Searching for the Fullmoon von moonlily (Seth - oder Probleme kommen selten allein) ================================================================================ Kapitel 3: Begegnungen ---------------------- Kapitel 3 Begegnungen Hallo, da bin ich wieder mit einem neuen Kapitel! Erstmal vielen Dank an LadyVendetta für ihre lieben Kommentare. Das Kapitel wollte ich eigentlich schon eher einstellen, aber dann hatte ich noch einen größeren Ideenschub und … Na, lest selbst, was dabei rausgekommen ist. Viel Spaß. Am nächsten Morgen hatte ich den Angriff schon fast vergessen. Erst als ich den Dolch sah, fiel mir alles wieder ein. Ich bebte, als sich die Bilder des Vorabends erneut in mir hoch drängten. Wer war mein Verfolger? Diese Frage stellte ich mir wohl schon zum mindestens tausendsten Male. Wenn ich eine – wenn auch nur geringe – Ahnung von den Motiven seines Handelns gehabt hätte, hätte ich zumindest ein paar Vermutungen über seine Identität anstellen können. So jedoch ... Ich hatte schon überlegt, mich an die Polizei zu wenden. Aber ob sie mir helfen würde? Das war fraglich. Schließlich war ich ja nur eine einfache Blumenverkäuferin aus den Armenvierteln Londons. Ohne Privilegien, ohne besondere Rechte. Und dazu noch eine Frau. Ich erinnerte mich noch gut an die Worte des Polizisten, als ich bei dem Angriff vor vier Jahren eine Anzeige gemacht hatte. ‚Mach dir besser keine allzu großen Hoffnungen, Mädchen, ohne Zeugen ist es relativ unwahrscheinlich, dass wir ihn finden.’ Nun, am Ende hatte die Polizei ihn gefunden, doch ganz anders als gedacht. Nur zwei Tage nach dem Überfall, im Hafen. Doch das Bild, das sich dort den Beamten geboten hatte, musste wohl selbst dem hartgesottensten Mann bis ins Mark gefahren sein. Jemand hatte ihm fein säuberlich und, wie man vermutete, noch bei lebendigem Leib, die Haut abgezogen. Ob der Mann nun an der Prozedur selbst oder dem Blutverlust verreckt war, wusste niemand. Es war durch alle Zeitungen gegangen, ein langer Artikel inklusive eines Fotos des Mannes – allerdings wie er vor seinem Tod ausgesehen hatte. Beim Lesen des Textes hatte ich es auch verstanden, dass für Bilder des Toten eine Sperre verhängt worden war. Und trotz allem, was er getan hatte oder vielleicht noch mit mir getan hätte, hatte ich etwas wie Mitleid empfunden. Niemand verdiente solch einen grausigen Tod. Auch konnte ich seither nicht mehr das Gefühl abschütteln, dass dieser Mord etwas mit mir zu tun hatte. Als hätte ein schrecklicher Engel in meinem Namen Rache geübt. Ich kniete vor dem Fenster nieder, wandte meinen Blick zum Himmel und dankte Gott im Stillen, dass ich auch gestern Nacht entkommen war. Auf dem Weg zu meinem Standplatz überlegte ich, ob ich Joey und Maria von der Sache erzählen sollte. Wie ich Joey kannte, würde er sich mir gleich wieder als Beschützer anbieten und darauf bestehen, mich zu begleiten. Aber heute wollte ich frische Blumen aus meinem Garten holen und wenn ich Joey als Anhängsel dabei hatte, bedeutete das, dass ich ihm meine geheime Blumenquelle verraten musste. Denn er und Maria wussten nicht, woher ich immer meine Blumen holte, so wie sie meine Vergangenheit nicht kannten. Ich hatte ihnen nie erzählt, wer ich einst gewesen war. Was hätte sie so etwas auch interessieren sollen? Ich hatte mich schon öfter gefragt, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie von meiner Herkunft erführen. Verständnisvoll? Mitleidig? Würden sie sich abwenden? Joey hasste alle, die in einen hohen Stand mit den entsprechenden Privilegien geboren worden waren, das hatte er mir einmal in aller Deutlichkeit gesagt. Darum bestahl er die Reichen auch so gern, als könnte er sich so an jedem einzelnen von ihnen dafür