber Schuld dran war. Oder gerade dann. Ich verbrachte jetzt wieder viel Zeit am Computer, schrieb mit irgendwelchen Leuten, die ich nie im Leben wirklich sehen würde und dachte, dass es ein schönes Gefühl war. Ich konnte ihnen viel erzählen... es war alles so sicher... auch für meine Gefühle. Aber hey, wenn man denkt, es läuft alles prima, muss sich das natürlich mal ändern, logisch, nicht? Ich mein, es kann nie immer aufwärts gehen. Nur war der Sturz nach unten diesmal besonders heftig. Aber wenigstens nicht nur für mich... „Wo ist euer verficktes Problem?“ Ich kannte seine Stimme so gut, auch wütend und gerade war er es ziemlich. Verständlich irgendwo... „Hey, Mann, kein Grund dich so aufzuregen... aber du musst auch uns mal verstehen.“, kam es von einem seiner Freunde zurück, dessen Name mir gerade nicht einfiel. Die anderen Typen, die sich um die zwei tummelten nickten nur zustimmend. „Ich soll euch verstehen?! Was soll ich denn verstehen?!“, gab er noch immer aufgebracht zurück. „Weißt du, es is was anderes, ´n bisschen auf schwul zu machen, um ´n paar Mädels rumzukriegen, oder es wirklich zu sein...“, versuchte sich Manu – ha! Ich wusste den Namen wieder – zu erklären. „Und?“ Chris schien ganz offensichtlich ihr Problem wirklich nicht zu verstehen. „Ach, komm, es is nich ganz so einfach wegzustecken, dass du jetzt schwul bist.“ Wieder kollektives Nicken als Zustimmung. „Und deswegen muss es auch ja jeder wissen, oder? Oh, und deswegen nervt ihr mich mit irgendwelchen gefickt, nervigen Spekulation über mein Sexleben? Schon klar, es is verdammt hart für euch. Ich seh schon....“ Mit dem Satz schubste er Manu wütend von sich und stapfte aus dem Klassenzimmer. Na ja, mein Mitleid hielt sich in Grenzen, das hatte man davon, wenn man betrunken irgendwelchen Kumpels erzählt, dass man schwul ist. Selbst ich wusste es am nächsten Tag. Also nicht, dass ich es nicht schon vorher gewusst hatte, aber nun halt offiziell. Es war auch das Klassenthema schlechthin. Seit einer Woche zerrissen die sich über nichts anderes den Mund... Irgendwie hätte ich mehr ablehnende Reaktionen erwartet, aber es hielt sich in Grenzen. Es beschränkte sich meistens auf irgendwelche flachen Witze, bei denen Chris selber manchmal mitlachte und am Anfang schien er gut mit seinem unfreiwilligen Outing klar zu kommen. Naja, bis sie angefangen haben in seinen Beziehungskisten herum zu wühlen, viel mehr in seinen nicht vorhandenen... Derzeit fragten sich wohl die meisten, wie Chris überhaupt zu der Erkenntnis kam, dass er schwul war. Als er betrunken war, hatte er was von einer Person gelabbert, aber keine Namen genannt. War schon klar, wenn er gemeint hatte. Ich konnte mich geehrt fühlen, oder? Hey, immerhin hab ich ihm ohne etwas zu tun, dazu gebracht sich seiner sexuellen Orientierung klar zu werden, krass, ne? Aber ihn nervte das Thema tierisch, generell dass jeder so einen hype darum machte. Für ihn schien sich die Tragik Schwulzusein in Grenzen zu halten. Und ein bisschen bewundere ich ihn dafür. Ich könnte es nicht. Sicher, ich hatte kein Problem damit, auf Jungs zu stehen, aber nur im Stillen, Heimlichen und nicht öffentlich. Irgendwie feige, oder? Aber so war es nun mal. Ich hatte keinen Bock mir so ein Gelaber anhören zu müssen, oder Witze auf meine Kosten ertragen zu müssen. Und ich wäre auch übel am Arsch, wenn meine Eltern etwas davon erfahren würden. Sie sind ja eigentlich recht liberal... aber manchmal halt auch nicht. Ich glaub, sie würden nicht wirklich gut damit umgehen können, wenn sie erfahren würden, dass ihr werter Sohnemann schwul wäre. Ich hab mir das öfter mal vorgestellt... Ein Szenario schlimmer als das andere und leider nicht so unrealistisch, wie ich es manchmal hoffte. Und naja, heimlich ging dieser Beziehungsscheiß meistens nicht, deswegen renne ich vielleicht vor allem weg... aber nur vielleicht... Ich wusste es ehrlich gesagt nicht genau. Nun ja, kommen wir mal zu meinem wichtigen emotionalen Tiefs zurück und der Grund warum Chris Outing auch an mir nicht spurlos vorbei geht. Naja, kurz um, die Leute stellen ehrlich gesagt Spekulationen über uns an. Also mich und ihm. Ihm und mich. Hach ja... wie ich diese Klasse liebte... Die meisten wussten nämlich, dass wir öfter mal was nachmittags unternahmen und uns halt einfach kannten. Auch wenn es den Lehrern nie aufgefallen ist, Schüler kriegen da natürlich mehr mit. Und ihnen ist auch aufgefallen, dass wir dann auf einmal so einen Bruch hatten. So einen krassen, wie es bei Pärchen üblich war, nicht bei Freunden. Und tada, da habt ihr es: Das perfekte Gerücht! Und wer war Schuld? Er, natürlich! Selbst betrunken kann man doch seine Fresse über so einen Scheiß halten, oder? „Der ging ja gerade ab...“ „Hat vermutlich seine Tage.“ Lachen. Wenigstens machten sie solche Witze noch nicht über mich. Ob Chris wusste, wie sie jetzt über ihn dachten? „Hey, willste nicht deinem Liebsten nach, ihn trösten?“, kam es plötzlich in meine Richtung. Args, wie konnte ich auch denken, dass sie es nicht bemerken, dass ich sie die ganze Zeit grimmig beobachte. Grimmig, weil es mich nervte, dass sie mich in die ganze Sache mit reinzogen! „Hä?“ Oh... äh... ja, das war wohl meine eloquente Antwort darauf. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie etwas zu mir sagen würden. „Ach komm, es ist doch so offensichtlich, dass da was zwischen euch gelaufen is...“, mischte sich jetzt auch noch ein Mädchen eine Reihe hinter mir ein, Julia. Aha... war das so? Wäre mir neu. Ich hasse Tratsch. „Schon, kam mir damals schon seltsam vor...“, wieder der Kerl, der mich gerade so scheiße von der Seite angelabert hat. Ich schaute sie immer noch etwas irritiert an. Bis jetzt hatten sie dieses Gerücht vor mir nie offen ausgesprochen. Verdammte Scheiße, wie es mich ankotzte und das alles nur wegen diesem dämlichen Kerl. Ich hätte besser was sagen sollen, aber in dem Moment war ich irgendwie noch nicht ganz darauf vorbereitet. So hab ich dem Gerücht auch noch neues Futter gegeben. Was ich spätestens am nächsten Tag bereute, als ich mir schon am Morgen so ein mistiges Gelaber anhören müsste und mich mit Fragen wie „Na, wie ist Chris so im Bett?“, „Wie lang ging die Sache zwischen euch?“ oder „Wer hat denn oben gelegen?“ rumschlagen musste. Ich mein Hallo, war sich jetzt jeder einig darüber, dass ich auch schwul war? Verfickte Scheiße... ich war so wütend. Die könnten mich auch mal fragen, anstatt so einen Schrott zu labern. Und ich würde ihnen offen und ehrlich ins Gesicht lügen! Ha! Vielleicht wussten sie das ja... „Könnt´ ihr mal mit dem Scheiß aufhören?! Ich bin Gott verdammt noch mal keine verfickte Schwuchtel!“ Huch, okay, sie mussten mich gar nicht danach fragen, ich würde ihnen auch so ins Gesicht lügen. Aber ehrlich, ich war wirklich, wirklich, wirklich sauer. Das war alles was ich vermeiden wollte, warum ich soviele Freundschaften abgebrochen habe. Damit genau das nicht passiert. Und jetzt? Toll, alles umsonst. Sich so gequält für gar nichts. Warum mussten sie mir alles kaputt machen, warum musste er das? Gerade wo es besser lief. Betretenes Schweigen. „Ach, komm schon, vor uns kannst du es ruhig zu geben. Man sieht es dir außerdem schon auf zehn Meter Entfernung an.“, meinte Manu schließlich dazu. Lachen. Ich starrte ihn entgeistert an. Bitte, was? Ich... war kurz davor eine wahnsinnige Identitätskrise zu kriegen. Gut, ich war schwul, dass wusste ich, nervte mich tierisch und das hasste ich ehrlich gesagt auch ziemlich an mir, aber dass man mir das auch noch ansah, gab mir jetzt auch noch den Rest. Das meinte der Kerl, doch nicht ernst, oder? „Ich seh nicht schwul aus! Und ich bin es auch nicht!“ „Schön für Sie, dann können Sie sich ja auch setzen und wir fangen mit dem Unterricht an.“ Lehrer waren Scheiße. Wie Chris auf meinen Ausbruch reagiert hat, weiß ich nicht, ich hab nicht zu ihm geschaut. Im Grunde hab ich ihm gerade entgegen geschleudert, dass ich ihn verabscheue. Und ich hatte auch Grund dazu, der Idiot hatte ja schließlich an allem Schuld. Arschloch. Mit der brodelnden Stimmung kam ich auch nach Hause... Die anderen schienen trotz meiner Beteuerungen nicht von ihrer hervorragenden Idee abkommen zu wollen und machten sich weiter lustig über mich. Und Chris?! Was tat Chris? Er saß nur da und starrte aus dem Fenster. Vermutlich froh darüber, nicht mehr selber im Kreuzfeuer dieser Aasgeier zu stehen. Und hätte mich jemand auf die Situation vorbereiten können, die mich zuhause erwartete, ich wäre dankbar gewesen. Aber leider stampfte ich ohne mein Wissen direkt einer Höllenbieste entgegen, meiner Mutter. Über meine Mutter ist zu sagen, dass sie eigentlich ein lieber, verständnisvoller, intelligenter Mensch ist, der gerne Kontakt zu anderen Leuten hat und mit vielen gut auskommt. Also mir nicht unbedingt ähnlich. Und diese Eigenschaften machten sie im Moment, in dieser Situation gerade zu so einem Monster. Als ich das Haus betrat, ahnte ich es, wie gesagt, noch nicht, aber als ich ihre ernste Miene sah, schwante mir langsam etwas. „Spatz, ich glaub, wir müssen mal reden.“ Args, nein, der Kosenamen, der Tonfall... es würde etwas schreckliches passieren. „Was denn?“, gab ich genervt zurück. Ich war ganz und gar nicht zum Reden aufgelegt. Lieber würde ich jetzt gerne etwas.... zerfetzen. Ich muss zerstören, aber es darf nicht mir gehören. Ihr wisst schon. „Naja, also... mir ist da was zu Ohren gekommen und ich glaub, ich als deine Mutter, sollte mal mit dir darüber reden. Und ich wollte das, bevor ich mit deinem Vater darüber spreche.“ Sie schaute mich weiterhin ernst an, versuchte sich allerdings mit einem kleinen Mama-hat-dich-selbst-als-Monster-mit-Schuppen-und-Klauen-gern-Lächeln. Es half nichts, ich war scheiß beunruhigt. Ich mein, es konnte doch nur DARUM gehen. Wie hat sie jetzt davon erfahren? „Ich hab jetzt aber keine Zeit dafür!“, zischte ich unfreundlich. Nein, das würde ich jetzt wirklich nicht ertragen. In keinster Weise und ich musste Dampf ablassen, aber sowas von. Und zwar an einer Person, die es verdient hatte. Und der Gedanke war ausschlaggebend, dass ich die gerade entledigten Schuhe wieder anzog und aus dem Haus stürmte. Ich hatte noch immer diese Stinkwut in mir. Diesmal keine Wut auf mich selbst und meine Dummheit und all dem Quatsch. Sondern einzig und alleine auf Chris. Meine Mutter wusste ES und wollte auch noch mit mir darüber reden! Ich mein, dass war noch schlimmer, als die dämlichen Witze in der Klasse. Chris wohnte nur ein paar Straßen weiter von mir, leider, sonst hätte ich länger Zeit gehabt, über meine Aktion nachzudenken. Dass ich rannte bemerkte ich nicht, aber ich glaube, dass hat mich auch irgendwie aufgestachelt. Ihr wisst schon, all die kleinen Endorphine, die bei Bewegung freigesetzt werden und aufkratzen. Ich klingelte Sturm, was an und für sich unhöflich ist, mir aber in dem Moment sowas von egal war. Einmal durfte man sich das erlauben, wenn einem das Leben auch schon fickte. Geöffnet wurde mir von Chris kleiner Schwester, die mich abwertend anstarrte und dabei auf ihrem Kaugummi kaute. Vierzehn war sie, soweit ich mich erinnern kann, schreckliches Alter. Ehe ich ihr eine Unfreundlichkeit entgegen schleudern konnte, ließ sie mich auch schon in der Tür stehen, um die Treppen hochzubrüllen. „Hey, Chrissy, dein Lover steht vor der Tür.