Schlaflos von Cookie-Hunter (Der Albtraum endet nie...) ================================================================================ Kapitel 1: Surprise, Surprise ----------------------------- Die vier verbliebenen Dir en Grey Mitglieder befanden sich bei Kaoru in der Wohnung und feierten dessen Geburtstag, zusammen mit seiner Frau und einigen anderen Bekannten aus der Musikbranche. Daisuke war mit seiner Verlobten gekommen, aber sie hatte kein Vertrauen in den neuen Babysitter und war deshalb schon früh wieder gegangen, mit dem Versprechen ihren ‚Partyhasen’ wieder abzuholen, sobald er anrief. Hätten sie noch die Vorgängerin gehabt, wäre es kein Problem gewesen, aber diese erwartete selbst Nachwuchs und lag im Krankenhaus, da die Wehen jeden Moment einsetzen konnten. Dem Rothaarigen tat es nicht ganz so Leid, wie es sich eigentlich gehörte, denn seine Aimi hatte auf Feiern immer ein hellwaches Auge und schien im Kopf mit zu zählen, wie viele alkoholische Getränke ihr Zukünftiger schon zu sich genommen hatte. Aber gerade auf so einem Geburtstag verdarb so eine Fähigkeit seine Laune. Wenngleich er ihr schon das ein oder andere Mal dankbar dafür gewesen war, am nächsten Morgen ohne Kater aufwachen zu können. Toshiya konnte so lange bleiben, wie er wollte. Sein Sohn befand sich unter der Woche bei seiner Ex-Frau, während er ihn immer nur am Wochenende haben durfte. Außerdem wartete zu Hause niemand auf ihn. Niemand, der ihn an meckern konnte, wenn er mal wieder mitten in der Nacht Heim kam. Niemand, der ihm wegen liegen gelassener Sachen auf den Wecker ging. Das Einzige, was wartete, war die Stille, die seine vier Wände füllte. Und genau in solchen Momenten wünschte er sich, dass er sich besser mit seinem Schatz verstanden hätte. Die Wochenenden waren immer der einzige Lichtblick, denn dann war da das Lachen seines Kleinen, dass ihn immer wieder selbst zum Lächeln brachte. Der Drummer hatte es dagegen weitaus besser. Seine Mami war nicht nur dem Namen nach eine hübsche Frau, sondern auch noch verständnisvoll wie keine Zweite. Was aber auch daran lag, dass Shinya eher selten wegging und die Beiden eine äußerst glückliche Ehe führten, um die sie schon mehrfach beneidet worden waren. Auch um die beiden Kinder, die die reinsten Engel zu sein schienen. „Das war bei den Eltern ja auch nicht anders zu erwarten“, wurde immer mal wieder scherzhaft gestichelt. Und was das Geburtstagskind anging: Nach einigem Suchen war auch er fündig geworden und hatte seine Auserwählte an sich binden können. Es hatte anschließend auch nicht mehr lange gedauert, bis die Nachricht kam, dass ein Kind unterwegs war. Jetzt, sechs Jahre später, war seine Tochter sein Ein und Alles. Seine Prinzessin, wie er sie immer nannte. Musikalisch war es sehr still geworden um Dir en Grey selbst. Immerhin… 15 Jahre waren vergangen, seit Kyo… Ganz aufgegeben hatten sie die Musik nicht. Das war überhaupt nicht in Frage gekommen, aber die Band wurde in den Hintergrund geschoben. Zwar trafen sie sich jedes halbe Jahr, um ihre Instrumente gemeinsam erklingen zu lassen, aber ohne Kyos Stimme war es nie wieder dasselbe gewesen. Die und Toshiya hatten gemeinsam ein Musikgeschäft eröffnet und konnten es sogar schon zu einer kleineren Kette ausbauen. Ihr Ruf war dabei nicht unerheblich gewesen. Beziehungsweise ihre Verbindungen zu einigen namhaften Herstellern. Und während Kaoru Neulingen als Produzent unter die Arme griff, war Shinya in die Fußstapfen seiner Eltern getreten und arbeitete in deren Hotel. Vergessen hatten sie ihren gemeinsamen Freund während all der Zeit nicht, hatten ihn auch regelmäßig besucht. Er fehlte nur im Alltag. Dem Alltag aus längst vergangenen Zeiten. Gestern, an seinem Geburtstag, da hatten sie ihn auch wieder besuchen wollen. Aber Kyo hatte ihnen einige Tage vorher gesagt, dass er da eine Sitzung mit seinem Therapeuten -durch dessen Hilfe er über den grausamen Vorfall hinweg kommen wollte- hätte und auch nicht wüsste, wie lange dieser ihn wieder voll texten würde. Weshalb er von ihnen wollte, dass sie zu Hause blieben. Kaoru gab zu, dass es ihm nicht ganz unpassend war, da er für seinen eigenen Geburtstag einiges vorbereiten musste. Seine Frau hatte einige neue Rezepte gefunden, die sie an den Gästen ausprobieren wollte und er hatte die Aufgabe ihr dabei zu helfen und den Testesser zu spielen. Vor allem aber musste er ein Auge auf den Wirbelwind haben, der regelmäßig durch die Wohnung fegte. Jetzt saßen sie alle an dem großen Tisch, aßen zusammen und unterhielten sich über alles und nichts, als das Telefon klingelte. „Werden wohl späte Glückwünsche sein“, schmunzelte Kaoru und stand auf. „Glückwünsche?“, fing Toshiya an, „Ich bitte dich. Da will dich nur einer daran erinnern, wie viele Kerzen auf die Torte gehören.“ „Danke, Toshiya. Dass ich allmählich alt werde, weiß ich auch so.“ Lachend ging Kaoru zum Telefon. „Moshi moshi, Niikura desu“, meldete er sich, aber vom anderen Ende der Leitung kam nur Stille. Das hieß, nicht ganz. Wenn man genau hinhörte war da ganz leise ein Atemgeräusch. „Mit wem spreche ich?“, hakte Kaoru nach, aber anstatt einer Antwort erhielt er nur einen tiefen Seufzer, der ihm seltsamerweise ziemlich bekannt vor kam. So als ob er genau dieses Seufzen schon mal irgendwo gehört hatte. Aber wo? „Wer ist denn da? Antworten Sie oder ich lege auf.“ War das vielleicht ein dummer Scherz von seinen drei Spaßvögeln? Irgendwo würde er ihnen noch zutrauen, dass sie solche Spielchen mit ihm spielten. Immerhin waren sie sein ganz persönlicher Kindergarten und aus den Albernheiten wuchsen gerade Die und Toshiya sowieso nie heraus. „Hallo Kaoru.“ Zwei Worte, die das Herz des Angesprochenen zum Stillstand brachten. Kein Wunder, dass ihm das Seufzen so dermaßen bekannt war. „Guten Abend, Kyo.“ Er sagte die Worte zwar nicht allzu laut, aber am Tisch, vier Meter von ihm entfernt, kam alles und jeder für einen Moment zum Stillstand, ob der Worte, ehe sich alle verwundert, neugierig und einen Hauch nervös Kaoru zu wandten und ihn anstarrten. Dieser nickte nur bestätigend und hatte keine fünf Sekunden später seine engsten Freunde ganz nah bei sich stehen, die alle ein ‚Hallo’ in den Hörer sagten. „Hey, Jungs. Seid ja alle da. Und auch noch ziemlich nüchtern, soweit ich höre.“ Man konnte ein zurückhaltendes Lachen von ihm hören, was den vier Männern am Hörer das Wasser leicht in die Augen trieb. Seit Kyo ins Gefängnis gegangen war, hatte er bisher, wenn man entgegen aller Mathematikgesetze aufrundete, vielleicht gerade mal so oft gelacht oder aufrichtig gelächelt, wie ein jeder Mensch Finger an einer Hand hatte. Das Geburtstagskind stellte das Telefon auf frei sprechen, damit jeder von ihnen hören konnte, was ihr Freund zu sagen hatte. „Wie hast du es geschafft, das Telefon benutzen zu dürfen? Ich meine, du hast doch sonst…?“ Kaoru war merklich durcheinander. Nein, merklich überwältigt. Normalerweise durfte der Andere nicht telefonieren und dass er dieses eine Mal jetzt nutzte, um ausgerechnet ihn anzurufen... „Ist irgendetwas passiert?“, erkundigte sich Shinya, hatte er doch so ein seltsames Gefühl in der Magengegend. „Na ja, ich…ich störe vermutlich nur die Party. Tut mir Leid. Ich hätte nicht anrufen sollen.“ Man konnte förmlich hören, wie sich der Kleine die Unterlippe zerbiss. „Ach Quatsch, du störst nicht“, wehrte Die ab. „Sag uns lieber, weshalb du anrufst. Es muss doch was dringendes sein.“ „Nein, es war…ist wohl der falsche Zeitpunkt. Ich…Morgen. Morgen ist es wohl besser.“ Toshiya zog einen Flunsch, grummelte dann aber: „Jetzt sag schon endlich. Du bist unser Freund und wichtig. Muss ich dich da jedes Mal aufs Neue dran erinnern?“ „Anscheinend schon.“ „Hey, Niimura. Beeil dich!“ Hörte man erneut eine Männerstimme aus dem Hintergrund brüllen. „Eine Minute noch“, entgegnete Kyo, hatte dabei aber nicht mal mehr halb so viel Biss, wie er ihn noch vor 15 Jahren hatte. „Eigentlich hatte ich gehofft einen von euch noch mehr als nur halbwegs nüchtern anzutreffen. Aber ich hätte es mir ja eigentlich denken können.“ „Kyo, warum rufst du an? Komm schon. Du hast doch früher nicht um den heißen Brei herum geredet.“ Kaoru war neugierig. Negativ neugierig, denn er erwartete irgendwas Schlimmes. „Ich hab gelogen.“ „Wie?“ Kollektive Verwirrung bei den Herren am Telefon. „Ich hatte heute keine Therapiestunde, sondern ein Gespräch mit dem Direktor und anschließend mit einem Richter.“ Kyo trat von einem Bein aufs andere und spielte mit der Telefonschnur. „Überraschung. Ich bin ab heute wieder ein freier Mann.“ Kapitel 2: Freude ----------------- „Überraschung. Ich bin ab heute wieder ein freier Mann.“ „Kyo, keine Scherze. Das macht mein Herz nicht mehr mit“, sagte Kaoru und starrte die Wand an. Sein Kopf wollte nicht wirklich glauben, was ihm da von den Ohren gesendet wurde. „Ich bitte dich, Kaoru. Mit so was macht man keine Scherze. Vor allem ich nicht.“ „Dann bist du also wirklich…?“ „Ja, Kaoru, ich bin raus aus dem Knast.“ Jetzt musste sich der Älteste der Fünf erst mal setzen, denn durch diese Nachricht waren seine Knie ganz weich geworden. Noch schlimmer als damals, als er seine Tochter zum ersten Mal im Arm halten durfte. Und das hatte ihn schon überwältigt. Den anderen Dreien erging es nicht viel anders, nur dass sie sich noch aufrecht halten konnten. „Hallo? Kaoru? Jungs? Ist noch einer von euch da?“ Die fasste sich als Erster und nahm dem älteren Schwarzhaarigen das Telefon aus der Hand. „Wir…Wir sind alle noch da, Kyo. Wir sind nur gerade…“ „Geschockt? Überwältigt?…Fassungslos?“ „Fassungslos kannst du laut sagen. Fassungslos darüber, dass sie dich noch nicht eher haben gehen lassen!“ Der Gitarrist fand sich allmählich wieder. „Und wo steckst du gerade? Von wo aus rufst du an?“ „Na ja, eigentlich-“ „Die Minute ist vorbei, Niimura. Jetzt leg auf!“ „Einen Moment noch“, rief Kyo, war ein wenig selbstsicherer als vorhin und man konnte leichten Trotz aus seiner Stimme hören. Das Warumono spürte, dass es bald wieder es selbst sein konnte. „Okay, ich mach’s kurz. Leute, ich hocke hier noch im Gefängnis, aber nur noch diese eine Nacht. Denn ganz offiziell ist es noch nicht wirklich. Ab morgen gilt meine Bewährung und so lange muss ich eben hier bleiben. Ich wollte nur fragen, ob… kann mich einer von euch abholen?“ „Klar“, antwortete Die und kämpfte mit den Tränen. „Wir sind morgen da. Verlass dich auf uns.“ „Okay, bis morgen dann“, meinte Kyo und war hörbar erleichtert über diese Antwort. „Ich…freu mich scho-“ Und damit war das Gespräch beendet. Oder besser gesagt unterbrochen, aber Die konnte sich denken, was Kyo gesagt hatte und ihm schossen noch mehr Tränen in die Augen. Überglücklich legte er auf, sah dann reihum von Einem zum Anderen, ehe er einen Freudenschrei mit dazu gehörigen Luftsprüngen nicht mehr unterdrücken konnte. Völlig überdreht hängte er sich an Toshiya, der davon erst mal das Gleichgewicht verlor. Jener wollte sich noch an Shinya festhalten, doch letztendlich landeten alle Drei auf dem Boden. „Ich freu mich so. Ich freu mich so“, sagte Die immer wieder mit einem Quietschen in der Stimme, dass man ihn glatt für ein Fangirl halten konnte, welches gerade den Fanservice zwischen ihren Lieblingsmusikern miterleben durfte. „Wir kriegen ihn wieder. Wir kriegen ihn wieder. Man, ich werde die ganze Nacht nicht schlafen können vor Freude.“ „Es wäre mal ganz schön, wenn uns einer erzählen könnte, worum genau es geht“, forderte Yoshiki auf, der in der Zwischenzeit vom Tisch aufgestanden war und sich neben Kaoru über die Sofalehne gebeugt hatte. „Dass es um den Sängerzwerg geht hab ich wohl mitgekriegt, nur aus dem Rest werde ich nicht ganz schlau. Ich bin zwar ein wenig betagt, aber mein Gedächtnis funktioniert noch und das sagt mir: Der Vorfall liegt, in Anführungszeichen, erst fünfzehn Jahre zurück.“ Kaoru, der aus seiner Starre allmählich erwachte, nickte und wandte dann seinen Kopf dem langjährigen Freund und Supporter an. „Dein Gedächtnis hat Recht. Es ist in etwa fünfzehn Jahre her, seit Kyo…“, der Jüngere schaffte es noch immer nicht das zu sagen - und dass seit besagten 15 Jahren. „Aber er hat angerufen und gesagt, dass er wieder ein freier Mann ist.“ „Das ist er auch. Im Großen und Ganzen gesehen“, mischte sich Die ein und ließ von den anderen Beiden ab, als er sich wieder aufsetzte. „Der Rest seiner Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, soweit ich das eben verstanden habe. Und morgen ist das Ganze dann offiziell und rechtens.“ „Wenn das mal kein Geburtstagsgeschenk ist, dann habe ich noch nie ein Schlagzeug angefasst“, grinste der ältere Schlagzeuger, „Sowohl für dich, Kaoru-kun, als auch für Kyo-kun.“ Ersterer nickte und lächelte: „Und was für eins.“ Toshiya, der sich derweil wieder sortiert hatte, stützte sich mit dem Ellenbogen auf Kaorus Knie ab und sah ihn von unten herauf an. „Hat das Auspusten der Kerzen heute Nachmittag wohl doch was gebracht, hm?“ „Nicht nur die von Kaoru heute, würde ich vermuten“, lächelte Shinya und legte den Kopf schief, „Wohl eher die von uns allen in den ganzen letzten Jahren.“ Die stand auf und streckte sich einmal ordentlich. „Normalerweise würde ich das ja begießen, aber ich hab Kyo eben versprochen, dass wir ihn abholen.“ „Ob er schon eine Ahnung hat, wo er hingeht, wenn er draußen ist?“, grübelte Shinya und sah die anderen Drei an. „Schließlich konnten wir nichts ausrichten, als sein Mietvertrag aus lief. Außer, dass wir sein ganzes Zeug da vorher raus geholt haben, ehe der Mieter das auch noch mit verscherbelt hätte.“ Daraufhin grinste Toshiya: „I wo. Der kommt fürs Erste mit zu mir. Schließlich hab ich noch das Zimmer frei, was ursprünglich mal für das zweite Kind gedacht war, welches Akemi so gerne wollte.“ Bei der Erwähnung ihres Namens huschte ein Hauch von Trauer über sein Gesicht. Er vermisste sie eben doch. Sie und die Zeit, die sie zusammen verbracht haben. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, legte Die einen Arm kumpelhaft um die Schulter des Jüngeren. „Dann wäre das auch geklärt und Kyos Rückkehr steht soweit nichts mehr im Wege. Hab ich Recht?“ Ungeduldig standen sie, an Kaorus Wagen gelehnt, einige Meter vor dem großen Gebäude, in dem ihr kleiner Freund seine letzten 15 Jahre verbracht hatte. Eine Zigarette nach der Anderen fand ihren Tod und selbst Shinya war kurz davor sich eine geben zu lassen, damit er diese unangenehme Nervosität los wurde. Blöd, dass sie keine Uhrzeit von dem Kleinen bekommen hatten und dumm, dass im Moment keine Besuchszeit war, weshalb man sie nicht hinein ließ, obwohl sie mit den Wächtern beinahe schon per du waren. Zudem war es auch noch nicht gerade warm. Toshiya lag halb auf der Motorhaube und betrachtete den bewölkten Himmel, als er fragte: „Wollen wir dann gleich erst mal was essen gehen? Ich krieg nämlich Hunger und Kyo hat doch auch schon eine ganze Weile nichts anständiges gegessen, ne?“ „Warum nicht“, grübelte Kaoru. „Außerdem müssen wir seinen Geburtstag ja noch nach feiern.“ „Hab gar kein Geschenk für ihn“, murmelte Die bedrückt und vergrub seine Hände noch tiefer in den Taschen seiner Steppjacke. „Baka“, rief Toshiya und schaute zu dem jüngeren Gitarristen rüber, „Wir sind hier. Das ist für ihn wohl das bedeutendste Geschenk, dass wir ihm machen können. Da kommt vermutlich nichts gegen an.“ „Hey, Jungs“, sagte Shinya plötzlich leise, fast ehrfürchtig und straffte die Schultern, während sein Blick starr auf das große Eingangstor des Gefängnisses gerichtet war. „Schaut mal da.“ Als man das Rattern von Metall hörte, richtete sich Toshiya auf und sah erwartungsvoll wie die Anderen nach vorne. Das Tor öffnete sich und heraus trat eine kleine Person mit kurzem, schwarzen Haar, einen verstaubten Rucksack über der Schulter tragend und den Kopf gesenkt. Die Kleidung war offensichtlich seit längerem aus der Mode und passte auch nicht mehr ganz. Außerdem hatte sie hier und da ein paar Löcher. Aber es war unverkennbar, wer da auf sie zu kam. Wie gelähmt standen die vier Männer an Ort und Stelle, überwältigt von allem, was emotional gerade auf sie einstürzte. Lediglich Toshiya schaffte es, nach einigen Sekunden seinen Beinen den Befehl zu geben los zu laufen. „Kyo!“ Übermütig und Tränen überströmt nahm er seinen Freund fest in die Arme, fiel mit ihm zusammen beinahe auf den Boden. „Ich hab dich ja so vermisst.“ Jetzt fanden auch die anderen Drei wieder zur Besinnung und eilten auf den lang vermissten Freund zu, der sich erst einmal von jedem umarmen lassen und genauer unter die Lupe genommen werden musste, damit sie sicher gehen konnten, dass dies ihr Kyo war und dass der Anruf von gestern nicht nur eine Halluzination, ob des Alkohols und des Wunschdenkens, gewesen war. „Du hast uns gefehlt, Kyo.“ „Ihr mir auch, Toshiya“, flüstere der ehemalige Sänger und sofort musste er sich auf die Unterlippe beißen, denn die ersten Freudentränen füllten auch seine Augen, bis sie schließlich über sein Gesicht rannen. „Mir hat sogar das hier gefehlt“, schluchzte er auf, denn bei allen Besuchen war immer diese dämliche Scheibe aus Plastikglas zwischen ihnen gewesen, die jeglichen Kontakt verhinderte. Die Tränen des Kleinsten veranlasste die Anderen ihn nochmals liebevoll in den Arm zu nehmen. Ein wenig ironisch, wenn man bedachte, dass Kyo sich früher nicht so gerne umarmen und herzen ließ. Und dann während der Zeit damals vor 15 Jahren niemanden in seiner unmittelbaren Nähe wollte. Jetzt lechzte er geradezu danach, wollte wieder fühlen wie es war respektiert, beachtet und vor allem geliebt zu werden. Kapitel 3: Der Weg in die Zukunft --------------------------------- „Das tat gut“, seufzte Kyo zufrieden auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seit langem war sein Bauch mal mit leckerem Essen gefüllt. Richtig gefüllt. „Danke, Jungs.