Searching for the Fullmoon von moonlily (Seth - oder Probleme kommen selten allein) ================================================================================ Kapitel 12: Blumen unterm Vollmond ---------------------------------- Hallo, jetzt melde ich mich – endlich – mal wieder mit einem neuen Kapitel zurück. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich euch so lange hab warten lassen, aber es ging beim besten Willen nicht anders. ^^ Mein Terminkalender ist in den letzten zwei Monaten einfach aus allen Nähten geplatzt. Kapitel 12 Blumen unterm Vollmond „Lady Alina“, jemand stupste mich vorsichtig an der Schulter an, „wachen Sie auf, gnädiges Fräulein.“ „Nein, ich will noch schlafen“, murmelte ich, noch im Halbschlaf. Dieses Bett war entschieden viel zu gemütlich, um es so einfach zu verlassen. Weiche Laken, große bequeme Kissen, eine warme Bettdecke ... Darin zu schlafen, war einfach nur himmlisch! „Ihre Schwester wird böse werden, wenn Sie nicht pünktlich unten sind.“ Schwester? Mein Gehirn arbeitete morgens direkt nach dem Aufwachen meistens etwas langsam. Dann kamen mir die Erinnerungen allmählich wieder. Mai! Der Unterricht! Sie hatte mir ja gestern Abend noch angekündigt, dass sie mir beibringen wollte, wie ich mich in meiner neuen Rolle zu benehmen hatte. Und dass ich diesen Unterricht nötig hatte, konnte ich auch nicht so ganz bestreiten. Wenn man sich über Jahre hinweg am anderen Ende der Gesellschaft befunden hatte, war es nicht so einfach, sich wieder in das strenge System aus Regeln und Konventionen einzufügen, das die so genannte höhere Gesellschaft prägte. Dann erinnerte ich mich an den heftigen Streit, den ich gestern Abend mit Yami gehabt hatte, und an meine Angst, er könnte mich fortschicken. Aber Mai hatte ganz klar gesagt, dass sie heute mit dem Unterricht anfangen wolle und auch den Schneider bestellt hätte. Also hatte Yami doch nicht vor, mich von hier zu vertreiben. Trotzdem, es konnte doch unmöglich schon so spät sein, dass ich aufstehen musste. Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein bisschen liegen zu bleiben und nachzudenken oder vor mich hinzuträumen. Meine Hand tastete über den Nachttisch, bis ich schließlich den Wecker zu fassen bekam. Ich umschloss das kühle Metall und hob ihn langsam hoch. Mein noch viel zu müder Arm wollte sein Gewicht nicht richtig tragen und sackte auf die Bettdecke. Ich gähnte herzhaft, rieb mir mit der freien Hand über die Augen und hielt den Wecker dann so vor mich, dass ich ihn sehen konnte. „WAS!“ Ich fuhr senkrecht im Bett hoch. Schon Viertel nach zehn! Mai wird mich umbringen, wenn ich nicht bald unten bin. „Ach du meine Güte, warum hast du mich nicht eher geweckt, Samantha?“ Die Bettdecke flog zurück, ich schlüpfte hastig in meine Pantoffeln und in den Bademantel, den ich gestern Abend über einen Stuhl gehängt hatte. „Verzeihen Sie, das habe ich versucht, sogar mehrmals. Aber, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben wie ein Stein geschlafen, gnädiges Fräulein.