“ Args, dieses Kind wird heute auch noch sterben. Ich glaub, dasselbe hat sich Chris auch gedacht, als er seine Zimmertüre aufriss und die Treppe runtergepoltert kam. Er schien auch gerade zu einer aufgebrachten Antwort anzusetzen, als er mich in der Tür stehen sah. Da war es ja, mein Opfer! „Weißt du eigentlich, was du für ein Scheiß Wichser du bist?“, brüllte ich ihm dann auch schon entgegen. Yeah, normalerweise sollte man sich ja nicht auf so ein niedriges Niveau hin hab begeben und mit Schimpfwörtern um sich schmeißen, aber genau das hatte ich jetzt bitternötig. „Ach, und das sagst gerade du mir?!“, gab er nicht minder laut zurück. „Uhm... Brüderchen, so interessant eure Unterhaltung auch ist... ich glaub nicht, dass sie die Nachbarn am Ende der Straße auch mitverfolgen wollen.“, mischte sich diese dämliche Göre auch noch ein. Allerdings hatte sie recht... die Tür war noch immer offen und eigentlich war streiten zwischen Tür und Angel auch nicht gerade das, was ich wollte. Ich konnte ihn ebenso in seinem Zimmer zur Schnecke machen. So etwas ähnliches schien sich Chris auch gedacht zu haben, denn er stampfte wieder die Treppe hoch in sein Zimmer. Ich folgte ihm. Gerade als ich die Tür hinter mir zu geschlagen habe und weiter brüllen wollte – meine Wut war nicht im mindesten gelindert. Eigentlich ist sie sogar noch gewachsen! Der Kerl benahm sich so, als hätte ich Schuld an dem ganzen Scheiß und nicht er. - unterbrach er mich. „Was zum Henker willst du plötzlich hier?! Ich dachte wir hätten uns nichts mehr zu sagen.“, seine Stimme zitterte vor Wut. Es war keine verzweifelte, hoffnungslose Wut, sondern eine ganz normale verärgerte, wie meine auch. „Du Depp hättest auch nicht irgend einen Schrott erzählen müssen, als du betrunken warst!“ Hätte er die Klappe gehalten, wäre jetzt alles bestens. „Ich hab keinen Scheiß erzählt, ich bin schwul! Das weißt du!“ Er schien sogar noch eine Spur verärgerter zu sein, als vorhin. Ihn schien meine Reaktion aber mehr als nur anzupissen. Gut so. „Das ist doch kein Grund es jemand zu erzählen, ich hab es auch nicht getan!“ Und hab damit jedem viele Unannehmlichkeiten erspart – im Gegensatz zu ihm. „Nun ist es eh schon zu spät! Ich kann es auch nicht rückgängig machen und ich wüsste auch nicht, was es dich angehen würde.“ Fassungslos starrte ich ihn an. „Es geht mich ´ne ganze Menge an, wegen dir tratscht jetzt jeder, dass ich auch schwul wäre!“ Ist ihm denn nicht klar, wie schrecklich das ist?! „Wo ist das Problem, du bist es doch auch, oder?“ Nein, er verstand es wirklich nicht. Idiot. „Das geht aber niemand irgendwas an!“ Es reichte schon ganz alleine, dass ich es überhaupt selber wusste. Ich hatte ziemlich lange gebraucht, um das einigermaßen zu verdauen... und eine Lösung dafür zu finden. „Du bist so feige... Warum kannst du nicht einfach dazu stehen?“ Und es brannte, wie abwertend seine Worte klangen. Er war mehr als nur enttäuscht. Es tat immer noch weh. Was waren auch fünf Monate des Ignorierens... die Gefühle waren so schnell wieder da, vor allem, wenn man in der Zeit niemand gehabt hatte zum Reden und jetzt... der Person, der man zuletzt etwas anvertraut hat, die einem als letztem so nahe gestanden hat... Was hatte ich auch erwartet, ich wusste doch, dass ich ihn enttäusche und es schon die ganze Zeit getan habe. Aber ich glaube, so direkt damit konfrontiert zu werden war noch mal ein Stück härter für mich. Und das wiederum schürte wieder meine Wut, die Wut, die in mir und gegen mich brodelt. „Weil ich es hasse! Ich wollte nie schwul sein!“ Es ist frustrierend, einsam, unnötig und so unsicher. Das war alles, was ich an mir hasste. Und niemand hätte es wissen sollen und niemand hätte darüber nachdenken sollen. Es war so verdammt unfair. Das ich jetzt auch noch anfing zu heulen, übrigens auch. Ich war so eine beschissene Heulsuse... „Aber...“, perplex schaute mich Chris an. Ich sah ihn nur verschwommen, wegen den dummen Tränen, aber man hörte es ihm auch an. „Du hast doch geschrieben... dass du... dass es dir egal ist.“ Wenigstens er war nicht mehr wütend... War er aber noch nie, wenn ich heulte. War vermutlich ganz fürchterlich herzzerreißend... Wundervoll, ich wollte sein verficktes Mitleid aber nicht. „Ist es aber nicht! Es is daran schuld, dass immer alles so scheiße läuft!“ Wenn ich nicht schwul wäre, gäbe es nichts, was ich vor anderen verstecken müsste. Könnte offen auf alle zugehen, weil ich nichts zu verheimlichen hätte. Könnte andere an mich ranlassen... wäre glücklich. Aber so... ich konnte ja nicht mal einfach nur mit jemand befreundet sein. „Hey, nicht heulen, du weißt genau, wie sehr mich das immer mitnimmt.“ Seine Stimme klang so widerlich mitleidig. Ich wollte kein dämliches Mitleid, ich wollte... was eigentlich? Bevor ich mich mit der Frage aber gedanklich näher befassen konnte, spürte ich, wie er seine Hand auf meine Schulter legte und mich in eine Umarmung ziehen wollte. Was dachte er sich eigentlich?! Wütend stieß ich ihn weg vor mir. „Lass den Scheiß! Damit machst du sowieso alles noch schlimmer!“ „Ich wollte dir doch bloss helfen.“ Okay, jetzt war er auch wieder aufgebracht. Dachte der etwa, ich lass mich einfach so von ihm umarmen?! „Wer hatte behauptet, dass ich deine Hilfe will!“ Ich war hier, um ihm zu zeigen, was für ein Arschloch er war. Dass er mir mein Leben kaputt macht. Ich wollte sicher keine Hilfe von ihm! Für was auch? Ich hatte ein tolles Leben, bevor er daran dachte, alles kaputt zu machen! „Und überhaupt, ich brauch´ gar keine Hilfe! Schon gar nicht von so einer Schwuchtel, wie dir.“ Das nächste was passierte, hätte ich sowas von nicht erwartet. Ich kenne ihn jetzt über zwei Jahre, aber diese Reaktion war... völlig untypisch für ihn. Er schlug mich und zwar mit voller Wucht in den Magen. Und ich sag euch, dass tat aber übelst scheiße weh. Mein Magen zog sich zusammen und schien irgendwas gemeines, heimtückisches vorzuhaben. Keuchend ging ich in die Knie. Ich wurde noch nie in meinem ganzen Leben geschlagen, von niemanden! „Bloss weil ich dich mal mochte, ist das kein Grund so auf mir rumzutrampeln!“ Anscheinend konnte man auch mal bei ihm einen Bogen überspannen. Aber ich war in keinsterweise gewillt, sowas auf mir sitzen zu lassen! Der Schmerz war auch wieder einigermaßen abgeflaut, so hart war der Schlag wohl doch nicht gewesen. Ich erhob mich und sprang ihn an. So peinlich das jetzt klingen mag, aber ich wüsste es nicht anders zu bezeichnen. Sinn und Zweck der Sache war zum einen ein sehr ungemütlicher Aufprall für ihn und die Möglichkeit für mich ihn ohne größeren Widerstand sein Gesicht zu bearbeiten. Dieser dämliche mitleidige Blick wollte ich da nie wieder drin sehen, oder so ein verständnisvollen Leuchten. Auch nicht dieses schockierte Starren, bevor meine Faust sein Gesicht traf. Eigentlich wollte ich gar nichts mehr an ihm sehen. Er hat mir doch alles kaputt gemacht. Der Schlag selber schien ihn auch aus so etwas wie einer Starre zu lösen. Denn schließlich fühlte ich mich von ihm gepackt und nun meinerseits auf den Boden gedrückt und wie etwas mein Gesicht traf. Dafür rammte ich ihm mein Knie dorthin wo es scheußlich weh tat. Hatte allerdings nicht die Möglichkeit viel Kraft darin zu legen, da er so knapp über mir war. Überrascht war er trotzdem, so dass ich wieder die Oberhand gewann. Nun ja, jedenfalls rollten wir wohl so eine Weile schlagend über seinen Boden. Wobei sich mir mal irgendwas spitzes richtig übel in den Rücken bohrte, was aber auch nicht sonderlich schlimm war, da es auch nicht mehr weh tat, wie die Schläge. Oh, und einmal knallte ich äußerst unsanft gegen einen Bettpfosten, wie es mir gerade im Nachhinein einfällt, also das hat wirklich mehr getan wie ein Schlag. Ein Zimmer war wohl auch nicht fürs Prügeln gemacht. Wir hätten beim Anschreien bleiben sollen, was wir allerdings auch weiterhin taten, allerdings auf einem eher niedrigen Niveau, dass heißt, wir beschimpften uns eigentlich nur. Aber ich mein, Männer sind ja angeblich nicht multitaskingfähig, und sich prügeln ist immerhin eine Sache, die volle Konzentration erfordert. Irgendwann ging uns wohl mal die Puste aus und wir lagen beide nebeneinander auf dem Rücken und starrten schwer atmend die Decke an. Eigentlich... also irgendwie... mir tat zwar alles weh und ich konnte spüren, wie gerade mein linkes Auge, in dem es unangenehm pochte, langsam zu schwoll und generell meine Haut im Gesicht unangenehm spannte... ich fühlte mich trotzdem allem gut. Nicht das ich Gewalt in irgend einer Weise gut hieß, aber vielleicht hatte ich gerade so was mal bitter nötig gehabt. Und meine Wut war weg. Auch die Wut auf mich. Keine Ahnung... es war grad alles okay. „Hey, kennst du denn schon?“, kam es von Chris mit leicht amüsierter Stimme. „Wie nennt man eine Prügelei unter Schwulen?“ Kurzes Schweigen, als erwarte eventuell eine Antwort. Aber nein, ich kannte den Witz wirklich noch nicht. „Vorspiel.“, meinte er mit einem leicht rauen Lachen. Und ich musste sagen, gerade in dem Moment fand ich es lustig. Es tat so gut, endlich mal wieder zu lachen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so vermisst hatte. Diffusion --------- Aber jetzt war ich ratlos. Ich wusste nicht, ob sich irgendwas geändert hatte, bis auf meine Hautfarbe um mein Auge herum, die leuchtete vermutlich wunderbar rot und lila. Denn eigentlich hatten wir uns nicht ausgesprochen, ich hab ihn nicht wirklich zur Sau gemacht. Ich kam immer noch nicht wirklich damit klar, schwul zu sein. Und er... naja, er hat auch kein Liebesgeständnis von mir bekommen. Ich wusste nicht mal, ob er überhaupt noch eines wollte. Also nicht, dass ich ihm jetzt eines geben würde... aber vielleicht... naja, eventuell irgendwann mal... ein kleines, leises. Aber irgendwie... möglicherweise wollte er wirklich nichts mehr von mir. Ich erinnerte mich an den Satz, nach dem er mich zum ersten Mal geschlagen hatte. „Bloss weil ich dich einmal mochte...“ Das war ziemlich klar die Vergangenheit. Hieß das, er mochte mich nicht mehr? Was ihm nicht zu verdenken war. Ich würde auch nichts mehr von einem Typ wollen, der mich nach einem Zuneigungsgeständnis – was für ein dummes Wort! - monatelang ignorierte. „Ich hol uns mal was zum Trinken, okay? Und nicht weglaufen solang... bin gleich wieder da.“ Damit erhob er sich und humpelte aus dem Zimmer. Er sah übrigens auch ziemlich lädiert aus. Jetzt tat es mir sogar ein bisschen Leid. Ich mein, ich hatte eigentlich gar keinen Grund ihn zu schlagen und ich konnte mich auch nicht mehr erinnern, warum ich es überhaupt getan habe. Ich hatte meine Augen geschlossen, aus dem einen sah ich eh kaum noch was raus, und lauschte mir beim Atmen, dann den Schritten, die die Treppe hoch kamen und den Flur entlang gingen. Hier hörte man viel... vermutlich auch unseren Streit. Aber das war mir im Moment egal. Ich hörte, wie er die Türe öffnete und das Zimmer betrat. Erst dann machte ich auch meine Augen auf – soweit es eben ging. Verdammtes Veilchen, dass das so schnell gehen würde... Ich setze mich auf grinste ihm kurz entgegen. Er hatte ein Tablett in der Hand, auf dem Gläser, ein Krug mit Saft stand und... Kühlbeutel?! „Oh man, Mütter sind so schrecklich...