“ Spielerisch knuffte Die den Jüngeren in die Seite: „Ist doch kein Ding.“ „Eben. Schließlich soll es dir gut gehen.“ „Sag das doch nicht so. Da komm ich mir komisch vor.“ „Ach komm Kyo“, sagte Kaoru und legte in einer freundschaftlichen Geste einen Arm um Kyos Schultern, „Wir haben dich gern und wollen dir deine Rückkehr so angenehm wie möglich machen. Du hast es verdient.“ „Hey, es gab einen Grund, weshalb ich… dort war. Also glaube ich nicht wirklich, dass ich das verdient habe.“ Ein wenig betrübt sah der kleine Japaner zu Boden. „Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, dass ich hier sitzen darf. So ganz ohne weiteres.“ „Also, ich fange allmählich an es zu realisieren“, lächelte Shinya glücklich und nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Und ich muss sagen: Diese Realität gefällt mir.“ Toshiya seufzte glücklich auf und stimmte dem Drummer zu. „Möchtest du noch irgendwas Kyo?“, erkundigte sich Die und sah neugierig zu dem angesprochenen Freund. „Nein, ich bin satt. Ich kriege keinen einzigen Bissen mehr runter. Und Durst habe ich auch nicht mehr“, entgegnete der Sänger und wehrte mit einem dankenden Lächeln ab. „Außerdem habt ihr schon genug Geld für mich ausgegeben.“ Kurz strich er sich über die müde gewordenen Augen. Lag wohl an dem vielen Essen, dass er jetzt so schläfrig war. „Was denn? Müde?“, stichelte der zweite Gitarrist und grinste wieder. Schließlich meinte er es nicht ganz so fies, wie es rüber kam. Doch Kyo zuckte nur mit den Schultern, versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. „Nur ein bisschen. Vielleicht sollte ich mal los und mir…“ Er stockte. Kaoru runzelte die Stirn: „Und was?“ „Mir ein Hotel suchen, aber ich hab gar kein Geld bei mir. Und die Kreditkarte muss auch erst noch erneuert werden.“ Über sich selbst lachend schüttelte der Schwarzhaarige seinen Kopf. „Ich hab gar nicht daran gedacht, was alles auf mich zukommt, wenn ich wieder frei bin.“ „Mach doch einen Schritt nach dem Anderen“, sagte Shinya in einem Ton, der ihn gleich viel weiser erschienen ließ. „Dann ist alles gleich viel einfacher. Und zumindest für eines deiner Probleme hat Toshiya eine Lösung.“ „Hat er?“, fragte Kyo und sah den Bassisten mit großen Augen an. „Hab ich?“ Nachdenklich kräuselte er die Stirn. „Ach ja, hab ich!“, stieß er freudig aus und hatte eine leichte Ähnlichkeit mit der Zeichentrickfigur Wickie. Von dem Schlagzeuger und den beiden Gitarristen kam nur ein amüsiertes Lachen und Kopfschütteln. „Weißt du Kyo, ich hab noch ein Zimmer bei mir frei. Das kannst du gerne für eine Weile nutzen. Bitte sag ja. Bitte, bitte.“ Ein wenig überrumpelt blinzelte der kleine Japaner den guten Freund an. Mit so einem Angebot hatte er nun gar nicht gerechnet. „Ihr seid echt die Besten. Die Allerbesten.“ Und schon standen ihm die ersten Tränen wieder in den Augen. „Es ist eigentlich viel mehr Eigennutz, wenn ich ehrlich sein soll.“ Toshiya grinste verschwörerisch und nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Und Egoismus, denn so hab ich dich Erstmal für eine ganze Weile nur für mich alleine.“ „Bist du dir da sicher?, grinste Die schelmisch und stocherte mit seinem Ellenbogen in Toshiyas Seite herum. „Du wirst in nächster Zeit ganz schön viel Besuch bekommen.“ „Schließlich gibt es da einige Jahre, die nachgeholt werden müssen“, pflichtete Kaoru ihm bei. „Unser Kyo braucht einen Crashkurs über die vergangenen fünfzehn Jahre.“ „Ja, den werde ich wohl nötig haben. Wenn ich überlege, wie verändert die Stadt ausgesehen hat, auf dem Weg hierher… Ich hab mich schon wie ein Zeitreisender aus dem letzten Jahrhundert gefühlt.“ „Oh, komm her.“ Und schon fand sich der Sänger in einer Umarmung des Bassisten wieder, der sich dafür an Kaoru vorbei schob. „Einiges ändert sich scheinbar doch nicht“, lachte Kyo und versuchte den anhänglichen Freund wieder von sich zu schieben. Die schmunzelte gerührt bei diesem Anblick. „Siehst du, du kannst es doch noch. Auch, wenn wir jetzt fünfzehn Jahre lang darauf warten mussten.“ Verwirrt sah Kyo den Gitarristen an. „Weißt du nicht mehr“, fing dieser an zu erklären, „Als ich dich durch den Park geschoben habe. Ich hab dir doch gesagt, dass du dein Lachen irgendwann wiederfindest.“ Kyo nickte verstehend und wurde sogar ein wenig rot dabei. Dass Die sich noch an das Gespräch erinnern konnte. Aber er hatte ja auch das Versprechen mit dem Foto gehalten. Und das besaß er immer noch. Es hatte ihm Mut gemacht und ihn dazu gebracht zu keiner Zeit aufzuhören zu hoffen. Hoffen, auf genau diesen Tag und der endgültigen Vergebung seiner selbst für seine Tat. Nun Ersteres war eingetreten. Ob das Zweite jetzt noch mal so lange dauern würde? Nein, vermutlich nicht, denn jetzt war er ja nicht mehr so allein. Jetzt hatte er ja wieder richtigen Kontakt zu anderen Menschen und nicht nur diesen abgestumpften Typen, die einem gleich die Kehle durchschneiden wollen mit ihrem Blick, nur weil man ihnen einen Schritt zu nahe gekommen ist. „Zum Glück habe ich heute morgen schon alles vorbereitet“, holte Toshiya ihn aus den Gedanken. „Ich hab dein Bett bezogen, das Zimmer ein wenig wohnlicher gestaltet und im Badezimmer hab ich auch schon ein wenig Platz gemacht. Wenn die Geschäfte gleich noch auf haben, können wir ja in eine Drogerie gehen und schon mal das Wichtigste besorgen.“ „Aber ich hab doch kein Geld bei mir.“ „Ach komm. Die paar Yen. Kannst mir das ja wiedergeben, wenn du das mit der Bank geregelt hast.“ Optimistisch grinste Toshiya den Älteren an. Er freute sich richtig darauf, dass dieser für die nächste Zeit bei ihm wohnen würde. So konnte er ihm dabei helfen die letzten Jahre zu verarbeiten und aufzuholen. Vor allem ihre Freundschaft wieder festigen, auch wenn er selbst nicht wirklich glaubte, dass diese das nötig hätte. Zeitgleich sagte ihm sein Gefühl jedoch, dass sich der Sänger ein neues, tief reichendes Schneckenhaus gesucht hatte, in dessen hinterste Ecke er sich verkrochen hatte. Wieso er dieses Gefühl hatte, konnte er nicht sagen. Es war einfach da und im Stich gelassen hatte es ihn noch nie. „Äh, Toshiya?“ „Ja?“ „Könntest du mich bitte nicht so anstarren?“, bat Kyo ein wenig verlegen. „Das ist mir unangenehm.“ „Oh, äh, klar. Sumimasen. Ich wollte dich nicht so anstarren, ehrlich. Ich bin nur froh, dass du endlich wieder mit uns zusammen sitzt.“ „Ich auch.“ Glücklich lehnte sich der Kleinste zurück und atmete tief durch. Die Luft roch so anders wenn man nicht hinter Gittern saß. Viel besser. Viel gesünder. Angenehmer und mit dem süßen Beigeschmack von Freiheit. „Sollte jemals wieder so was wie eine Plexiglasscheibe zwischen uns sein, dann hoffe ich, dass diese sich in einem Aufnahmestudio befindet.“ Erstaunt, aber auch mit einem freudigen Funkeln in den Augen sahen seine Freunde ihn an. „Du würdest also wieder ins Studio gehen wollen?“, fragte Kaoru nach. Man konnte deutlich heraushören, dass er am liebsten eine positive Antwort haben wollte. Seine Worte gut überlegend sah Kyo auf die Hände. Er würde gerne wieder singen. Den Schmerz heraus schreien und der Verzweiflung Luft machen, die ihn auffraß. Doch, andererseits… „Ich möchte schon gerne, aber ich möchte auch erst noch weiter verarbeiten. Es gibt noch einiges, was an mir nagt. Seid mir nicht böse.“ Die grinste beschwichtigend. „Natürlich sind wir dir nicht böse.“ „Du brauchst eben deine Zeit“, lächelte Shinya, der sich aber insgeheim schon darauf freute mal wieder mit der ganzen Band zusammen spielen zu können. „Sag uns einfach, wenn du so weit bist.“ Kyo nickte bekräftigend. „Mach ich, mach ich.“ Plötzlich erklang eine Melodie. Eine sanfte, ruhige Melodie. „Itoshisa Wa Fuhai Ni Tsuki“, flüsterte Kyo und bekam einen leicht glasigen Blick. „Ja“, meinte Kaoru lachend. „Meine Tochter liebt diesen Song. Sie versteht zwar nicht viel von dem Text, aber die Melodie scheint einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben. Ich musste ihr versprechen, das als Klingelton zu nehmen, damit ich weiß, dass sie und ihre Mutter mich anrufen.“ Schmunzelnd nahm er das Gespräch an. Es war seine kleine Tochter, die Sehnsucht nach ihrem Otou-san hatte. „Warte noch ein bisschen, mein Schatz. Dann kannst du mir in aller Ruhe erzählen, was du heute im Kindergarten erlebt hast, ja?... Machst du das? Fein. … ja, ich hab dich auch lieb, Kleines. Bis nachher.“ Ein glückliches Lächeln zierte seine Lippen, als er auflegte. „Du hast da wirklich einen Schatz in die Welt gesetzt“, schwärmte Die, der daran denken musste, wie biestig seine Tochter manchmal sein konnte. Er hatte sie einfach zu sehr verwöhnt. „Nicht ganz. Das mit dem ‚in die Welt setzten’ hab ich doch meiner Frau überlassen. Und es gibt Momente, in denen hasst sie mich immer noch dafür“, lachte der Älteste. Toshiya konnte nur deprimiert auf seufzen: „Das tut jede Frau, die schon mal Mutter geworden ist, hab ich so das Gefühl.“ „Also, meine nicht“, merkte Shinya an und tat wieder einmal so, als wäre er ein Heiliger. Dies brachte ihm allerdings einen fiesen Seitenhieb von dem Bassisten. „Au, musst du gleich so fest zuhauen?“ „Musst du immer noch aus Zuckerwatte sein?“, konterte dieser sofort und grinste breit. Währenddessen kam sich Kyo vor, wie in einer anderen Welt und seine Freunde distanzierten sich immer weiter von ihm. Als würden sie alle den selben Weg gehen, nur dass sie schon viel weiter waren und es sie nicht einmal einholen konnte, wenn er laufen würde. Er könnte einen 100 Meter-Sprint hinlegen und wäre nicht einmal eine Spur näher an ihnen. 15 Jahre waren eben doch eine lange Zeit. Immer, wenn sie ihm von ihren Sprösslingen erzählt hatten, da hat es sich nicht real angehört, hat ihn nicht wirklich erreicht. Jetzt aber traf es ihn mit voller Wucht. Seine besten Freunde hatten Familien. Menschen, die ihnen nahe standen, sie liebten. Und er? Er war allein. Er hatte dies alles nicht. Und würde es auch nie bekommen. Kapitel 4: Die Welt mit neuen Augen sehen ----------------------------------------- Nicht ein Auge hatte Kyo in der darauf folgenden Nacht zu bekommen. Die Angst, er könnte hiervon nur geträumt haben, hielt ihn wach. Er wollte nicht wieder in dieser kalten, lieblosen Zelle aufwachen. Wollte nicht wieder von allen herumgeschubst und abgewiesen werden. Nicht jetzt, nachdem er wieder gefühlt hatte, wie wärmend doch die Nähe seiner Freunde war. Wie hatte er nur jemals an ihnen zweifeln können? Was war er doch für ein Dummkopf gewesen. Das Strahlen in ihren Augen und die Freude, die sie ausgestrahlt hatten, seit sie ihn abgeholt hatten, machten es ihm leichter in die Zukunft zu sehen. Mit ihrer Hilfe würde das Ganze ein Kinderspiel werden. Oder zumindest vieles, denn schließlich waren sie auch nur Menschen. Das Zimmer, welches er von Toshiya für die nächste Zeit zur Verfügung gestellt bekommen hatte, war von der Grundfläche her um einiges größer, als die Zelle, die er in den letzten Jahren bewohnt hatte. Und obwohl die Wände auch hier weiß und der Raum noch sporadisch eingerichtet war, fühlte er sich hier wohl. Denn die Tür war nicht aus Metall, sondern aus Holz und er war derjenige, der sie abschließen konnte. Vor dem Fenster waren keine Gitterstäbe angebracht, die einem die Aussicht verderben konnten. Vor dem Bett lag ein kleiner, bunter Teppich, damit man nicht gleich morgens mit dem kalten Laminat in Berührung kam. Toshiya hatte ihm erzählt, dass es ursprünglich ein Kinderzimmer werden sollte, es jetzt aber hauptsächlich als Gästezimmer fungierte. Aber an kleinen Details hier und da konnte man den ursprünglichen Verwendungszweck für diesen Raum erahnen. Während er versuchte doch noch für einige wenige Stunden Schlaf zu finden, überlegte Kyo schon einmal, was er am nächsten Tag und dem Rest der Woche alles zu tun hatte. Als Erstes musste er zu seinem Bewährungshelfer und ihm Bescheid geben, dass er vorübergehend hier zu erreichen war. Dann musste er ganz dringend zur Bank. Ging ja nicht, dass seine Freunde alles für ihn bezahlten. So weit, dass er sich aushalten ließ, war er noch nicht hinab gesunken. Sobald er dann Zugriff auf sein Konto hatte, sollte er auch erst einmal ein paar Klamotten einkaufen. Viel durfte von seinem alten Zeug vermutlich nicht mehr übrig geblieben sein. „Alles Mottenfraß geworden“, murmelte er und konnte sich gut vorstellen, wie aus einigen seiner Lieblingsstücke richtige Netze geworden waren, durch die hinein gefressenen Löcher. Seufzend setzte er sich auf. Das mit dem Schlafen wurde einfach nichts. Einer alten Angewohnheit folgend ging er zum Fenster und betrachtete die Straße, die vor dem Hochhaus verlief. Die Autos –zumindest glaubte er, dass es welche waren, schließlich hatte das von Kaoru am Mittag so ähnlich ausgesehen- wirkten futuristisch mit ihren Formen, jedoch nicht ganz so ungewöhnlich wie die aus all den alten Serien und Zukunftsvisionen, die er manchmal im Fernsehen verfolgt hatte damals. Und auch das mit der Kleidung schien sich in Grenzen zu halten. Nicht ganz so viel Silber, wie er fast erwartet hatte. Die Leute glaubten immer, dass sich innerhalb weniger Jahre die halbe Welt komplett von der unterschied, die sie im Moment umgab. Aber Kyo konnte ihnen jetzt eindeutig sagen, dass der Prozess doch viel langsamer verlief, als sie alle glaubten. Auf jeden Fall sollte er Toshiya beim Haushalt helfen, wenn er sich schon hier einnistete, wie er fand. Er konnte ja beim Einkaufen helfen und das Geschirr spülen. Da hatte er mittlerweile nämlich reichlich Übung drin. Irgendwas musste er ja gut können. Wenn er schon nicht mehr sang. Ob er es überhaupt noch konnte? Ob seine Stimme dazu noch fähig war? Darauf hatte er keine Antwort, schließlich hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig gesungen. Nicht einmal mehr gesummt… Danach war ihm in den letzten Jahren nicht wirklich zumute gewesen. Aber vielleicht sollte er zumindest damit wieder anfangen, wenn er mit den Anderen wieder zusammen Musik machen wollte. Vielleicht sollte er mit einem ihrer alten Songs anfangen. Einfach, um wieder ein bisschen in Schwung zu kommen. Und damit er sich die Texte leichter wieder ins Gedächtnis rufen konnte. Gedankenverloren lehnte er die Stirn ans kalte Glas. Und wie früher sorgte es dafür, dass die Unruhe in ihm zum erliegen kam. Mit einem leichten Lächeln schloss er die Augen, genoss die Kühle, die in ihn drang. Außerdem hatte sie den angenehmen Nebeneffekt ihn müde werden zu lassen. Ein Gähnen unterdrückend drehte Kyo sich wieder dem Bett zu und schlüpfte unter die Decke. „Vielleicht klappt es ja jetzt“, murmelte er und kuschelte sich in die weichen Laken. Sein Bewährungshelfer schien ein ganz netter Kerl zu sein, so kam er Kyo jedenfalls vor. Der hatte nämlich mit so einem steifen Knochen gerechnet, der auf ihn herab sah, als wäre er der allerletzte Dreck. Und der war er nicht. Durch die ganzen Therapiestunden, war er mit seinem Selbstbewusstsein zumindest schon mal bei sowas wie Gartenerde angekommen. Nun gut, jetzt konnte man sagen, dass Gartenerde auch Dreck war, wenn man sie unter den Schuhen ins Haus schleppte, aber für den kleinen Japaner war es schon mal eine große Steigerung. Denn eine solche Erde war nützlich und bei vielen Leuten erwünscht. Nicht so wie Dreck, den man einfach nur loswerden wollte und entsorgte. Er würde sich in nächster Zeit auch erst mal um einen vernünftigen Beruf bewerben. Das hatte ihm sein Bewährungshelfer zumindest empfohlen. Schließlich stand es ja noch in den Sternen, ob das mit der Musikkarriere je wieder etwas werden würde. Nur, welcher Arbeitgeber stellte schon einen Mann ein, der wegen Mord gesessen hat? Noch dazu nichts Richtiges gelernt hatte? Das würde eine verdammt schwere Aufgabe werden. Eine, der er sich stellen musste. Vielleicht hatte er ja auch Glück und es gab noch einen netten Menschen, der sich seiner erbarmte. Vor dem Gebäude, in dem der für ihn zuständige Beamte saß, wartete Toshiya in seinem Wagen, bereit, den Älteren dahin zu fahren, wo er hin musste. „Wars schlimm?“, fragte dieser auch gleich, als er den Freund erblickte. Kyo zuckte, gespielt desinteressiert, mit den Schultern: „War besser, als ich erwartet hatte.“ „Freut mich. Was hat er dir denn so erzählt?“, erkundigte sich der Größere neugierig. „Nichts besonderes. Nur, dass ich mich regelmäßig melden soll und er mir ein bisschen dabei unter die Arme greifen will einen Job zu finden. Den muss ich nämlich haben, um meine Auflagen zu erfüllen.“ Kyo seufzte auf und fuhr sich übers Gesicht. Es stand noch so viel auf seiner gedanklichen Liste. Toshiya lächelte verschmitzt und öffnete die Beifahrertür. „Steig ein. Es gibt da einen Ort, an den ich dich bringen möchte.“ Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch stieg Kyo in den Wagen. Er wusste noch von früher, was für einen Blödsinn seine Freunde gerne machten. Deswegen konnte man nicht vorsichtig genug sein. „Darf ich fragen, wohin?“, erkundigte er sich dennoch, hatte die leise Hoffnung, er würde es erfahren. Doch stattdessen war die Antwort: „Lass dich überraschen.“ Die Augen verdrehend setzte sich Kyo artig auf den Beifahrersitz. „Kriege ich denn nicht einmal einen kleinen Hinweis?