“ Das konnte nicht wahr sein, warum musste ich nur dauernd verschlafen! Das hatte mir schon als Kind Probleme gemacht und in all den Jahren hatte sich daran nicht das Geringste geändert. Ich war und blieb eben ein Morgenmuffel, schlecht aus dem Bett zu kriegen und deshalb meistens schlecht gelaunt, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, sobald ich auf die Straße trat. Als Verkäuferin konnte ich mir keine schlechte Laune leisten, das war für das Geschäft absolut tödlich. Deshalb hatte ich geübt, bis ich es fertig gebracht hatte, jede schlechte Stimmung hinter einem freundlichen, unaufdringlichen Lächeln zu verstecken. Nur jetzt wollte mir das nicht so recht auf die Lippen kommen. Ich hastete an Samantha vorbei und verschwand im Bad. Dort warf ich einen prüfenden Blick in den silbergerahmten Spiegel vor mir. Die Augen immer noch müde und verquollen, die Haare wild zerzaust von letzter Nacht – ich hatte mich stundenlang unruhig hin und her gewälzt. Zu Anfang hatte ich nicht einschlafen können, weil ich dauernd über Yami nachgegrübelt hatte. Sein ganzes Verhalten gab mir immer wieder neue Rätsel auf. Mal war er freundlich, dann jähzornig, um mir nur einige Sekunden später mit einer seiner Berührungen oder einem Kuss die Röte ins Gesicht zu treiben. Aber Mai hatte mir gestern versprochen, dass Yami mich heute über alles aufklären wollte. Ich hoffte, dann auch endlich zu verstehen, warum er sich seit unserem ersten Treffen so seltsam verhielt. Für meinen Schlaf waren diese dauernden Rätsel jedenfalls nicht gerade zuträglich. Erst nachdem ich schätzungsweise das zehntausendsiebenhundertundsechste Schaf über den imaginären Zaun hatte springen lassen, war ich schließlich eingeschlafen. Allerdings nur, um mich einige Zeit später in der Bibliothek wiederzufinden, eng umschlungen von Yamis Armen. Das war die Höhe! Selbst in meinen Träumen verfolgte mich dieser Kerl noch, nicht mal da ließ er mich in Ruhe! Aber die Küsse ... selbst jetzt nach dem Aufwachen konnte ich kaum unterscheiden, ob ich das alles wirklich nur geträumt hatte oder ob sich alles noch einmal wiederholt hatte. Fast konnte ich seine Lippen immer noch auf meinen fühlen. Argh, jetzt bringt mich dieser Kerl schon wieder durcheinander! So konnte das nicht weitergehen. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete noch einmal mein Spiegelbild. Ich sah nicht besser aus als vor einer Minute. Was ich sah, schaute nach vielem, jedoch ganz sicher nicht nach einem gnädigen Fräulein aus, wie mich Samantha gerade betitelt hatte. Noch so eine Sache, die ich wieder erlernen musste. Der richtige Umgang mit der Dienerschaft ... Wie hatte sich meine Tante Caroline einmal ausgedrückt? Das war eine Kunst, die nur schwer zu erlernen war. Nur wenn man es verstand, die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Strenge im Umgangston zu wählen, den Leuten Respekt, aber keine Angst einflößte, hatte man seine Angestellten wirklich zu hundert Prozent im Griff. So war zumindest ihr Rezept gewesen und soweit ich mich erinnern konnte, hatte es hervorragend funktioniert. Wenn ich mir da hingegen das etwas aufbrausende Wesen von Mai und Yami so ansah ... Aber ich stand hier und verplemperte meine Zeit, dabei wartete eben genannte Mai auf mich. Die Kanne mit dem warmen Wasser harrte meiner längst auf dem Gestell. Das Nachthemd flatterte auf den nächsten Stuhl und ich machte mich endlich an die Erledigung meiner Morgentoilette. Mai ging unruhig im Esszimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf die goldene, mit Blüten und Vögeln verzierte Uhr, die über dem prächtigen Kamin thronte. Wie lange brauchte dieses Mädchen denn zum Aufstehen? Auch wenn sie sich erst anziehen musste, es war über eine halbe Stunde her, seit sie Samantha zum Wecken hinaufgeschickt hatte. So lange konnte doch auch Alina nicht brauchen, selbst wenn sie sich erst in ihre umfangreiche Garderobe zwängen musste. Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es Viertel vor Elf. Mai runzelte die Stirn. Wenn sie nicht in fünf Minuten hier ist, geh ich und hole sie. Der Tag war streng und bis ins Kleinste hinein geplant, immerhin hatten sie ein umfangreiches Programm vor sich, das sie in der nächsten Zeit abarbeiten mussten. Zudem hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit ihr Yami dafür lassen würde, Alina in die guten Umgangsformen einzuweisen. Dazu hatte er sich bislang noch nicht geäußert, doch wie sie ihren Meister kannte, würde sich die Zeit eher knapp bemessen. Yami war nicht gerade bekannt dafür, große Geduld für diese Dinge aufzubringen. Hinzu kam ihre gesellschaftliche Stellung. Gleichgültig ob Yami, Mai oder Seth, alle drei waren in der höheren Gesellschaft und bei Hofe gern gesehene Gäste und wenn bekannt wurde, dass mit Alina ein weiteres „Familienmitglied“ in das stolze Anwesen eingezogen war, würde es nicht lange dauern und sie würden sich vor Einladungen zu Teegesellschaften, Dinner-Partys und Empfängen kaum retten können. Neuzugänge waren immer ein willkommenes Thema zum Tratschen und wenn die Leute dann auch noch von der ach so tragischen Geschichte erfuhren, die sie sich für Alina hatten einfallen lassen, von dem Untergang ihres Schiffes und ihrer strapaziösen Reise nach London ... Warum muss auch immer die Fantasie mit mir durchgehen, ärgerte Mai sich. Da haben wir den Salat, an so was hab ich natürlich mal wieder überhaupt nicht gedacht. Ein bisschen mehr vorausschauende Planung täte mir ab und an ganz gut. „Guten Morgen, Mai.“ Ich betrat das Kaminzimmer und musste einmal mehr eine eingehende Musterung über mich ergehen lassen. „Hallo, da ist ja unsere Schlafmütze. Noch fünf Minuten länger und ich hätte dich persönlich aus dem Bett geworfen.“ „Jaaa ...“, ich kratzte mich verlegen am Kopf. „Tut mir leid, kommt so schnell nicht wieder vor. Ich habe letzte Nacht nur sehr schlecht geschlafen.“ „Das sehe ich. Ich werde dir später zeigen, wie du solche Sachen mit Puder abdecken kannst. Wir müssen dir bei Gelegenheit unbedingt etwas Kosmetik besorgen. Aber jetzt lass uns keine weitere Zeit verschwenden. Dafür ist das Programm, das vor uns liegt, viel zu groß.“ „Kann ich nicht erst noch etwas essen?“ Mein Magen knurrte seit dem Aufwachen erbärmlich. „Eigentlich sollte ich dir ja nichts geben, als kleine Strafe für dein Zuspätkommen. Aber ich bin ja kein Unmensch.“ Zu meiner Verwunderung rief Mai jedoch nicht nach den Dienstmädchen, um sie zu beauftragen, etwas zu essen zu holen, sondern ging zu ihrem Nähkasten, der in einer Ecke stand. Sie öffnete ihn und hob das oberste Fach ab, in dem sich Garne und Stickmaterial, Nadeln und andere Handarbeitssachen stapelten. Unter dem Einsatz kam ein großes Fach zum Vorschein, gefüllt mit Flaschen. Mai zog eine heraus und goss etwas von der Flüssigkeit in ein Glas, das sie mir anschließend gab. Es war nach wenigen Zügen leer. Diese Art, Blut zu trinken, gefiel mir doch um einiges besser, als es direkt von einem Menschen zu nehmen. Es war immer noch Blut, nur kam es mir so nicht ganz so schlimm vor. „Möchtest du noch etwas?“ „Nein, nein, das reicht schon.“ „Gut, damit müssen wir nämlich sparsam umgehen. Das Blut zu besorgen ist teuer. Aber anders geht es um diese Uhrzeit nicht. Ich habe genau das gleiche Problem mit der Sonne wie du. Ich darf tagsüber auch nicht nach draußen gehen, außer in einer blickdichten Kutsche. Trotzdem können wir es uns nicht leisten, unser Leben vollständig auf die Nacht zu verlegen. Yami und Seth mögen ihre Firma zwar im öffentlichen Bereich repräsentieren, aber als Damen des Hauses obliegt es uns – also auch dir – als Repräsentantinnen im Privaten zu fungieren.