“, meinte er mit einem Augenverdrehen und ließ sich neben mir nieder, um uns gleich darauf Saft einzuschenken. Ich nickte nur zur Bestätigung und nahm das gefüllte Glas, um gierig daraus zu trinken. Meine Kehle war auch ganz trocken von dem ganzen Schreien. Für so was war ich einfach nicht gemacht! „Ein Kühlbeutel is übrigens für dich... oh, und das nächste Mal sollten wir doch bitte... leiser sein.“, bei dem Satz war er etwas rot um die Nase. So als hätten wir wirklich etwas gemacht, dass sich nicht gehörte. Naja, also eigentlich sollte man sich ja auch nicht schlagen... Ich grinste ihn nur wieder an. Vielleicht ist es euch ja noch nicht aufgefallen, aber ich bin nicht so der gesprächige Typ. „Also naja... das Veilchen tut mir leid.“, meinte er schließlich. „Auch wenn du es verdient hast!“ Fügte er noch mit einem Stirnrunzeln hinzu. Ich nickte nur und griff dann nach dem Kühlbeutel. Zu hause hatten wir so was auch. Sie waren einfach nur Plastikbeutel, die mit so einem seltsamen, blauen Zeug gefüllt war, das Kälte gut speichern konnte. Ich mochte das Zeug, es tat auch verdammt gut, wenn man es auf verheulte Augen legte. Uh ja... genau das, was ich jetzt wollte. Gott segne Chris Mutter für ihre Gastfreundschaft. Diese Kühlbeutel waren ein wahres Wunder. „Danke.“, meinte ich schließlich schlicht. Irgendwie... er war noch immer der nette Kerl, wie vor fünf Monaten. Aber was hatte ich auch erwartet? Ich war ja auch noch immer das selbe Arschloch... „Für das blaue Auge? Ja, das steht dir wirklich vorzüglich.“ Er grinste nur, als er mich dann in die Seite knuffte. Ich lachte. Normalerweise wäre ich weggerutscht, oder so was, aber im Moment... ich war nur froh, dass er keine Stelle erwischt hat, die weh tat. „Natürlich, mir steht alles!“ Hey, ich war im Moment irgendwie glücklich, da darf man auch ein bisschen arrogant sein! Schweigen, aber diesmal war es ein angenehmes Schweigen. Ich kühlte mein Augen, er seine angeschwollene Lippe und rechte Wange. Langsam wurde auch der Saftkrug geleert und naja... ich glaub, wenn die Welt immer so wäre, könnte ich vielleicht doch mal glücklich werden. Meine Gedanken taten diesmal auch nichts, was für sie typisch war. So was wie lästige Fragen stellen, oder mir irgendwas einzureden. Nein, sie waren einfach fluffig... wie Wattebällchen. Ich weiß, nicht ob ihr dieses Gefühl kennt, ich kannte es bis dahin in jedem Fall noch nicht und ich genoß es. „Magst du mich eigentlich immer noch?“ Die Frage war mir nur in den Sinn gekommen und eigentlich stelle ich solche Fragen nie laut. Nie. Aber hier und jetzt... ich denk, es war okay. Es fühlte sich immer noch fluffig an. Eventuell waren das auch nur irgendwelche Stoffe, die mein Körper freisetzte, um den Schmerz zu betäuben. Vielleicht stand ich ja auch einfach noch unter Schock von... äh... dieser plötzlichen Gewalt. „Ich weiß nicht genau... Du hast dich schon ziemlich scheiße benommen und naja...“ Er blickte jetzt unsicher zu Boden, fuhr mit seiner Hand durch seine Haare. Was er immer tat, wenn er irgendwie nervös war. „Ich ... ich weiß... aber...“ Ich wollte mich erklären. Es war wirklich... also, wenn er meine Gründe verstand, dann... ja, was eigentlich? „Nein, ist schon okay... ich hab dich damals wohl auch ziemlich damit überfallen... Ich hätte es ja eigentlich besser wissen müssen. Aber weißt du, als ich das gelesen habe... da hatte ich auf einmal irgendwie Hoffnungen. Ich war zwar auch sauer... weil du so schlecht über dich denkst, aber ich dachte halt, dass ich das ändern könnte.“ Er schaute mich jetzt direkt an und auch wenn ich ihn nur aus einem Auge sah, bemerkte ich, dass ihn die Geschichte immer noch ziemlich mitnahm. Er wandte den Blick wieder ab, konnte meinen Anblick vielleicht nicht mehr ertragen. „Ich hatte wirklich gedacht, dass unsere... Freundschaft stark genug für so was gewesen wäre, dass du mich nicht abblocken würdest. Es war irgendwie... ein ziemlicher Schock für mich, dass es doch nicht so war.“ Wieder Schweigen. Wir hingen wohl beiden unseren Gedanken nach... ich tat es in jedem Fall. Dachte an den Streit zurück, das Telefonat und all den Scheiß, den ich meiner Freundschaft und Chris angetan habe. „Und jetzt?“ Ich weiß nicht genau, zu welchen Schlüssen mich diese Gedanken gebracht haben, vielleicht zu gar keinen, aber mir kam diese Frage wichtig vor. Weil eigentlich ihre Antwort alles weitere zeigen würde. „Kommt drauf an, was du willst.“ „Ich?“ Ja, genau, so was haben wir gerne. Immer nur alle Verantwortung auf mich abschieben, schon klar! „Hey, mir ist mittlerweile klar, dass man dir nichts aufzwingen kann. Also von meiner Seite aus können wir wieder befreundet sein... aber es liegt an dir, ob du das willst.“ Er schaute mich ernst an. Ich war froh, dass ich ihm kein Veilchen verpasst habe, ich glaub, mich hätte es enorm gestört, in nur einem Auge lesen zu müssen, was in ihm vor ging. Obwohl, im Moment konnte ich auch nicht in beiden etwas lesen. Er war einfach ernst, gefasst und in keinster Weise verunsichert, als hätte er sich schon mit dieser Situation auseinander gesetzt. Im Gegensatz zu mir. Ich hatte nicht angenommen, dass ich nochmal länger mit ihm reden würde und schon gar nicht über so was. „Befreundet?“ Langsam kam ich mir auch etwas doof vor, wie ein dümmlicher Papagei, der immer nur einzelne Worte nach krächzen konnte. Er schnaubte kurz, es wirkte verbittert. „Du hast mir doch deutlich genug gezeigt, dass wir nie mehr sein werden.“ Das war ein Schlag ins Gesicht, mental versteht sich. So schnell legte ich es auch nicht auf eine erneute Prügelei an. Aber er hatte recht.. „Eine Entschuldigung bringt wohl nichts mehr, oder?“ Irgendwie... es tat mir alles so leid. Ich kam mir so dumm vor. „Nein, ich denke nicht...“, seine Antwort war nur ein Flüstern. Sie dröhnte aber auch so in meinem Schädel. Klartext: Ich hatte alles versaut. Ja, gut, ich hatte es selber so gewollt, aber anderseits... ach, verdammt. Aber befreundet könnten wir wieder sein... vielleicht. Ich weiß nicht, ob das einfach ist, wenn mir Chris nicht verzeihen will und ich mir gerade Sorgen um mein letzten, kümmerlichen Verstand machte. Warum wollte ich selbst, dass das ganze Ignorieren ein Ende hatte? Gestern noch hatte es mich nicht gestörte, dass wir zu Fremden geworden waren und jetzt? Aber ich glaube, mir fehlte einfach ein Freund. Es tut selbst mir nicht gut, ständig alleine zu sein. Eigentlich fand ich nach ein paar Wochen immer jemand, mit dem ich zumindest ab und zu rumhängen konnte. Aber diesmal nicht... es war einfach zu schwer in der Klasse noch jemand zu finden, der nicht wirklich integriert war... Es ist gut eine Erklärung zu haben, dass machte alles ein Stück sicherer. Übrigens eine gute Erklärung bräuchte ich auch für meine Mutter. Und zwar jetzt! Ich stand mitten in der Küche. Irgendwie hatte ich nicht daran gedacht, dass sie dort auch sein würde. Sie war gerade dabei etwas zu schneiden, als sie sich zu mir umdrehte. „Wie siehst du denn aus?“ „Wie man halt aussieht, wenn man sich gerade geprügelt hat.“, gab ich unwillig zurück. Für eine Ausrede war ich wirklich zu unkreativ, das einzige was mir als Ausrede eingefallen wäre, wäre eine handgreifliche Diskussion mit einer Straßenbahn. Sorry, Mama... die ist irgendwie einfach so grundlos auf mich losgegangen, die Straßenbahn. Das klang selbst für mich dumm! Args. Ich glaub, Chris hat mir ein paar Gehirnzellen zu viel rausgeprügelt. „Seit wann schlägst du dich denn mit anderen?“ Oh, jetzt war Mama aber definitiv schockiert. Vielleicht vergaß sie darüber die Sache mit dem Schwulsein. „Geht dich nichts an...“ Was musste sie auch so neugierig sein. Mütter waren manchmal wirklich schrecklich. „Natürlich geht es mich was an, wenn sich mein Sohn mit jemand prügelt! Oder wurdest du geschlagen?!“ Plötzlich ein völlig entsetzter Ausdruck in dem Gesicht meiner Mutter. Nein, ich wollte gar nicht wissen, was sie jetzt dachte. Ich wollte es wirklich nicht wissen! Immer wenn sie so schaute, dachte sie an etwas, dass für mich ganz fürchterlich sein wird. „Die haben dich doch nicht geschlagen, weil du schwul bist, oder?“ Ich hab es euch gesagt, ich wollte es nicht wissen! Sie war total bleich und die Besorgnis selbst. Wenn das jetzt nicht diese Situation gewesen wäre, hätte ich vielleicht darüber gerührt sein können, dass sich meine Mutter solche Sorgen machte. „Mama, ich bin nicht schwul!“ Hey, ich sagte euch bereits, das mir Lügen leicht über die Lippen gehen, diese besonders. „Aber... Bist du sicher?“ Sie schien irgendwie... erleichtert. „Ja! Woher hast du überhaupt den Unsinn?!“ Meine Mutter schnappte definitiv zu schnell, zu viel Tratsch auf. „Also Anita, Julias Mutter, hat mir da so was erzählt. Also Chris hat sich ja vor der Klassen geoutet und naja... ich hab mich halt an euren Streit erinnert...“ „Ich bin nicht schwul, okay?“ Sie schien es schneller zu schlucken, als ich es zu erst befürchtet hatte. Aber vielleicht wollte sie es mir auch einfach glauben. „Dann ist ja gut.“, sie lächelte mich an und machte sich wieder weiter daran, für uns zu kochen. „Ich bin dann unter der Dusche.“, murmelte ich noch, um dann aus der Küche zu schleichen. Ich suchte mir in meinem Zimmer, einigermaßen saubere Klamotten zusammen und ging dann damit ins Bad. So machte ich es immer, ich mochte es nicht, halb nackt durchs Haus huschen zu müssen oder mich erst in in meinem Zimmer umzuziehen. Als ich mich meiner Klamotten entledigt hatte, schaute ich noch mal kurz in den Spiegel, bevor ich in die Dusche stieg. Das lag jetzt sicher nicht an meinem übermäßigen Ego, aber es war einfach Gewohnheit. Und herrlich, nicht nur mein Gesicht sah so aus, als wäre ich wirklich gegen eine fahrende Straßenbahn gelaufen, nein, auch der Rest von mir. Lauter blaue Flecken, naja, wirklich blau waren sie nicht, eher grün und gelb, ein paar lila. Sehr sexy... Aber es gab nichts, dass irgendwie nach Blut aussah, das fand ich gut. Ich hasste es offene Wunden zu haben. Ich konnte einfach kein Blut sehen. Args, das klang so tuntig. Aber es war nun mal so... ich hab keine Ahnung an was das lag. Das warme Wasser tat extrem gut auf meinem Körper. Duschen war eine tolle Sache, wenn da nicht das leidige Abtrocknen danach war... Naja, in jedem Fall fühlte ich mich jetzt fast wieder menschlich und irgendwie... freier. Was aber nicht nur an der Dusche lag. Ich hatte mit Chris gesprochen. Und es war okay... wir könnten einfach wieder Freunde sein, zumindest es probieren. Meine Mutter hatte ich auch wieder von ihren aberwitzigen Idee, ich könnte schwul sein abgebracht und ich sah aus, als hätte ich mich wie ein echter Kerl geprügelt. Was ich ja auch getan habe, glaube ich. Ich kenn mich mit Prügeln nicht wirklich aus. Vielleicht sah das stilvoller aus. Und hey, ich konnte mir wieder über so unwichtiges Zeug Gedanken machen und fühlte mich toll dabei. Schwarzes Loch -------------- Es war das erste Mal, dass die Klasse auf einem Schlag schwieg, als ich das Klassenzimmer betrat. Okay, es waren noch nicht alle da, aber die, die da waren, waren still und starrten mich an. Hätte ich vielleicht auch gemacht, wenn ich in ihrer Situation gewesen wäre. Da stand ich, der Klassenhänfling, der Typ, von dem man gestern noch behauptet hat, dass er schwul sei, der Kerl, der sich nicht mal auf verbale Kämpfe einließ, mit einem dicken Veilchen und einer angeschwollenen Wange vor ihnen. Und ehrlich, es war mir unangenehm. Spätestens wenn sie Chris sehen würden, ging die Tratscherei wieder los. Und ich mochte es generell nicht im Mittelpunkt zu stehen. Es glich fast einer Kunst so unauffällig wie ich zu sein. Und ich war es immer bewusst gewesen, einfach weil ich nicht wollte, das jemand sah, dass ich nicht war wie alle. Ich ging zu meinem Platz, zweite Reihe am Fenster, und ließ mich dort nieder. Noch immer Schweigen um mich herum. Langsam wurde es wirklich peinlich für mich. „Hey, Mann, was ist denn mit dir passiert?