“ „Hm“, überlegte der Jüngere gespielt, „vielleicht.“ „Also nicht.“ „Genau.“ Kyo seufzte auf und fing an zu lächeln. Unglaublich, aber diesen Humor und die Unbeschwertheit des Anderen hatte er irgendwie vermisst. Während der Fahrt beobachtete er den Freund dabei, wie er mit dem Wagen umging. Es war nicht viel anders, als früher, aber es gab doch einige Knöpfe, von denen er nicht wusste, wozu sie da waren. Vielleicht sollte er demnächst in einer Fahrschule vorbei schauen und den berühmten ‚Lappen’ noch mal machen. Eher würde er sich nicht wieder hinters Steuer setzen. Seiner müsste eh ungültig sein mittlerweile. Jedoch wüsste er gerade gern, wohin ihn dieser seltsame Wagen und sein Fahrer brachte. „Komm schon Toshiya. Was hast du mit mir vor?“ „Nein, Kyo. Nicht ich, wir.“ „Wie, wir?“ „Na, wir eben.“ Ganz klasse. Jetzt war er auch schlauer als vorher. Blöder Toshiya. Grummelig schaute er wieder aus dem Fenster, bemerkte, dass sie auf eine große Fläche mit vielen Gebäuden zu fuhren, die sich alle hinter einem großen Zaun in die Luft reckten. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf und er fühlte sich wieder zurück ins Gefängnis versetzt. Der Wachposten am Eingang verstärkte diesen Eindruck für ihn noch. Am liebsten hätte er den Bassisten gebeten, vielleicht auch ein wenig angefleht, umzudrehen. Unbemerkt verkrampfte er sich total, erschrak, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ganz ruhig. Wirst schon sehen. Alles halb so wild. Sogar besser.“ Sie fuhren zum Tor vor und Toshiya gab dem Pförtner eine Art Kreditkarte. Diese wurde durch ein Lesegerät gezogen und schon hatte er Zutritt zu dem Gelände. Das Tor öffnete sich beinahe Geräuschlos. Sie passierten ein Gebäude nach dem Anderen und allmählich dämmerte es Kyo, wo sie waren. „Kann es sein, dass das alles Lagerhallen sind?“ Erwartungsvoll wandte Kyo seinen Blick von den Hallen ab und Toshiya zu. „Ja, sind es. Und in einer von ihnen lagern deine ganzen Möbel und so weiter. Weißt du nicht mehr? Das haben wir dir damals erzählt, kurz nachdem du… naja, du weißt schon. Und jetzt fahre ich mit dir hierhin, damit wir ein bisschen was davon abholen können. Ich wollte zwar nachher mit dir ein bisschen durch die Stadt gehen, damit du deinen Kleiderschrank auffüllen kannst, aber ich hab gedacht, dass du gerne noch was von den alten Klamotten hättest.“ Der Ältere fühlte wie seine Sicht verschwamm. Aber er wollte nicht wieder weinen. Das hatte Zeit bis später. Er wollte sich bedanken, fand aber einfach nicht die richtigen Worte. ‚Oh man’, verspottete er sich gedanklich selbst, ‚ein Songwriter, dem die Worte fehlen. Das gibt’s doch nicht.’ Sie hielten vor dem Gebäude mit der Nummer 27. „Da wären wir“, verkündete Toshiya. „Hey, Kyo. Alles in Ordnung?“ Besorgt sah er seinen Beifahrer an, der ganz verkrampft wirkte. „Kyo? Sag doch was.“ Behutsam legte er eine Hand abermals auf die Schulter seines besten Freundes, brachte ihn mit sanfter Gewalt dazu, ihn anzusehen. Er musste ein wenig grinsen, als er die Tränen sah. „Du brauchst doch nicht weinen, weil wir auf deine Sachen aufgepasst haben. Das versteht sich doch von selbst. Schließlich haben wir alle auf den Tag gewartet, an dem du wieder bei uns bist. Und damit du nicht gleich die volle Ladung Zukunft abbekommst und du dich wieder wohler fühlst haben wir dir deine Einrichtung aufgehoben. Na ja, bis auf den Kühlschrank. Die Lebensmittel darin hatten sich schon beinahe buchstäblich in den Kunststoff gefressen. Der war absolut nicht mehr zu retten.“ Kyo erinnerte sich wieder an das seltsame Grünzeug. Obwohl, ‚Grün’ war, farblich gesehen, wohl nicht wirklich die passende Bezeichnung. „Ist wohl alles unter Biowaffe gelaufen, was?“ Der Scherz tat gut und hielt die Tränen auf. Toshiya grinste: „Wir waren kurz davor den Sicherheitsdienst mit einem Spezialteam anzufordern, aber wir haben dann einfach allem darin mit einem kleinen Flammenwerfer den gar aus gemacht. Dabei ist dann auch der Kühlschrank noch in gutes Stück in sich zusammengeschrumpft. Noch ein Grund, warum wir ihn entsorgt haben.“ Er befreite sich von dem Sicherheitsgurt und stieg aus, wartete darauf, dass der Andere seinem Beispiel folgte. „Als wir vor 2 Wochen das letzte Mal zur Kontrolle hier waren, sah auch noch alles Top aus. Ein bisschen muffig wars, aber keine größeren oder kleineren Schäden von irgendwelchem Ungeziefer.“ Als der Ältere neben ihm stand, schloss Toshiya die Tür auf und ließ dem Freund den Vortritt. Dann betätigte er den Lichtschalter, sodass Kyo einen besseren Blick über sein Eigentum hatte. „Wir haben Möbel und Matratze vor dem Einlagern auch noch professionell reinigen lassen, damit irgendwelche Keime nicht auf die dumme Idee kamen, vor sich hin zu brüten und alles unbrauchbar werden zu lassen.“ Fasziniert und überwältigt strich Kyo über die Folie, die seine Couch umhüllte. „Ihr habt wirklich an alles gedacht, was?“ „Wir, Shinya, wo ist da der Unterschied“, grinste der Bassist und freute sich, dass er dem Anderen eine Freude machen konnte. „Alles ist Luftdicht verpackt worden, damit es die kleine Zeitreise, wie wir es genannt haben, übersteht.“ Völlig fertig von den vielen auf ihn einströmenden Gefühlen ließ sich der Sänger auf sein Sitzmöbel plumpsen und starrte auf den Boden. „Warum?“, flüsterte er. „Weil du unser Freund bist“, antwortete ihm der Größere und setzte sich neben ihn. „Weil wir wollen, dass du glücklich bist.“ „Ich weiß, Toshiya, ich weiß“, entgegnete er, „Aber ich meinte eigentlich gerade eher mich. Ich frage mich seit fünfzehn Jahren, warum ich mich nicht früher auf euch verlassen habe. Warum ich nicht früher erkannt habe, dass ihr die einzigen sein würdet, die mich nicht verurteilen und für mich da sein würden. Was war ich doch für ein Dummkopf. Ein hoffnungsloser Dummkopf. Und dass ihr mir nach all den Jahren jetzt immer noch so zur Seite steht, werde ich euch nie vergessen.“ „Wenn du es uns wirklich danken möchtest“, fing Toshiya an, „Dann fang bitte wieder an zu schreiben und zu singen. Lass uns wieder eine Band sein und zusammen etwas erschaffen. Und wenn es nur für uns Fünf und nicht für die Welt da draußen gedacht ist, würde es den Anderen und mir schon reichen. Solange wir nur wieder miteinander Musik machen und wieder in unserer gewohnten Welt sein dürfen.“ Schniefend versteckte Toshiya sein Gesicht an Kyos Schulter, worauf dieser ein wenig perplex war. Er vermisste es auch. Es war sogar das, was er während der letzten Zeit am meisten vermisst hatte. Ein Teil eines Ganzen zu sein. „Könnt ihr denn überhaupt noch spielen?“, fragte der kleine Schwarzhaarige, sein Tonfall leicht ironisch und sah neckend auf den Bassisten hinab. „Klar, das ist wie Fahrrad fahren“, grinste dieser von unten herauf. „Als ob wir uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr hinter unsere Instrumente setzen würden.“ Beruhigend strich Kyo ihm über den Rücken. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“ Kurz schwieg er und sah sich um. Betrachtete eingehend sein Eigentum. „Wir können uns ja morgen oder so zusammensetzten. Mal schauen, wie viel ich noch hinkriege.“ Mit großen, leuchtenden Augen sah der Jüngere zu dem Sänger hoch und fing überschwänglich an ihn zu herzen. „Du bist wirklich erste Sahne, Kyo-chan.“ Kapitel 5: Leben, die 2. ------------------------ Vieles mussten sie in der Lagerhalle lassen, da es unmöglich in Toshiyas Auto oder dessen Wohnung gepasst hätte. So beschränkten sie sich vorrangig auf die Kisten mit den Klamotten, sowie Fotoalben, ein paar Bücher und der Kiste mit Kyos Notizbüchern, in denen sowohl fertige, als auch unfertige Texte standen. Auf dem Weg zurück rief Kaoru an, der bereits vor Toshiyas Wohnung wartete, um mit Kyo zur Bank zu gehen, damit das auch geklärt wurde. Mit einer Begleitperson würde es diesem bestimmt ein wenig einfacher fallen dort zu sitzen. Der Bassist versprach, dass er in der Zwischenzeit die Sachen in dem Zimmer verstauen und was zu essen kochen würde. Am Zielort angekommen schmiss Kyo sich noch etwas Wasser ins Gesicht, damit man niemandem so schnell auffiel, dass er geweint hatte. Er hasste sich ja selbst dafür, dass er in den vergangenen 24 Stunden so nah am Wasser gebaut war. Aber 15 Jahre lang seine Gefühle zu versiegeln, damit man nicht gleich fertig gemacht wurde, war schon anstrengend und jetzt, wo er eine derartige Zurückhaltung nicht mehr brauchte, da kam es einfach über ihn. „Ganz ruhig, Kyo. Du wirst dich wieder daran gewöhnen können. Alles wird wieder normal.“ Er nickte seinem Spiegelbild aufmunternd zu und verließ dann das Badezimmer. Er verabschiedete sich von Toshiya und eilte anschließend die Treppen runter und hinaus, wo Kaoru schon auf ihn wartete. „Können wir?“, fragte Kaoru, grinste den Kumpel an. „Wir können.“ „Dann hüpf mal rein.“ Damit wies er auf seinen schwarzen Flitzer und machte sich selbst daran in den Wagen zu steigen. „Je schneller wir da sind, umso schneller sind wir auch wieder draußen.“ Kaoru und seine Weisheiten. Sie konnten einen auf die Palme oder zum Lächeln bringen, wie jetzt, aber sie hatten immer etwas Wahres an sich. „Ich habe auch schon im Vorfeld so einiges besprochen, dank deiner Bevollmächtigung. Du brauchst dort gleich eigentlich nur den Antrag auf neue Kreditkarten stellen und die Bevollmächtigung wieder rückgängig machen. Dann sind wir auch schon wieder draußen“, erklärte Kaoru, nachdem er den Wagen gestartet und sich in den Verkehr eingereiht hatte. „Alles in allem eben eine Kleinigkeit. Aber man sollte so etwas nicht lange aufschieben, nicht wahr?“ Kyo nickte. Man sollte es wirklich nicht aufschieben. Vor allem nicht, wenn man seinen Freunden nur ungern auf der Tasche liegen wollte. Wie sagte Shinya vor langer Zeit? Er konnte es schaffen wieder auf die Beine zu kommen. Dazu bedurfte es nur ein wenig Übung. Finanzielle Selbstbestimmung konnte da doch nur hilfreich sein. „Gab es viele große Veränderungen in dieser Welt?“ „Nicht wirklich. Der Meeresspiegel ist leider noch ein wenig weiter angestiegen. Obwohl man eigentlich viel getan hat, um dies zu verhindern. Wie bei diesem Auto zum Beispiel. Kein Benzin, nur noch Strom, teils aus Solarzellen, die sich im Lack befinden. Coole Erfindung, oder?“ „Hat was, ja. Ist bestimmt preiswerter, als der Besuch an der Tankstelle.“ „Ganz ehrlich gesagt, haben das noch nicht alle Wagen. Kostet nun mal ein bisschen mehr, so eine Speziallackierung. Aber auf lange Sicht ist es schon kostengünstiger. Und durch die vielen Sonnentage, die wir jetzt haben kommt da auch einiges an Strom zusammen, wenn man den Wagen tagsüber draußen lässt. Und warum nicht umsonst fahren, anstatt Geld für Sprit zu blechen. Mir tun die Leute von den Tankstellen und der Ölindustrie ja schon Leid, immerhin stehen ihre Arbeitsplätze ständig auf der Liste mit den Dingen, die eingespart werden könnten.“ Man sah ihm an, dass es ihm schon ein wenig Leid tat. Immerhin standen dabei die Existenzen von ganzen Familien auf dem Spiel. Aber das war auch schon damals, zu seiner Zeit so gewesen. Ja, die liebe Mühe mit der Arbeit. Ein Problem, dass immer bestehen würde. Dessen war er sich sicher. „Und in so einer Zeit soll ich einen Job finden“, seufzte der Jüngere und fuhr sich durchs Haar. „Wird wohl schwierig.“ Kurz warf Kaoru einen Blick zum Beifahrersitz und schmunzelte. Kyo war wieder da. Wirklich wieder da. Und hatte Probleme, wie viele andere auch. „Ich glaube, Die und Toshiya suchen noch wen für den Hauptsitz ihrer Kette hier in Tokyo. Noch ist es nicht offiziell, sie überlegen immer noch. Aber vielleicht... na, du weißt schon.“ Kyo verfiel wieder einmal seinen Gedanken. Von Musik hatte er immerhin schon so ein bisschen Ahnung. Und wenn er nur Ware herumschleppen musste. Es wäre ein Job. „Ich kann Toshiya ja nachher mal fragen, wenn ich wieder zurück bin.“ „Mach das. Sie werden dir bestimmt gerne helfen. Schließlich bist du ihr Freund.“ Kaoru parkte den Wagen. „Wir sind da. Dann wollen wir mal, was?“ Der Kleinere nickte, entledigte sich seines Gurtes und stieg aus. Die Bank hatte sich äußerlich nur wenig verändert, sah noch fast genauso aus, wie damals. Hatte nur einen neuen Anstrich in einer anderen Farbe. Das meiste würde sich jedoch innerhalb des Gemäuers verändert haben. Ein letztes Mal tief durch atmen, Mut sammeln. Er war bereit. Zumindest redete er sich dies ein. Zusprechend bekam er von Kaoru einen Arm um die Schultern gelegt. „Das wird ein Klacks.“ Mit einem ebenso zuversichtlichen Grinsen begleitete er den Kumpel hinein, sah sich kurz um und führte sie Beide dann zu einem Schalter. „Konnichi wa. Wir würden gerne zu Herrn Shizuke.“ Die junge Dame nickte: „Einen Moment bitte.“ Sie ging zu einem der Schreibtische, sprach dort einen Mann mittleren Alters an. Dieser nickte, sah zu den beiden Männern am Schalter hinüber und stand auf. Er zupfte noch sein Jackett über dem, doch etwas rundlicheren, Bauch zurecht und kam auf sie zu. „Konnichi wa, Herr Niikura. Ich habe Sie schon erwartet.“ Er machte eine leichte Verbeugung und wandte sich dann mit einer weiteren an Kyo. „Und Sie müssen dann Herr Niimura sein.“ „Hai, sou desu.“ Artig machte er seine Verbeugung. „Wenn Sie mir dann bitte folgen möchten. Im Sitzen lässt es sich bequemer sprechen.“ Damit verwies der Bankangestellte auf ein kleines Büro weiter hinten und ging den beiden Männern anschließend voraus. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Wie Kaoru prophezeit hatte, hatten sie nicht lange gebraucht, um die wenigen Dinge abzuschließen und wieder alles zum Alten zurückkehren zu lassen. Kyo hatte sich auch gleich ein bisschen Startgeld mitgenommen, damit er ein wenig für sich selbst sorgen und einige kleinere Besorgungen für sich selbst erledigen konnte. Sogar die neue Kreditkarte hatte er schon bekommen. Ein durchsichtiges Stück Plastik, mit einer Marmorierung aus feinen Drähten. Sah ein wenig so aus, wie ein Computerchip, wie er fand. Am Auto fiel Kaoru dann noch eine weitere Sache ein, die sie noch erledigen mussten. „Du brauchst noch einen neuen Personalausweis, deiner ist doch schon längst abgelaufen, nicht wahr?“ „Ich denke schon“, nickte Kyo. „Dann brauche ich aber auch noch ein neues Foto.“ Kaoru winkte ab. „Das wird vor Ort gemacht, also keine Sorge.“ Er stieg in den Wagen, gurtete sich an und startete sein Auto, nachdem sein Freund wieder an seiner Seite saß. „Das Ganze wird nicht lange dauern. Eine Stunde. Maximal.“ Kaoru reihte sich wieder in den Verkehr ein. „Dafür wollen die auch ne ganz schöne Menge an Informationen haben. Nicht, wie du es noch kennst: Einfach Name, Geburtsdatum,Größe, Geburtsort und so weiter. Dir wird Blut abgenommen, Fingerabdrücke, sogar deine Augen werden eingescannt, nur damit man später ganz sicher sagen kann, das bist du.“ „Ist nicht dein ernst.“ Kyo sah entgeistert zu dem Älteren. Kaoru nickte: „Leider ja.“ Der Kleinere stöhnte auf und schüttelte den Kopf. „Die spinnen doch da oben.“ „Ist alles eine reine Vorsichtsmaßnahme“, klärte Kaoru ihn auf. „So sollen die Dinger noch schwerer zu fälschen sein. Hinzu kommt....“ Er stockte und fing an sich auf der Unterlippe herum zu beißen und bedrückt dem Straßenverlauf zu folgen. „Was?“, hakte Kyo nach, denn er fühlte, dass es dafür einen Grund geben musste. „Was noch, Kaoru?“ Aber der Gitarrist wollte ihm nicht antworten. Schüttelte nur den Kopf. „Komm schon. So schlimm kann es doch bestimmt nicht sein.“ „Wenn du wüsstest.“ „Das tue ich aber nicht. Also sag schon.“ Er war neugierig geworden. Wenn Kaoru schon so einen Aufstand machte, konnte es doch nur etwas Wichtiges sein. Und wenn es negativ war -und dass musste es sein, so wie der Andere sich gerade aufführte- war es doch besser, er erfuhr es jetzt und konnte sich schon mal darauf vorbereiten. „Bitte.“ Kaoru seufzte: „Ich hab dich gewarnt.“ Er seufzte erneut. „Auf dem Personalausweis werden auch Straftaten vermerkt. Jeder Fehltritt, so was wie falsch parken, zu schnell fahren, Diebstahl und so weiter, der in die Akten aufgenommen wurde, kommt auch auf deinen Personalausweis. Um einzuschätzen, wie gefährlich eine Person ist und um die Verbrechensrate zu reduzieren.“ Kyo starrte ins Leere. Dann würde ja jeder von seiner Vergangenheit erfahren, wenn er seinen Ausweis irgendwo vorlegen musste und ihn zwangsläufig wieder an das Geschehene erinnern. Wie sollte er dann weiter verarbeiten können? Jeder würde ihn dann gleich abweisen und als 'schlecht' abstempeln. Wie sollte er dann nur in dieser Welt überleben? „Sumimasen Kyo.“ Doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Wofür? Du kannst doch nichts dafür, dass derartige Dinge beschlossen wurden. Und ändern... ändern kann man es jetzt nicht mehr.“ Betrübt sah er nach unten. Warum wurde ihm der Weg in die Normalität nur so schwer gemacht? Vielleicht sollten solche Leute wie er gar nicht erst wieder freigelassen werden. Wenn er die Vergangenheit doch nur rückgängig machen könnte, dann wäre jetzt vieles einfacher und schöner. Dann hätte auch er womöglich eine Familie und ein Heim, zu dem er nach getaner Arbeit zurückkehren konnte. Kyo war ganz schön deprimiert, als er, begleitet von Kaoru, die Treppen zu Toshiyas Wohnung hinauf ging. Die Leute beim Amt hatten eine ganze Menge von ihm wissen wollen und als sie dann erfahren hatten, dass er gerade aus einer langjährigen Haftstrafe entlassen worden war, musste er sich ihren missbilligen Blicken ausliefern. Zu seinem Bedauern trafen diese Blicke auch hin und wieder Kaoru, der immer wieder versucht hatte ihn ein wenig aufzumuntern. Das war es, was ihm gerade am Meisten aufs Gemüt schlug: Dass seine Freunde wegen ihm leiden mussten. Sie sollten nicht für das zahlen, was er getan hatte. Er hätte damals einfach in seiner Wohnung verrotten sollen. Dann wären sie vielleicht noch heute traurig, mussten sich aber solche Blicke nicht gefallen lassen. Kaoru klingelte, nachdem er bemerkte, dass sein Freund ziemlich neben sich stand. „Bin schon unterwegs“, schallte es von innen und kurz darauf wurde ihnen auch schon geöffnet. „Kommt rein, kommt rein. Und macht die Tür hinter euch zu. Ich muss zurück in die Küche, sonst brennt mir unser Abendessen an.