“ Wie war das noch, was hatte ich mir geschworen? Ich wollte nie so ein langweiliges, vornehm-eintöniges Leben wie meine Mutter und ihre Freundinnen führen? Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch gedacht, ich würde diese Art von Leben niemals wieder haben. Und jetzt steckte ich wieder mittendrin. Das Leben ging manchmal schon seltsame Wege. „Ich soll ... muss das sein?“, murmelte ich. Das war nicht mehr als eine rhetorische Frage, die Antwort kannte ich nur zu gut. „Glaub mir, manchmal geht sogar mir das tierisch auf die Nerven. Die ganzen Empfänge und Abendessen und so ... ist ja immer ganz schön, aber mit den meisten Frauen da kann man sich nicht vernünftig unterhalten. Die kennen nur zwei Themen: Ihre Kinder und ihre Nachbarn. Nach spätestens zwei Stunden kennst du alle Geschichten auswendig. Sicher, diese Verpflichtungen sind nervend. Aber sieh dich mal genau um, Alina. Für das Leben, das wir führen können, würden viele andere morden.“ Da fielen mir auf Anhieb eine ganze Menge Menschen ein, die genau das und noch viele andere Dinge dafür tun würden. „Ja, das stimmt schon ...“ „Natürlich stimmt das. Aber jetzt lass uns anfangen, sonst kommen wir heute überhaupt nicht mehr zum Unterricht. Also ... die erste Regel lautet: Eine Dame erscheint zu einer Verabredung stets pünktlich. Und das heißt nicht eine halbe Stunde zu spät, sondern zu der Zeit, die verabredet war.“ Über mein Gesicht legte sich augenblicklich die Verlegenheitsröte. Erstaunlich, wie interessant doch auf einmal so ein Fußboden sein kann, nicht wahr? Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, wie faszinierend so ein Parkettmuster sein konnte. „Wir haben uns also verstanden?“, fragte Mai. „Ich möchte es nicht noch einmal sehen, dass du zu spät kommst, weder zu meinen Stunden noch zu einer anderen Verabredung. Das wirft ein schlechtes Licht auf dich und auf uns alle. Pünktlich zu sein bedeutet, dass man sich auf dich verlassen kann.“ Ich nickte und hob vorsichtig den Blick. „Ich habe verstanden.“ „Gut. Und wenn du doch mal zu spät bist ...“, sie machte eine Pause und lächelte mich an, „dann solltest du eine gute Entschuldigung parat haben“, sagte sie und zwinkerte mir zu. „Ich glaube, ich weiß recht gut, was dich letzte Nacht am Schlaf gehindert hat.“ Das Rot in meinem Gesicht verdunkelte sich und mein Kopf nahm zusehends das Aussehen einer sehr reifen Tomate an. „Wo ... ist Yami denn überhaupt?“, traute ich mich dann zu fragen. „Er ist in seinem Büro. Du weißt schon, in seiner Firma, Atekai. Yami fährt morgens immer schon sehr früh, im Winter normalerweise vor dem Morgengrauen. Aber im Vergleich zu Seth – Manchmal frag ich mich, warum er überhaupt noch hier wohnt, für ihn wäre es viel praktischer, wenn er sein Bett gleich in seinem Büro aufstellen würde. Er arbeitet in letzter Zeit fast nur noch. Yami und ich machen uns schon Sorgen um ihn.“ „Yami ist also gar nicht da“, wiederholte ich leise. Schade, dabei hatte ich gehofft, heute Vormittag mit ihm über gestern sprechen zu können. Dass Seth so selten zu Hause war, störte mich allerdings nicht unbedingt. Wenn ich da an unsere letzte Begegnung dachte ... „Wann kommt Yami denn wieder?“ „Er meinte, er hätte viel zu tun. Demnach wird es sicher Abend werden, bis er kommt.