Blatt im Regen von Passer (oder: Versteck mich!) ================================================================================ Kapitel 4: Vier --------------- Titel: Blatt im Regen Autor: Keema-chan Disclaimer: Die gehören alle mir *_________* Teil: Vier Email: kyubimon1@gmx.de Warnung: Evt. lemon/lime, auf jeden Fall sap Kommentar: ... Okay, ich weiß, dass ich mir so ziemlich viel Zeit gelassen habe... Aber ich hatte ne Zeit lang das Gefühl, dass sich niemand dafür interessiert, und dann war ich auch noch im Urlaub - gestern bin ich erst wieder gekommen. Dennoch hab ich da weitergeschrieben und gleich gestern aufn PC gebracht :3 Ich mag das Kapitel, da wird zum ersten Mal klar, warum ich ausgerechnet diesen Titel gewählt habe xD Viel Spaß ^____^ ____________________________________________________________________________ Der Sitz unter ihm vibrierte fürchterlich. Der Bus war eine dieser uralten Klapperkisten, bei denen man schon von ihrem Aussehen Angst bekam. Cain hatte diese Transportmittel nie gemocht. Überhaupt hasste er die technische Fortbewegung, ja, die gesamte Technik widerte ihn an. Sie war schuld. Sie hatte ihm sein Leben genommen. Alles. „Alles in Ordnung mit dir?“ Da war es wieder – dieses unglaublich freundliche Gesicht des Mannes. Adrian. Der Name kam ihm immer noch fremd vor. Er deutete ein Nicken an und schaute wieder aus dem Fenster. Die Landschaft rauschte nur so an ihm vorbei, weite Rapsfelder und Baumschulen säumten das Land. Laub bedeckte den Boden und wurde von den Reifen des Busses aufgewirbelt. Einige verfingen sich in den Radkappen des Fahrzeugs und erzeugten ein kaum hörbares Knistern. Aber Cains Sinne waren geschärft. Wir verließen den Bus, und das erste Mal seit der Dreiviertelstunde wagte ich es, meinen Blick wieder auf Cain zu richten. Der Junge war weiß wie ein Leichnam, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Ich zweifelte immer noch, dass es ihm gut ging. Trotz seiner Aussage. „Hey.“ Ich pikste ihm in die Seite. „Genieß den Tag, ja?“ Seine Augen richteten sich auf mich, und wieder nickte er andeutungsweise. Ich war nicht sehr überzeugt. Die Straße war von der Sonne beschienen – ein seltener Anblick in dieser Jahreszeit. Zum Glück war zu dieser Stunde am Vormittag noch nicht so viel los, erst am Nachmittag zog es die meisten Leute in die Stadt. Wir befanden uns in der nächsten größeren Stadt, in der es eine Einkaufsmeile gab; in dem kleinen Dorf hätte man noch nicht einmal ein Paar anständiger Socken gefunden. Auch wenn man diesen Ort nicht als riesengroße Stadt bezeichnen konnte, so genoss sie doch einen gewissen Ruf in der Umgebung. Ich steuerte als erstes einen großen Laden an, in dem es so ziemlich alles an Klamotten gab. Irgendjemand hatte vergessen, dass es bereits Herbst und nicht mehr Sommer war – die Klimaanlage lief nämlich auf Hochtouren. Ich zog meinen Schal höher. Die Ständer und Regale mit der Kleidung wurden regelrecht von mir überfallen. Ich wühlte und suchte, bis ich nachher sowohl mich als auch Cain mit in Frage kommenden Klamotten eingedeckt hatte. Dann ging ich voraus, um eine Umkleidekabine aufzusuchen. Cain hielt sich die ganze Zeit diskret im Hintergrund; anscheinend wagte er es nicht, meinen Kaufrausch zu unterbrechen. Und dabei war es noch nicht einmal für mich, außerdem hatte ich ein nicht gerade großes Budget, das uns zur Verfügung stand. Er sollte sich freuen. Ich konnte seine rot angehauchten Wangen sehen, als wir die Hosen und Pullover hinein hängten. Ich konnte es ihm nicht verdenken; bei den misstrauischen Blicken der anderen Leute mussten die uns regelrecht für verrückt erklären. War hier etwa schon eine ordentliche Auswahl an Kleidung verboten worden, ohne dass ich es mitbekommen hatte?! Es dauerte eine Weile, bis wir endlich halbwegs passende Klamotten gefunden hatten, denn Cain war so dünn, dass es schon an mehr als nur Untergewicht grenzte. Wir mussten die Kleidung der Größe S sogar noch in die Änderungsschneiderei bringen, damit sie ihm nicht ständig um Arme und Beine schlabberte. Ich hörte ihn etwas erschöpft durchatmen. „Was denn, schon müde?