“ Und schon war der Wohnungsinhaber wieder verschwunden. „Was gibt es denn?“, rief Kaoru quer durch die Wohnung. „Gefüllte Teigtaschen, dazu frittierte Shrimps und als Nachttisch Eis.“ „Hört sich gut an“, nickte Kaoru anerkennend. „Aber nicht für dich, mein Lieber. Deine Frau hat vorhin angerufen und mich gebeten dir mitzuteilen, dass du dein Abendessen immer noch bei ihr kriegst.“ Man hörte Toshiya eifrig werkeln. Kaoru hingegen verzog das Gesicht. Er hätte gerne noch ein wenig Zeit mit seinen beiden Freunden verbracht. Aber da dachte sein Schatz wohl ein wenig anders. Nun gut, er konnte es auch verstehen. Normalerweise war er jeden Abend zum Essen zu Hause. Aber war es wirklich so schlimm, ein bisschen Zeit mit einem alten Freund verbringen zu wollen? Nun denn, er wollte sie ja auch nicht verärgern. „Na gut. Dann will ich mal nach Hause.“ Seufzend, jedoch lächelnd, zog er sich seine halb ausgezogenen Schuhe wieder an, winkte Kyo zum Abschied und verließ die Wohnung wieder. Kyo hingegen stand noch immer im Flur, hatte sich noch nicht einmal ansatzweise von seiner Jacke oder den Schuhen befreit. Auch, dass Kaoru gegangen war, hatte er mehr am Rande mitbekommen. „Fertig!“, posaunte Toshiya und man konnte hören, dass er schon ziemlich erleichtert war. „Kyo? Kommst du?“ Erst da wurde der Ältere wieder ein wenig anwesender, schlüpfte von den Straßen- in die Hausschuhe und schlurfte zum Esstisch. „Setz dich. Noch ist es heiß.“ Und während der quirlige Bassist, noch den letzten Rest Mittagessen vom Herd holte, setzte sich der Sänger schon mal an den Tisch. „Hoffe, es schmeckt dir. So oft koche ich dann nämlich auch nicht.“ „Immer noch der Fast Food-Typ was?“, lächelte Kyo, jedoch war es ein trauriges, sehr kurzes Lächeln, welches nur von dem traurigen Gemütszustand hatte ablenken sollen. Dabei hatte es allerdings kläglich versagt. „Was ist los Kyo? Ist nicht alles so verlaufen, wie es sollte?“, erkundigte sich Toshiya besorgt. Doch der Kleinere schüttelte den Kopf. „Eigentlich war es sogar zu reibungslos. In der Bank waren wir nach ein paar Unterschriften schon fertig. Jetzt habe wieder nur ich Zugang zu dem Konto und auch gleich eine neue Kreditkarte. Anschließend sind wir noch ins Rathaus. Wegen einem neuen Personalausweis und...“ Er stockte, wusste nicht, wie er dem Anderen verständlich machen sollte, was in ihm vorging. Toshiya seufzte: „War es unangenehm? Das Abnehmen der Fingerabdrücke, zu sehen, was man doch schon alles angestellt hatte?“ Also manchmal hatte der Jüngere wirklich ein Talent dafür, den Nagel auf dem Kopf zu treffen. Allerdings auch, diesen Nagel zu tief ins Holz zu schlagen. „Es... war ja nicht nur das. Ich kann mittlerweile einigermaßen damit umgehen, schief angesehen zu werden, wegen dem was ich tue oder tat. Auch von früher her, aber zu sehen, dass Kaoru in eine Schublade gesteckt wurde, nur, weil er sich mit mir abgab... Das tat weh.“ Er fasste sich ans Herz, um den Worten Nachdruck zu verleihen. „Ihr habt schließlich nichts mit dem zu tun, wofür ich habe büßen müssen. Ihr seid doch einfach nur Menschen, die sich noch trauen, mir eine Chance zu geben.“ „Eine Chance, die du verdient hast. Du hast etwas falsch gemacht, ja. Doch du hast deine Schuldigkeit getan. Man hat dich als rehabilitiert genug empfunden, dich wieder unter 'normale' Menschen zu lassen. Klar, das, was du getan hast war kein Kinkerlitzchen. Das streitet auch niemand ab. Aber du hast deutlich gezeigt, dass es dir Leid tut. Gib den Menschen nur ein wenig Zeit. Die, die dich kennen, wissen, dass du ein toller Mensch bist. Und die, die dich nicht kennen und dich von Anfang an schon abgestempelt haben, solltest du wie früher einfach links liegen lassen. Was wollen die überhaupt damit erreichen, hä? Dass du wieder zurückkehrst? Oh nein, da haben Minimum vier Leute noch ein Wörtchen mitzureden.“ Es klang seltsam, was der Jüngere da sagte, doch gleichzeitig auch irgendwie... aufmunternd, weitestgehend auch plausibel. Und ja, solange er diese Minderheit von vier Leuten hatte, konnte ihm der Rest der Welt mal gepflegt den Buckel runterrutschen. „Und jetzt iss endlich, bevor es kalt wird. Aus der Mikrowelle schmeckt so was einfach nicht. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“ Kapitel 6: Lichtblicke ---------------------- Kyo half, wie er es sich vorgenommen hatte, beim Abwasch. Toshiya besaß zwar eine Geschirrspülmaschine, aber er benutzte sie nur, wenn er irgendwelche Feiern veranstaltete. Auf die Frage nach dem Warum, hatte der Größere geantwortet: „Damit ich beschäftigt bin.“ Dabei war dem Älteren jedoch der traurige Unterton nicht entgangen. Er hatte nicht viel behalten von dem, was seine Freunde ihm alles über ihre Beziehungen erzählt hatten, aber dass Toshiya geschieden war, das wusste er noch. Anscheinend fühlte sich der ehemalige Bassist recht einsam, wenn er freiwillig den Abwasch machte. Dann erfüllte Kyo zumindest einen Zweck und konnte so wieder ein wenig von dem zurück geben, was er seit über 15 Jahren von seinen Freunden bekommen hatte: Das Gefühl, das dort jemand war, der bereit war dich aufzufangen. Sie schwiegen während ihrer Tätigkeit, hatten aber auch das Gefühl, nicht wirklich etwas sagen zu müssen. Es lenkte wirklich ein wenig von den Gedanken ab, denn das nasse Geschirr machte hin und wieder die anstalten, einfach aus der Hand hüpfen zu wollen. „Morgen lernst du Akio endlich mal persönlich kennen“, unterbrach Toshiya die Stille, während er das letzte Teil gerade säuberte. „Akio?“ Der Name sagte ihm etwas, er konnte ihn gerade nur nicht zuordnen. Toshiya bemerkte dies, konnte es dem Älteren aber auch nicht wirklich übel nehmen. Er hatte Akio noch nie persönlich gesehen und dass man, wenn man hinter Gittern sitzt, mit seinen Gedanken meist wo anders ist und sich Dinge von 'außen' nicht wirklich gut merken kann. „Akio ist mein acht Jahre alter Sohn, den ich nur am Wochenende bei mir habe. Und da morgen Freitag ist, wird er gegen Mittag nach der Schule von seiner Mutter hergebracht“, erklärt er und lächelt, damit sein guter Freund wusste, dass er ihm nicht böse war. Kyo nickte verstehend, hatte seinen Blick jedoch weiterhin auf das Geschirr gerichtet. Dann würde er also morgen einen Teil von Toshiyas, für ihn neuem, Leben kennen lernen. „Sagst du mir nochmal, wie deine Frau heißt.“ Schüchtern warf er einen Blick zu dem Größeren und bemerkte sofort den sehnsüchtigen Blick in dessen Augen. „Akemi“, kam es flüsternd über seine Lippen und sein Herz fühlte sich sofort von vielen kleinen Nadeln gepeinigt. Er sehnte sich zu ihrer gemeinsamen Zeit zurück. Nach ihrem Lachen, den vor Freude funkelnden Augen und der warmen Zuneigung ihm gegenüber. Kyo stellte den Teller, den er gerade abtrocknete, an die Seite und nahm, ein wenig schüchtern und unbeholfen, den langjährigen Freund in die Arme, um ihm ein bisschen Trost zu spenden. Behutsam fing er an durch das dunkle Haar zu streichen und spürte kurz darauf ein Zittern durch Toshiyas Körper laufen und wie er erste Tränen vergoss. Auch in dieser Nacht, dauerte es lange, bis Kyo Schlaf fand. Die ganzen Eindrücke des Tages beschäftigten ihn dermaßen, dass er zu keiner inneren Ruhe fand. Das mit dem Ausweis hatte er sogar recht schnell verdrängt. Was ihn mehr beschäftigte, war Toshiyas kleiner Zusammenbruch am Abend. Es schien ihn sehr mitzunehmen, dass er von seiner Frau getrennt war. Nicht nur wegen des gemeinsamen Kindes. Warum hatten die Beiden sich gleich nochmal getrennt? Hm... er hätte wirklich besser aufpassen müssen, bei den ganzen Erzählungen.Vielleicht sollte er sich von einem seiner Freunde erzählen lassen, was während der letzten 15 Jahre passiert war. Kam ihm bekannt vor diese Situation. Sollte das etwa heißen, dass sich alles wiederholte? Nein, eher lief alles rückwärts. Von dem absoluten Tiefpunkt ging es gerade aufwärts. Kleinere Tiefs mal abgesehen. Würde das aber auch heißen, dass noch etwas Schlimmes passieren würde? Etwas richtig Schlimmes? Er hoffte es nicht. Seufzend legte er sich auf die Seite, starrte den Boden an. Wie Toshiyas Sohn wohl war? Was sagte eigentlich dessen Mutter dazu, dass ihr Sohn mit einem ehemaligen Häftling unter einem Dach leben würde? Vielleicht wäre es besser, wenn er dieses Zimmer morgen nicht verlassen würde. Aber das würde Toshiya garantiert nicht zulassen. Und die Anderen auch nicht, wenn sie erst einmal davon erfuhren. Außerdem musste er sich der Realität stellen. Damit zurecht kommen, dass Menschen auf ihn herabsehen werden und ihn abstempeln. Nicht einfach, aber dennoch machbar, wenn er die Worte des Bassisten befolgte und dergleichen wie früher einfach ignorierte. Seit wann kümmerte es ihn überhaupt, was Andere von ihm hielten. Nein, er würde sich morgen nicht verkriechen. Er würde sich zeigen und dem stellen, was auf ihn zu kam. Dabei fiel ihm ein... eigentlich hatte er Kaoru versprochen, den Jüngeren wegen dem möglichen Job zu fragen, aber das hatte er dann ganz vergessen. Es würde sich jedoch eine Gelegenheit bieten. Er musste nur den Mut aufbringen, auch zu fragen. Nach dem Frühstück begleitete Kyo den Größeren in die Stadt, um sich einerseits einen Überblick über selbige zu verschaffen und andererseits seine Garderobe ein wenig aufzubessern. Konnte nicht schaden, zudem er bemerkt hatte, dass einige seiner Sachen morsch waren. So waren am Morgen beim Anziehen bei ganzen 5 Shirts die ein oder andere Naht gerissen. Ärgerlich, doch leider wahr. Im ersten Laden wurde er auch gleich von einem Kleiderständer zum nächsten geschleppt und konnte bald seine Umgebung nicht mehr sehen, weil er so beladen wurde. „Toshiya, übertreib's doch nicht so. Wenn ich das alles mitnehme platzt der Kleiderschrank.“ Maulig stiefelte Kyo hinter dem Freund her, den er gerade so sehen konnte, wenn er den Kopf verrenkte. „Quatsch, der hält was aus. Den hat meine Frau früher benutzt. Das“, er zeigte über die Schulter hinweg auf den Berg in Kyos Armen, „wird der locker einstecken. Und jetzt hab dich nicht so.“ Und schon landete das nächste Teil auf dem Stapel. „Das hier dürfte dir auch stehen.“ Und wieder eins. „Hm... ich glaube, du solltest allmählich zur Umkleide, sonst schaffen wir heute nichts mehr.“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob er den Kleineren vor sich her, nahm selbigem den Kleiderberg ab und drückte drei Teile davon Kyo in die Hand. „Nun fang schon an.“ „Du hast dich kein Stück verändert, weißt du das?“ Schmunzelnd begab Kyo sich in die Kabine und fing an sich auszuziehen. Er fand das gut. Dass Toshiya sich immer noch ein wenig aufgedreht verhielt gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Und auch die Anderen hatten sich kaum verändert. Kaoru war immer noch derjenige, der sich um alles und jeden kümmerte, Die konnte noch immer grinsen wie zu seinen besten Zeiten. Nur Shinya schien ein wenig selbstbewusster geworden zu sein. Was ihm nicht im Geringsten schadete. Und er selbst? Hatte er sich verändert? Er sah in den Spiegel, der in der Umkleide angebracht war. Die Haare waren jetzt natürlich wieder schwarz, hatte er im Gefängnis doch nicht die Möglichkeit gehabt sie weiterhin zu blondieren. Ein paar Falten mehr hatte er im Gesicht und die Löcher, die noch von früheren Piercings stammen, fielen kaum noch auf. Am meisten erschreckte ihn jedoch die Melancholie in seinen Augen. Das war früher anders gewesen. Damals, bevor er... „Beeil dich Kyo“, ertönte es von draußen und unterbrach damit seine trübsinnigen Gedanken. „Hier ist immerhin noch eine Menge Zeug, dass du anprobieren musst. Ich bin mir zwar hundertpro sicher, dass dir alles steht, aber sicher ist sicher.“ Er zog eines der Shirts aus dem Stapel und besah es sich zufrieden. „Das hier musst du auf jeden Fall nehmen. Widerspruch zwecklos.“ „Und wieso das?“ Mittlerweile war Kyo aus der Kabine raus gekommen und stand jetzt, die Arme vor der Brust verschränkt, vor Toshiya, sah ihn fragend an. Irgendwie war ihm ein wenig unwohl in den Klamotten. Da kam er sich ja fast so vor, als würde zwanghaft versuchen sich wieder in bessere Zeiten zurück zu versetzen. Zeiten, in denen er deutlich jünger war. Der Größere grinste ihn jedoch nur von unten an. „Weil ich das so will.“ Jetzt entgleisten dem Älteren die Gesichtszüge. Wie bitte? War er jetzt schwerhörig geworden oder hatte Toshiya das gerade wirklich gesagt? Gut, aus ihren Zeiten als Band hatte er wirklich einen leichten Hörschaden davongetragen, aber dass der so schlimm war. Seufzend schüttelte er den Kopf. Was war nur schief gelaufen? „Ich glaube, ich sollte mal unsere Angestellten her schicken, damit die sich hier auch noch ein paar Garderoben zusammen stellen können. Bei der schönen Auswahl hier.“ Grinsend tätschelte er den Kleiderberg. „Vielleicht sollte ich mal mit dem Inhaber reden und einen kleinen Deal vereinbaren.“ Kyo verdrehte die Augen. „Du hast so einen an der Waffel.“ Seufzend griff er sich die nächsten Teile und verschwand wieder in der Umkleidekabine, ignorierte Toshiyas nörgeln, dass er das Outfit hatte gar nicht richtig sehen und beurteilen können. Eine halbe Stunde später führten die beiden Freunde eine rege Diskussion darüber, ob alles oder nur ein Teil der ausgesuchten Ware mitgenommen werden sollte. Kyo wollte auf keinen Fall soviel auf einmal kaufen. Schließlich musste das auch alles noch in die Wohnung geschleppt werden. Und das war nun mal viel und schwer. „Aber das wirst du alles noch brauchen Kyo.“ „Nein, was ich noch brauche ist sowas wie ein Anzug, damit ich bei einem Vorstellungsgespräch nicht aussehe wie der Penner vom Dienst.“ Toshiya prustete los: „Mit einem Anzug hättest du den Job garantiert nicht gekriegt. Das hätte knallhart nen Lacher und ein 'Wir melden uns' gegeben.“ Er bekam sich kaum noch ein vor Lachen, rollte schon beinahe über den Boden. Völlig aus der Bahn geworfen starrte der ehemalige Sänger den guten Freund an: „Alles in Ordnung bei dir?“ Dass Toshiya langsam rot wurde machte ihm Sorgen, aber er wusste auch, wie sehr der quirlige Jüngere dazu neigte bei so einem Lachanfall blau zu werden. „Was meinst du eigentlich mit 'den Job'? Ich hab mich doch noch nirgendwo beworben.“ Das lachende Etwas hielt inne. „Sag bloß, ich hab dir die gute Nachricht noch gar nicht übermittelt?“ „Äh, würde ich dann fragen?“ Mit Kyos Hilfe rappelte sich der Größere wieder auf und holte tief Luft, musste erneute Lachanfälle unterdrücken. „Moment“, wehrte er Kyo ab, als dieser Luft holte, um erneut anzusetzen. „Also“, fing er gedehnt an, „Die und ich haben doch einen Ladenkette, ne? Ja, und wir arbeiten auch noch selbst hier in der Hauptfiliale. Jetzt haben wir nur das Problem, dass sich Haraide, einer unserer Mitarbeiter, das Handgelenk verstaucht hat. Dabei können wir jede Hand gebrauchen bei der Inventur. Gerade wenn irgendwelche Kisten herum geräumt werden müssen. Und auch so im Laden können wir immer wieder jemanden brauchen. Jedenfalls haben Die und ich gestern telefoniert, während du mit Kaoru unterwegs warst und wir haben als Vorstand einstimmig beschlossen, dass du mit uns zusammen arbeiten darfst, sollst, musst. Und wenn du nicht annimmst, dann sind wir höchst beleidigt. Verstehst du?“ Ja, er verstand. Er verstand sogar sehr gut. Während er noch versuchte alles auf die Reihe zu bringen waren seine Freunde schon einen Schritt weiter und halfen ihm an allen Ecken und Kanten. Er hatte unfassbares, unglaubliches Glück. Was wäre nur passiert, wenn sie sich damals abgewandt hätten? Das mochte er sich gar nicht ausdenken. Wenn das wirklich passiert wäre, dann... dann... wäre er heute vermutlich nicht mehr am Leben. Dann hätte er den Tod gesucht. „Ich glaub, ich nehm doch alles, was du da raus gesucht hast, Toshiya.“ Kapitel 7: Oh happy day? ------------------------ Ächzend schleppten sie die vielen Tüten zum Wagen und verstauten diese so gut es ging im Kofferraum, sowie der Rückbank. Kyo stöhnte auf: „Doch mehr, als ich gedacht habe.“ Er sah noch einmal über den Berg an Klamotten. „Es war aber notwendig“, wandte Toshiya ein und nahm schon mal auf dem Fahrersitz Platz. Ein Blick auf die Uhr im Wagen ließ ihn hektischer werden. „Steig ein, Kyo. Akio hat bald Schulschluss. Und die beiden brauchen nicht lange von der Schule zu mir. Der Junge soll doch was Warmes auf den Tisch bekommen, wenn er bei mir ist.“ „Soll ich dir dabei helfen?“ „Nicht notwendig. Es gibt Omlette Reis, wie mein Kleiner es sich gewünscht hat, letztes Wochenende. Jetzt guck nicht so komisch. Ich fand es auch seltsam, schließlich ist er aus dem Alter eigentlich raus. Aber wenn es ihn glücklich macht, dann soll er das auch bekommen.“ Toshiya warf einen Blick über die Schulter und reihte sich mühelos in den Verkehr ein. „Ich entschuldige mich übrigens jetzt schon mal bei dir.“ Verwirrt wandte Kyo seinen Kopf zur Seite. „Hä?