“ Es war kurz vor elf. Das hieß, ich musste etwa sieben Stunden warten, in denen meine Grübeleien noch weitergehen würden. Eine harte Probe für meine Geduld. Nur was sollte ich sonst tun? Es war Tag, ich konnte ja nicht mit der nächstbesten Kutsche mal eben zu ihm fahren. Wenn ich ihn von der Arbeit abhielt, würde er mir vielleicht gar nichts sagen, sondern mich nach Hause schicken. „Alina, hättest du die Freundlichkeit, deine Aufmerksamkeit wieder mir zuzuwenden?“ Mai fuchtelte vor meinem Gesicht herum. Ich lächelte sie schuldbewusst an. Mussten meine Überlegungen eben bis nach dem Unterricht warten. „Ich habe nur –“ „Kurz an Yami gedacht“, beendete Mai meinen Satz. „Ja, ja, aber jetzt rate ich dir, erstmal hier aufzupassen. Zunächst mal müssen wir etwas mit deiner Haltung machen.“ „Was ist damit?“, fragte ich verwundert. „Du stehst ganz krumm da. So geht das nicht.“ Mai legte mir eine Hand in den Rücken und drückte. „Schultern zurück, Brust raus und das Kinn senkrecht. Die Augen geradeaus“, kommandierte sie. Ich kam mir eher vor, als hätte ich gerade einen Besenstil verschluckt. Also ließ ich ein bisschen in der Spannung nach, blieb aber gerade. Ein Hohlkreuz zu machen tat meinem Rücken schließlich auch nicht gerade gut. Außerdem sorgte schon das Korsett dafür, dass ich mich einigermaßen gerade halten musste. „Verschränk die Arme nicht. Lass sie entweder an den Seiten oder kreuz die Hände vorne. Mai nahm ein dickes Buch von einem Tisch und gab es mir. „Schön, damit kommen wir als nächstes zum Gang. Leg dir das auf den Kopf und geh im Zimmer auf und ab.“ Ich betrachtete das Buch in meinen Händen. Es gehörte zu der mehrbändigen Ausgabe eines Lexikons und war sehr dick. Ich legte es mir auf den Kopf und begann damit, im Salon auf und ab zu spazieren. Es oben zu behalten, machte mir keine Mühe. Wenn ich im Hochsommer mehr zu transportieren hatte, hatte ich den Korb oft auf dem Kopf getragen, um die Hände für die anderen Lasten freizuhaben. „Das sieht ja schon ganz ordentlich aus. Aber mach etwas kleinere Schritte, Alina. Gut, und nicht so trippeln, geh normal. Das muss noch eleganter aussehen.“ Mai ließ mich eine geschlagene halbe Stunde so auf und ab marschieren und natürlich immer mit dem Buch auf dem Kopf. Noch ein interessanter Charakterzug, den ich da an ihr entdecke, dachte ich, als ich das Lexikon endlich weglegen durfte. Ein Hang zum Perfektionismus gepaart mit Sadismus. Das kann ja heiter werden. Bevor meine Lehrerin allerdings zu ihrer nächsten Lektion ansetzen konnte, klopfte es und Alexander meldete, dass Mrs. Langdon mit ihren Gehilfinnen eingetroffen sei. Das darauf folgende erleichterte Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen, auch wenn ich mir dafür von Mai einen missbilligenden Blick einfing. Die Schneiderin brachte die ersten Kleider, die ich bei ihr bestellt hatte. Ihre Gehilfinnen Angela und Margaret hatten schwer an dem Stapel von Paketen und kleinen Päckchen zu schleppen. Die beiden waren hinter ihren Gepäckbergen kaum noch auszumachen. Ich führte sie die Treppen hinauf in mein Zimmer, wo die Mädchen die Sachen abstellen konnten. Bald waren der Tisch und die Sessel mit den Päckchen überladen. Als mein Blick über den Berg von braunem Packpapier glitt, kam ich mir vor wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Meine Finger zerrten und zogen an den Schnüren, ruckelten ungeduldig an den Knoten und Schleifen, damit sie sich lösten. Dann machte ich mich über das Papier her und spätestens da hatte sich die Dame in mir fürs erste verabschiedet. Mai kam wenige Minuten nach der Schneiderin in mein Zimmer geschneit und ließ bei jedem Kleidungsstück, das ich aus den unzähligen Lagen von hauchdünnem Seidenpapier befreite, ein „Ah“ und „Oh, wie schön!