“, grinste ich. Er warf mir einen glühenden Blick zu. Bis in den Mittag hinein waren wir mit der Shoppingtour beschäftigt. Am Ende trugen wir fünf vollbepackte Tüten mit Hosen, Pullovern, Socken, Unterwäsche, Mützen, Schals und dergleichen. Außerdem ein schwarzer Parka mit Gürtel, den ich mir nicht hatte nehmen lassen können. Er sah einfach wundervoll in dem Teil aus. Er hatte dieses Kompliment mit einem Schulterzucken angenommen. Nun saßen wir in einem Café und schauten in die Speisekarte. Natürlich gab es hier kein großes Mittagessen, dafür hätte mein Geld auch gar nicht mehr gereicht. Ein Snack musste genügen. Nach ein paar weiteren Minuten hatte jeder von uns ein kleines, überbackenes Baguette vor sich stehen. Herzhaft biss ich in meines hinein, während Cain seines nicht einmal eines Blickes würdigte. Überhaupt war er den Vormittag über sehr schweigsam gewesen, mehr als sonst; das mochte schon etwas heißen. „Hey... Was ist denn nur los?“, fragte ich sanft. Er sah mich mit seinen durchdringenden Augen an. Wieder musste ich daran denken, dass er kein netter Nachbarsjunge war, dem man eben so ein paar Geschenke machte. „Du fragst mich, was los ist?“, erwiderte er sarkastisch. „Nichts ist los.“ Sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich in diesem Moment. Ich war am Verzweifeln. Es dämmerte bereits, als wir wieder zu Hause ankamen. Die Arme hingen uns schwer herunter vom Gewicht der Tragetaschen; ich stellte mein Gepäck ab und schloss die Tür auf. Mit einem leisen Klicken sprang das Schloss auf, und wir betraten hintereinander das Haus. Sofort sprang uns Umbrella entgegen, Cain wich ihr geflissentlich aus, ließ seine Tüten achtlos zu Boden fallen und stürzte geradezu in die Abstellkammer, die sein improvisiertes neues Zimmer darstellte. Ich schüttelte, lächelnd über meine eigene, viel zu große Gutmütigkeit, den Kopf. Warum, verdammt, hatte ich diesen Jungen bei mir aufgenommen? Eines stand jedenfalls fest: Wenn ich je in einem Krankenhaus würde arbeiten wollen, was sowieso nie passieren wird, sollte ich schleunigst mein Gluckenbedürfnis ablegen. Anhänglichkeit zu Fremden bekam mir anscheinend nicht gut – es handelte nur unnötigen Ärger ein. Ich brachte die Einkäufe ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Boden neben das Sofa. Fröhlich bellend kam die Setterdame in den Raum getrabt und verlangte, gekrault zu werden. Daraus sollte jedoch nichts werden. Ein lauter Schrei gellte durch das Haus, und sowohl ich als auch die schwarze Hündin fuhren erschrocken zusammen. Nur eine halbe Minute später stand ich, an den Türrahmen gelehnt, im Abstellzimmer. Das Lächeln war mir vergangen; Cain hockte mit eingezogenem Kopf und aufgestützten Ellbogen auf der Sofalehne, raufte sich die Haare, während leise, kaum zu vernehmende Schluchzer zu hören waren. Neben ihm lag das Handtuchbündel. Ich wusste fast sofort, was passiert war. Meine Vermutung bestätigten einige, bereits getrocknete Flecken einer Flüssigkeit auf dem Boden. Rostbraun. „Oh Mann“, murmelte ich, ging zu Cain hinüber und nahm ihn kurzerhand in den Arm. Einen Moment lang verharrte er so, dann begann er zu zittern wie ein kaputter Kühlschrank; er riss sich aus der Umarmung und starrte mich mit seltsam leerem Blick aus seinen geschwollenen, geröteten Augen an. Ich trat einen Schritt zurück und musterte ihn besorgt. Verdammt, dieses Schlottern! Was habe ich ihm getan? Oder ist es etwas Anderes? Nach einem unmessbaren Augenblick stand er auf, packte das Bündel und hielt es mir vor die Nase. Es war leer. „Siehst du, was das ist, Adrian?“ Erst jetzt erkannte ich, dass auch auf dem Handtuch einige Blutspuren zu sehen waren. „Siehst du es? Zögernd wandte ich den Blick davon ab, ließ ihn über die Flecken am Boden wandern. Stoppte abrupt unter der Heizung. Dort lag – wie zu erwarten war – der tote Jungvogel. Seine Flügel waren ausgebreitet, der Schnabel leicht geöffnet. Die Augen waren aufgerissen, als habe er in den letzten Momenten seines viel zu kurzen Lebens Todesangst durchgestanden. Ganz langsam, um niemanden zu erschrecken, ging ich auf die Heizung zu. Meine Augen weiteten sich vor Schreck. Dort, wo das Messgerät an der Heizung befestigt war, welches den Verbrauch der Heizflüssigkeit anzeigte, befand sich ein kleines Büschel Fellhaare. Schwarzer Fellhaare. Ganz gewiss, ganz gewiss hatte er jetzt einen Schock erlitten. Da war ich mir so ziemlich sicher. Auch wenn es außerhalb meiner Vorstellungskraft lag, warum jemand wegen eines verstorbenen Wildtiers so