“, war seine einzige Antwort darauf. Der Größere lächelte ein wenig verlegen. „Wenn mein Sohn in meiner Nähe ist, neige ich dazu, alles andere um mich herum zu vergessen. Dann konzentriere ich mich mit nahezu jeder Faser auf ihn, weil mir die Zeit mit ihm so wichtig geworden ist, seitdem Akemi und ich uns getrennt haben.“ Da war er wieder. Dieser traurige Blick. „Die Anderen haben sich schon darüber lustig gemacht.“ Er grinste breit und lachte. „Als ob die manchmal besser wären.“ „Das kann ich nicht beurteilen. Schließlich habe ich euch noch nicht mit euren Kindern gesehen. Aber ich nehme deine Entschuldigung an. Ich kann verstehen, warum du dich so verhältst. Mach dir um mich keine Sorgen.“ Zuversichtlich sah der ehemalige Sänger zu dem guten Freund hinüber. Er wollte Toshiya nicht in seinem Sein beeinträchtigen, geschweige denn ihm etwas von der kostbaren Zeit mit dem geliebten Sohn stehlen. Kinder waren bis zu einem gewissen Alter unbedarft und rein. Ein Lächeln und man fühlte sich von seinen Sünden gereinigt. Das kindliche Vertrauen war etwas kostbares, denn es verschwand einfach zu schnell. Wurde verunreinigt von den Erwachsenen und deren kalter Welt. Und so lange Akio noch so ein unschuldiges Wesen zu sein schien, wollte er nicht unbedingt in dessen Nähe, wenn es nicht sein musste. Wollte ihn nicht mit seiner schwerwiegenden Sünde beschmutzen. „Ach, Mist“, holte der Jüngere ihn schreckhaft aus seinen Gedanken. „Ich brauch noch Sprossen für den Om-Reis.“ „Musst du mich wegen ein paar Sprossen so erschrecken?“ „Gomen, aber was soll ich machen, wenn mir sowas ganz spontan einfällt? Auf jeden Fall brauchen wir noch welche.“ Toshiya sah sich einmal kurz um, damit er die richtige Richtung zum nächsten Supermarkt fand. „Fällt dir noch etwas ein? Wenn wir schon mal da sind...“ Kyo schüttelte verneinend den Kopf. Er hatte alles was er brauchte. Eigentlich sogar noch viel, viel mehr als er benötigte. Vor allem war er aber glücklich. Und das war schließlich etwas unbezahlbares. Toshiya fuhr auf den Parkplatz des Supermarktes und holte nach dem Anhalten seine Brieftasche vom Rücksitz aus der Jackentasche, meinte: „Dann renn ich mal schnell rein, wenn du nichts dagegen hast. Geht ganz fix.“ Mit einem Grinsen verabschiedete er sich und eilte auf den Eingang zu. Und mit jedem Meter, jedem Schritt, den sich Toshiya von dem Wagen entfernte, fühlte Kyo sich einsamer. In den letzten zwei Tagen hatte er sich so an die Anwesenheit des Anderen gewöhnt. Eine Tatsache, die ihm erst jetzt richtig bewusst wurde. Aber 15 Jahre Einsamkeit machten einen süchtig nach jedem kleinen bisschen Zuneigung. Man gierte fast buchstäblich nach ihr und sog alles in sich auf, schloss es tief in sich ein, damit nicht das Geringste von der Wärme wieder verschwinden konnte. Dennoch sollte er aufpassen, dass er nicht anfing zu klammern. Dadurch würde er seine Freunde nur in Bedrängnis bringen. Plötzlich wurde die Tür neben ihm aufgerissen. Kyo zuckte zusammen und dachte im ersten Moment, dass einer den Wagen stehlen wollte. Mit ihm darin! Es war aber „nur“ Toshiya, der, schwer atmend wieder einstieg. „Ganz fix, wie ich es gesagt habe.“ Er drückte Kyo das Glas mit dem Gemüse und die Brieftasche in die Hände und fuhr los. Diesmal aber wirklich nach Hause. Oben in der Wohnung angekommen, verkroch sich Kyo mit den Einkäufen in seinem Zimmer, um alles von den dummen Zetteln etc. zu befreien und anschließend in den Schrank zu packen. Er durfte ja nicht beim Kochen helfen. Dabei gab es bei dem Rezept nun wirklich nicht viel, was man hätte falsch machen können. Nun, er hätte nicht die Liebe in dieses Gericht stecken können, wie Toshiya es vermutlich tat. Es läutete und in Kyo verkrampfte sich alles. Jetzt würde ihm wieder ein Teil der Gegenwart begegnen, der ihn einschüchterte. Wie würde Toshiyas Ex-Frau auf ihn reagieren? Bestimmt wusste sie um ihn und sein Geheimnis. Und Akio? Hätte er Angst vor ihm, weil er ein Fremder war? Fröhliches Lachen schallte zu ihm herüber. Es war Toshiyas und das glockenhelle Lachen eines kleinen Jungen. Sie waren da. Eindeutig. Er war kurz davor, aufzustehen und die Tür abzuschließen, damit ihn die Realität nicht einholen konnte. Damit ihm nicht vor Augen gehalten wurde, dass er sein Leben vergeigt hatte. Wenn er sich damals doch nur besser unter Kontrolle gehabt hätte... Wenn er diese Frau von Anfang an abgewimmelt hätte... Dann würde er in seinem eigenen Heim sitzen, umgeben von einer eigenen Familie. Das Lachen seiner Kinder würde auch ihn zu einem Lachen bewegen können. Er hätte einige schöne Erinnerung in seinem Kopf. Der Tag seiner Hochzeit, die Geburt des eigenen Kindes, die ersten Schritte von diesem. All das, wovon so viele glückliche Paare und Eltern schwärmten. Er hörte Kinderfüße an seiner Tür vorbei eilen und wie eine Tür auf und mit einem Moment Verzögerung wieder zu geschmissen wurde. Kindlicher Übermut vom Feinsten. Wie der Kleine wohl aussah? Hatte er viel von Toshiya geerbt? Das könnte er ganz leicht herausfinden. Dafür müsste er nur dieses Zimmer verlassen. Doch er wollte nicht stören. „Papa, ich hab Hunger“, tönte es laut durch die Wohnung, worauf Toshiyas Lachen zu hören war. „Einen kleinen Moment musst du dich noch gedulden. Der Tisch muss noch gedeckt werden.“ „Das kann ich machen.“ Ein sehr aufgewecktes Kind mit einem sonnigen Gemüt. In der Hinsicht war er dem Bassisten sehr ähnlich. „Das mach ich gleich schon. Du kannst mir aber trotzdem einen Gefallen tun und mal zum Gästezimmer gehen. Da ist ein alter Freund von mir drin. Den wollen wir ja nicht verhungern lassen. Machst du das?“ 'Toshiya, du Dummkopf. Warum willst du mich nur mit aller Kraft in deine kleine, heile Welt bringen? Außerdem kann ich doch jedes Wort hören, was du da sagst.' Laute Schritte eilten auf das Zimmer zu und ein herzhaftes Klopfen erschallte. „Hallo? Du da drinnen. Es gibt Mittagessen.“ 'Soll ich ihn ignorieren? Nein, das wäre unhöflich. Und würde mich auch nur in das alte Schema von damals werfen, als ich niemanden zu mir gelassen habe. Reiß dich zusammen, Tooru. Fang nicht wieder an, wie damals.' Den Blick starr auf die Tür gerichtet stand er auf und öffnete diese. Vor ihm stand ein kleiner, grinsender Junge, der ihm zu winkte. Schüchtern war anders. Ein strahlendes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Hallo, ich bin Akio. Und wer bist du?“ „Ich bin Kyo.“ Der Kleine hatte eine Aura an sich, die ihn sich öffnen ließ. Die reine Aura eines Kindes eben. „Komm mit Kyo. Papa hat Essen gemacht.“ Ohne Scheu griff Akio nach der tätowierten Hand des Älteren und zog ihn lachend hinter sich her. „Ich hab ihn gefunden.“ So schön es auch war, einfach so akzeptiert zu werden, so beschlich ihn auch das Gefühl, dass dies hier... falsch war. Er spürte förmlich, wie etwas von dem Blut auf seiner Hand auf die des Jungen überging. Gerade wollte er sich losreißen, da kamen sie bei Akemi und Toshiya an und Akio sprang seinem Vater in die Arme. „Sie sind also 'Kyo'?“ Selbiger zuckte zusammen, war ihre Stimme doch abwertend und kalt. Mehr als eine knappe Verbeugung mit gesenktem Blick und einer schüchtern gemurmelten Begrüßung, brachte er nicht zustande. Sie inspizierte den ehemaligen Sänger von oben bis unten, sah dann ernst zu ihrem Ex. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass dein alter Freund wieder draußen ist und jetzt bei dir wohnt?“ Kyo merkte eindeutig, dass er in ihren Augen nichts wert war. Aber das wusste er selbst. Er war unterste Schublade. Und seine Aufenthaltsgenehmigung für diese Lade, war noch lange nicht abgelaufen. „Meinst du allen ernstes, ich-“ „Moment“, unterbrach Toshiya sie. „Ich denke, das ist ein Thema, dass wir unter vier Augen besprechen sollten. Akio-chan, geh du schon mal mit Kyo in die Küche und pass mit ihm auf das Essen auf.“ Akio wurde wieder auf den Boden abgesetzt. „Machst du das für mich?“ Der Junge nickte, schnappte sich einfach eine Gürtelschlaufe von Kyos Hose und zog ihn wieder mit sich. Mit einem mulmigen Blick sah der Ältere der beiden Männer auf die Eltern des kleinen Hosenmatzes. Er wollte nicht, dass sein Freund sich mit seiner ehemaligen Frau stritt. Schon gar nicht, wenn dessen Sohn anwesend und er selbst auch noch der Grund für die Auseinandersetzung war. Nach einem kurzen Zögern gab er dem Ziehen an seiner Hose nach. In der Küche atmete er erst einmal tief ein, wollte dadurch den aufkommenden Stress unterdrücken. Wenn er Toshiyas Glück im Weg stehen würde, dann würde er sich seine Sachen schnappen und von hier weg gehen. Sich was nach Kräften was Eigenes suchen. Vielleicht konnte sein Bewährungshelfer ihm dabei helfen. Der hatte bestimmt viel um die Ohren, aber er war schließlich dafür da, jemandem wie Kyo zu helfen. „Komm, wir decken schon mal den Tisch“, schlug er dem Jungen vor, der eifrig nickte. Kyo ging zum Schrank und holte die Teller hervor, während Akio aus einer der Schubladen Besteck holte. Aus dem Flur schallten die Stimmen von Akemi und Toshiya durch die Tür zu ihnen herüber. „Du holst einen Straftäter in deine Wohnung? Ohne mir Bescheid zu sagen? Was, wenn er Akio weh tut? Hast du darüber eigentlich schon mal nachgedacht?“ 'Als ob ich fähig wäre einem Kind Leid zuzufügen. Schon gar nicht, wenn er zu meiner Band, meiner 'Familie' gehört.' „So was würde Kyo nie tun. Das weiß ich. Ich kennen ihn schon so lange. Ich vertraue ihm.“ 'Danke Toshi.' „Ach ja? Du hättest ihm den Mord damals auch nicht zugetraut. Habe ich recht? Und wenn er so was noch mal tut? Wer weiß, wer als nächstes draufgehen muss.“ „Das war ein Unfall, Akemi! Ein beschissener, unglücklicher Unfall. Das wird nie wieder passieren!“ „Woher willst du das wissen? Na? Woher? Es gibt keine Sicherheit dafür. Ich will nicht, dass Akio in der Nähe von jemandem wie ihm ist!“ 'Nein, nimm ihm seinen Sohn nicht weg. Nicht wegen mir.' Ein Zupfen an seinem Shirt lenkte ihn ab. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sich seine Finger in die Tischplatte gekrallt hatten. Sein Blick fokussierte sich wieder und trafen auf die Augen des kleinen Jungen. „Tut dir was weh?“ Verneinend schüttelte Kyo den Kopf. Auch, wenn das eben schon ein Stich ins Herz war, Schmerzen hatte er nicht. Nur Angst. Wenn Toshiya das verlieren würde, was ihm am Wichtigsten war, wäre auch ihre Freundschaft in Gefahr. Dabei hatte gerade der Größere in den letzten Jahren mit am deutlichsten gezeigt, dass er ihr Freund war und noch immer dazu gehörte. Ein Recht auf Leben hatte. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor.“ Ein Lächeln zeigte sich auf Kyos Lippen, war aber schnell wieder verschwunden. „Kann sein.“ Kyo schob die Pfanne mit dem Reis von der Herdplatte und stellte selbige aus. Das Essen sollte immerhin noch genießbar sein und nicht schwarz wie ein Stück Kohle. „Weißt du, worüber Otou-san und Okaa-san streiten?“ Ermattet ließ Kyo sich auf einem der Stühle nieder. Wie sollte er dem Jungen das erklären? War er überhaupt der Richtige dafür? „Sie streiten wegen mir“, eröffnete Kyo seine Antwort und wurde neugierig angesehen. „Deine Mama hat Angst vor mir.“ „Wieso?“ Kinder und ihre naive Neugier. Mussten immer alles hinterfragen. „Weißt du... ich habe mal einer Frau sehr weh getan. So weh, dass diese Frau gestorben ist.“ Mittlerweile kommen die aufgebrachten Stimmen aus dem Wohnzimmer. Akio hatte sich auf den Stuhl gegenüber von Kyo gesetzt, die Ellenbogen auf dem Tisch und das Kinn auf die Hände gestützt. Er lauschte neugierig und interessiert dem, was der Mann dort vor ihm zu erzählen hatte. „Warum hast du ihr denn weh getan?“ „Sie mir etwas Böses angetan hatte. Aber ich wollte sie nicht verletzen. Schon gar nicht, dass sie stirbt. Dennoch musste ich für lange Zeit weg und durfte deinen Papa und viele andere nette Menschen nicht besuchen.“ „So was wie Hausarrest?“ Kyo nickte lächelnd. „Ja, so ähnlich wie Hausarrest.“ „Hausarrest ist doof. Den ganzen Tag muss man in seinem Zimmer sitzen.“ Seufzend senkte der Junge den Kopf und legte ihn auf die, mittlerweile verschränkten, Arme. Kyo tat es dem Kind gleich, machte es sich auf der Tischplatte neben dem Teller bequem. „Ich hatte meinen Hausarrest verdient. Deswegen finde ich es nicht ganz so schlimm.“ Zumal er eigentlich auch noch eine Weile länger hätte bleiben müssen. So war es ihm jedoch auch ganz recht. Die Typen dort waren teilweise so hart gesotten, dass man sich nicht einmal traute zu atmen, wenn sie an einem vorbei gingen. Typen, bei denen man Angst hatte, dass sie nachts in deine Zelle kamen, nur um dich windelweich zu prügeln. Einfach so. Aus Spaß an der Sache. Und das hat er einigen zugetraut. „Ich mag nicht, wenn Otou-san und Okaa-san sich anschreien.“ Welches Kind mochte das schon. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Akemi kam mit hochrotem, erzürnten Gesicht herein gestürmt. „Akio, wir gehen wieder.“ „Aber das Wochenende ist doch noch gar nicht vorbei.“ Mit großen Augen sah er zu von seiner Mutter zu seinem Vater, der geschockt in der Küchentür stand, und wieder zurück. „Ich will noch hier bleiben.“ „Nein, du kommst jetzt mit! Ende der Diskussion.“ Sie war vollkommen hysterisch. Ihr Gesichtsausdruck verriet einem schon: Sie ließ nicht mehr mit sich reden. „Ich werde keinen Augenblick länger dulden, dass du und dieser gewalttätige Mann zusammen in einem Raum seid.“ „Aber-, aber-“ „Kein 'aber', junger Mann.“ Sie fasste ihren Sohn ungeduldig am Handgelenk und zerrte ihn vom Stuhl herunter. „Akemi, sei vernünftig. Er ist hier sicher“, redete Toshiya auf seine Ex ein, kam sich aber vor, als würde er gegen eine Wand sprechen. „Ihm wird hier nichts passieren.“ „Lass gut sein, Toshiya.“ Mit gesenktem Blick stürmte Kyo aus der Küche. Wegen ihm würde Toshiya etwas verlieren, was ihm am Herzen lag. Das konnte Kyo nicht zulassen. Seine Füße trugen ihn zum Badezimmer, seine Hände schlossen wie automatisch die Tür von innen ab. Toshiya wusste nicht wohin. Sollte er Kyo folgen oder weiter versuchen Akemi aufzuhalten? Er kannte das Geräusch. Es war eindeutig die Badezimmertür. Aber war es nicht normaler, dass man sich in sein Schlafzimmer zurückzog, anstatt... dem... Bade...zimmer? „Kyo! Nein!“ Kapitel 8: Weglaufen ist die falsche Entscheidung ------------------------------------------------- „Kyo, du machst jetzt diese verdammte Tür auf! Hast du mich gehört?“ Toshiya legte sein Ohr an die Tür, wollte hören, was Kyo tat. Aber im Badezimmer war es vollkommen ruhig. „Kyo, wenn du mich hörst: Gib mir ein Zeichen. Bitte Kyo. Ich will nicht den gleichen Anblick haben müssen, wie Shinya damals. Tu mir das nicht an.“ „Komm jetzt Akio! Hör auf dich zu sträuben, sonst wird Mama böse.“ „Aber ich brauche doch noch meinen Rucksack.“ Akemi hörte auf an ihrem Sohn zu zerren und stöhnte genervt auf. „Warum sagst du das denn nicht früher? Warte hier.“ „Nein, ich lauf schon.“ Und schon war Akio in den hinteren Teil der Wohnung geeilt, direkt auf sein Zimmer zu und an seinem Vater vorbei, der noch immer flehentlich die Tür ansah und sie zu öffnen versuchte. Der Kleine sah seinen Vater traurig an. Er interessierte sich mehr für den guten Freund, als für ihn. Geknickt schlurfte er in sein Zimmer und griff sich seinen Rucksack, presste diesen an sich. Er sah sich in dem Zimmer um. Er würde es eine Weile wohl nicht sehen, so wütend, wie seine Mutter war. Dabei hatte sein Papa ihn an diesem Wochenende wieder mit in den Laden nehmen wollen. Dort brachte ihm sein Onkel Daisuke immer ein bisschen das Gitarre spielen bei. Und sein Papa stand immer daneben, weil er dafür war, dass sein Sohn Bass lernte, wie er. Plötzlich fiel Akio ein, woher er Kyo kannte. Warum er ihm so bekannt vorgekommen war. Er holte ein kleines, Din-A5 großes Buch aus seinem Rucksack. Er hatte es ausschließlich für Autogramme, weil sein Papa doch so viele berühmte Leute kannte. Jeder Band waren zwei Seiten gewidmet. Auf der einen Seite ein Foto von ihnen und auf der anderen konnten die Mitglieder unterschreiben. Er schlug gleich die 1. Seite auf, die für die Band von seinem Vater reserviert war. Er starrte auf das Bild und sogleich wusste er, dass sich seine Vermutung bestätigt hatte. Jetzt konnte er endlich alle beisammen haben. Eilig holte er seine Federmappe hervor und daraus seinen Füller, stürmte wie ein Blitz zu Toshiya, der sich mittlerweile entmutigt vor die Tür gesetzt hatte. Dieser sah ihn an, zog ihn zu sich und nahm ihn erst einmal tröstend und schützend in den Arm. „Tut mir Leid, mein Kleiner. Ich hatte mir unsere drei Tage eigentlich ganz anders vorgestellt.“ „Schon gut, Papa. Ich hab dich trotzdem lieb.“ Liebevoll drückte er sich an seinen Vater. Er wollte ja auch nicht gehen. Und seinen Otou-san so niedergeschlagen sehen auch nicht. „Was hast du denn mit deinem Autogrammbuch vor?“ Toshiya atmete einmal tief auf. Ihm war nach heulen zumute. Akio schlug die Dir en Grey- Seite auf und zeigte auf den freien Platz in der Mitte der Seite. „Ich hab mich gefragt, ob Onkel Kyo unterschreiben mag. Was meinst du?“ Toshiya schmunzelte. „Wenn du ihn lieb fragst, macht er das bestimmt.“ „Wann kommt er denn da raus?“ Ein Seufzen. „Keine Ahnung.“ Missmutig schlug er gegen die Tür. „Wenn er sich nicht nur immer verkriechen würde. HÖRST DU?“ Und ein weiterer Schlag, diesmal weitaus wütender. Toshiya hasste es. Wenn Kyo sich verkroch fühlte er sich hilflos. Absolut hilflos. 