“, kam es dann von den hinteren Reihen. Ich war etwas überrascht. Eigentlich sprach man mich selten an. Ich drehte mich um und schaute ihn an wie ein Mondkalb. Ich wusste nicht ganz, was ich sagen sollte. So kam auch nur ein „Äh...“ von mir Zustande. Wie geistreich und wieder konnte ich mich dafür mental auf die Schulter klopfen. Meine Intelligenz war unbestreitbar, wirklich. Gerade als mir eine geniale Idee gekommen war, wie ich mich erklären konnte ohne zu erzählen, dass ich mich mit Chris geprügelt habe, machte eben dieser mir eine Strich durch die Rechnung durch sein Erscheinen. Nun, er sorgte nicht für ein erneutes Schweigen, sondern für ein lautes Tuscheln. War ja klar. Aber so was von. Und er musste auch nicht die volle Aufmerksamkeit auf sich ertragen, wie ich eben. Nein, die Leute schauten von ihm zu mir und wieder zurück. Wie bei einem Tennisspiel. Klar, wir waren ja auch so verdammt interessant, wie war da so schwiegen. „Hey, Leute.“, murmelte er dann schließlich nur und schlich an seinen Platz, letzte Reihe an der Wand. Er sah neben den Verletzungen, die sich im Gesicht auf eine lädierte Lippe und einer blauen Wangen beschränkten, nicht sonderlich gut beieinander aus. Ich konnte nicht genau sagen, an was es lag. Er hatte keine Augenringe, war nicht blass, seine Klamotten passten so schlecht zusammen, wie immer – er hatte wirklich keinen guten Sinn für Mode und Farben – und auch sonst war alles wie es sein sollte. Nur er nicht. Ich glaub, seine Haltung war es. Er wirkte niedergeschlagen, ging gebeugter als sonst. Und seine Stimme. Er murmelte selten einfach nur eine Begrüssung. Ich wusste nicht genau, warum er so fertig war. Es war doch eigentlich alles bestens, oder? Ich mein, wir hatten uns ausgesprochen. Zumindest ein bisschen und... und... plötzlich wusste ich nicht, warum ich gestern noch so euphorisch von dem Besuch bei ihm gewesen war. Eigentlich hatte sich doch gar nichts geändert, oder? Er konnte mir wohl nicht wirklich verzeihen und die Leute reden nach wie vor über uns. Naja, gerade nicht laut, aber das war nur eine Frage der Zeit. Noch waren sie vielleicht etwas zu geschockt. „Ach, ihr mögt es wohl lieber härter?“ Manu. Erst denken dann reden. Davon hatte der Kerl wohl noch nie gehört. Und trotzdem war er einer von Chris besten Freunden. Deswegen nahm er sich wohl auch so einen dummen Spruch raus. „Halt die Fresse, okay? Heute ertrag ich das echt nicht.“, zischte Chris nur. Niedergeschlagen war ja noch gar kein Ausdruck für ihn. Ich hatte ihn ehrlich gesagt so unfreundlich und schlecht gelaunt noch nie erlebt. Ach verdammt... wo war denn sein Problem?! Quälte ihn der Gedanke, mit mir wieder befreundet zu sein so sehr? Manu und Chris unterhielten sich noch, diesmal leiser, so dass es nur noch die Leute in der unmittelbaren Nähe mitbekamen, was eigentlich allesamt Chris Freunde waren. Ich hätte gerne gewusst über was. Selbst der Typ mit der sonst so großen Klappe schien diesmal ernst. Anscheinend machte er sich auch Sorgen um seinen Freund. Vielleicht war ihm auch langsam mal klar, was für ein Idiot er war, also Manu. Und einmal schaute Chris kurz in meine Richtung. Nicht lang genug, dass ich sagen konnte, wie es ihm ging und warum er zu mir geschaute hatte. Vielleicht redete er auch mit den anderen über mich. Vermutlich sogar. Ich wüsste nicht, was er ihnen zu erzählen hatte. Es... störte mich. Was hatte er über mich zu reden? Ich war regelrecht froh, als der Lehrer endlich das Klassenzimmer betrat und jede Unterhaltung somit vorerst unterbrochen wurde. Aber die Konzentration während der Stunde war dahin. Ich wusste nicht mal, welches Fach war, so unaufmerksam war ich. Immer wieder wanderte mein Blick nach hinten. Ich wollte wissen, ob er wieder über mich redete. Und tatsächlich flüsterte er mit Manu, wobei er immer noch so unglücklich wirkte, wie zu Anfang. Auch diesmal schaute er einmal zu mir. Als er bemerkte, dass ich ihn gerade anstarrte, rang er sich nur ein kränkliches Lächeln ab und wandte sich dann wieder seinem besten Freund zu. Das war... ich wusste nicht genau, was es war. Ich könnte mich ja freuen, dass er mir zu lächeln wollte. Anderseits ärgerte es mich, dass er tatsächlich dachte, er könnte vor mir so tun, als sei doch alles in bester Ordnung und genau das wollte er nämlich mit diesem Lächeln sagen. Das war so typisch für ihn. Selbst wenn es ihm mal schlecht ging, wollte er das nicht offen zu geben. Und wohl auch nicht mehr vor mir. Er schien mir gegenüber wohl irgendwie keine Schwäche mehr zeigen zu wollen. Was fast genauso schlimm war, wie von ihm ignoriert zu werden. Es war in jedem Fall ein eindeutiges Zeichen, dass er mir nicht mehr vertraute. Ach, verdammte Situation. Vielleicht hätten wir nie versuchen sollen, uns auszusprechen. Es war doch so klar gewesen, dass das schief läuft. Ich hätte es wissen sollen. Aber vermutlich war ich damals einfach zu wütend, um über so etwas nachzudenken. Die restliche Stunde schaute ich auch konsequent nicht mehr in seine Richtung, schließlich hat das die letzten Monate auch immer ganz gut funktioniert. Was mich dann aber völlig aus der Bahn warf, war ein Chris, der in der Pause plötzlich an meinem Platz stand. „Hey.“, meinte er schlicht. Diesmal auch ganz ohne falsches Grinsen. „Äh... hey.“ Mensch, ich warf mit Intelligenz mal wieder förmlich um mich, aber was hätte ich sagen sollen?! Ich hätte ihn fragen können, was er mit den anderen über mich zu reden hatte, aber dann würde ich auch zu geben, dass ich ihn beobachte und total paranoid bin. „Ich hab das jetzt übrigens mit uns klar gestellt. Sie lassen jetzt das dumme Geschwätz.“ Kurz überlegte ich mir, ob ich laut gedacht hatte. Aber das war mir noch nie passiert und vermutlich kannte mich Chris immer noch gut genug, um zu wissen, was in meinem Kopf rumspukt. Zumindest manchmal. „Wie hast du das gemacht?“ Ich weiß selber, dass er öfter beteuert hat, dass wir nicht zusammen waren, aber die Gerüchte hatten deswegen nicht aufgehört. „Ich hab ihnen die Wahrheit gesagt.“ Völlig geschockt starrte ich ihn an. Er hatte was?! War der Typ des Wahnsinns?! Ich mein, dass... sowas hätte ich ihm nie zugetraut. Das er mir nicht verzeihen kann, na gut, aber DAS! „Schau nicht so, ich hab ihnen nicht ... alles gesagt. Aber das Wichtigste.“ Wie er dieses Alles betonte. Ich wusste genau, was er damit meinte. Okay, er hatte ihnen nicht gesagt, dass ich schwul bin, aber was dann? „Das Wichtigste?“ Ein bisschen überraschte es mich, dass meine Stimme trotz allem irgendwie teilnahmslos klang. Vielleicht war ich wirklich ein Gefühlskrüppel. Ich hätte zumindest neugierig klingen müssen. „Dass du mich hast abblitzen lassen. Ich deswegen die letzten Monate so schlecht drauf gewesen bin. Und naja, dass wir uns gestern wegen den Gerüchten geprügelt haben.“ „Oh...“ Irgendwie, wenn man das so gesagt bekommt, kling ich wirklich nach einem totalen Arschloch, dass ich wahrscheinlich auch bin. „Was haben sie dazu gesagt?“ „Oh, dass ich jemand bessers als dich verdient hätte und du mich nicht zu würdigen weißt und sowas halt...“ Und zum ersten Mal an dem Tag lachte er aufrichtig. Ich wusste nur nicht sicher über was. Lachte er über seine Freunde? Lachte er über mich? Oder einfach über die Gesamtsituation? „Naja, zumindest denken sie jetzt nicht mehr, dass du schwul bist... Aber ich glaub, sie mögen dich trotzdem nicht.“ Chris grinste mich dabei an. Seine Freunde konnten mich noch nie leiden. Sie fanden mich komisch, haben sie mir sogar mal gesagt. Aber sie ließen mich in Ruhe, Chris zu liebe. Jetzt vermutlich auch. „Und was sagen sie dazu, dass du jetzt mit mir redest?“ „Das mir nicht zu helfen sei und ich dich so schnell wie möglich vergessen soll.“ Noch immer grinste er. Seine Laune schien in den letzten zwei Schulstunden merklich besser geworden zu sein. Nur von den Gesprächen mit seinen Freunden? „Vielleicht haben sie recht.“ Tschak. Ich dumm. Ich schon immer gewusst haben. Aber das war doch definitiv der falsche Satz. Was man auch sofort sehen konnte. Chris Gesicht verfinsterte sich schlagartig. Das Grinsen war wie weggewischt. „Vielleicht.“, gab er trocken zurück, drehte sich um und ging zurück zu seinen Freunden. Ich hatte wohl auch noch nicht davon gehört, dass man erst denken sollte, bevor man sprach. Ach, verdammte Scheiße. Ich wollte doch wieder mit ihm befreundet sein. Ich wollte es wirklich! Aber dazu gehörten auch Zwei, also sollte ich wohl auch mal meinen guten Willen, der sicher irgendwo... ganz tief ... verdammt tief... verborgen war, zeigen und auf ihn zu gehen, gleich nach der Schule. Das gab mir noch Zeit zu denken. Ich könnte mich entschuldigen... Dafür das ich ehrlich war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihm nicht gut tue. Ich tue niemanden gut. Aber ich brauchte einfach jemanden und ein bisschen tat es mir ja Leid, dass es gerade Chris sein musste. Er war nämlich wirklich ein netter Kerl. Ein verdammt netter Kerl. Okay, also eine Entschuldigung, nach der Schule, wenn das nichts war. Zumindest mehr, als ich mir meistens durch rang. Nur leider kam ich nicht mehr dazu. Er war nach dem Unterricht die ganze Zeit von seinen Freunden belagert und vor ihnen wollte ich mich wirklich nicht entschuldigen. Wer wusste schon, wie sich das auf die Gerüchte auswirken würde. Und irgendwie sank mein Mut auch gerade dem Nullpunkt entgegen. Vielleicht wollte er gar keine Entschuldigung von mir, vielleicht wollte er auch überhaupt nicht mehr mit mir befreundet sein. Vorhin ist er wahrscheinlich nur her gekommen, um mir zu sagen, dass jetzt alles zwischen uns bereinigt war. Und zwar auf das letzte bisschen. Selbst das Gerücht zwischen uns war jetzt weg. Also sollten wir wohl wieder jeder seine Weg gehen, oder? Ich hoffe, ihr versteht mittlerweile, warum ich es so hasse, wenn etwas so unsicher war. Man konnte nicht klar darüber nachdenken und deswegen auch keine Antwort finden. Ich hätte mir ja vornehmen können ihm am nächsten Tag anzusprechen, oder den Tag darauf. Aber irgendwie... ich bin jemand, der sich schnell entmutigend