“ hören. Bald lagen mein Bett und sämtliche Stühle mit den neuen Sachen voll und auf dem Boden stapelte sich ein riesiger Papierberg, von dem wir alles, was zerrissen und somit unbrauchbar war, kurzerhand im Kamin entsorgten. Ich war vom Anblick der Kleider geradezu überwältigt. Auf der Straße hatte ich die vornehm gekleideten Damen immer ehrfürchtig bewundert und nun durfte ich selbst solche Kleider tragen. Als ich allerdings einen kurzen Blick auf die Zwischenrechnung warf, die bei einem Paket mit einem dunkelblauen Tageskleid gelegen hatte, musste ich doch schwer schlucken. Über hundert Pfund. Und ein Teil der Lieferung stand noch aus. „Ist das nicht alles viel zu teuer, Mai?“ „Yami hat mir gesagt, ich solle dich anständig einkleiden und genau das tue ich.“ „Ich bin ja auch ganz froh darüber ... jetzt musst du mir wenigstens nicht mehr deine Sachen leihen.“ Mai lachte lauthals. „Wenn das alle Sorgen sind, die du hast, Alina ... Dann leih ich mir einfach in Zukunft ab und zu mal was von dir aus.“ Sie hob ein Kleid aus blassrosafarbenem Stoff hoch. „Dann sind wir quitt.“ „Einverstanden. Hast du noch ein bisschen Zeit? Ich würd gern was von den Sachen anprobieren.“ Mai überlegte einen Augenblick. „Also, eigentlich wollte ich mit dem Unterricht weitermachen.“ „Bitte, nur ein oder zwei“, bettelte ich. „Ach ... na gut. Aber danach machen wir weiter.“ Still in mich hineingrinsend verschwand ich mit dem rosafarbenen Kleid hinter dem Paravent. Gegen diesen Hündchenblick waren offenbar nicht mal Vampire wie Mai immun. Ich zog mich mithilfe der zwei Gehilfinnen rasch um. Das Kleid passte wie angegossen, was mir Mai immer wieder bestätigte, als ich mich begeistert vor dem Spiegel drehte und mich von allen Seiten betrachtete. Da bin ich mal auf Yamis Urteil gespannt, wenn er mich so sieht. Mrs. Langdon verabschiedete sich nach einer Weile von uns, sie musste noch zu einer anderen Kundin. Mai händigte ihr das Geld aus und ließ sie von Samantha zur Tür bringen. Doch wie es oft so ist, wenn zwei Frauen mit einem Haufen Kleider allein gelassen werden ... es kam natürlich genau so, wie es kommen musste. Als ich das zweite Kleid angezogen hatte, bestand Mai darauf, dass ich auch die anderen Sachen probieren müsse, nur um zu sehen, ob mir auch alles passte. Und ehe wir uns versahen, war es schon halb zwei und wir waren immer noch nicht fertig. Da es Zeit für das Mittagessen war – die Köchin hatte schon ausrichten lassen, dass ihr das Essen bald auf dem Herd verbrennen würde, wenn wir nicht kämen –, gingen wir ins Speisezimmer. Während des Essens wurde ich immer wieder von Mai unterbrochen, die mir dezente Hinweise zu meinem Benehmen gab, angefangen bei der richtigen Sitzhaltung über den Umgang mit dem Besteck bis hin zum abgespreizten kleinen Finger, wenn ich etwas trinken wollte. Die Suppe floss in meinen Magen, ohne dass sich auch nur in der entferntesten Form ein Gefühl der Sättigung einstellte. Das änderte sich erst, als wir uns im Kaminzimmer je zwei Gläser aus Mais gut verstecktem Vorrat genehmigten. Yami ging mit einem leichten Stirnrunzeln die gerade aufgeschlagene Seite der Akte durch, die auf seinem Schreibtisch lag. Der Chef der Buchhaltungsabteilung hatte ihm vor ein paar Minuten die Umsatzzahlen des vergangenen Monats vorgelegt. Und die Bilanz war genau so, wie er und Seth es sich wünschten – nämlich bestens. Atekai warf seit der Fusion mit der Northstar Company noch höhere Gewinne ab. Es vergingen etwa zwölf Minuten bevor er merkte, dass er immer noch die gleiche Seite anstarrte. Er stützte sein Gesicht auf der Hand ab und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Alina, Alina, was soll ich nur mit dir machen?