'Tut mir Leid, Toshiya. Natürlich willst ich nicht, dass du mich verletzt und blutend vorfindest. Aber hier ist auch nichts, mit dem das gut funktionieren könnte. Ich möchte aber auch nicht, dass du deine Zeit mit deinem Sohn alleinig wegen mir verlierst. Warum nur läuft alles wieder so schief?' Kyo versteckte sein Gesicht in seinen Knien und hörte aufmerksam zu, was sich dort vor der Tür abspielte. 'Ein Autogramm? Der Junge ist wirklich naiv. Kindlich naiv.' Er zuckte heftig zusammen, als Toshiya ihn so durch die Tür anschrie und heftig dagegen schlug. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass Toshiya recht hatte. Sich verkriechen brachte nichts weiter, als dass sich die ganze Geschichte von nach dem Vorfall damals wiederholen würde. Er rutschte an die Tür heran und lehnte sich mit dem Rücken daran. „Entschuldige, Toshiya.“ „Dafür, dass du wieder mal nichts als Blödsinn im Kopf hast?“ Ein leises Auflachen. „Ja, genau dafür.“ „Jetzt komm schon daraus. Akio möchte dich was fragen, nicht wahr?“ Toshiya wandte sich mit einem sanften Blick seinem Nachwuchs zu und strich ihm liebevoll über den Kopf. Die Tür ging auf und Kyo stand unsicher und schüchtern im Rahmen. Toshiya kippte beinahe nach hinten, da ihm seine Rückenlehne plötzlich fehlte, konnte sich jedoch gerade noch so wieder fangen. Breit grinsend sah er zu dem Älteren hoch und rang diesem ebenfalls eines ab. „Schön dich zu sehen.“ Der kleine Akio sah mit großen Augen zu dem Größeren hoch, welcher den Blick mit einem sanften Lächeln erwiderte. „Du wolltest mich etwas fragen?“ Ein Blitz zuckte durch den Körper des Jungen und nervös hektisch schlug Akio sein Autogrammbuch auf, um es, zusammen mit seinem Füller, Kyo entgegen zu strecken. „Wärst du so nett und würdest mir ein Autogramm geben, Onkel Kyo?“ Unschuldig und schüchtern blickte er drein. Und während Kyo schmunzelnd das Buch und das Schreibgerät an sich nahm, lachte sich Toshiya kaputt. Seine Lachmuskeln schmerzten und aus seinen Augen liefen die ersten Tränen. Mit der Luftzufuhr haperte es auch schon. Akio legte den Kopf schief und sah auf seinen Vater hinunter, auf dessen Bauch er saß. „Alles in Ordnung, Papa?“ Besorgt folgte er er den Bewegungen des ehemaligen Bassisten und begann, sich allmählich Sorgen zu machen. „Was ist denn hier los?“ Und schon war Toshiya verstummt. „Akio! Du wolltest nur deine Tasche holen!“ Akemi seufzte frustriert auf. „ Alles muss man selbst machen.“ Sie stapfte ins Kinderzimmer, griff nach dem Rucksack und machte sich wutschnaubend auf den Rückweg. „Jetzt komm mit nach Hause.“ „Aber ich bin doch zu Hause!“ Traurig saß der kleine Junge am Tisch und stocherte in seinem Reisgericht herum. „Mama hasst mich jetzt bestimmt.“ Toshiya strich ihm liebevoll über den Kopf und lächelte sanft und zuversichtlich: „Nein, das tut sie nicht. Schließlich ist sie deine Mutter. Sie kann dich nur gern haben. Sie wird nur ein bisschen schmollen, aber überglücklich sein dich am Sonntagabend wieder zu haben. Und jetzt iss vernünftig, sonst ist es gleich ganz kalt.“ Behutsam strich er über die Wange seines Sohnes, wollte ihn aufmuntern. „Oder schmeckt es dir nicht?“ Vehement schüttelte er den Kopf. „Papas Essen schmeckt immer.“ „Außer dem einen Mal, als ich den Fisch hab verkohlen lassen“, erinnerte sich der Bassist betrübt. „Dabei war das so ein schönes Tierchen gewesen.“ „Dafür gabs dann Pizza“, grinste der Junge zu Kyo und fing dann endlich an, sich über sein Essen her zu machen. Kyo hingegen aß sehr langsam. Ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte er sich doch nicht so schnell wieder normal zeigen sollen im Gefängnis. Dann säße er jetzt noch und Toshiya hätte nicht so einen Stress wegen ihm. Das Essen wäre zwar nicht so gut wie dieses hier und er müsste sich wieder dieses Gefühl gefallen lassen, bei jedem Schritt von irgendwo angestarrt oder angeschnauzt zu werden, aber es wäre besser, als dieses schrecklich schlechte Gewissen, das ihm im Nacken saß. Außerdem tat es ihm Leid, dass diese beiden Menschen vor und neben ihm jetzt so bedrückt und traurig waren. „Du, Onkel Kyo?“ Fragend sah Akio den Älteren an, während Toshiya sich das Lachen verkneifen musste und von Kyo versuchsweise angefunkelt wurde. „An deinem Blick musst du noch üben, Onkel Kyo“, grinste Toshiya und bekam sich schon fast nicht mehr ein. „Sei ruhig, Toshiya“, grummelte Kyo, atmete einmal tief durch, ehe er sich Akio zu wandte: „Was möchtest du denn wissen, Akio?“ „Kommst du morgen mit in Papas Geschäft?“ Kyo nickte. „Ich soll deinem Papa bei der Arbeit helfen.“ Der Junge begann zu strahlen. „Hoffentlich hat Onkel Die auch Zeit mir noch ein bisschen was auf der Gitarre zu zeigen.“ Sein Vater schmollte: „Aber Bass ist doch viel cooler.“ Leise fing Kyo an zu lachen. Toshiya war wirklich ein Kind geblieben in seinem Herzen. „Kannst du denn schon gut auf der Gitarre spielen?“, wandte er sich wieder an das Kind. Dieses wiegte abwägend den Kopf hin und her, meinte dann: „Ein paar Tonleitern kann ich schon. Aber für ein ganzes Lied muss ich noch üben, haben Onkel Die und Onkel Kaoru gesagt.“ Kyo schmunzelte. Das mit dem Zusatz des 'Onkels' klang einfach zu ungewohnt in Verbindung mit seinen besten Freunden. Aber wenn bedachte, wie nahe sich ihre Band gestanden hatte, war es wohl doch ganz zutreffend. „Ich freue mich schon darauf, dich spielen zu hören.“ „Soll ich? Ich hab eine Gitarre in meinem Zimmer.“ Akios Augen funkelten. Gerne wollte er zeigen, was er schon konnte. Er war schon drauf und dran aufzuspringen und in sein Zimmer zu rennen, doch Toshiya hielt ihn zurück. „Erst wird alles aufgegessen. Wenn der Tisch dann abgeräumt und das Geschirr in der Maschine ist und du auch deine Hausaufgaben gemacht hast, dann darfst du deine Gitarre holen.“ Toshiya meinte es nicht böse, aber er wusste, wie schnell solche Dinge wie Hausaufgaben vergessen waren, wenn er Akio bei sich hatte. Und der Junge sollte die Schule ja nicht vernachlässigen. „Einverstanden?“ Akio nickte, obwohl er nicht die geringste Lust auf seine Hausaufgaben hatte. Aber sein Papa würde schon aufpassen, dass er die auch wirklich erledigte. „Wir können dir ja auch helfen“, meinte Kyo zuversichtlich. Auch, wenn er ein wenig bezweifelte, dass er den Schulstoff von damals überhaupt auf die Reihe kriegen würde. Er wusste ja nicht mal, was man heute so alles in der Schule lernte. Aber so schwer konnte das ja nicht sein. Kapitel 9: First step back to the music --------------------------------------- Akio zappelte aufgeregt auf der Rückbank herum. Er freute sich immer, wenn er mit seinem Papa mit durfte. Für ihn war es immer das Größte durch die Gänge zu laufen und sich die ganzen Instrumente anzugucken. Seinem Onkel Dai konnte er dann auch immer zeigen, wie fleißig er in der Zwischenzeit geübt hatte und dieser lobte ihn dann auch dafür. Überhaupt waren alle dort sehr nett zu ihm. Aber er war ja auch der Sohn vom Chef. Toshiya schmunzelte, als er seinen Sohn durch den Rückspiegel betrachtete. Es machte ihn glücklich, dass sein Kleiner den gestrigen Nachmittag so gut überwunden zu haben schien. „Hast du auch dein Buch mitgenommen? Wer weiß, wer heute noch auftaucht.“ Akio nickte eifrig. „Das nehme ich doch immer mit, Papa.“ „Ich wollte nur sicher gehen.“ „Kommen denn viele bekannte Musiker in den Laden?“, erkundigte sich Kyo. Er wollte darauf vorbereitet sein, wenn er alte Bekannte wieder traf. „Schon. Schließlich wissen sie, dass wir Ahnung haben und nur gute Ware in unseren Läden führen. Außerdem supporten wir viele Indies, indem wir ihnen erlauben Flyer oder Plakate für ihre Auftritte bei uns zu lassen. Und wenn Kaoru eine gute Band unter seinen Fittichen hat, organisieren wir bei uns im Laden auch kleinere Gigs. Und die kommen, wenn sie ein wenig mehr Erfolg haben, wieder. Zum Beispiel um Reparaturen durchführen zu lassen. Natürlich auch, wenn sie was Neues brauchen. Sie vertrauen unserem Urteil. Ich hab allerdings auch schon mehrfach erlebt, dass Fans den ganzen Tag durch den Laden geschlichen sind, in der Hoffnung ihre Idole zu treffen.“ Toshiya fing an zu lachen und erinnerte sich an einige lustige Geschichten und wie Die sie alle nur durch ein Grinsen nach draußen gekriegt hat. Die Leute waren nicht einmal sauer oder dergleichen. Vielleicht war es ja ein magisches Grinsen? Aber das fragte er sich nun auch schon seit Jahren und hatte bis heute einfach keine logischere Erklärung dafür finden können. „Da fällt mir ein, dass wir nächstes Wochenende wieder einen Gig bei uns haben. Da werden wir deine Hilfe erst recht gebrauchen können. Da muss viel umgeräumt und aufgestellt werden.“ Kyo nickte. Natürlich würde er helfen. Wenn Toshiya und Die ihn brauchten, so würde er für sie da sein. Einen Teil seiner Schuld begleichen, sozusagen. „Du Toshiya“, druckste Kyo herum. „Ja?“ „Wissen deine Mitarbeiter von...du weißt schon.“ Toshiya seufzte: „Kyo, bei deiner Verhandlung damals waren Kameras, schon vergessen? Noch drei Monate später hat man darüber geredet. Und so jung, dass sie nicht wüssten, was vor fünfzehn Jahren passiert ist, schon allein, weil es unter anderem zur Laufbahn unserer Band gehört, sind sie auch nicht. Also: Ja, sie wissen, wo du die letzten Jahre verbracht hast und wieso. Sie wissen auch, dass du jetzt bei uns arbeitest. Und -ob du es glaubst oder nicht- sie freuen sich darauf, dich persönlich zu treffen. Vor allem, weil wir jetzt jemanden haben, der sich mit Mikrofonen auskennt.“ Er fing an zu lachen und musste sich jedoch schnell wieder konzentrieren, um den Verkehr nicht aus dem Blick zu verlieren. Man freute sich auf ihn. Es war ein seltsames Gefühl für den Älteren, so etwas wieder im Bezug auf sich zu hören. Konnte es womöglich doch noch mehr Menschen geben, die ihn nicht abwerteten? Doch warum sollten sie? Nein, er sollte aufhören so zu denken. Er sollte sich ganz einfach freuen. Wenn er Glück hatte, würde er in seinen neuen Kollegen sowas wie Freunde finden. Menschen, die ihn auf seinem Weg unterstützen und ihm helfen würden einige der Steine auf seinem Weg beiseite zu schaffen. Hilfe war immer gut. „Wir sind da! Wir sind da!“, schallte es plötzlich von der Rückbank und Kyo sah auf. Es war ein großes Geschäft. Mehrstöckig. Nicht ganz so bunt, wie er es insgeheim vermutet hatte. Es wirkte wie ein typischer Laden für Instrumente. So wie er sie aus der Vergangenheit kannte. Mit Instrumenten in den Schaufenstern. Vielen Aufklebern auf den Scheiben. All so ein Kram eben. „Es wird dir gefallen. Da bin ich mir hundert pro sicher.“ Sie fuhren an dem Laden vorbei, bogen um die nächste Ecke dahinter und weiter auf einen Parkplatz, der offensichtlich zu dem Geschäft gehörte. Akio war schneller als der Blitz und öffnete schon die Beifahrertür, bevor Kyo es überhaupt geschafft hatte, sich ordentlich loszugurten. Deutlich konnte man von seinem Gesicht ablesen, wie sehr er sich auf den Tag freute. „Komm, Onkel Kyo. Ich will dir den Laden zeigen.“ Toshiya stand lachend am Hintereingang und holte eine Chipkarte aus der Hosentasche. Er wartete noch, bis seine beiden Begleiter neben ihm standen, dann steckte er die Karte in einen Schlitz und gab eine Zahlenkombination ein, woraufhin sich die Tür öffnete. Man kam gleich in einen Aufenthaltsraum mit Kochnische. Eine Kaffeemaschine blubberte fröhlich vor sich hin. An einem großen Tisch in der Mitte des Raumes saß Die mit drei anderen Menschen, die Kyo nicht kannte. Das waren dann wohl seine neuen Kollegen. „Guten Morgen, alle miteinander.“ „Guten Morgen, Toshiya-san“, begrüßte ihn eine junge Frau, die im nächsten Moment den kleinen Jungen auf dem Schoss hatte. „Dir auch einen schönen guten Morgen, Akio-chan.“ Die grinste seine beiden Freunde kurz an und wandte sich dann einigen Unterlagen zu. „Ihr kommt genau richtig. Wir wollten nämlich gerade einteilen, wer was macht am nächsten Wochenende. Nobu ist schließlich auf der Hochzeit seiner Schwester und Rika hat heute morgen erfahren, dass ihre Schwester im Krankenhaus liegt.“ „Es ist nur der Blinddarm, aber irgendwer muss jetzt ihre Schicht im Laden unserer Eltern übernehmen. Mein kleiner Bruder macht das unter der Woche und ich wurde eben gebeten das Wochenende zu übernehmen.“ Die schlanke Japanerin wuschelte Akio durch die Haare und grinste diesen an. Toshiya ließ sich derweil seufzend neben Die nieder. „Und Haraide kann mit seinem Handgelenk auch nicht wirklich mit anpacken. Klasse.“ „Tja“, sagte Die, „Der wird auch noch ne Weile länger nicht großartig mit den Händen arbeiten. Er war noch mal beim Arzt, weil das Handgelenk dicker wurde. Wie sich herausgestellt hat ist da ein leichter Haarriss. Hab ihn aber schon hinter die Kasse verdonnert. Darf er da eben nicht weg.“ Kyo stand immer noch an der Tür und sah den Leuten am Tisch zu. Er fand keinen Draht zu ihnen. Selbst seine beiden Freunde befanden sich, gefühlsmäßig, in einer anderen Dimension. Er, Kyo, war nur ein Betrachter von außen. Der Preis dafür, wenn man einfach in das Leben eines Anderen platzte. Toshiya streckte sich einmal genüsslich. „Warum müssen Probleme immer im Rudel auftreten?“ „Weil sie es lustig finden“, antwortete ihm Nobu grinsend. „Hey, Toshiya“, stupste ihn selbiger an, „willst du uns nicht mal deiner Begleitung vorstellen? Sonst wächst der da vorne noch fest.“ Er war der Kleinste von seinen Kollegen, hatte dafür aber auch hin und wieder die größte Klappe, welche er auch absolut nicht halten konnte. Frech grinsend sah er Kyo unter seinen dunkelgrünen Haarspitzen an. „Kriegen wir noch eine Berühmtheit hier rein. Also, wenn uns die ganzen Fans nicht bald den Laden besetzen, bin ich enttäuscht.“ „Als ob sie das nicht jetzt schon machen würden, Nobu. Es ist ein Wunder, wenn mal ein ernsthafter Kunde bei uns rein kommt.“ Rika drückte den kleinen Akio an sich und knuddelte ihn aus einer Laune heraus durch. Die stand lachend auf und holte Kyo näher an den Tisch. „Vorstellen muss ich Kyo nicht wirklich, oder? Er arbeitet ab heute mit uns zusammen. Wie angekündigt.“ Freundschaftlich drückte er den langjährigen Freund an sich. „Also Kyo: das sind Nobu, Rika und Keisuke.“ Die zeigte mit der Hand auf jeden und die Drei nickten jeweils, als er ihren Namen erwähnte. „Alle drei schwer in Ordnung und echt tolle Menschen. Du wirst schon sehen.“ Keisuke stand auf und hielt Kyo, wie ein Europäer, die Hand hin: „Auf gute Zusammenarbeit.“ Kyo erwiderte die Geste, auch wenn er ein wenig verwirrt war wegen des Händeschüttelns. Der andere überragte ihn um einen Kopf und schien auch von etwas ruhigerer Natur zu sein. Gleichwohl auch vernünftiger. Erinnerte den kleinen Sänger ein wenig an Shinya, obwohl dieser Mann hier vielmehr Selbstbewusstsein ausstrahlte. Von einem Moment auf den nächsten hatte er dann plötzlich Nobu an sich hängen. „Du kannst mir helfen, Kyo. Ich muss noch die Inventur weitermachen. Ich sage dir alles an und du notierst. Einverstanden? Einverstanden. Ich wusste doch, dass wir uns gut verstehen würden.“ Grinsend und einen Arm um die Schulter des Älteren nahm er Kyo mit in den vorderen Bereich des Ladens. „Vielleicht hätte ich ihn vor Nobu warnen sollen“, überlegte Toshiya, doch Die winkte ab: „Damit wird er sich abfinden müssen. Und schließlich bist du nicht viel anders. Nobu-chan ist nur eine Stufe extremer.“ Nobu war wirklich eine Marke für sich, wie Kyo sehr schnell feststellen musste. Quirlig, aufgeweckt und total liebenswert. Er hatte ihm erklärt, was Kyo wo eintragen musste in das Programm auf dem Notebook. Es war ein einfaches Programm und Kyo fand sich ziemlich schnell zurecht. Allerdings hatte er es nicht so mit dem Tippen, weshalb es ein wenig dauerte, bis er das Richtige eingegeben hatte. Sein neuer Kollege nahm Rücksicht darauf und wiederholte die Angaben auch, wenn es nötig war. Der flippige Japaner konnte sich vorstellen, dass es nicht einfach war, wenn man den technischen Fortschritt nicht miterlebt hatte und so auch nicht viel in Kontakt gekommen war. Im Großen und Ganzen kamen sie allerdings gut voran und zur Mittagspause war etwa die Hälfte des Pensums erreicht. Der Laden wurde vorübergehend geschlossen und in der Küche gerade von Die das Mittagessen aufgetischt: Pizza. Neben der weit geöffneten Hintertür standen Nobu und Toshiya und rauchten. „Kommt rein, ihr Zwei. Die Pizzen sind fertig“, rief Die ihnen zu, um sicher zu gehen, dass sie das fertige Essen auch würdigten. Er verteilte einige große Teller auf dem Tisch, woraufhin sich die Anderen ihren Platz nach dem Essen aussuchten. Rika reichte jedem noch Gabel und Messer, bevor sie sich neben Akio setzte und diesem beim Zerkleinern half. Kyo blieb vorerst stehen, wusste er doch nicht, welche für ihn gedacht war. Jedoch nahm Daisuke ihm einen Moment später die Qual der Wahl ab und zog ihn einfach neben sich. „Im Stehen lässt es sich so schwer essen“, meinte er gelassen und grinste. Nachdem sich auch Nobu und Toshiya endlich gesetzt hatten, wünschten sich alle einen guten Appetit und machten sich mit großem Hunger über ihr Essen her. Währenddessen besah sich Kyo seine neuen Kollegen genauer an. Ihm gegenüber saß Rika. Sie hatte ihre kurzen schwarzen Haare, mit den braunen Strähnen zu einem Zopf am Hinterkopf zusammengebunden und sah weitestgehend so was wie 'normal' aus, wenn man von dem Tattoo absah, welches unter dem kurzen Ärmel ihres rechten Armes hervor blitzte. Was genau es darstellte konnte Kyo nicht sagen. Man sah lediglich ein paar Blütenblätter. Wie Kyo feststellte schien sie einen Narren an Akio gefressen zu haben, denn sie hatte ihre Aufmerksamkeit offensichtlich auf den Jungen gelenkt. Allerdings konnte sie auf die kleineren Seitenhiebe der Männer um sie herum gut Kontra geben, soweit Kyo aus den Gesprächen am Tisch heraus hören konnte. Einzig Keisuke hielt sich heraus. Der große Japaner mit den breiten Schultern aß gelangweilt seine Pizza. Dafür erhielt er von Nobu einen leichten Hieb in die Rippen: „Vielleicht solltest du dich ein bisschen anstrengen, sonst klaut Rika Akio demnächst noch. Außerdem wird’s bei euch echt Zeit, dass ihr mal Nachwuchs kriegt.