Schlaflos von Cookie-Hunter (Der Albtraum endet nie...) ================================================================================ Kapitel 45: Wenn sich die Dinge überschlagen -------------------------------------------- Wie Kaoru die Stille doch hasste. Gerade, wenn sie von Kyo ausging. Zum Glück hatte er seine Mimik nicht mehr so unter Kontrolle wie früher, sodass man leichter aus ihr lesen konnte. Und das, was er sah, ließ ihn laut aufseufzen. Aber es war nachvollziehbar. „Wir sind gleich da. Dann erzählst du ihnen einfach, was passiert ist. Und die angeblichen Beweise können dir bestimmt nichts anhaben. Alles wird sich klären und du brauchst nichts zu befürchten“, redete er auf den Kleineren ein, erhielt aber keine Reaktion. „Alles wird wieder gut.“ Manchmal wurden Dinge wahr, nur weil man sie sich lange genug einredete. „Wir -und vor allem du- haben doch schon mehr als genug durchgemacht. Das hier überstehen wir auch noch. Im Vergleich zu all dem anderen Mist ist das hier doch eine Kleinigkeit.“ Das rief dann doch eine Reaktion in Form eines ironischen Auflachens hervor. „Für dich ist es vielleicht eine Kleinigkeit, aber diese Kleinigkeit ist dabei mein Leben zu ruinieren!“ Unkontrolliert begann sein ganzer Körper zu zittern, seine Hände krallten sich wieder in seine Hose und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Fratze. „Mein Leben. Meine Freiheit steht auf dem Spiel. Du bist nur so unbekümmert, weil du keine Ahnung davon hast, was ich schon hinter mir habe! Weil du keine Ahnung hast, was da auf mich zukommen kann! Weil du keine Ahnung hast, wie es ist auf einen Schlag alles, aber auch wirklich alles zu verlieren!“ Verzweifelt presste Kyo die Hände vors Gesicht, verdeckte so die tränenfeuchten Augen. „Du weißt nicht, wie es ist plötzlich nichts mehr zu haben, niemand mehr zu sein. Und auch keine Chancen mehr zu haben wieder ein Jemand zu werden.“ Schluchzen erfüllte das Wageninnere. „Du weißt nichts von dem Gefühl ein 'Nichts' zu sein. Du weißt nicht, wie es ist sich wertlos zu fühlen. Gar nichts weißt du.“ Sie würden ihm nicht glauben. Würden ihn von vornherein als 'schuldig' abstempeln. Da würde er sagen und beteuern können, so viel er wollte. Und die Beweise? Ja, er wusste, dass sie ihn nicht belasten konnte, aber man würde es so auslegen, nur um ihn wieder weg zu sperren. Damit er niemanden mehr belästigen konnte mit seiner Anwesenheit. Wegen ihm war in den Laden seiner Freunde eingebrochen worden. Man hatte sie alle schief angesehen, nachdem bekannt wurde, dass sie sich mit einem Mörder abgaben. Nobu hatte er solch einen Kummer bereitet, dass dieser geweint hatte. Er war kein Freund, er war eine Last für alle anderen. Schuldbewusst biss sich Kaoru auf die Unterlippe. Er hatte von diesen Gefühlen wirklich keine Ahnung. Sie hatten sich damals darauf vorbereiten können, dass sich ihr bisheriges Leben ändern und sie dementsprechend nach Alternativen suchen mussten. Auch keine einfache Aufgabe gewesen, etwas Geliebtes beiseite zu legen und etwas anderes zu tun, aber jeder von ihnen hatte seinen Wert gekannt. Sie hatten alle gewusst, dass sie gut in ihrem Bereich waren und in einer anderen Band spielen konnten, wenn sie wollten und alles andere nicht wollte. Und ganz hatten sie das Geliebte, hatten sie Dir en Grey, ja nie sterben lassen. Er wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen, aber der Gitarrist wusste, dass es das auch nicht besser machen würde. Sie parkten auf der dafür vorgesehenen Fläche vor dem Präsidium, konnten bereits von hier aus Kibo-san erspähen, der vor der Tür auf sie wartete. Aus dem Handschuhfach kramte Kaoru eine Packung Taschentücher hervor und hielt sie Kyo entgegen. „Wir können auch noch einen Moment warten, wenn du das möchtest.