“ Seit gestern war er nahezu ununterbrochen am überlegen, wie er es ihr sagen sollte. Die Worte mussten mit Bedacht gewählt werden. Aber er sah ein, dass kein Weg daran vorbeiführte. „Aaah, wie soll ich denn so arbeiten, wenn mir dieses Mädchen andauernd durch den Kopf spukt!“ Reichte es denn nicht, dass er ihretwegen die letzte Nacht mehr im Zustand der Wachheit statt des Schlafes verbracht hatte? Musste sie ihn jetzt auch noch von seiner Arbeit abhalten? Yami zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und blickte auf das vergilbte Foto hinab, das dort in einem Rahmen lag. Das Silber war dunkel angelaufen. Die Abgebildeten lächelten ihm fröhlich entgegen. „Mein guter alter Freund ... jetzt könnte ich deinen Rat wirklich gut gebrauchen“, seufzte er. Nach dem Essen begaben Mai und ich uns in die Bibliothek, um den Unterricht fortzusetzen – oder eher gesagt, Mai machte ihre Drohung wahr, mir Französisch beibringen zu wollen. Sie hatte sich eines der Bücher besorgt, wie sie in der Schule verwendet wurden und wir be-gannen mit der Begrüßung und Vorstellung. Ich war vor dem Tod meiner Eltern schon einmal ein Jahr lang in dieser Sprache unterrichtet worden, doch von jenen Kenntnissen war nicht das Geringste übrig geblieben. Ich fing erneut bei Null an. Da meine Gedanken zwischendurch immer wieder zu Yami wanderten, musste ich mir von Mai an diesem Nachmittag noch so einiges an Ausschimpfungen wegen meiner mangelnden Konzentration gefallen lassen. Aber wer kann schon dermaßen viel Stoff auf einmal verkraften? Da war ich dann doch erleichtert, als gegen halb sechs Christas Klopfen den Vortrag meiner neuen Schwester unterbrach. „Was ist denn?“, fragte Mai leicht genervt – was mich nicht wunderte, nachdem sie bereits zum wohl hundertsten Mal meine Aussprache korrigiert hatte. Sicher bereut sie es jetzt, dass sie mir unbedingt Französisch beibringen wollte, überlegte ich. „Gnädige Frau, Sie haben mich gebeten, Sie an Ihr Treffen mit Miss Rosenberg zu erinnern.“ „Wie ... Ach du meine Güte!“ Mai fuhr aus ihrem Sessel hoch, in dem sie es sich bequem gemacht hatte. „Das hatte ich ja ganz vergessen. Alina, wir müssen unsere Lektion morgen fortsetzen.“ Sie hastete an mir vorbei und winkte Christa ihr zu folgen. „Warum hast du mir nicht eher was gesagt? Ich bin in einer Stunde mit ihr zum Essen verabredet und noch nicht mal umgezogen“, hörte ich sie aus der Eingangshalle fluchen, während sie auf die Treppe zuschritt. „Kannst du mir mal verraten, wie ich das noch rechtzeitig schaffen soll?“ Ich lehnte mich entspannt im Sessel zurück. Endlich Ruhe. Aber ... wenn es halb sechs war, hieß das ja auch, dass Yami bald nach Hause kam. Schon war ich auf den Beinen und unterwegs in mein Zimmer. Ich hatte gar nicht die Zeit, mich über Mai lustig zu machen, ich musste ja selbst zusehen, dass ich fertig wurde. Oben angelangt, verschwand ich als erstes im Bad, um mich frisch zu machen. Dann klingelte ich nach Samantha, damit sie mir ins Kleid half. So schön sie waren, diese Kleider anzuziehen, war eine Qual! Besonders dieses verdammte Korsett! Ich hätte die Person, die sich dieses Folterinstrument ausgedacht hatte, nur zu gern mal in die Finger gekriegt. Sobald man es auch nur ein wenig zu eng schnürte, begann es sofort einem die Luft abzuquetschen. Da ich bisher nichts von Yami gehört hatte, nahm ich meinen Mantel und ging raus in den Garten. Jetzt war ich