“ „Halt die Klappe, Nobu. Regel du mal lieber die Beziehung mit deinem Hasen“, konterte die junge Frau. Im Gegenzug streckt der quirlige Kleine ihr die gepiercte Zunge entgegen. „Bei Maboroshi und mir läuft alles glatt. Er vergöttert mich und küsst den Boden, auf dem ich gehe.“ „Er?“, fragte Kyo verwirrt. Nobu nickte ihm mit einem breiten und glücklichen Grinsen zu. „Ich bin bi. Was dagegen?“ Mit einem leichten Lächeln schüttelte Kyo den Kopf. Nein, er hatte nicht im Geringsten etwas dagegen. Schließlich ging es ihn weder das Geringste an, noch konnte er was daran ändern. „Hey, der ist ja richtig knuffig, wenn der mal lächelt.“ „Ich bin nicht-“, fing der ehemalige Sänger laut an zu protestieren, war sogar halb aufgestanden, ehe er merkte, wie er sich gerade verhielt. Vor Scham leicht rot werdend setzte er sich wieder auf seinen Platz und hielt den Kopf gesenkt. „Ich bin nicht 'knuffig'“, nuschelte er noch hinterher, woraufhin der gesamte Tisch in schallendes Gelächter ausbrach. Am Nachmittag war es ziemlich ruhig im Laden und Die hatte sich mit Akio in die Gitarrenabteilung zurück gezogen, um ihm den ein oder anderen neuen Griff zu zeigen. Durch die drei Stockwerke des Ladens hörte man Gitarrenklänge. Mal gute, mal weniger gute aber es vertrieb die Stille. Wenn man von Toshiyas Gejammer absah, der sich immer noch wünschte, dass Akio Bass spielen lernte. Rika legte ihm irgendwann eine Hand auf die Schulter und versuchte dem entgegen zu wirken: „Er spielt jetzt schon seit knapp zwei Jahren Gitarre. Warum findest du dich nicht endlich damit ab?“ Der Größere schüttelte trotzig den Kopf. Typisch Toshiya. Kyo half im Erdgeschoss weiter bei der Inventur von Übungsheften und Notenblättern, während Keisuke sich allein auf der dritten Ebene bei den Blasinstrumenten zu schaffen machte. Rika kümmerte sich gerade an der Kasse um einen Kunden, während Toshiya einfach nur dumm in der Gegend stand und sich insgeheim auf den Feierabend freute. „Hey, Toshiya“, rief Die ihm aus der zweiten Etage zu, „Steh da nicht so dumm rum. Schnapp dir einen Bass und komm her.“ Grinsend eilte der Jüngere hoch, holte sich einen der Bässe, die gleich neben der Gitarrenabteilung hingen, und gesellte sich damit zu seinem Kumpel. „An was hast du denn gedacht?“ Gelassen zuckte Die mit den Schultern. „Das hab ich mir noch nicht überlegt“, gab er zu, kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Spielt 'Kodou'“, bittet Akio und sah seinen Vater und seinen Onkel Die flehend an. Beide schauten ihn verwirrt an und Die fragte ihn: „Wieso das Lied?“ „Weil ich die Melodie so gerne höre.“ „Bleibt nur die Frage, ob sich das mit nur einer Gitarre und dem Bass immer noch so gut anhört. Aber wir werden unser bestes geben, nicht wahr Die?“ Die nickte und stimmte sich kurz mit ein paar Takten ein. „Kann losgehen.“ Toshiya gab mit dem Fuß den Takt vor, damit sie ihren Einsatz fanden. Kurz darauf erschallte 'Kodou' im Musikladen. Und auch, wenn das Schlagzeug fehlte, konnte man die Melodie erkennen. Ein paar Meter weiter unten gab Nobu die letzten Informationen zur Eingabe an Kyo weiter, der jedoch mit seinen Gedanken ganz wo anders zu sein schien. Mit leerem Blick starrte er den kleinen Monitor an, formte lautlos Worte mit den Lippen. „Kyo?“, besorgt trat der Jüngere an jenen heran. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Doch er erhielt keine Reaktion. Langsam bekamen die Worte Ton und nach und nach auch eine Melodie. Sang er etwa? Die und Toshiya sahen sich erstaunt an, nachdem der Gesang auch bis zu ihren Ohren vorgedrungen war. Ein Lächeln und anschließend tiefe Freude zeigte sich auf ihren Gesichtern. Wie lange hatten sie das jetzt nicht mehr gehört? Lange. Viel zu lange. Sie legten noch mehr Gefühl in ihr Spiel. Wenn Kaoru und Shinya nur hier wären. Sie würden weinen. Vor Freude. Vielleicht sollten sie in nächster Zeit wirklich wieder eine 'Probe' ansetzen. Es war sowieso schon überfällig. „Sing, Kyo. Sing“, flüsterte Die leise und sah lächelnd zu dem Größeren seiner beiden Kumpels, dem schon ein verräterisches Glitzern in den Augen lag. Kapitel 10: Hope ---------------- Kapitel 10: Hope „Mensch, Kaoru. Jetzt glaub mir doch“, schmollte Die in sein Telefon. Er hatte es sich nicht verkneifen können den Älteren nach Feierabend an zu rufen. Dafür war die Nachricht einfach zu brisant, die Neuigkeit zu atemberaubend, zu heiß, als dass er sie für sich hätte behalten können. Seine Verlobte stand Augen rollend am Esstisch, wartete darauf, dass sich ihr Liebling setzte und mit ihnen zusammen zu Abend aß. „Er hat gesungen. Kaum hatten Toshiya und ich angefangen 'Kodou' zu spielen hat er sich an den Text erinnert und ihn gesungen. Das war so...so... du hättest dabei sein müssen. Du und Shinya. Es war ein bisschen so, als wäre er nie weg gewesen.“ „Dai-chan, würdest du bitte zum Essen kommen.“ „Einen Moment noch, Schatz. Das hier ist wichtig.“ Zumindest aus seiner Sicht. Aber wie er bei Kaoru hören konnte, war er gerade nicht der Einzige, dem es so ging. „Kyo muss unbedingt wieder hinters Mikro. Da gehört er einfach hin. So wie wir an unsere Instrumente. Hab ich recht oder hab ich recht?“ „Du hast recht“, erwiderte Kaoru und murmelte noch: „Ausnahmsweise.“ „Hey!“ „Aber was, wenn er das noch nicht will? Wenn es noch zu früh ist? Ich weiß, im Restaurant hat er gesagt, dass er gerne wieder mit uns zusammen Musik machen würde, aber er ist schließlich noch nicht mal eine Woche wieder bei uns. Ich will ihn nicht überfordern.“ Dabei kribbelte es ihm doch so in den Fingern und am Liebsten hätte er sich jetzt sofort mit seinen Freunden irgendwo verschanzt und gespielt, bis Blut über die Saiten seiner Gitarre gelaufen wäre. So begierig war er darauf. Aber er hatte auch unheimliche Angst, den guten Freund damit zu verschrecken. Wenn sie plötzlich so große Erwartungen in ihn setzen würden, dann würde Kyo unter dem Druck zusammenbrechen. Dabei sollte der Jüngere doch erst einmal wieder ein ganz normales Leben führen und sich seinen Weg in einen geregelten Alltag bahnen. Er sollte zudem auch erst einmal selbstsicherer werden und lernen sich selbst wieder zu akzeptieren. „Wir können das noch nicht wieder von ihm verlangen. Er soll von selbst auf uns zukommen. Dann ist es kein Zwang für ihn und es wird auch ihm wieder Freude bereiten.“ Jedoch war Die ganz anderer Meinung: „Aber Kaoru. Wenn wir darauf warten müssen, bis er das von sich aus vorschlägt, dann vergehen vielleicht noch Wochen oder Monate, so wie der sich noch zurückhält. Ich will aber jetzt spielen. Ich will 'Dir en Grey' zurück haben! Ich-“ „DIE!“, fauchte Kaoru ihn an. „Du glaubst doch nicht allen ernstes, dass es uns Dreien anders geht, oder? Verdammt, du weißt genau wie mir das Spielen fehlt. Dass es auch mir nicht reicht, wenn wir uns nur alle paar Monate zusammensetzten. Aber lass Kyo einfach seine Zeit. Die hat er schon immer gebraucht, erinnerst du dich? Es gibt noch ein paar Dinge in seinem Leben, mit denen er fertig werden muss. Kyo muss erst lernen in dieser Welt wieder Fuß zu fassen, bevor wir daran denken können ihn mit unseren Wünschen zu belagern.“ „Er hat gefälligst zu wollen!“, rief Die trotzig und schmiss missmutig den Hörer auf die Station. Kaoru seufzte einmal tief auf. Er konnte den Jüngeren ja verstehen. Seit Kyos Anruf an seinem Geburtstag wünschte er sich nichts sehnlicher zurück als die gute alte Zeit. Ein ganz kleines bisschen sogar die Zeit, bevor sie berühmt geworden waren. Mit einem entschuldigenden Lächeln begab er sich zum Esstisch, wo er seiner Frau einen Kuss auf die Wange gab. „Was war denn so wichtig?“, fragte Itoe auch gleich nach. Musste schließlich ein triftiger Grund sein, wenn der gute Freund ihres Mannes um diese Zeit anrief und Kaoru auch noch so aufwühlte. „Ist etwas mit Kyo-san?“ Vielleicht war diesem ja etwas zugestoßen. Sie kannte den Sänger nicht persönlich, hatte aber über die Jahre gemerkt, dass er Kaoru sehr am Herzen lag. Wie ein Bruder. „Wie man es nimmt“, antwortete er ihr und nahm dankend die Reisschüssel entgegen. „Kyo hatte heute seinen ersten Arbeitstag bei Daisuke und Toshiya im Laden. Und kurz vor Feierabend haben die beiden noch ein wenig gespielt. Eines von unseren Liedern, woraufhin Kyo angefangen hat zu singen. Weißt du, seit fast sechzehn Jahren habe ich nicht eine Note von ihm gehört. Und ich vermisse das Band-Leben ein Stück weit...“ „Ich weiß“, sagte Itoe und legte ihm verständnisvoll eine Hand auf den Unterarm, welche Kaoru gleich mit seiner Hand bedeckte. „Ich wäre gerne dabei gewesen.“ „Ich kann dir doch was vorsingen, Papa“, ertönte es von einem kleinen Dreikäsehoch. Kaoru schmunzelte: „Danke, Prinzessin, aber es wäre nicht das Gleiche. Verstehst du?“ Das kleine Mädchen, mit den niedlichen Zöpfen rechts und links an ihrem Kopf, fing an zu schmollen. Sie konnte doch so viel besser singen, als irgendwer sonst. Kaoru nahm einen Bissen, konnte aber nicht verhindern, dass ihm ein weiterer Seufzer über die Lippen kam. „Was bedrückt dich, Liebling?“, hakte Itoe mitfühlend nach. „Ich mache mir Sorgen. Die kann manchmal so übermütig sein und ich will nicht, dass er alles nur verschlimmert. Schließlich ist Kyo vieles, aber nicht einfach. Er baut sich gerade erst wieder ein Leben auf, da soll ihn niemand unter Druck setzen etwas zu tun, was er vielleicht nicht möchte.“ Einen Moment legte sich Schweigen über den Tisch, ehe Itoe das Wort ergriff: „Aber er ist doch Sänger, nicht wahr? Ist es dann nicht das Wichtigste für ihn zu singen?“ Dies brachte ein Schmunzeln auf Kaorus Lippen. „Ich bin ja derselben Ansicht. Dennoch sollte er selbst diesen Wunsch haben. Ich mag den Gedanken nicht jemanden zu etwas zu zwingen. Gerade ihn nicht.“ „Auch, wenn das vielleicht dazu dienen würde, dass diese Person ihr Glück findet?“, fragte sie und hielt ihre Tochter gerade so davon ab, ihr Essen aus Trotz durch die Gegend zu werfen. Moe konnte es wirklich nicht haben, wenn sie nicht im Mittelpunkt stand. Typisches Verhalten eines Einzelkindes. Kaoru und sie hätten wirklich strenger bei der Erziehung sein sollen. Sie freute sich jetzt schon auf die Pubertät und die damit verbundenen Nervenaufreibenden Momente. Ihr Mann zuckte einfach nur mit den Schultern. Eigentlich hatte er mit 'Ja' antworten wollen, doch im selben Moment war ihm bewusst geworden, wie töricht es gewesen wäre. Ein Teil dachte nun einmal, dass es Kyo wirklich glücklich machen würde, wenn er wieder singen konnte. Das hatte es schon immer gemacht und dass sich daran etwas geändert hatte bezweifelte er. Andererseits glaubte er an die Worte, die er sagte. Dass der Jüngere eben einfach seine Zeit brauchte. „Ich bin jedenfalls gespannt, wie lange es dauern wird.“ In einem anderen Teil Tokyos... Toshiya saß mit seinem Sohn im Wohnzimmer und half ihm bei einer Schullektion, mit der dieser seine Schwierigkeiten hatte. Vorher hatte er sich selbst zwar erst ein wenig hineinarbeiten müssen, aber er versuchte sein Bestes, um seinem Jungen zu helfen. Sein Mitbewohner war jedoch gleich nach dem Abendessen im Gästezimmer verschwunden und wollte scheinbar auch nicht gestört werden. Wie immer, wenn dich der Ältere in seine 4 Wände zurück zog. Das kannte der Bassist ja noch von früher. Abwesend starrte Kyo aus dem Fenster. Er hatte den Stuhl, der für seine Kleidung gedacht war, wenn er sich umzog, davor gestellt und sich darauf niedergelassen, die Füße ganz nah an der Heizung. Auf seinem Schoss lag sein Buch, in welchem all die alten Texte drin standen, die er geschrieben hatte. So auch 'Kodou'. Er hatte ihn sich nochmal durch gelesen. Es hatte gestimmt. Bis zur letzten Silbe hatte er alles richtig in Erinnerung behalten und am Nachmittag wiedergegeben. Nach all den Jahren hatte er den Text immer noch auswendig gekonnt. Als Dai und Toshiya angefangen hatten zu spielen, als er die ersten Töne der Melodie gehört hatte, da hatte es in seinem Kopf einfach 'Klick' gemacht. Wie früher, wenn sie einen Auftritt hatten und er jedem Lied sein ganzes selbst gewidmet hatte. Und dann war da noch dieses Gefühl gewesen. Dieses Gefühl von...daheim. Es war so schön gewesen. So vertraut. Ob er es noch einmal haben würde, wenn er sang? Nur was? Kyo wandte seinen Blick von dem Fenster ab und dem kleinen schwarzen Buch zu. So viele Zettel hatte er raus gerissen und noch weit mehr wieder dazu geklebt und geheftet. Alle voll mit Ideen, Texten. Voll mit Gefühlen, die er einst gehabt hatte. Wahllos schlug er das Buch auf, las die ersten Zeilen. 'Drain Away'. Danach schlossen sich seine Augen wieder und er sagte den Rest aus dem Gedächtnis auf. Es schien allerdings mehr als würden sie eher aus seinem Herzen, als aus seinem Kopf kommen, so verbunden fühlte er sich mit ihnen. Aber noch zögerte er dem ganzen eine Melodie zu geben. Zu unsicher war er sich noch. Das übernahm seine Stimme jedoch von ganz allein. Und so saß er in dem Zimmer und füllte es mit seinem noch unsicheren, doch immer stärker werdenden Gesang. Kyo fühlte sich in der Zeit zurück versetzt und während er den traurigen Text sang fühlte er sich dennoch so glücklich, dass sich ein leichtes Lächeln bei ihm zeigte. Ohne sein Wissen stand Toshiya vor der Tür, der sich im Moment ähnlich glücklich fühlte. Eigentlich hatte er ins Bad gewollt, kam aber nicht drumrum anzuhalten, als er den leisen Gesang hörte. Er schlich zurück ins Wohnzimmer und schnappte sich sowohl Telefon als auch Handy und ging damit wieder zu Kyos Zimmer. Mit dem einen wählte er Kaoru an, mit dem anderen Shinya. Schließlich sollten die beiden auch mal wieder in den Genuss dieses Gesanges kommen. Hoffentlich gingen sie schnell ran, denn der Kleine hatte schon mehr als die Hälfte des Liedes hinter sich. Shinya sah verwundert auf. Niemand rief Samstagabends bei ihm an. „Entschuldigt mich“, meinte er und begab sich in den Flur zum Telefon. Eigentlich eine Unverschämtheit ihn gerade jetzt zu kontaktieren. Schließlich gehörte das Wochenende von Samstagabend bis Montagmorgen nur seiner Familie und er schaute sich gerade mit seiner Frau und den Kindern einen Film an, den die Kleinen hatten aussuchen dürfen. Nebenbei wurde gekuschelt. Und während dieser Zeit wurde er nur ungern gestört. Dafür war ihm diese Zeit einfach zu wichtig. Das wussten alle, die ihn kannten. Einzige Ausnahmen waren Geburtstagsfeiern, so wie seine am morgigen Tag. Trotzdem wunderte es ihn schon sehr, dass er Toshiyas Namen auf dem Display lesen konnte. „Hallo Toshiya“, begrüßte er den Anderen mit einem leichten Seufzer. Er wollte eben bei seiner Familie sein. Allerdings verwunderte und verstimmte ihn, dass er keine Antwort erhielt. Gerade wollte er noch mal nachhaken, als er Gesang vernahm. Es war leise, aber Shinya würde diese Stimme unter vielen anderen heraushören. Genießend schloss er die Augen und lauschte. Wie versteinert saß Kaoru am Tisch und starrte ins Leere. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht ans Telefon zu gehen, nach dem klingeln. Seinem Gefühl nach war es Toshiya, der versuchte ihn zu erreichen und mit einer großen Wahrscheinlichkeit das selbe erzählen wollte wie Die. Aber ohne ihn. Wozu gab es schließlich Anrufbeantworter. Als dann jedoch dieser Gesang ertönte... Es war noch nicht so kräftig wie früher. Bei weitem nicht und noch fehlte die alte Sicherheit, dennoch war es ihm so vertraut. Gab es vielleicht wirklich noch Hoffnung für 'Dir en Grey'? Kapitel 11: Happy Birthday -------------------------- Pünktlich um 16:00 Uhr standen Toshiya, Kyo und Akio vor Shinyas Haustür und betätigten die Klingel. Keine Minute später wurde ihnen geöffnet. Von einem laufenden Meter, der sehr viel Ähnlichkeiten mit einem geschrumpften Shinya hatte. „Hallo Kohaku“, begrüßte Toshiya den Kleinen. „Lässt du uns rein?“ Der Junge nickte und trat zur Seite, beäugte Kyo dabei kritisch. Immerhin war er ihm noch nie begegnet und seine Eltern hatten ihm immer gesagt, dass er sich vor Fremden in Acht nehmen sollte. Kyo hingegen versuchte so was wie ein Lächeln hinzubekommen, damit der Junge nicht mehr ganz so viel Angst vor ihm hatte. Offensichtlich bewirkte es nur das Gegenteil, so wie das Kind zurückwich. War er denn wirklich so gruselig? Zugegeben, die vielen Tattoos mochten seltsam wirken und sein Lächeln war wirklich noch nie das Schönste gewesen, aber das hatte die Fans auch noch nie abschrecken können... Und Kaoru war ja mit seinen Tattoos auch nicht viel besser. Allerdings wusste er ja auch nicht, wie der Junge auf diesen reagierte. Der Grund für die Schüchternheit, war wohl einfach, dass er der große Unbekannte war. Einen Augenblick später erschien dann auch schon das Geburtstagskind im Flur, begrüßte die beiden guten Freunde und nahm ihre Glückwünsche entgegen. „Schön, dass ihr hier seid. Ich freue mich so.“ Er schlug den beiden Jungen vor, ins Kinderzimmer zu verschwinden und zu spielen, bis das Abendessen soweit war, woraufhin beide innerhalb weniger Sekunden verschwunden waren. „Die sehen wir so schnell nicht wieder“, lächelte Shinya und strahlte dabei wie der Dalai-Lama persönlich. „Na dann, rein in die Pantoffeln und in die gute Stube. Was darf ich euch denn zu trinken bringen?