rächen, dass sein Vater nur ein ständig betrunkener Schneider war. Und Maria hatte genug eigene Sorgen. Ihre Mutter arbeitete als Näherin für eine größere Fabrik, doch seit zwei Wochen lag sie krank im Bett. Anfangs hatte es wie eine gewöhnliche Erkältung ausgesehen, doch dann war es immer schlimmer geworden und ihr Fieber wollte einfach nicht runtergehen. Da die altbekannten Hausmittel wie Wadenwickel überhaupt nicht bei ihr anschlagen wollten, waren wir nach vier Tagen gezwungen, endlich einen Arzt zu rufen. Joey und ich hatten trotz Marthas Protestes das Geld dafür ausgelegt. Die Diagnose war ernüchternd: Pfeifersches Drüsenfieber. Lang anhaltend und hochgradig ansteckend. Es war ein Wunder, dass es noch nicht auf Maria und ihren kleinen fünfjährigen Bruder Michel übergesprungen war, denn die beiden zeigten keinerlei Anzeichen. Jetzt waren sie vorübergehend bei Joey einquartiert. Er hatte sich in den Dachkammern eines großen Handelshauses häuslich niedergelassen. Es kam nie jemand dorthin, abgesehen von meinem Garten kannte ich in ganz London kein ungestörteres Plätzchen. Gestern hatten wir Martha wieder einen Besuch abgestattet. Sie schien endlich auf die Medikamente anzusprechen. Ich konnte Maria nur bewundern, wie mehr oder weniger gelassen sie in dieser Situation blieb. Wie selbstverständlich kümmerte sie sich allein um alles, passte auf Michel auf, hielt das Zimmer in Ordnung und verdiente das Geld. Und das alles, obwohl sie jünger als ich war, als ich mein Zuhause verlassen hatte. Während ich fortwährend vor mich hingejammert hatte, ging sie mit einer unglaublichen Eigenständigkeit durchs Leben. Nur in sehr seltenen Momenten, wenn wir uns eine kurze Pause von der Arbeit gönnten, sah ich in ihren Augen den Kummer und Schmerz, der ihre Tage jetzt bestimmte. Ich hätte ihr so gern geholfen, doch das Geld, das ich für meine Blumen bekam, reichte gerade so für mich selbst und was ich übrig hatte, musste ich für die Monate zurücklegen, in denen keine Blumen blühten. Ich versuchte dann zwar, mir immer etwas als Näherin dazuzuverdienen, doch so wie ich dachten noch viele andere Frauen und Mädchen in der Stadt. Der Konkurrenzkampf war hart, was den Auftraggebern nur entgegenkam, weil sie so die Möglichkeit bekamen, die Arbeitsbedingungen samt und sonders selbst zu diktieren. Und das hieß nichts anderes als unendlich viel Arbeit für schlechten Lohn. Entweder war man dann damit einverstanden oder nicht und musste sich eine andere Arbeit suchen. Es war Sonntag, der 4. November und die Sonne war gerade erst dabei aufzugehen. Rot und Gold überspannten den Himmel. Die Sonne selbst war ein glühender Feuerball. Dieses Schauspiel faszinierte mich immer wieder aufs Neue, ganz egal, wie oft ich es sah. Jeden Tag sah der Himmel anders aus, ein sich ständig veränderndes Gemälde. Heute führte mich mein Weg nicht gleich zum Big Ben. Alle frommen Bürger Londons pflegten am Sonntag in die Kirche zu gehen und es war bei den Leuten beliebt, Blumen mit in die Kirche zu nehmen, um sie Gott zu weihen. An manchen Tagen wussten die Priester gar nicht mehr, wohin mit den vielen Sträußen, die sie von den Gläubigen erhielten. So manchem von ihnen wäre die klingende Münze im Opferstock wohl lieber gewesen als Grünpflanzen, die auch noch mit Wasser versorgt sein wollten. Natürlich war ich nicht die einzige Blumenverkäuferin, die von dieser Vorliebe wusste und so drängten wir uns alle in der Nähe der Westminster Abbey, um unsere Blumen an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Hier ließen sich normalerweise immer gute Geschäfte machen und jeder von uns konnte etwas loswerden. Heute war es jedoch nicht so. Obwohl ich früh aufgestanden war, befanden sich meine Konkurrenten alle bereits in der Nähe der Kirche und verkauften die ersten Blumen. *Verdammt, die besten Plätze sind weg! Nick, Sandra, Maya ... alle verkaufen schon.