lässt. Leider. Und es setzte wieder etwas ein, dass mir wohl einfach schon zu sehr ins Blut übergegangen ist, als das ich noch bewusst dagegen steuern konnte. Ich wurde sauer. Der ursprüngliche Grund war meine Feigheit, aber nach und nach wuchs die Wut und breitete sich aus. Vergaß ihren eigentlichen Ursprung und plötzlich war ich sauer auf ihn. So absurd es klingen mag, aber mir kam es logisch vor. Gut, ich hatte mich dumm benommen. Aber Freunde mussten einem doch so etwas verzeihen! Er konnte doch auch mal seinen Stolz runterschlucken und einfach auf mich zu gehen. Bei dem Gedankengang bedachte ich nicht, dass er das schon getan hatte und ich das mit Füßen getreten habe. Ich hatte es wohl irgendwie... vergessen. Ihr könnt es glauben, oder nicht, so gingen wieder drei Wochen ins Land, ohne dass wir miteinander geredet hätten oder sich irgendwas geändert hatte. Obwohl, doch, etwas hatte sich geändert. Ich versuchte ihn nicht mehr zu ignorieren. Gut, ich redete nicht mit ihm, aber ich beobachtete ihn dafür. Eigentlich fast immer, wenn es sich ergab. Und eigentlich gab es genug Gelegenheit dazu. Der Unterricht, die Pausen, die Hohlstunden, das machte schließlich meistens die Hälfte meines Tages aus. Ich stellte überraschende Dinge fest. Nun ja, vielleicht nur überraschend für mich. Nein, jetzt kommt kein hirnloses Geschwärme, es ging viel mehr um seine Freunde. Sie schienen wirklich kein Problem mehr damit zu haben. Ich hatte erwartet, sie würden Abstand zu ihm nehmen, ihn möglicherweise sogar links liegen lassen und die Freundschaft zu ihm völlig abbrechen. Aber irgendwie behandelten sie ihn wie immer. Das hieß, auch Körperkontakt. Sie knufften sich, schlugen sich, wuschelten ihm durchs Haar. Besonders Manu tat das oft. Die beiden standen sich ja auch ziemlich nah. Sie kannten sich eigentlich schon immer. Ihre Eltern sind befreundet und die beiden wurden miteinander groß. Warum mochte er dann mich und nicht Manu? Mochte er mich überhaupt noch? Oder doch viel lieber Manu? Das waren Fragen, die ich mir nicht stellen sollte und eigentlich nicht wollte. Aber sie ließen sich nicht verscheuchen. Aber was sollte ich davon halten, wenn er die ganze Zeit an seinen Freunden klebte, besonders an Manu? Mir kam es sogar so vor, als würden sie sich näher stehen, als je zu vor. Ob Chris ihm auch gesagt hatte, dass er ihn mochte? Oder ob sie sogar zusammen waren? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich war mir sicher, ich würde so etwas merken. Aber ganz ausschließen wollte ich es nicht. Deswegen suchte ich nach Anzeichen. Das lustige an solchen Dingen war, dass man sie immer fand, wenn man suchte. Ob sie nun real waren oder nicht. Und mittlerweile wurde mir immer klarer, dass er mich gar nicht mehr wollte. Diese kurze Episode, dass wir vielleicht doch wieder Freunde sein konnten, war eigentlich gar nicht mehr ernst zu nehmen. Deswegen hatte er mir auch nicht mehr verziehen und sich auch nicht mehr weiter bemüht. Oder? Ganz sicher war ich mir trotzdem nicht und diese verflixte Unsicherheit war es auch, die mich nicht davon los brachte. Mich dazu verleitete ihn trotzdem noch zu beobachten und ihn als meinen Freund zu sehen. Und die Tatsache, dass ich erfahren habe das Manu eine Freundin hatte. Dahin waren all meine Einbildungen. Zum Glück, ich war wirklich erleichtert, als ich das erfahren habe. Aus sicherer Quelle, ich hatte sie belauscht. Also nicht so, als wäre ich ihnen nach geschlichen, oder so. Aber ich hab es eben zufällig gehört. Aber das konnte trotzdem heißen, dass Chris ihn mehr mochte als mich. Ich... fand es ganz einfach ungerecht. Ich hatte mich schließlich mit all dem abgequält, mit dem Ignorieren, ihn vergessen wollen. Ich hab mich von Chris verprügeln lassen. Ich hab mich wirklich bemüht und trotzdem.. es war so unfair! Der Gedanke hing mir schon den ganzen Tag nach... Er lenkte mich leider auch ab. Weswegen ich es schaffte in Sport gleich zweimal einen Ball direkt ins Gesicht zu kriegen. Was spielten mir auch so schwules Volleyball? Gott... ich hasste dieses Fach und meine Nase kribbelte noch leicht vom letzten Ball, der mir ins Gesicht geflogen kam, als wir dann endlich zu den Umkleiden entlassen wurden. Wurde auch Zeit. Freitag, die letzten zwei Stunden Sport... das war nur noch reine Folter! Zumindest für mich. Wieder hörte ich mit einem halben Ohr zu, als sich Chris und Manu unterhielten. Es ging um Manus Freundin, zumindest am Anfang. Er schwärmte etwas von ihrem Bauch vor. Ihrem Bauch? Hallo? Ich meine, ein Bauch hat doch jeder. In jedem Fall schien sie einen ganz tollen Bauch zu haben... wie auch immer. Das Thema wechselte. Es ging auf einmal um Chris... Ich war kurz unaufmerksam, deswegen wusste ich nicht, wie der Wechsel zu Stande kam. „Übrigens“, das Wort sprach Manu besonders gedehnt, damit der anderem ihm auch ja zu hörte, „... ich wüsste jemand, der vielleicht was für dich ist...“ Dabei grinste der Typ auch noch wahnsinnig breit. Chris blinzelte verwirrt. „Hä?“ Er sprach in etwa das aus, was ich mir auch gerade dachte. Manu zog sich gerade sein verschwitzes T-Shirt über den Kopf, um es dann achtlos in seine Sporttasche zu stopfen. „Ein Bekannter von mir, der ist bi und gerade solo. Ich hab ihm mal von dir erzählt. Er würd´ sich gern mal mit dir treffen.“, plapperte Manu weiter, als wäre das eine tolle Idee und er ein ach so toller Freund. Hakt´s bei dem? Chris wollte niemand anderen! Ganz bestimmt nicht. Ich mein, nicht nach allem was war. Das würde er ihm jetzt auch sagen, ich wusste es. „Hey, cool. Kannste ihm ja mal meine Nummer geben.“ Also... jetzt gerade zerbrach meine kleine, total verblendete Welt und ich glaube, dass löste einen Kurzschluss aus. Und was für einen. Also irgendwas in meinem Kopf war in jedem Fall durch geschmorrt. „Geht´s noch?!“, ich brüllte. Ich war irgendwie nicht mehr wirklich in der Lage zu denken, mir war nicht klar, wie sehr ich mich gerade blamierte. Alle starrten mich an. Na gut, es waren nur fünf Kerle, wovon nur zwei wichtig waren, eigentlich nur einer. Der schaute dafür umso irritierter. Er schien kurz dazu anzusetzen, etwas sagen zu wollen. Aber sein Mund öffnete sich nur und klappte dann wieder zu, ohne einen Ton raus gebracht zu haben. Ich war dabei so auf Chris fixiert, dass mir Manu gar nicht mehr aufgefallen war, bis er plötzlich seinen spitzen Zeigefinger gegen meine Brust rammte. „Was denkst du dir eigentlich, du Freak? Du hast dich da sicher nicht einzumischen!“, knurrte er mich an. Was bildete sich dieser Fatzke eigentlich ein? Natürlich hatte ich mich da einzumischen! Aber sowas von! Allerdings war ich noch zu verblüfft von seinem plötzlichen Übergriff, als das ich reagierte. „Bloss weil er mal in dich verknallt war, heißt das noch lange nicht, dass du dir so eine Scheiße rausnehmen kannst!“ Nur aus dem Augenwinkel und eher unterbewusst nahm ich war, wie sich gerade die drei anderen Kerle aus der Umkleide schlichen, noch was von „Müssen zum Bus“ murmelten und dann verschwunden waren. „Und ob ich das kann!“, schrie ich endlich zurück. Ich hatte alles Recht dazu. Wütend schlug ich die Hand beiseite, die noch immer meine arme Brust malträtierte. Wenn ich kein Recht dazu hatte, dann niemand! Der Typ hatte doch gar keine Ahnung, was für Scheiße ich für Chris durch gemacht hab. Die Monate ohne ihm waren wirklich nicht einfach und ich... und ich... hab diesmal wirklich nicht mehr versucht weg zu rennen und das bedeutete eine ganze, verfluchte Menge! „Ach, und warum? Du bist doch nur ein beschissener Schwulen-Hasser. Echt, ich versteh wirklich nicht, wie Chris an dich geraten konnte.“ „Ich...“... wusste wirklich nicht was ich darauf erwidern sollte. Ich... irgendwie hatte er vielleicht sogar recht. Ich mein, schließlich hasste ich doch genau das an mir, dass ich schwul war... Und Chris... naja, ihn hatte ich vermutlich auch nicht verdient, nicht mal als Freund. Hilflos blickte ich nun zum ersten Mal seit dem Wortwechsel in seine Richtung. Er schien die Unterhaltung perplex verfolgt zu haben, hatte aber bis jetzt noch nichts dazu gesagt. Erst als er meinen Blick bemerkte, kam ihm etwas über die Lippen. „Manu, Sarah wartet sicher schon...“ Die Stimme zitterte. Er wirkte schon wieder so fertig, irritiert, überfordert. Es war eine höfliche Bitte, dass sich Manu verziehen sollte. Dieser setzte kurz zu einem Protest an, der aber von einem leisen „Bitte.“ seitens Chris sofort unterbrochen wurde. „Ach, macht doch was ihr wollt.“ Manu war anscheinend jetzt nicht nur sauer auf mich. Aber das war ehrlich gesagt meine geringste Sorge... weil jetzt... waren wir alleine. Das letzte Mal, als das der Fall gewesen war, hatten wir uns geprügelt. „Okay, was ist mir dir los?“, ernst schaute mich Chris an. Nicht mehr verwirrt. Wie ich ihn darum beneidete. Ich wollte auch endlich mal wieder jemand sein, der nicht ständig verwirrt war, der genau wusste, um was es ging. Und der Fragen beantworten konnte. „Was soll mit mir los sein?“ Ich klang so unsicher. Na gut, ich war es auch. Aber es kam schon länger nicht mehr vor, dass man mir das anhören konnte. „Du benimmst dich seltsam... Du redest nicht mit mir, aber beobachtest mich die ganze Zeit. Du willst nichts von mir wissen, aber lauscht dauernd. Ich versteh nicht warum.“ Er wusste so genau, was er sagte. Er war mir wieder große Schritte vorraus, als wüsste er etwas, was ich nicht mal ahnte. „Oh, das hast du bemerkt?“, gab ich kleinlaut und etwas peinlich berührt zurück. Args... und ich hatte schon gehofft, er hatte das peinliche Beobachten nicht mitbekommen... wäre auch zu schön gewesen. „Also, warum?“ Er fuhr sich durch die Haare, schaute mich dabei aber immer noch so ernst an. Okay, er war nervös, aber diesmal war er es, der es nicht zeigte oder nicht zeigen wollte. „Ich... also... wir ... naja, sind doch Freunde, oder?“, stammelte ich vor mich hin. Ich kam mir vor, wie der letzte Idiot. Ich hasste dieses Gefühl. Deswegen hatte ich es vermieden, mit ihm zu sprechen. „Aha.“, gab er nur zurück. Verdammt, musste er es mir so schwer machen. Was sollte diese dumme Aha. Sag was dazu! Das war keine Antwort! Er schien darauf zu warten, dass ich mehr sagte. Aber ich wusste nicht was. Ich hatte ihn nicht mehr zu sagen, glaube ich zumindest. „Also, sind wir doch, oder? Ich meine, das hast du gesagt. Das wir wieder Freunde sein können!“ Ich schluckte, irgendwie bekam ich langsam richtig gehend Panik. Was ist, wenn er mir jetzt sagt, dass er es doch nicht mehr wollte? Ich mein... ich hatte noch nie versucht mich wieder auf eine Freundschaft einzulassen. Es war ... was besonders für mich. Ich wollte nicht, dass er es mit Füßen tritt. Aber ich hatte es ihm ja förmlich dazu hingeschmissen. Chris seufzte auf, schaute mich traurig an. „Du machst es einem aber auch nicht leicht.