“ Dann hatte der Jüngere die Möglichkeit sich zu beruhigen und ein wenig die Spuren der Tränen zu vertuschen. „Nein“, widersprach dieser jedoch und schüttelte leicht den Kopf. „Warum warten? Warum weglaufen vor dem Unvermeidlichen? Das macht keinen Sinn.“ Die Beifahrertür öffnete sich und schon war Kyo weg. Schnell sprang Kaoru auf, eilte hinter dem Sänger her, ließ noch im Laufen per Knopfdruck den Wagen verriegeln. „Warte doch auf mich. Wie soll ich dir denn zur Seite stehen, wenn du mir davon läufst?“ „Gewöhn dich besser an den Gedanken, dass ich bald wieder weg bin. Denn das wird schneller wieder so sein, als du willst.“ „Ach Quatsch. Du hast doch selbst gesagt, dass du nichts getan hast. Also ist dem auch so. Du wirst nicht wieder fortgerissen.“ „In was für einer Traumwelt lebst du eigentlich?“ Kyo war stehen geblieben und sah Kaoru an, der innerlich zusammenzuckte. Da war sie wieder. Die kalte Maske, die so frei von jeglichen Emotionen war, dass man nicht verhindern konnte, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Wie meinst du das?“ „Ich bin ein verurteilter Schwerverbrecher. Sowas will niemand in seiner Stadt frei rumlaufend haben. Sie haben Beweise? Pah, fingiertes Zeug mit dem Zweck mich wieder da hin zu bringen, wo ich hin gehöre: In den Knast.“ Seine Stimme hatte sich der Maske angepasst: Kalt, emotionslos, sachlich. Nur die geröteten Augen zeugten noch von der Trauer, der Verzweiflung und dem Schmerz über den möglichen Verlust, den der Kleinere vorhin noch gespürt haben musste. Kyo hatte sich in sich selbst zurück gezogen, um diesen Gefühlen zu entkommen. Um all die wirren Gedanken erträglicher zu machen. Aber es schmerzte den Gitarristen den anderen so zu sehen. Und es machte ihn wütend. Unsagbar wütend. „Ich lebe also in einer Traumwelt, ja? Und dass du dir hier schon das Ende, in allen apokalyptischen Facetten ausmalst, ist keine Träumerei?“, brüllte er seinen Freund an. „Es steht doch noch gar nicht fest, dass du gehen musst und du setzt in Gedanken schon ein Kündigungsschreiben an dein Leben auf! Wer von uns beiden ist also der Fantast? Sei doch einmal ein Realist und warte ab, was auf dich zu kommt, anstatt ein Pessimist zu sein und von Anfang an zu sagen: Das hat keinen Sinn.“ Energisch trat er an den Jüngeren heran, der an seiner Haltung allerdings nichts änderte. Nicht einmal, als ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Und das mit den gefälschten Beweisen glaubst du doch wohl selbst nicht“, zischte er. „Du hast gesagt, du bist unschuldig. Hast mir unter Tränen beteuert, dass du nichts getan hast. Und nun? Glaubst du etwa selbst nicht mehr daran? Wenn sie dir etwas zur Last legen, werden die mich kennen lernen. Dann werde ich dafür sorgen, dass sich das jemand ansieht, der Objektiv ist.“ „Auch du bist nicht allmächtig, Kaoru. Wenn die mich loswerden wollen, dann werden die einen Weg finden.“ Noch immer war Kyos Stimme frei von jeder Emotion, sein Gesicht neutral und seine Augen ohne Hoffnung. „Aber nur, wenn du sie lässt“, knurrte der Ältere. Wenn Kyo mit der Haltung und der Ausstrahlung da rein ging, dann würde ihm doch niemand glauben. Einem Impuls nachgebend griff er nach dem linken Ohr des Anderen und zog ihn hinter sich her, ignorierte die Blicke der Menschen um sie herum und das schmerzverzerrte Jammern neben sich und ging geradewegs auf Kibo-san zu, der seinen Augen kaum traute. „Da sind wir. Wo muss er“, ein weiterer Zug am Ohr, „hin?“ „Eto.. e-er muss...“ Mehrmals blinzelte der Hellbraune, musste gerade sein Gedankenchaos sortieren. „Folgen Sie mir bitte.