* Hinzu kamen die Pferdefuhrwerke, die einen Großteil des Platzes wegnahmen. Wenn ich nicht von einem von ihnen überfahren werden wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich an einen Platz etwas abseits zu stellen, auch wenn das bedeutete, dass ich weniger Kunden anlocken konnte. Ich stellte meinen Korb ab, zog das Schutztuch von den Blüten und begann meine Waren auszurufen. Die Menschen strömten auf die Kirche zu. Bei ein paar älteren Damen wurde ich zwei Sträuße Chrysanthemen los und ein junger Mann kaufte mir ein paar Löwenmäulchen für seine Frau ab. Ansonsten jedoch wandten sich die Leuten meiner Konkurrenz zu. *Verdammt, genau so, wie ich es erwartet hatte. Nächste Woche muss ich schneller sein.* Manchmal, besonders im Sommer, konnte ich hier innerhalb einer halben Stunde mehr verdienen als sonst während eines ganzen Tages. Die Leute waren sonntags irgendwie spendabler, weshalb es unter uns Händlern schon lange ungeschriebenes Gesetz war, die Preise an diesem Tag etwas raufzusetzen. Die Glocken riefen die Menschen nun mit hellem, durchdringendem Geläute zum Gottesdienst und der Platz leerte sich zusehends. Auch ich machte mich auf den Weg. Auch wenn ich christlich erzogen worden war, besuchte ich den Gottesdienst nicht so oft; ich zog es vor, zu Hause im Stillen zu beten anstatt in aller Öffentlichkeit. Heute jedoch zog es mich in das Gotteshaus, die Geschehnisse der letzten Tage hatten mir zu denken gegeben und es war sicher nicht verkehrt, auch um Schutz von oben zu bitten. Als ich durch das beeindruckende Westportal der Kirche trat, umfing mich augenblicklich eine majestätische Stille, die sehr beruhigend auf mich wirkte. Obwohl ich schon so oft hier gewesen war, konnte ich nie umhin, das Gebäude jedes Mal aufs Neue zu bewundern. Die Fenster waren mit feinem Maßwerk geschmückt, Statuen von Engeln und Märtyrern zierten die geweihten Hallen und die Eingangsportale. Seit ihrer Erbauung hatten sich neben den Königen Englands auch viele berühmte Persön-lichkeiten in der Westminster Abbey beisetzen lassen, wie zum Beispiel Isaak Newton, und jedes Grab versuchte das der anderen an Prunk zu überbieten. Ungezählte Nischen waren in die Wände eingelassen, um die Gebeine oder die Asche der Toten aufzunehmen, verdeckt von verzierten Marmorplatten mit den Namen. Dass diese schöne Kirche zugleich ein Friedhof war, jagte mir immer einen gewissen Schauer über den Rücken. In den Sitzreihen gab es kaum noch freie Plätze. Das Mittelschiff und das linke Seitenschiff des Längsganges waren vollständig besetzt, sodass mir nur die Möglichkeit blieb, mir eine Stelle auf der rechten Seite zu suchen. Ich quetschte mich mit meinem Korb an einer ganzen Reihe von Leuten vorbei, bis ich einen freien Platz fand, auf den ich mich aufatmend fallen ließ. Ich sah mich kurz um. Rechts von mir hatte sich eine alte Frau niedergelassen. Die weißen Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt und in ihren von vielen Falten umrankten, grünen Augen las ich die vielen Sorgen eines langen Lebens. Zu meiner Linken saß eine Mutter, die ihre liebe Not damit hatte, ihre drei kleinen quengelnden Kinder ruhig zu halten, und, wie man an ihrem leicht gerundeten Bauch sah, war das vierte bereits unterwegs. Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich, wirkte aber so müde und abgespannt wie die alte Frau rechts. Solche Frauen beneidete ich nicht gerade. Vom Vater sehr früh mit einem Mann verheiratet, bekamen sie innerhalb weniger Jahre einen ganzen Stall voller Kinder, meist hing das eine noch an der Brust, während sich das nächste schon ankündigte. Für die Frau bedeutete dies praktisch das Ende ihres eigenen Lebens. Es zählten nur noch der Mann und die Kinder, die eigenen Wünsche wurden ganz hinten angestellt, wenn nicht sogar völlig vergessen. Nein, so ein Leben wollte ich nicht führen. Dazu war mir meine Freiheit zu kostbar geworden, auch wenn ich hart dafür arbeiten musste. Ich genoss jede einzelne Sekunde davon. Das sollte aber nicht heißen, dass ich keine Kinder wollte, im Gegenteil. Es gab oft Momente, in denen ich mich danach sehnte, selbst wieder eine Familie zu haben. Menschen, um die ich mich kümmern konnte. Das waren zwar auch Joey und Maria, doch es war eben nicht dasselbe. Aber noch war es mir auch zu früh dazu und ich verfügte nicht über die nötigen Mittel. Wann immer es mir möglich war, zweigte ich etwas von meinem Geld ab und legte es zurück, um mir später eine wenigstens halbwegs vorzeigbare Aussteuer leisten zu können. Noch schwerer war es, den passenden Mann zu finden. Dass ein Wiederaufstieg in die Kreise meiner Kindheit ausgeschlossen war, war mir absolut klar, da gab ich mich auch keinen großen Illusionen hin. Außerdem ... das war es nicht unbedingt, was ich wollte. Da musste ich nur an die Teerunde denken, die meine Mutter alle paar Wochen bei uns gegeben hatte und an der ich hin und wieder auch hatte teilnehmen müssen. Ich sah mich wieder umgeben von Damen, die Spitzendeckchen häkelten oder eine Partie Bridge spielten und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch im Bekanntenkreis und bei Hofe unterhielten. Gepflegte Langeweile. *Ah, aber ich bin ja hier, um zu beten, nicht mal wieder den alten Zeiten nachzutrauern.* Der Gottesdienst war längst in vollem Gange, doch ich hörte kaum, was der Priester sagte, dafür saß ich zu weit hinten. Ich beugte mich vor, faltete die Hände und betete, wobei ich lautlos die Lippen bewegte. Auf einmal nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und blickte auf. Kurz war mir so, als würde ich in der Nische rechts von mir jemanden stehen sehen. Ich rieb mir die Augen und als ich wieder hinsah, war die Person – wenn sie da gewesen war – verschwunden. Ich sah nur die marmorne Statue eines Engels, der seine Arme schützend ausbreitete, das gütige Gesicht für die Ewigkeit im Stein festgehalten. *Hab ich jetzt schon Halluzinationen?*, überlegte ich. Er drückte sich eng an den kalten Marmor, blieb aber immer so, dass er sie noch sehen konnte. Sie schien tief in ein Gebet versunken zu sein. Das Licht der Kerzen umflutete ihre Gestalt wie eine strahlende Aura. Für einen Moment glaubte er, an ihrem leicht nach vorn gebeugten Rücken Flügel zu sehen. Sie erinnerte ihn in ihrer ganzen Art an einen Engel. Eine plötzliche Kopfbewegung von ihr riss ihn aus seinen Betrachtungen. Hatte sie ihn etwa bemerkt? Sie musste es getan haben, denn ihre Augen waren genau auf ihn gerichtet. Rasch zog er sich weiter in die Schatten der Statuen zurück, auch wenn sie dabei fast aus seinem Blickfeld verschwand. Sie durfte ihn nicht entdecken. Endlich wandte sich ihr Blick wieder dem Altar am anderen Ende der Kirche zu und er atmete tief durch, verließ aber sein Versteck nicht. Die Glocken begannen zu läuten, der Gottesdienst war so gut wie zu Ende. Für mich gab es keinen Grund mehr, noch länger hier zu verweilen. Ich wanderte das kurze Stück durch die Straßen zu meinem guten alten Big Ben. Schon während ich vor Westminster gestanden hatte, waren erste Wolken am Himmel aufgetaucht und hatten die Sonne verschluckt. Nun bezog sich der Himmel immer mehr, es sah nach Regen aus. Der Wind wurde stärker und riss an den wenigen Blättern, die noch an den Bäumen hingen. *Es ist noch früh*, versuchte ich mich in Gedanken aufzuheitern, *ich kann immer noch jede Menge verkaufen. Wenn ich Glück habe, werde ich alles los und kann heute Abend noch frische Blumen holen.