“ Ich hätte protestieren können, um mich zu verteidigen. Aber ich war seiner Meinung. Allerdings hatte ich nie behauptete einfach zu sein und das sollte er doch mittlerweile wissen, wir waren schließlich schon eine Weile befreundet gewesen und da war ich auch nicht anders gewesen. Ich blickte zur Seite, wollte ihn nicht mehr anschauen. Es war so eine verfahrene Situation, wir waren ja nicht mal in der Lage normal miteinander zu reden. Vielleicht konnten wir wirklich keine Freunde mehr sein. Möglicherweise war es das, was Chris schon längst wusste und mir nur nicht klar sein wollte. Schweigen. Diesmal störte es mich, nein, viel mehr, ich hasste es regelrecht. Das Schweigen war so viel mehr, es war genau wie unsere Freundschaft. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie hatte einen toten Punkt erreicht. „Ich weiß...“, durchbrach ich diesmal die Stille. Ich konnte sie nicht mehr ertragen. Es war einfach nur entsetzlich. Alles war so anstrengend und Nerven aufreibend geworden. „Vielleicht sollten wir da alles einfach bleiben lassen. Es soll wohl nicht mehr sein...“ Ich schaute ihn nicht an, als ich das sagte. Ich konnte nicht. „Verdammt!“ Es war gepresst und wütend. Erschrocken blickte ich auf und wurde kurz darauf hart gegen die Türe der Umkleide gedrückt, der Türgriff bohrte sich unangenehm in meinen Rücken. Und der Kuss war hart, aggressiv und soweit davon entfernt romantisch zu sein, dass ich mich schon fragte, ob man das überhaupt als Kuss zählen durfte. Trotzdem allem erwiderte ich ihn... ich konnte gar nicht anders. Als hätte er das gewusst. Aber vielleicht war es auch einfach zu erwarten gewesen, ich war schließlich auch nur Kerl und der letzte Kuss war... ich wusste nicht einmal mehr, wann ich zuletzt geküsst wurde. Es war in jedem Fall verdammt lange her und ich hatte es anders in Erinnerung, sanfter. Ich glaubte sogar einen leicht metallischen Geschmack, wie von Blut, zu schmecken, aber ganz sicher war ich mir nicht. Ich litt gerade sowieso an totaler Reizüberflutung. Was auch an seinen Händen lag, die sich unter mein T-Shirt – wohlgemerkt mein absolut unsexy verschwitzes Sport-Shirt – schoben und dort viel zu hastig über meinen Körper fuhren. Als versuchte Chris soviel wie irgend möglich von mir wahrzunehmen, bevor ich auf die Idee kam ihn von mir zu stoßen. Aber ganz ehrlich, ich dachte kein Stück dran. Seine Hände waren viel zu heiß und brachten meine eh schon erhitzte Haut fast zum Glühen. Aber es passte irgendwie auch zu dem Kuss. Schließlich löste Chris ihn, um mir mein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Was mir Gelegenheit gab ein bisschen beiseite zu rutschen, so dass mich der Türgriff nicht mehr malträtierte. Sofort waren wieder seine Lippen auf meinen, wieder so gierig, aber diesmal nur kurz. Er wanderte den Hals hinab, bis zum Schlüsselbein und biss zu. Ich wusste nicht, ob es weh tat oder mich erregte. Vermutlich etwas dazwischen. In jedem Fall keuchte ich auf. Und es schien fast zu hallen in der sonst stillen Umkleide. Als Reaktion darauf krallten sich seine Finger in meine Seiten und er hielt kurz inne. So spürte ich, dass er leicht zitterte. Ich zog ihn fester an mich, drückte ihm meine schon leicht geschwollene Lippen auf. War vermutlich auch nicht viel zärtlicher als er, aber das war mir egal. Seine Hände wanderten währenddessen zu meinem Hosenbund. Da ich schon halb umgezogen war, trug ich meine verwaschene Jeans, die nur mit einem Gürtel wirklich auch auf meinen Hüften saß. Und er nestelte nervös an der Gürtelschnalle herum, schien sie nicht aufzubekommen. Ich schob seine Hände beiseite und versuchte selbst den Gürtel zu öffnen. Aber das schien nicht zu funktionieren, ohne das ich den Kuss abbrach. Verdammte Scheiße. Chris schien zu dem selben Ergebnis gekommen zu sein, da er von sich aus von mir abließ. Schwer atmend versuchte ich mit meinem verschwitzen Händen, dieses dumme Dinge auf zukriegen. So schwer war das doch sonst nicht, allerdings zitterten meine Hände auch sonst nicht so. Während ich noch mit diesem Mistding kämpfte, machte sich auch Chris daran, sich auszuziehen. Und auf einmal kam mir, wie absurd das eigentlich war. Was machten wir eigentlich hier?! Verwirrt schaute ich zu dem Braunhaarigen, der sich gerade in seinem T-Shirt verheddert hatte - wie auch immer er das hinbekommen hatte - mich dann aber breit angrinste, als er es geschafft hatte, sich das lästige Ding doch noch über den Kopf zu ziehen. Sofort bemerkte er, wie verunsichert ich plötzlich wieder war, was mir wohl nicht schwer anzusehen war. Als Reaktion darauf beugte er sich zu mir, knabberte an meinem Hals, während er selbst nochmal versuchte meinen Gürtel zu öffnen, was ihm diesmal gelang. Er streifte mir die Hose samt Boxershorts über die Hüfte und mit einem -wie mir schien- viel zu lauten Klack, das von der Gürtelschnalle stammte, landete sie auf dem Boden. Kurz gingen noch leise Zweifel mit dem Geräusch einher, aber als dieses verhallt waren, gab es nur noch Chris Mund und Hände. Kurz ließ er nochmal von mir ab, um sich selbst seiner überaus äh... tollen Jogginghose und Boxershort zu entledigen. Und kurz standen wir uns einfach nur nackt gegenüber. Mir hing die Hose, samt Boxershorts noch um die Füsse und vielleicht wäre es mir peinlich gewesen, so entblößt und nun ja... erregt und dann noch seinen Blick auf mir, er schien mich mit seinen Augen förmlich zu fressen, aber gerade dieser Blick verscheuchte jede Unsicherheit. Mit einem Lächeln zog ich ihn wieder zu mir, spürte seine Erregung an mich gedrückt. Es war ein tolles Gefühl zu wissen, dass man der Grund dafür war. Ich ließ nun meinerseits meine Hände über seinen Körper gleiten, wollte das Gefühl aber mehr auskosten, als er zuvor. Wir hatten Zeit, ich war mir sicher. Wir hatten alle Zeit der Welt. Seine Haut fühlte sich an, wie ... Haut... aber wie seine Haut. Jede Berührung meinerseits schien eine andere Emotion bei ihm auszulösen. Und er schien einfach abzuwarten, unfähig etwas anders zu tun, als meine Hände zu spüren. Noch immer zitterte er, aber ich auch. Manchmal seufzte er auf, was irgendwie ermutigend war. Er mochte das, was ich tat. Neugierig, wie er reagieren würde fuhr ich mit einer Hand zu seinem Hintern hinab und kniff hinein. Was sofort ein lautes Keuchen zur Folge hatte und Chris dazu veranlasste, wieder aktiv zu werden. Kurz küsste er mich sturmisch, wanderte aber wieder hinunter, aber diesmal machte er nicht an meinem Schlüsselbein halt, auch nicht an meinen Brustwarzen und als er dann noch tiefer wanderte, dämmerte mir erst langsam, was überhaupt sein Ziel war. Und kurz kam ich mir so unheimlich naiv vor, weil ich solang brauchte, um zu wissen, was er vorhatte. Aber das Gefühl ging ziemlich unter, als er mit der Zunge über meinen Penis fuhr. Das war einfach, als lösten sich alle dumme Gedanken im Nichts auf und das ist ein unbeschreibliche schönes Gefühl. Als er sich dann auch noch zeitgleich an meinem Hintern zu schaffen machte, klinkte einfach alles aus, meine Knie wurden zu dem weich und ich rutschte selbst überrascht davon zu Boden. Kurz schaute mich Chris verwundert an, lachte dann aber auf und beugte sich wieder zu mir herunter, gab mir einen eiligen, überhitzten Kuss, während er mit seiner Hand nach meiner Erektion griff und immer wieder auf und abfuhr. Ich hatte mir selber schon oft genug einen runter geholt, war ja auch klar in dem Alter und im Prinzip machte er nun dasselbe bei mir... aber es war so krass viel anders... Auch anders wie bei meinen unerfahrenen Ex-Freundinnen. Er wusste genau, wie es sich gut anfühlte. Gott, wie konnte ich bisher ohne dieses wahnsinnige geile Gefühl leben? „Dreh dich um...“ Seine Stimme klang viel rauer als sonst... mehr konnte ich nicht dazu feststellen. Gedanklich befasste ich mich, insofern man das so nennen konnte, immer noch mit seiner wundervollen Hand in meinem Schritt. Das Gesagte erschien mir zu dem kurzzeitig auch wahnsinnig logisch, also drehte ich mich auf den Bauch. Bis sich kurz ein paar Gehirnwindungen dazu herabgelassen hatten sich ein kleines bisschen von den Hormonen zu befreien und zu denken. Erkenntnis: Ich war der Kerl, der unten lag, also der Typ, der nicht den männlichen Part hatte, also... ARGS! Ich setzte auch kurz zu einem Widerspruch an, wofür ich mich wieder umdrehte. Versuchte das wohlige Gefühl, dass noch immer in meinem ganzen Körper prickelte kurz zu ignorieren, um ihm was entgegen setzen zu können. Was aber nicht mehr ging, als ich ihn anschaute. Er grinste mich an, irgendwie gierig, aber auch noch anders. Es wirkte wie ein „Vertrau mir. Ich weiß schon was ich tue.“ Und ich glaubte es ihm irgendwie. Ein bisschen trug vielleicht wohl auch seine Hand um meine Erregung dazu bei und der sanfte Kuss, der erste, wie es mir schien. Ich drehte mich also wieder um, aber diesmal weniger benebelt. Ich hatte... etwas Angst. Okay, etwas ist untertrieben. Ich hatte eine Scheiß Angst! Und erst jetzt fiel mir auch auf, wie kalt der Boden eigentlich war. Klar, gefließt und unbeheizt. Er hob meine Hüfte an, so dass ich mehr vorn über gebeugt vor ihm saß, als lag. Was den Vorteil hatte, dass er damit begonnen hatte mein Hirn mit viel zu vielen Gefühlen zu überlasten, in dem er wieder an meiner Erektion rieb, und so die Angst zumindest nicht mehr so im Vordergrund stand. Was sie sowieso nicht mehr gewesen wäre, als er in mich eindrang. Nur ein kleines Stück, aber Scheiße Autsch, das tat ja schon weh! Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich mir. Dabei hatte er auch aufgehört noch weiter zu reiben. Stattdessen bohrten sich die Finger der anderen Hand in meine Hüfte. Und er keuchte leise auf. Vermutlich musste er sich auch irgendwo beherrschen, immerhin schien er sich Mühe zu geben, sanft zu sein. Aber ganz ehrlich, meine Bewunderung für seine Beherrschung hielt sich etwas in Grenzen. Immerhin lag ich unten und versuchte mich etwas von dem Schmerz abzulenken. Okay, es tat weniger weh, als ich zu erst erwartet hatte, aber es tat weh genug. Nach einer Weile, keine Ahnung wie lang, wurde es dann langsam auch wirklich besser, vor allem, als er wieder anfing über meinen Körper zu streichen und meine Erregung sanft massierte. Das lenkte wirklich ab. Es tat gut und ich fing langsam an es wieder etwas zu genießen. Als er dann in mir kam, dauerte es auch nicht mehr allzu lange für mich. Vielleicht auch weil er sich wieder aus mir gezogen hatte. Ein lautes Keuchen erfüllte den Raum, ich wusste nicht genau, ob es meines oder seines war. So wichtig war das wohl auch gar nicht. Schwer atmend lagen wir nebeneinander und nur ganz langsam lichtete sich der Dunst, der sich wohl um meine Gedanken gelegt hatte. Mein Hintern schmerzte, mein Bauch war kalt und neben mir stand Chris gerade auf. Er wuselte um mich herum. Ich wusste nicht genau, was er tat. Ich hatte die Augen geschlossen und war einfach zu müde. Ein Kuss auf meine linkes Schulterblatt ließ mich dann aber doch die Augen öffnen. Chris war in die Knie gegangen, hatte meine Kleidung in der Hand und lächelte mich entschuldigend an. Ich wusste nicht genau, für was er dachte so lächeln zu müssen, aber eigentlich fand ich es in dem Moment nett. „Soll ich dir irgendwie helfen?“ Er klang leicht besorgt, vielleicht auch schuldig. Was er ja auch war, wegen ihm viel es mir so schwer mich aufzusetzen... und Gott, Scheiße, hätte man mir nicht sagen können, dass das eine dumme Idee ist, so kurz danach? Na gut, Hirn verwenden hätte ich auch können, aber nicht im Moment. Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf. In meine Klamotten kam ich schon alleine, obwohl mir meine Bewegung seltsam ungelenk und steif vorkommen. Der Nachhauseweg wurde im Schweigen zurück gelegt. Ich humpelte, fühlte mich irgendwie etwas elend wegen des Schmerzes, anderseits aber eine kleine Spur freier, ähnlich wie nach der Prügelei, aber nicht ganz so euphorisch. Aber im allgemein könnte man sagen, ich war einigermaßen zufrieden, den Umständen entsprechend. Chris brachte mich noch nach Hause, was ja kein allzu großer Umweg für ihn war und verabschiedete sich mit einen nichts sagenden „Bis dann.“ Als ich endlich mein Bett erreicht hatte, ließ ich mich nur noch drauf fallen und schlief. Schlafen war schon immer eine gute Sache gewesen. Elf Dimensionen am Morgen ------------------------- Auf wachen dafür um so weniger. Erste Erkenntnis: Mein Hintern tat immer noch. Zweite Erkenntnis: Das lag daran, dass ich Sex mit Chris hatte. Dritte Erkenntnis: Ach, du Scheiße. Ich mein, oh mein Gott, dass.. dass... WARUM?! Irgendwie... das kam mir gerade so unheimlich abwegig vor. Was war da mit mir los gewesen? Oder mit uns... Ich war mir ganz sicher, dass ich das nicht im Sinn gehabt hatte, als ich ihn wütend anschrie. Okay, was ich mir da eigentlich gedacht habe, weiß ich auch nicht mehr... Aber ich bilde mir ein, es ging um Freundschaft. Nicht um Sex. Ich mein, mit seinen Freunden hatte man keinen Sex! Zumindest ich nicht... aber was war er dann? Ich mochte ihn. Diese Erkenntnis blieb selbst von mir nicht unentdeckt. Aber mehr auch nicht. Mögen und Lieben war nicht dasselbe. Es gehört zur Liebe mehr Vertrauen dazu... Vertrauen, das ich in niemanden hatte, auch nicht in ihn. Ob er das wusste? Vermutlich. Er kannte mich gut. Langsam kroch ich aus meinem Bett, noch immer geplagt von diesen Gedanken. Aber ich wollte unter die Dusche. Ich fühlte mich, als würde man den Sex förmlich an mir riechen können. Das war mir irgendwie... peinlich. Generell, wenn ich an das in der Umkleide zurück dachte. Wie konnte ich mich nur vor einer anderen Person so gehen lassen?! Und dann auch noch vor Chris... Aber vielleicht war es auch gut, dass es Chris war... bei jemanden anderen hätte ich nicht die Sicherheit, dass er nichts weiter erzählen würde. Ein bisschen beruhigte das, machte aber nichts besser. Scheiße... Warum musste eigentlich alles so schrecklich kompliziert sein?! Als ich in die Dusche steigen wollte, fiel mir beim Blick in den Spiegel – ihr wisst schon, die Gewohnheit – auf, dass ich einen kleinen Knutschfleck am Hals hatte und ein leuchtend roten, großen am Schlüsselbein. Ach, du Schande! Das nicht auch noch... Beweise. Beweise sind dumm, damit ließ sich soviel... beweisen. Okay, ich bin heute irgendwie auch nicht die Intelligenz in Person, aber ich finde, man muss Verständnis haben, man wird schließlich nicht alle Tage von einem Freund... Ich konnte es nicht einmal mehr im Gedanken aussprechen, so beschämend war die Tatsache für mich. Vertrackte Situation. Hoffentlich wurde das die nächsten Tage wieder besser, schließlich musste ich ihn ja in der Schule sehen. Also zu meinem Leidwesen musste ich feststellen, dass es nicht besser wurde, nur anders. Peinlich war es mir nach wie vor, aber es kam noch etwas dazu. Die Erkenntnis, dass ich zum ersten Mal richtigen Sex hatte und das es gar nicht mal so übel war. Ich war somit keine Jungfrau mehr. Das gab mir ein kleines Hochgefühl, was aber sofort wieder die Peinlichkeit nach sich zog. Und erzählen konnte ich es auch niemand, wem auch? Aber angenommen ich hätte jemand, dann könnte ich es auch nicht. Ich mein, wie klingt das denn?! Ja, ich hatte gestern meinen ersten Sex. In der Jungenumkleide. Mit einem Typ, mit dem ich eigentlich nur befreundet sein will. Weil... weil... mir meine Hormone sowas von durchgegangen sind. So eine Scheiße. Der küsst mich einfach, und dass nicht mal sonderlich nett, und schon geh ich ab wie ein Flitzebogen. Fuck... Ich fühlte mich wie ein richtiger Vollidiot. Wir hatten ja nicht ein Wort gewechselt, obwohl, doch, er hat gesagt, ich solle mich umdrehen... und ich hab es auch noch getan. Args! Noch sein Punkt, ich hab unten gelegen. Ich hatte irgendwie immer gedacht... naja, ich würde der Kerl in der Hinsicht sein, einfach weil ich ein Kerl bin. Klingt unlogisch, aber so denkt man einfach. Ich sollte besser nicht mehr dran denken, das erledigt sich sicher alles von alleine. So wie es das immer tat. Zumindest meistens... Den restlichen Samstag verbrachte ich ziemlich unüblich. Ich lag in meinem Bett und schaute fern. Ich wusste gar nicht mehr, wie lange das her war und am Samstagabend wusste ich auch, wieso ich das jahrelang nicht mehr gemacht habe. So ein Schwachsinn. Aber was sehr erstaunlich war, es lenkte tatsächlich ab... auch wenn ich spüren konnte, wie mit jeder Minute neue Gehirnzellen ab starben. Ich hatte fast Mitleid mit ihnen... anderseits, dumm macht glücklich. Bei mir in dem Fall zwar eher lethargisch, aber das war auch okay. Ich glaub, den Sonntag verbrachte ich ganz ähnlich, möglicherweise war ich schon so hirntot vom Fernsehen, dass ich das nicht mehr mitbekommen habe. In jedem Fall war der Montag viel zu schnell da. Gleich beim Aufstehen würde ich mit allerhand psychosomatischen Unsinn belagert, wie Kopfschmerzen, Bauchweh und Schwindel. Ja... mein Körper liebt mich, ich merk schon. Trotzdem allem wollte ich in die Schule. Irgendwie war ich etwas gespannt, wie es jetzt war. Ob sich wirklich was geändert hatte, oder nicht. Also eigentlich hatte sich ja GEWALTIG etwas verändert, mein Hintern war nicht mehr jungfräulich. Ich mein, wenn das nicht mal eine Veränderung war, dann wusste ich auch nicht. Okay, ich war vor ihm in der Klasse, also da schon mal keine Veränderung. Falls sich mal jemand gefragt hat, warum ich immer vor ihm da war und das obwohl wir nicht weit von einander weg wohnten. Das lag einfach daran, dass er morgens nie aus dem Bett kam, richtig übler Morgenmuffel. Hatte ich deutlich mitkommen, als er noch ab und an bei mir übernachtet hatte wegen DVD-Abende oder kleinen Privat-Lans. Etwas ungeduldig starrte ich zur Türe. Ich wollte wissen, was sich verändert hatte! Und der Sack kam einfach nicht. War ja mal wieder so typisch gewesen. Auch als es gegongt hatte, war er noch nicht da und die erste Stunde tauchte er auch nicht mehr auf. War eh nur Geschichte... In der zweiten Stunde kam er dann mitten in den Unterricht geplatzt. Gerötete Wangen, er keuchte noch leicht. War wohl gerannt. Kurz schaute er in meine Richtung. Wirkte aber etwas abgehetzt. Ich wurde rot. Fuck. Nein. Das ist so... so entwürdigend. Dass ich dann auch sofort den Blickkontakt abbrach und aus dem Fenster schaute, übrigens auch. Scheiße, natürlich hatte sich was verändert, aber hab ich wirklich gedacht, das Veränderung was Gutes ist? Verdammt... jetzt seh ich Chris und denke an... Sex. Was für ein Beschiss. Und ich hatte da wirklich keinen Bock drauf, deswegen vermied ich es die restliche Unterrichtszeit irgend einen Blickkontakt mit ihm aufzubauen. Er versuchte auch seinerseits nicht in den Pausen mit mir zu reden. Die Angelegenheit schien ihm so unangenehm zu sein, wie mir. Wenigstens waren wir uns mal wieder in einem Punkt einig. Und etwas spukte noch im meinem Kopf herum. Der Gedanke, dass unsere Freundschaft wirklich einen toten Punkt erreicht hatte. Ich wollte mich nicht mehr bemühen, er auch nicht. Es hatte wirklich keinen Sinn mehr... und das hatte überraschenderweise nicht mal mit der Sexsache zu tun. Es war einfach viel zu anstrengend geworden. Ich wollte keine Energie mehr rein investieren. Es führte doch zu nichts. Außer vielleicht zu Unsinn. Wir haben uns deswegen geprügelt und wir haben deswegen miteinander geschlafen... Und wo sind wir jetzt? Immer noch am Dead End. Da ging es einfach nicht weiter. Mittlerweile konnten wir uns ja nicht mal mehr in die Augen sehen. Vielleicht war Chris zu ähnlichen Schlüssen wie ich gekommen, in jedem Fall ließ er mich auch die ganze restliche Woche in Ruhe. Er kam nicht in den Pausen an. Er schaute nicht in meine Richtung, jedenfalls nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Was manchmal nicht ganz einfach ist, wenn man selbst nicht allzu oft zu ihm schauen wollte. Nur am Freitag wartete er in der Umkleide bis ich fertig war. Manu hatte er wieder zu Sarah geschickt. Worüber der Kerl wieder sehr maulig wurde, was auch daran lag, dass ihm Chris wohl nichts von letzten Freitag erzählt hatte. Aber wenn sich Chris noch mal sowas erhoffte, hatte er sich gewaltig geschnitten. Ich stopfte meine stinkenden Sportsachen in meine Tasche und stapfte ohne ihn weiter zu beachten aus der Umkleide. Mal wieder einer der letzten. Ich neigte zum Trödeln. Ich zog mich einfach lieber um, wenn nicht mehr soviel los war. Der Braunhaarige folgte mir, holte mich schließlich ein um dann neben mir her zu gehen. Sagte aber nichts. Ich auch nicht. Er begleitete mich sogar bis zu meinem Haus, was für ihn aber auch nur einen kleinen Umweg ausmachte. Ihn noch immer ignorierend, schloss ich die Haustüre auf, schlüpfte hinein und schloss sie wieder hinter mir, ohne mich zu verabschieden. Warum zum Henker hatte er das gemacht? Ich war so... überfordert damit. Und der Weg zurück hat mich so an den Freitag erinnert... wollte er das bezwecken? Warum?! Args... verdammt, ich hätte vielleicht doch mit ihm reden sollen. Es ist so ätzend so viele unbeantwortete Fragen zu haben. Das Wochenende verbrachte ich weiterhin damit mich zu verdummen oder etwas für die Schule zu machen. Zu viel denken war auch nicht gesund. Ich hatte es zu dem wirklich satt, dauernd darüber nachdenken zu müssen. Es kotzte mich an. Ich hatte doch besseres mit meiner Zeit anzufangen... wie zum Beispiel lernen. Ha. Das hatte ich schon ewig nicht mehr getan. Montagmorgen war erst Mal ein Schock. Als ich die Haustüre öffnete, wäre ich beinahe über einen sitzenden Chris gestolpert. OMFG! Was saß der auf meiner Treppe rum?! Und dann auch noch so früh. Aber wieder sagte ich nichts, am Freitag dachte ich mir noch, dass ich gerne Antworten hätte... aber im Moment war ich mir nicht so sicher. Vielleicht wären es Antworten, die ich nicht hören wollte. Er trottete neben mir her, summte leise. Als ich durch meine Haarsträhnen zu ihm schielte, konnte ich sehen, dass er sogar leicht lächelte. Er war früh wach und auch noch gut gelaunt?! Irgendwie, es lief was falsch. Da war ich mir sicher. Etwas lief hier sowas von falsch. Zumindest hatte ich in den Pausen wie gewohnt meine Ruhe. Am Ende hätten, die wieder zu tratschen angefangen und das war das letzte was ich jetzt gebrauchen konnte. Vor allem, weil die Gerüchte ja diesmal sogar wahr wären. Scheiße... Die sechste Stunde endete. Gemeinschaftskunde... bah... Politik, damit konnte ich noch nie was anfangen, dafür war ich einfach zu sehr auf mich selbst bezogen... Und gedanklich war ich sowieso nur halb so anwesend, wie es mein Körper vermittelte. Chris fing schon wieder an, alles kaputt zu machen, mich zu verwirren und so ganz und gar nicht das zu tun, was er sollte. Dreckskerl, dass machte er doch mit Absicht. Da ich die Stunde so ziemlich verpennt hatte, schreckte ich vom Schulgong auch auf. Verwirrt schaute ich mich um. Die meisten hatten schon ihr Zeug gepackt. Gut die Hälfte meiner Mitschüler strömten auch schon aus dem Raum. Naja, vermutlich sollte ich auch mal mein Zeug zusammen sammeln. Lustlos stopfte ich meine Stifte, die ich dafür gebraucht hatte tollte Muster auf meinen Block zu kritzeln, in mein Mäppchen und schmiss es mitsamt den Block in meinen schon etwas lädierten Rucksack. Es war erst Montag und ich war schon total angefickt, von der Woche. Das Chris und Manu als einzige noch an der Türe standen, machte es auch nicht besser. Manu sah wütend aus, aber mal so richtig. Chris ignorierte ihn, starrte aus dem Fenster. Mist. An den beiden komm ich doch nicht vorbei, ohne dass sie es merken. War vielleicht sogar Sinn der Sache. Naja, in jedem Fall versperrten sie mir den Weg, also machte ich mit einem Räuspern auf mich aufmerksam. „Könnte ich vielleicht durch?