niedergeschlagen, depressiv werden konnte. Traurig, ja – aber nicht so, dass man nur noch aus dem Bett kam, wenn man auf die Toilette musste. Oder Hunger hatte. Was ich jedoch nicht bemerkte, weil er sich wahrscheinlich am Kühlschrank bediente, wenn ich arbeiten war. Bald würde ich depressiv werden, da ich schon alles Mögliche versucht hatte, um ihn wieder an die frische Luft zu kriegen. Aber am meisten hatte er wahrscheinlich Angst vor Umbrella. Der großen, schwarzen, bärbeißigen Umbrella. Einerseits tat sie mir sehr Leid. Sie hatte wohl bemerkt, dass sie von nun den absoluten Nullpunkt auf dem Sympathiethermometer von Cain erreicht hatte. Sie wagte es zwar nicht mehr, so wie vorher, bellend und winselnd vor seiner Tür zu hocken und ihre Krallen an dem weiß gestrichenen Holz zu wetzen, aber nun saß sie stumm am Boden, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, vor sich hin starrend. Und das oft stundenlang. Die Freundschaft zwischen Cain und dem Hund, wenn sie überhaupt jemals bestanden hatte, war nun endgültig zerstört. Daran konnte ich auch nichts ändern. „Verkauf die Töle!“, hatte ich schon mindestens achtunddreißigmal als Antwort auf meine vielen Aufmunterungsversuche bekommen. Ich seufzte. Umbrella verkaufen? Sie war ein Erbstück meiner Großmutter... Entschieden schüttelte ich den Kopf. Niemals könnte ich ihr so etwas antun. Sicher nicht. Und überhaupt... Warum verließ er nicht das Haus? Wenn ihn alles so sehr störte, warum ging er nicht einfach? Lodernde Wut stieg in mir auf. Ich ließ das Glas, aus dem ich gerade hatte trinken wollen, aus Versehen fallen. Nein, nicht aus Versehen. Vor Zorn. Hatte sich jetzt die gesamte Welt gegen mich verschworen? Wäre ich doch bloß nie auf diesen Jungen gekommen... Nachdenklich, mit einem neuen Glas Wasser in der Hand, setzte ich mich auf die Fensterbank und atmete die frische Luft ein, die durchs weit geöffnete Fenster herein strömte. Ich nahm einen Schluck und fühlte mich gleich etwas besser. Die Blätter an dem Gingko, der am Straßenrand stand, wanden sich unter der Kraft des Windes, raschelten dabei leise. Ich trank noch etwas und wunderte mich, warum der Baum sein Grün noch nicht verloren hatte. Als einziger in dem Dorf musste er noch so grün wie im Frühling sein. Ich holte aus meiner Hosentasche den MP3-Player heraus, den ich fast immer dabei hatte, aber nie benutzte. Ebenfalls ein Geschenk meiner Schwester. Diesmal zu Weihnachten. Ich steckte mir die Stöpsel in die Ohren und drehte auf volle Lautstärke. Hörst du der Winde Schreie? Der Bäume Knurren? Des Grases Fauchen, der Pilze Winseln? Lausche gut, hör hin, denn bald Verstummt das Lied Das Lied des Regens. Der Wolken Löcher Der Stämme Knarren Horche den Tropfen, Die Welten erstarren Er lässt keine Ruhe Der Regen. Mein Blick hing an den Blättern des Gingkos fest, wie gebannt starrte ich auf die gewaltige Pflanze. Das Lied einer nicht allzu bekannten Band weckte in mir eine leise Wehmut. Siehst du das Blatt? Das sich windet im Fadenspiel? Dessen Versuche, zu entkommen So kläglich scheitern? Es gibt kein Zurück The Rain is holding. Kein Entrinnen, nichts ist leicht Doch gib nicht auf – Du musst nur deinem Schicksal entgegentreten. Die letzten Worte waren nach Wiederholung der ersten Strophe gesprochen worden, und sie waren es, die etwas in mir lösten. Etwas in meinem Kopf machte Klick, und plötzlich war sie da: die Gewissheit, dass mit Cain etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich wusste, er verbarg etwas, ein Geheimnis, und bis jetzt hatte er noch nicht so viel Vertrauen zu mir gewonnen, dass er mir davon hätte erzählen können. Vermutlich hatte er es noch niemandem gesagt. Keiner wusste davon, und der Junge wollte es auch dabei belassen. Er verkroch sich in seiner eigenen Wut, Trauer, oder was auch immer es war, vielleicht auch Angst, und ließ sich wie das Blatt im Regen treiben. Aber Cain war kein Blatt! Er war ein Mensch, und er hatte zwar nicht die Gabe, dieses – schreckliche – Geheimnis seiner Vergangenheit zu vergessen oder rückgängig zu machen, aber er konnte ihm entgegentreten, sich seiner Vergangenheit stellen; er sollte beweisen, dass er kein hilfloses Blatt war. Noch trieb er im Regen – doch ich wusste, dass er das ändern konnte. Genau wie jeder andere auch. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)