* Ich bemerkte die Person erst, als ihr Schatten auf mich fiel und sie direkt vor mir stand. Der Mann hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass man es nicht erkennen konnte. Sein Körper wurde von einem weiten Mantel umflattert, der sich im Wind bauschte. „Zeig mir deine Blumen, Mädchen.“ Eine weiche, freundliche Stimme. Ich zog gehorsam das Tuch fort, mit dem ich die Blumen gegen den Wind schützte. Eine mit schwarzem Leder behandschuhte Hand fuhr über die zarten Blüten. Der Mann zog einen Strauß aus rosa und roten Rosen hervor. Er schien einen guten Blick zu haben, das waren die schönsten Blumen, die ich hatte. „Wie viel willst du dafür haben?“ „Zwanzig Pence, Sir“, sagte ich leise. Er öffnete seine Börse und holte eine golden schimmernde Ein-Pfund-Münze hervor, die er mir in die Hand drückte. Ich blickte mit offenem Mund auf das Geldstück, fing mich dann aber. „Entschuldigen Sie, Sir, das kann ich nicht wechseln. Haben Sie es vielleicht kleiner?“ „Du kannst den Rest behalten“, sagte er und nahm die Blumen. Ich blinzelte verwirrt. Als ich aufsah, war der Mann verschwunden. *Merkwürdig*, dachte ich, doch ich hatte keine Zeit, mir genauer darüber Gedanken zu machen, denn in dem Augenblick begann es zu regnen. Verfluchtes Londoner Wetter! Auf der anderen Seite des Platzes sah ich Joey stehen und mir zuwinken. Ich eilte zu ihm, wobei ich meinen Umhang mit einer Hand festhielt, damit er nicht aufging. Wir stellten uns neben einer Schenke unter, um das Ende des Schauers abzuwarten. Joey warf einen neugierigen Blick in meinen Korb. „Scheinst noch nich viel verkauft zu haben, Alinchen.“ Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite. „Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich nicht mehr so nennen sollst? Ich bin kein Kind mehr.“ „Ach, wirklich?“, lächelte er und umarmte mich. „Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ „Du bist gemein!“, erwiderte ich und gab ihm einen Klaps auf den Arm, damit er mich losließ. Statt etwas zu erwidern, grinste er mich frech an. Irgendwie hatte ich ihn schon furchtbar gern. Er hatte mich damals gefunden, als ich hilflos durch die Straßen irrte, und mich zu sich genommen, bis ich meine Situation überdacht und beschlossen hatte, was ich tun sollte. Zu dem Zeitpunkt lebte er selbst noch nicht allzu lange in den Straßen. Er war wie ich von zu Hause abgehauen. Sein Vater hatte ihn ständig geschlagen. Trotzdem war er ein lustiger Kerl, immer zu Späßen aufgelegt. Joey verstand es, mich zum Lachen zu bringen, auch wenn es mir schlecht ging. Ja, in gewisser Weise liebte ich ihn. Allerdings nicht als Mann – er war viel mehr so etwas wie ein großer Bruder für mich. Und ich war wie eine kleine Schwester für ihn. „Was wollte der Mann denn eben von dir?“ „Dumme Frage, Joey, das war mein neuer Verehrer!“ „Ach, wirklich?“ Er riss die Augen auf und musterte mich neugierig. „Quatsch, er hat mir die Rosen abgekauft.“ „Kleine Schlange, du“, grinste Joseph und strich mir über den Kopf. „Kommst du mit zu McLeoid? Ich gebe dir das Mittagessen aus.“ „Heute so spendabel, wie kommt ’s?“ Joey zog aus seiner Jacke einen prall gefüllten Beutel hervor und öffnete ihn. Neben etlichen Münzen befanden sich zwei mit Edelsteinen besetzte Ringe und eine goldene Taschenuhr darin, die er an einer langen Kette herauszog und triumphierend wie ein Pendel vor meinen Augen hin und her schwenkte. „Tja, hab ’nen guten Fang gemacht, bei einem von diesen ganz edlen Herren. Komm, Alina.“ Damit zog er mich davon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)