“ Args, der Blick von Manu löste bei mir fast schon körperliche Schmerzen aus. Gott, war der sauer und jetzt schien er ein neues Opfer gefunden zu haben. Warum auch immer ich?! „Gut, wenn der Kerl hier nicht mit mir reden will, dann frag ich halt dich.“, Manu schrie mich förmlich an und ich zuckte erschrocken zusammen. Der Typ machte mir manchmal... etwas Angst. So ein Temperament war nicht normal. Und wehe, der kam wieder auf die Idee seinen dummen Zeigefinger in meine Brust bohren zu wollen. Und nur mal ganz nebenbei, der hatte mich gar nichts zu fragen! Aber im Moment hatte ich nicht den Mumm, ihm das zu sagen. „Also was zum Henker ist am Freitag passiert?“ War ja klar... was hätte er auch sonst fragen sollen? „Hö?“ Mensch, manchmal mochte ich es so dumm zu sein. Das klang sogar glaubhaft. „Tu nicht so... ich weiß genau, dass da irgendwas war.“ Mist, okay, Manu war cleverer als er aussah. Was vielleicht auch kein Kunststück ist... „Aha.“ An mir beißt der sich die Zähne aus. Ich wusste recht gut, dass ich IHM sicher nichts zu erzählen hatte. Wütend schnaubte Manu auf. Man musste ihn nicht mal sonderlich gut kennen, um zu bemerken, dass er gerade alles andere als gut gelaunt war. „Dann erklär mir wenigstens, warum der Trottel da, dir wie ein verliebtes Schulmädchen nachtinkelt...“ Also das wüsste ich selber ganz gerne. „Und seit dem Freitag da, einem sabbelten Idiot gleicht, wenn du dich mal bequemst kurz zu ihm zu schauen.“ Und das hatte ich noch nicht mal bemerkt. Ach, du Schande... Ich schaute ihn wohl so ehrlich konfus an, dass er es mir sogar verzieh, dass ich nichts weiter als ein „Äh...“ stammelte. Chris schien es jetzt mal für die richtige Zeit zu halten, um auch wieder aktiv zu werden. Er legte seine Hand auf Manus Schulter und taxierte ihn aus dem Klassenzimmer. Was auch zugleich bedeutete, dass ich freie Bahn hatte. Wunderbar. Manu los und auch noch einen angenehmen Nachhauseweg. Als ich nun auch endlich das Klassenzimmer verlassen konnte, sah ich die beiden, wie sie etwas weiter im Gang standen und diesmal leise diskutierten. Also waren sie abgelenkt. Das nutzte ich in meiner allgegenwärtigen Intelligenz, um in einem etwas schnelleren Schritttempo als gewöhnlich gen heimatliches Gefilde zu wandern. Okay, hab ich mal irgendwann erwähnt, dass Chris etwas sportlicher ist als ich? Na gut, ein ganzes Stückchen mehr als ich, er hatte es wirklich geschafft mich einzuholen und dass noch nicht mal auf der Hälfte der Strecke. Der musste gerannt sein wie ein Blöder. Dummkopf... Was versprichst du dir davon? Ich hatte seine rennenden Schritte schon auf dem Kiesweg gehört, aber ich hatte irgendwie gehofft, dass es nur ein Jogger war. Aber als ich dann eine Hand auf meine Schulter spürte, und das stoßweise Atmen direkt hinter mir hörte, wusste ich, dass mir das Glück wohl doch nicht so hold war. Ich blieb stehen. Ich wollte diesmal Antworten, egal wie sie ausfielen. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Also drehte ich mich zu ihm um. Args. Ja, er war ja wieder gerannt. Rote Wangen, Keuchen das über seine Lippen kamen und er hatte seine Hände auf seine Knie gestützt, so linste er durch seine braune Haarsträhnen zu mir auf. Dann grinste er. Frech, glücklich und so total Chris, dass ich es erwiderte. Aber nur solange bis ich es selbst bemerkte. Ich schüttelte kurz von mir selbst verwirrt den Kopf. Schaute, dann wieder zu ihm, mittlerweile war er auch wieder etwas zu atmen gekommen. „Warum machst du das?“, fragte ich schließlich. Ich hatte alles Recht darauf es zu wissen. „Was?“, er lächelte und ging dann weiter. Ich folgte ihm. „Na das!“ Er wusste genau was ich meinte... Hmpf. „Nach hause gehen? Naja, ich find jetzt Schule nicht so toll, um da ewig sein zu wollen.“ „Chris...“, meine Stimme klang leicht vorwurfsvoll... ich hatte nicht allzu viel Lust jetzt rumzublödeln, die Frage war mir wichtig. Er grinste schief, verzog etwas das Gesicht. Was er tat, wenn er etwas nicht unbedingt verraten wollte, weil es ihm peinlich war. „Naja...“, er dehnte das Wort künstlich lange, „Ich wollte in deiner Nähe sein.“ Er versuchte wieder zu grinsen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Er hatte wohl Angst vor meiner Reaktion... Und ich, naja ich wurde erstmal einfach rot. Ich freute mich, irgendwie. Der Satz war für mich, als hätten wir gerade diesen dämlichen toten Punkt überwunden. Ich konnte nicht genau sagen, warum, aber mir schien es so. Ich lächelte ihn an. Erleichtert atmete er aus. Ich schien wohl besser reagiert zu haben, als er gehofft hatte. Ja, auch in mir steckten kleine Überraschungen. Aber dann schwiegen wir wieder. Ich wollte den Satz nicht kaputt machen, in dem zu viel gesagt wurde. Und ich wusste, dass es noch viel zu besprechen gab. Aber nicht jetzt. Auch heute morgen saß Chris wieder vor meiner Türe. Hey, der wird doch jetzt nicht etwa für mich zum Frühaufsteher?! Wäre ja schrecklich, wenn ich auch noch einen guten Einfluss auf ihn nehmen würde. „Morgen.“, grüßte ich ihn schließlich. Da er mich gerade nur anstarrte. Naja, geistig schien er trotz allem noch nicht ganz wach zu sein. „Morgen...“, nuschelte er schließlich, um dann aufzustehen und sich imaginären Staub von seiner Hose zu klopfen. „Gedanklich noch in deinem warmem Bett, ne?“ Diesmal war ich es der zur Abwechslung grinste. Er sah so verpennt aus. Seine Haare standen noch mehr ab als sonst, er trug ein viel zu großes T-Shirt von seinem großen Bruder, was man auch daran erkennen konnte, das ist es zumindest etwas Geschmack verriet und seine Schnürsenkel waren beide nicht gebunden. Irgendwie... putzig. „Mhm...“, murmelte er und winkte dann mit der Hand ab. Er wollte wohl sagen, dass er gerade dran arbeitet, wacher zu werden. Was noch dauern könnte. „Hast du heute nachmittag mal n bisschen Zeit?“ Ah... das Wachwerden hat wohl funktioniert. Naja, zumindest versuchte er es jetzt mit Konversation. „Kommt drauf an, für was.“ Ich wollte schließlich keine voreiligen Zusagen machen. „Für mich.“ „Ich denk schon.“ Glaub ich, also im Moment war ich nicht sicher, ob ich wirklich etwas dachte. Aber hey, wir hatten den toten Punkt überwunden, dass heißt es war auch okay, wenn wir uns auch nach der Schule ab und an trafen. Es war sogar wichtig, eigentlich war das genau einer dieser Punkte, die ich wirklich vermisst hatte. Jemand mit dem ich einfach Zeit verbringen konnte. Und ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass sich kaum jemand dafür so gut eignete wie Chris. Das klingt gerade so unheimlich... unlogisch. Die letzten Monate hatten wir schließlich fast nichts anderes gemacht, als uns zu ignorieren. Wenn man mal von den paar... Unterbrechungen absah. Aber irgendwie... er tat mir gut. Vielleicht lag es auch einfach daran, jemand um sich zu haben, der einen ehrlich mochte. Hätte mir eigentlich auch früher aufgehen können... aber ich neigte einfach nicht dazu, es mir einfach zu machen. „Gut, kommst du dann mit zu mir? Ich hab letztens n paar coole Filme gesaugt, die dir sicher gefallen würden... und meine Mutter ist nicht da... und naja... es wär sicher mal wieder cool.“ Man konnte echt sehen, wie sehr er sich über meine Antwort freute. War toll jemand so einfach glücklich zu machen, und wenn es dann auch noch Chris war... „Klar, klingt toll... Jetzt muss ich nur noch Englisch überleben. Bah, die Frau hat mich sowas von auf den Kieker und ich hab die Hausaufgaben nicht gemacht...“ Ich konnte sie jetzt schon bildlich vor mir sehen, wie sie mich dann auf englisch zu schwallte, wie wichtige diese Sprache doch war und das ich mir das gar nicht leisten konnte, keine Hausaufgaben zu machen. Tz... dumme Kuh. Chris lachte nur. „Du machst das schon... und wenn nicht, werde ich deinen Eltern dein tragisches Ableben mitteilen.“ „Oh, aber ich will dann auch Rache! Blutige, fürchterliche Rache!“ Ehrlich, die Frau kann mich doch nicht ungestraft abmetzeln. Und für sowas hatte man doch schließlich... Chris. „Na gut, dann räch´ ich dich halt noch... Pah, nichts als Arbeit hat man mit dir.“ Er knuffte mich in die Seite. Gott, es tat einfach gut, ihn wieder zu haben. „Zu gütig...“ Ich war irgendwie... so richtig richtig glücklich. Nicht mal die fehlende Englischhausaufgabe macht mir groß Sorgen. Auch nicht mehr, was Chris für mich war. Es war alles okay so, nein, eigentlich mehr, es war einfach schön. Als dann das Schulgebäude in Sicht gab, seufzte ich deprimiert. Ich hatte keine Lust auf Schule... okay, dass hatte ich nie, aber im Moment noch viel weniger als sonst. Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass der Schulweg länger sein könnte. „Also auf in den Kampf, ne?“, mit den Worten betraten wir dann auch das Klassenzimmer. Und naja, wir waren überraschenderweise einer der letzten. Wir hatten wohl doch etwas getrödelt. Ich grinste noch zu ihm, um mich dann zu meinem Platz zu begeben, der Englischdrache müsste nämlich auch gleich kommen. Aber Chris hielt mich zurück, in dem er mich an der Hand nahm. Kurz schaute ich ihn irritiert an, dann küsste er mich auch schon. Vor der ganzen Klasse. Args! Der war sicher noch am Pennen, der Trottel. Und ich vielleicht auch. Ich erwiderte kurz. Ich mein, im Prinzip war es ja jetzt eh schon scheißegal, die dachten doch sowieso alle, ich sei schwul. Und irgendwie war mir Chris mittlerweile zu wichtig, als das ich ihn schon wieder von mir stoßen wollte. „Idiot.“, flüsterte ich leise und lächelte. Ende. Anmerkung des Autors: Für die Leute, die bei diesem Ende empört aufschreien: Es gibt eine Fortsetzung in Comicform, gezeichnet und erdacht von Onichanjo. Es wird aus der Sicht von Chris geschildert und man kann es als nahtlose Fortsetzung der Geschichte sehen. Ich selber habe daran nur noch in der Form mitgewirkt, dass ich Oni Fragen betreffend der Charaktere beantwortet habe. Allerdings bin ich mir sehr sicher, dass ich die Charaktere in gute Hände gegeben habe. Ich hoffe natürlich sehr, dass ihr es lest, es lohnt sich nämlich extremst. http://animexx.onlinewelten.com/doujinshi.php/datum/2006-12-01/output/23480/ Memphis Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)