“ Er drehte sich um und ging, gefolgt von seinem Klienten und dessen Begleitung hoch in den zweiten Stock, wo sie bereits von Kommissar Mori erwartet wurden. Bei dem die gleiche Reaktion auftrat, wir kurz zuvor bei dem Bewährungshelfer. Sah man aber auch nicht jeden Tag, wie ein erwachsener Mann an seinem Ohr durch die Gegend geschleift wurde. „Wer von Ihnen ist Niimura-san?“ „Er hier“, knurrte Kaoru und zog den Gesuchten vor sich. Skeptisch sah der Beamte von einem zum Anderen. Was ging hier vor? Konnte er ja gleich erfragen, wenn er mit dem Verdächtigen alleine sprach. „Nun, Niimura-san. Wenn Sie mir dann bitte folgen würden. Ich möchte nur gerne von Ihnen hören, was da vorhin auf dem Friedhof geschehen ist und Ihnen ein paar Fragen dazu stellen.“ „Ano...“ „Ja?“ „Kann Niikura-san mitkommen? Ich-“ Kyo haderte mit sich selbst. Sollte er vor diesem Fremden zugeben, dass er in der letzten Stunde psychisch ein wenig labil war? Dass er gerade jemanden brauchte, der dafür sorgte, dass er nicht wieder in ein tiefes, schwarzes Loch sank? „Tut mir Leid, aber ich würde das Gespräch wirklich lieber unter vier Augen führen wollen.“ Ein Seufzen verließ Kaorus Kehle, dann legte er dem Freund vor sich beruhigend eine Hand auf die Schulter, als er merkte, wie dieser wieder deprimiert in sich selbst zusammen fiel. „Ich bin immer in der Nähe.“ „Kommen Sie“, forderte der Kommissar erneut auf. Kyo nickte, folgte dann dem Beamten. Dabei brauchte er den Gitarristen wirklich an seiner Seite, denn wenn dieser ihm nicht gerade ins Gewissen redete, entglitt ihm sein Blick für die Realität, dann wurde er gefressen von seiner Angst. Nach einem scheuen Blick in den Raum, in den er gebracht wurde, musste er seufzen. Ein typischer Verhörraum, wie man ihn aus unzähligen Krimis kannte. Karg, grau, mit sterilen Möbeln aus Metall und Plastik, die alles andere als einladend wirkten. Nicht zu vergessen den großen Spiegel an der einen Wand. Als ob es noch jemanden in dieser Welt gab, der nicht wüsste, wozu der gedacht war. „Setzen Sie sich bitte“, wurde Kyo gebeten, worauf er auf dem Stuhl gegenüber des Spiegels Platz nahm. Einen kurzen Blick warf er hinein, aber sein eigenes Abbild widerte ihn gerade zu sehr an. „Nun“, sagte der Jüngere im Raum und setzte sich Kyo gegenüber, stellte ein Diktiergerät zwischen sie, welches er auch gleich aktivierte. Kurz überprüfte er die Personalien seines Verdächtigen, dann forderte er ihn auf zu erzählen, was seine Ansicht der Geschichte war. Kyo musste sich zusammenreißen, um seinen Blick von den auf dem Tisch liegenden Händen zu lösen und dem Beamten zuzuwenden. Es kam immer besser, wenn man den direkten Blickkontakt zu seinem Gesprächspartner suchte. Das machte einen Glaubwürdiger. Hatte er irgendwann mal gehört. So erzählte er in den nächsten Minuten, was geschehen war und vor allem: Dass mit der Grabstelle noch alles in Ordnung war, als er ging. „Ich schwöre Ihnen: Ich habe nichts Unrechtes getan an Takeno Ayakas Grabstelle.“ „Warum hat uns dann der Bruder der Verstorbenen angerufen? Warum haben wir dann dieses“, er legte Kyo ein Foto vor die Nase, „Chaos vorgefunden? Und was soll das mit der Drohung von der Sie erzählt haben?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht, wer das hier getan hat. Ich weiß nur, dass mich der Bruder hasst, weil ich seine Schwester getötet habe.“ „Wollen Sie damit sagen, dass er es war? Dass er das Grab seiner eigenen Schwester so verunstaltet hat?“ „Nein!“, protestierte Kyo sofort. Natürlich hatte er diesen Gedanken schon ganz leise im Hinterkopf selbst gehabt, aber ihn als schwachsinnig verworfen. Wer wäre denn schon so gefühlskalt die Gedenkstätte eines Familienmitgliedes zu schänden? „Nein, dass will ich nicht sagen. Ohne Begründung würde ich niemandem eine Straftat vorwerfen.