schon seit drei Tagen hier, aber hatte meinem kleinen Garten noch keinen einzigen Besuch abgestattet. Schäm dich, Alina! Der Boden war vom tagsüber gefallenen Regen ganz aufgeweicht und ich musste weite Bögen um die Pfützen machen, die sich überall gebildet hatten. Die Rosen hatten die Kälte der vergangenen Tage relativ gut überstanden, nur die Löwenmäulchen ließen etwas die Köpfe hängen. Ihre Zeit war vorüber und auch die anderen Blumen würden sich bald beugen müssen, wenn erst die Fröste übers Land fegten. Heute war Vollmond. Er tauchte den ganzen Garten in einen silbrigen Schimmer und füllte jede Ecke mit seinem Licht aus. „Wusste ich doch, dass ich dich hier finde“, erklang hinter mir eine Stimme. Ich fuhr herum. Yami lehnte lässig am Torrahmen, die Arme hinter den Rücken gelegt. „Ich habe das ganze Haus nach dir abgesucht, aber du warst nirgendwo zu finden.“ Ich sah auf den Boden, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Ich hab wohl die Zeit vergessen. Wann bist du denn nach Hause gekommen, ich habe dich nicht gehört, als ich noch drinnen war.“ „Schon vor einer Weile.“ „Aha“, machte ich nur, sah ihn aber nach wie vor nicht direkt an. „Bin ich jetzt schon so schrecklich für dich, dass du mich nicht mal mehr ansehen willst?“, fragte er mit leicht gekränktem Unterton. „Nein, ich ...“ Meine Augen wanderten langsam an seiner Brust hoch zu seinem Kopf. Wieder dieses hinreizende Lächeln. „Das gestern ...“ „Ich weiß. Hier, das ist für dich.“ Er zog hinter seinem Rücken eine langstielige rote Rose und ein versiegeltes Kuvert hervor und reichte mir beides. „Danke, Yami. Aber das wäre nicht nötig gewesen.“ „Oh, doch. Nun, ich ... Ich wollte dich ... wegen gestern um ... um Verzeihung bitten.“ Seine Stimme klang etwas belegt. Das scheint ihm ja richtig schwer zu fallen, dachte ich und roch an der Rose. Ein angenehmer Duft, süß, aber nicht zu stark. „Es tut mir leid, wenn ich dich zu sehr bedrängt habe.“ „Mai hat mir da einiges erklärt. Nur ... warum du mich gebissen hast, das hat sie mir nicht gesagt.“ „Weil ich sie darum gebeten hatte.“ „Aber sagst du es mir dann? Bitte. Habe ich nicht das Recht, es zu erfahren?“ Eine Pause entstand, in der sich Yamis Blick mit höchster Konsequenz auf die Blumenbeete richtete. Das kam mir nur zu bekannt vor, immerhin hatte ich heute Morgen so bei Mai reagiert. Yami fuhr sich durch die Haare und sah zum Mond auf. „Ja, das werde ich“, sagte er dann. „Heute Abend. Aber du musst dich noch ein wenig gedulden. Erst kümmern wir uns um unser Abendessen.“ „Muss das sein? Können wir nicht noch eine von den Flaschen nehmen?“ „Nein. Du musst lernen, selbst für dich zu sorgen, und das schließt die Jagd mit ein. Ach, ähm ... willst du gar nicht wissen, was drin ist?“ Er deutete auf das Kuvert, das ungeöffnet in meinen Händen lag. „Oh, das hab ich ganz vergessen.“ Ich brach das Siegel auf und zog den Inhalt des Umschlags heraus. „Aber das sind ja – zwei Karten für Romeo und Julia in der Royal Victoria Hall. Vielen Dank, Yami!“ Dafür musste ich ihn einfach umarmen. „Schön, wenn ich dir eine Freude damit machen kann, aber du drückst mir grade die Luft ab“, sagte er nach einer Weile und ich ließ ihn lachend los. (Anmerkung: das Theater hieß 1888 „The Royal Victoria Hall And Coffee Tavern“ und wurde später in „Her Majesty’s Theatre“ umbenannt, das gibt es auch heute noch.) Ich hoffe, es hat euch gefallen. Und ich sehe natürlich zu, dass ich für das nächste Kapitel nicht wieder so lange brauche. ^_^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)