“ Das kleine Aufnahmegerät wurde ausgeschaltet, eher der Ermittler die nächste Frage stellte. „Würden Sie es ihm zutrauen?“ „Nani?“ Was war denn das für eine Frage? „Die Frage meinte ich ernst. Und wir sind doch unter uns. Da können Sie ruhig ehrlich antworten.“ Kyo warf dem Spiegel hinter dem Polizisten ein misstrauischen Blick zu: „Ja klar. Unter uns.“ Mori-san erhob sich und verließ den Raum, dann wurde der Spiegel plötzlich durchsichtig und Kyo hatte die Möglichkeit in den kleinen Raum dahinter zu schauen. Da war wirklich niemand. Nur der Beamte selbst. Wenige Augenblicke später war dieser auch schon wieder bei seinem Verdächtigen, setzte sich auf den Platz von eben. „Wie gesagt: Unter uns. Also? Trauen Sie Takeno-san zu, das Grab seiner eigenen Schwester geschändet zu haben, nur um Ihnen etwas anzuhängen?“ Wie gerne würde Kyo seine Antwort hinaus brüllen? Dem Jungspund vor sich entgegen schreien, dass er das tat. Dass er dem Hass, den der Bruder empfand zutraute, diesen zu solchen Taten zu bringen. „Nun sagen Sie schon. Ich versichere Ihnen auch, dass ich es niemandem sagen werde.“ Noch immer haderte der Sänger mit sich selbst. Würde er es zugeben, dann käme das einem Vorwurf gleich. Und er wollte niemanden anklagen. Mehrere Minuten des Schweigens vergingen, bis sich Kyo zu einer Antwort durchgerungen hatte. Zwar kaute er sich immer noch auf der Unterlippe herum, aber er sah dem jüngeren Mann fest in die Augen. „Ja. Ja, ich traue ihm das zu.“ Der Beamte sammelte seine Sachen zusammen. „Danke für Ihre Ehrlichkeit.“ Er erhob sich und ging zur Tür. „Wenn Sie bitte noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen würden. Ich habe noch einige Telefonate zu führen.“ Verstehend nickte Kyo, stand auf und folgte dem Polizisten bis zur Tür, wo ihn ein anderer Beamter in Empfang nahm und ihn zu einer Art Wartebereich führte. Aber er konnte weder Kaoru, noch seinen Bewährungshelfer entdecken. Dafür allerdings den Bruder. Und der einzige freie Platz war auch noch genau neben diesem. Mit stechendem Blick wurde er verfolgt. Kalte Augen. Über seinen ganzen Körper lief eine Gänsehaut. Gab es nicht noch irgendwo einen anderen Ort, an dem er warten konnte? Er nahm auch gerne wieder im Verhörraum Platz. Nur widerwillig ließ er sich auf dem Stuhl nieder, hatte das Gefühl immer weiter in sich zusammen zu sinken, unter dem grausamen Blick des jüngeren Mannes. Wo war denn nur Kaoru? Hatte er ihm vorhin nicht versprochen, da zu sein, wenn er ihn brauchte? „Ich kriege Sie schon wieder hinter Gittern“, flüsterte ihm eine hasserfüllte Stimme plötzlich ins Ohr. „Egal, was ich dafür tun muss.“ „Hören Sie auf.“ Das wollte er nicht hören. Nicht von diesem Mann. „Nein. Erst wenn Sie wieder da sind, wo ich Sie hin haben will. Aber Sie können sich auch wahlweise gerne selbst töten.“ „Warum? Warum wollen Sie mich los werden?“ Noch immer wagte Kyo es nicht aufzusehen, starrte stattdessen ängstlich auf den Boden zu seinen Füßen. „Dadurch, dass Sie meine Schwester getötet haben, haben Sie mir mein Leben zerstört.“ Hatte er nicht das ihrer ganzen Familie zerstört? Warum nahm er das dann so persönlich? Das geringschätzende, tonlose, eisige Auflachen des Anderen so nahe an seinem Ohr ließ ihn zusammenzucken und sich versteifen. „Wissen Sie eigentlich was die größte Ironie an dem Mord an meiner Schwester ist?“ Zaghaft schüttelte Kyo den Kopf. Was für eine Ironie denn schon? Dass er immer über Gewalt und Tod gesungen hatte, weil ihn diese Dinge an der Welt störten? Und letztendlich nicht besser war? „Sie haben sie mit der Buddhastatue erschlagen zu der Ayaka jeden Tag für ein besseres Leben gebetet hat.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)