“ „Ein Bier!“, kommt es auch schon gleich von Toshiya, woraufhin Kyo ihm leicht in die Seite boxte. „Denk daran, dass du auch wieder zurück fahren musst, schon vergessen?“ „Aber du hast doch einen-“ „Und ich habe dir gesagt, dass ich mich erst dann wieder hinters Steuer setze, wenn ich den noch mal gemacht habe.“ Ein vergnügtes Kichern kam von Shinya, während er die beiden bat ihm ins Wohnzimmer zu folgen. „Ich persönlich glaube ja nicht, dass es möglich ist eine bestandene Fahrprüfung zu wiederholen.“ „Wenn ich nun aber doch keine Ahnung mehr vom Fahren habe“, nuschelte Kyo. Im Moment dachte er von sich eher als Gefahr für die öffentliche Verkehrssicherheit bei der Vorstellung einen Wagen fahren zu müssen. „Setzt euch doch und ich bringe euch gleich zwei Wasser.“ „Wasser? Hast du nicht auch sowas wie alkoholfreies Bier?“ Wenn er schon kein normales Bier haben durfte, dann wollte Toshiya zumindest den Geschmack davon haben. „Alkoholfreies Bier? Nur damit ich mir nachher dein Gejammere anhören darf, dass es nicht schmeckt? Es gibt einen Grund warum ich keines besorgt habe.“ „Ach, menno.“ „Dann doch lieber Wasser?“ „Nein, Limonade. Das schmeckt zumindest nach was.“ Mit verschränkten Armen und einem grummeligem Gesicht machte Toshiya es sich auf dem Sofa bequem, während Kyo sich, ein Grinsen verkneifend, im Wohnzimmer umsah. Ein schöner, heller Raum mit großen Fenstern und Blick auf einen kleinen Garten. In dem Raum waren viele warme Farben verwendet worden und man hatte irgendwie das Gefühl von Geborgenheit. Angezogen von vielen Bilderrahmen auf einer Kommode machte er ein paar Schritte darauf zu. Da war ein Foto von Shinya und einer Frau. Gekleidet in traditioneller Hochzeitskleidung. Daneben ein paar Fotos, die wohl gemacht wurden, kurz nachdem die Kinder auf die Welt gekommen waren. Jedenfalls wirkten die Kleinen zart und zerbrechlich. Wie frisch geboren eben. Auf weiteren Bildern sah man Kindergeburtstage, Familienausflüge, dann so etwas wie die erste Zahnlücke. Scheinbar hatte Shinya wirklich das große Glückslos gezogen. Irgendwo musste Kyo sogar zugeben ein wenig neidisch zu sein. Aber wer wäre das nicht, wenn man dieses Glück sehen würde. „So, bitte sehr. Eure Getränke.“ Shinya kam mit einem Tablett wieder und stellte seinen Gästen die gefüllten Gläser hin. „Wie kommt es eigentlich, dass wir die Ersten sind?“, fragte Kyo. „Normalerweise ist Kaoru doch immer überpünktlich.“ „Ich nehme mal an, dass -“ Ein Klingeln unterbrach das Geburtstagskind. Toshiya grinste: „Wenn man vom Teufel spricht?“ „Sei nicht so gemein, Toshi“, schmunzelte Shinya, „so schlimm ist er auch wieder nicht.“ Mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht, welches durch und durch Shinya war, ging der Jüngere zur Tür, um dem Besuch zu öffnen. „Kann ich euch vielleicht ein paar Snacks anbieten?“ Mit einem liebenswerten Lächeln auf den Lippen stand eine hübsche, recht jugendlich wirkende Frau im Wohnzimmer. Die selbe Frau, wie auf den Bildern. In ihren Händen hatte sie je eine Schüssel. In der einen waren Reiscräcker, in der anderen eine Nussmischung. Beides stellte sie auf den Wohnzimmertisch. „Danke, Mami“, bedankte sich Toshiya artig, nachdem er aufgestanden und sie begrüßt hatte. „Du siehst heute wieder einmal umwerfend aus.“ „Ach, übertreibe doch nicht immer so, Toshiya-kun.“ Ein wenig rot um die Nase werdend, wandte sie den Blick zu Boden. „Ich sage doch nur die Wahrheit. Ich darf dir übrigens vorstellen: Das hier ist Niimura Tooru. Oder einfach nur: Kyo.“ der Größere führte die junge Frau zu dem alten Freund hin, der eine kleine Verbeugung machte und die Gastgeberin höflich begrüßte. „Es freut mich Sie endlich einmal kennenlernen zu dürfen. Mein Mann freut sich schon seit Tagen darauf, dass Sie kommen. Seit gestern Abend ist das sogar noch ein wenig schlimmer geworden.“ Ein amüsiertes, aber nicht einmal ansatzweise höhnisches, Kichern war von ihr zu hören. Sie fand diese kindliche Freude ihres Mannes einfach zu niedlich und liebenswert. Zumal sie ihm auch ein Stück weit nachempfinden konnte. „Gefällt es Ihnen bei uns?“ „Ja, sehr sogar. Wirklich. Sehr hübsch.“ Vom Flur her kamen Stimmen und lautes Gelächter und gleich darauf erschienen auch die dazugehörigen Personen: Kaoru mitsamt Frau und Tochter und gleich dahinter Die mit seiner Familie. Als nächstes folgte der allgemeine Begrüßungstrubel, bei dem Kyo doch ein wenig mulmig zumute war. Jetzt hatte er klar und deutlich vor Augen, was er alles verpasst hatte. Im Leben seiner Freunde und seinem eigenen. Er richtete seinen Blick auf Dies kleines Mädchen und konnte sofort viel von dem Gitarristen in ihr entdecken. Nanami, so hatte er es jedenfalls raus gehört, hatte die selben warmen, fröhlichen braunen Augen wie ihr Vater. Nicht zu vergessen sein strahlendes Lachen, welches jeden mit riss. Kaorus Tochter schien sich jedoch, dem äußeren nach, mehr am Genmaterial ihrer Mutter bedient zu haben. Dafür hatte sie seinen wandernden, analytischen Blick geerbt, den ihr Vater immer auf der Bühne zu Tage gelegt hatte. Weswegen er ja auch den Spitznamen 'Tiger' bekommen hatte. Auch musste der Kleine zugeben, dass ihre Partnerinnen wirklich sehr hübsch waren und sie mit ihnen auch sehr glücklich zu sein schien. "Eigentlich", dachte Kyo, „fehlt mir jetzt nur noch eine Person. Eine wichtige Person im Leben meiner Freunde. Shinyas Tochter.“ Aber die würde er ja spätestens beim Essen antreffen. Wobei er neugierig war, wer noch alles kommen würde. Egal wer es jedoch war, sie wussten bestimmt über die 15 Jahre Bescheid. Seufzend nahm er sein Wasserglas und ließ sich auf dem Sofa nieder, nahm einen Schluck. Plötzlich fühlte er sich beobachtet und als er einen flüchtigen Blick nach links wagte, fand er auch den Grund dafür. Nanami hatte sich neben ihm auf die Armlehne gestützt und sah ihn mit großen neugierigen Augen an. Ihr Blick wanderte über seine Hände und die Arme. So weit, wie es sein T-Shirt zu ließ. Fasziniert fing sie an mit einem Finger über die Bilder zu streifen. „Du hast ja fast so viel Bilder auf dir, wie Onkel Kaoru.“ Innerlich kämpfend, ob er den Arm wegziehen sollte oder nicht, sah Kyo dem Mädchen bei ihrer Tätigkeit zu. „Ich glaube“, fing er an, „ich habe sogar noch ein paar mehr als er.“ „Wirklich?“ Erstaunt sah sie den seltsamen Onkel an, der nach einem zaghaften Lächeln auf seinen Hals und anschließend hinter sein eines Ohr deutete. „Auf der Brust habe ich auch noch eines und am Bauch auch.“ Er wusste nicht warum er ihr das erzählte, aber es tat gut. „Hat das am Bauch denn nicht weh getan?“ Sie hüpfte um das Sofa herum, über Kyos Füße und ließ sich neben ihn auf das Sitzmöbel fallen. „Was ist das denn für ein Bild, dass du dir am Bauch hast machen lassen?“ „Es hat schon weh getan, aber das hat jedes meiner Tattoos. Das ist nicht so schlimm, weil ich es ja so wollte. Und das am Bauch ist ein Tiger.“ Die Kleine war gut. Sie hatte es so mir nichts, dir nichts geschafft den Schwarzhaarigen aus seinem Schneckenhaus zu locken. Vermutlich weil sie Dies Grinsen noch ein wenig perfektioniert hatte. „Ein Tiger? Ein richtiger Tiger? Darf ich mir den mal angucken? Bitte, bitte.“ Jetzt wurde Kyo doch ein wenig rot um die Nase. Wie würde das denn aussehen, wenn er hier anfing sich fast auszuziehen? „Da sollten wir deine Okaa-san besser erst um Erlaubnis bitten.“ Schließlich bezweifelte er, dass Daisuke etwas dagegen haben könnte. Der kannte ihn immerhin, aber seine... wie war das? Verlobte? Die eben nicht. Im nächsten Moment hatte er Nanami auf seinem Schoß sitzen, die er erst einmal völlig verplant ansah, während sie ihm allmählich ihre spitzen Knie in die Oberschenkel jagte. „Okaa-san, darf ich mir das Tigerbild auf dem Bauch von dem Onkel ansehen?“ Mit einem ganz lieben Dackelblick, den selbst Toshiya in seinen jungen Jahren nicht hätte besser hinkriegen können, sah sie ihre Mutter an, welche zu Kyo, dann zu ihrem Engelchen und zuletzt zu ihrem Schatz sah, der zustimmenden nickte. Gut, wenn ihr Verlobter meinte, dass nichts schlimmes passieren würde, dann wollte sie mal auf sein Urteil vertrauen. Sie sah ihre Tochter an, die schon freudig strahlte, weil ihr Papa schon mal einverstanden war und gab ihr die gewünschte Erlaubnis. Glücklich quiekend hüpfte sie auf Kyos Schoß herum, der gerade so einen Schmerzenslaut unterdrücken konnte. Sie hatte aber auch eine empfindliche Stelle getroffen. „Mama und Papa haben ja gesagt. Zeigst du mir jetzt den Tiger?“ Von dem Schmerz immer noch atemlos, brachte er ein kurzes „Hai“ zustande, ehe er sich zurücklehnte und dabei ein wenig das Shirt hoch schob. Gerade so weit, dass man das Tattoo sehen konnte, aber auch nicht zu viel vom restlichen verhüllten Kyo sah. Die Kleine musste nicht die alle Narben sehen. „Der guckt aber böse“, meinte Nanami und piekte den Tiger, woraufhin Kyo schreckhaft zusammenzuckte. Darauf war er wirklich nicht gefasst gewesen. „Kö- Könntest du das sein lassen? Ich mag das nicht so“, versuchte der Schwarzhaarige es auf die diplomatische Tour. Er musste sich gerade sehr zusammenreißen, die Kleine nicht panisch von sich runter zu schubsen, wobei sie sich dann wohl auch noch verletzen würde. Es wurde ihm für den Augenblick zu viel. So viel Nähe war er nicht gewohnt. Zu seinem Glück kam ihm Dai zu Hilfe, der sein Engelchen einfach von Kyo runter hob und auf die Erde stellte. Nachdem er sich hingehockt hatte, um mit ihr etwa auf Augenhöhe zu sein, erklärte er ihr: „Ärgere deinen Onkel Kyo nicht so. Er mag es nicht, wenn man ihm in den Bauch piekt. Verstanden?“ Sie nickte. „Gut, dann entschuldige dich noch bei ihm und dann kannst du ja mit Moe zu Kohana gehen und ihr drei spielt noch ein wenig, bis das Abendessen fertig ist. Hört sich das gut an?“ „Hai.“ Sie strahlte ihren Papa an, nachdem sie bei seinem kleinen Vortrag einen Schmollmund gezogen hatte, wandte sich Kyo zu: „Gomen nasai.“ Es folgte eine kleine Verbeugung, dann eilte sie zu Moe, nahm sie an der Hand und eilte mit ihr zu dem Spielzimmer von Kohana und Kohaku. Moe bedachte den Mann auf dem Sofa noch mit einem misstrauischem Blick. Das war der, von dem ihr Papa fand, dass er besser sang als sie. Der konnte nur doof sein. Kaum waren die Kinder aus dem Sichtfeld stöhnte Kyo erleichtert auf. „Danke, Dai.“ „Kein Ding“, grinste dieser und ließ sich neben den Freund auf das Sofa fallen. „Ich weiß nicht woher, aber sie findet Tattoos völlig faszinierend und malt sich mit ihren Filzstiften auch selbst ständig die Arme voll. Ich weiß noch, als wir mal auf Miyavi und dessen Familie gestoßen sind... Als wäre ihr Blick an ihm festgetackert gewesen. Gut, wie oft haben wir den schon ungläubig angesehen, aber bei ihr sah das wirklich lustig aus. Hat eine Weile gedauert, bis wir sie wieder in Bewegung gesetzt bekommen haben. Aber was kann ich mit meinem bisschen Schuppenmuster hier“, er sah auf seine rechte Hand, „schon gegen einen wie Miyavi oder Kaoru oder dich auch schon ausrichten.“ „Auf keinen Fall noch mehr stechen lassen, Schatz“, ertönte es vom anderen Ende des Raumes, wo sich Aimi angeregt mit Mami und Itoe unterhielt. Dai lachte. Als ob er sich in seinem Alter noch Tattoos stechen lassen würde. Nicht, wenn es nur darum ging, seine Freunde in der Anzahl zu übertrumpfen. „Ach, übrigens“, fiel ihm dann plötzlich ein, „meinen Respekt. Du hast es mit deinem Gesang gestern wirklich geschafft Nobu zum Schweigen zu bringen. Eigentlich müsstest du dafür einen Orden bekommen.“ „Er redet auch wirklich viel. Aber irgendwie...“ „Muss man ihn mögen, was?“ Kyo nickte. Den Jungen musste man wirklich mögen. Immerhin hatte er es geschafft sich seine kindliche Seite zu bewahren und schaffte es über dies hinaus, sie auch noch zu leben. In der nächsten halben Stunde waren noch Shinyas Eltern eingetroffen, sowie ein paar andere Musiker, mit denen er befreundet war. Als es dann hieß, dass das Essen fertig war, wurden die Kinder geholt und jeder nahm am hübsch dekorierten Esstisch Platz. Jeder da, wo er oder sie es gerade wollte. Kyo wurde gleich von Akio und Nanami in Beschlag genommen, die unbedingt neben ihm sitzen wollten und sich das auch nicht wieder ausreden ließen. Auf eine, ihm seltsame Art und Weise, fand der Sänger es sogar ganz schön, dass sich die beiden Kinder zu ihm setzen wollten. Auch, wenn sie ihm während des Abends viel erzählten und er ständig seine Aufmerksamkeit von einem zum anderen lenken musste, somit kaum zum Essen kam, welches ausgezeichnet schmeckte. So ohne weiteres von ihnen akzeptiert zu werden, war eine Wohltat für sein gebeuteltes Selbstvertrauen. Eines sah man ganz deutlich: Er fühlte sich wohl dort am Tisch. Zusammen mit seinen Freunden und deren Familien. So wohl, dass man zwischendurch den Eindruck bekam, er wäre nie weg gewesen. Kapitel 12: Sonnig, mit der Aussicht auf Zukunft ------------------------------------------------ „Die Scheinwerfer sind noch nicht richtig. Die müssen noch ein wenig mehr gedämpft und ein Stück weiter nach innen gerichtet werden.“ „Alles klar.“ Kaoru war wieder einmal völlig in seinem Element, während er dafür sorgte, dass alles seine Richtigkeit hatte. Hier ging es schließlich um seine Schützlinge und einen ihrer ersten größeren Auftritte. Außerdem sollten die drei Jungs mit ihrer Sängerin ihm später nochmals beweisen, dass seine Entscheidung, sie unter seine Fittiche zu nehmen, die Richtige war und er es nicht bereuen musste. Kaoru glaubte an ihr Potenzial und vertraute fest ihrem Eifer, sich an die Spitze kämpfen zu wollen. „Sind die Instrumente soweit fertig?“, fragte er in den Raum hinein und sah auf sein Klemmbrett mit der Liste, was alles zu tun war. Zumindest, was seinen Bereich anging. Das Drumherum lag im Zuständigkeitsbereich von Die und Toshiya. „In einer halben Stunde ist die Band da und dann will ich, dass wir bereits erste Proben und natürlich einen vernünftigen Soundcheck durchführen können.“ Die tauchte hinter einem Verstärker auf und grinste Kaoru an: „Hab alles überprüft. Instrumente sind Einsatzbereit. Deine Schäfchen sollen ruhig kommen.“ Kaoru nickte ihm anerkennend zu, hakte den Punkt auf seiner Liste ab und wandte sich dem nächsten zu, indem er in die Garderobe schlenderte. Eigentlich war es ja der Aufenthaltsraum für die Angestellten, aber an solchen Tagen wurde er eben umfunktioniert. Wie der komplette Laden. Kyo warf immer mal wieder einen Blick zu der kleinen Bühne und erinnerte sich dabei jedes Mal an ihre eigenen ersten Auftritte. Bevor er allerdings wieder zu viel darüber nach denken konnte und es auch nicht wirklich wollte, wurde er von Nobu zum Tragen von Getränkekisten verschleppt. Kyo war froh, dass sich das Problem mit den Instrumenten ziemlich schnell erledigt hatte. Technisches Spielzeug war schon etwas Praktisches, wenn man die ganzen Regale einfach per Knopfdruck in die Wand einlassen und mit stabilen Glasscheiben verriegeln konnte. Nur das, was eben keinen Platz in einem der Regale hatte, musste extra verstaut werden. Was dann vorzugsweise die schweren Gerätschaften waren. Wie gut, dass Keisuke so stark war und vieles auch allein tragen konnte. Nur bei so manch sperrigem Zeug hatten sie ihm dann doch unter die Arme gegriffen. Bei der Gelegenheit hatte Kyo auch zum ersten Mal die Lagerräume unterhalb des Geschäfts gesehen und war von deren Größe so beeindruckt, dass er gar nicht mehr aus dem Staunen heraus kommen wollte. Seiner Meinung nach waren die fast größer, als der Laden selbst. Jetzt hatten allerdings die Getränke Vorrang, denn ein Großteil musste in den Kühlschrank, den sie aufgestellt hatten. Haraide war an diesem Tag, trotz der Verletzung mit von der Partie. Er konnte und wollte einfach seine Kollegen und guten Freunde nicht im Stich lassen. Und irgendwas gab es bestimmt auch für ihn zu tun, bei den Vorbereitungen, wenn er nachher schon nur hinter der Kasse stand. Nobu ging derweil seiner Lieblingsbeschäftigung nach und war unentwegt dabei Kyo voll zu texten und es gab kaum eine Minute in der er nicht sprach. Bis Toshiya dazwischen ging. „Nobu-kun, lass unser Kyo-chan in Ruhe. Wenn du ihn so zu quatschst, wirst du erst Recht nichts aus ihm rauskriegen.“ „Toshiya“, grummelte der Kleinere, nachdem er das '-chan' gehört hatte. Wenn der Andere die Suffixe zumindest ausgetauscht hätte, aber nein. „Gibt es denn etwas, was wir machen können, wenn wir hier fertig sind?“ Am Besten einfach nicht weiter dran stören, denn das Grinsen im Gesicht, des Jüngeren, zeigte ihm nur, dass diesem dessen Missfallen weites gehend egal war. Der Geschäftsinhaber fing an zu grübeln. „Hm... eigentlich gibt es nichts mehr, was noch zu erledigen wäre. Alles ist angeschlossen, sowohl auf der Bühne, als auch hier an der Theke. Sämtliche Instrumente, die heute Abend nicht verwendet werden, sind verstaut. Und um die Garderobe hinten hat Keisuke sich eben noch ausreichend gekümmert. Es fehlt so gesehen nur noch die Garderobe für die Gäste, aber das hat sich ja auch schnell erledigt. Wer war eigentlich noch gleich dafür eingeteilt?“ Mit einem strahlenden Grinsen meinte Nobu, dass er das übernommen hatte, womit auch diese Frage geklärt gewesen wäre. Wobei Kyo immer mehr das Gefühl hatte, dass der Kleine mit Daisuke verwandt war. „Gut, dann ruht euch fürs Erste aus, wenn ihr hier fertig seid. Das wird heute Abend noch stressig genug.“ Kyo nickte und machte da weiter, wo sie vorhin unterbrochen worden waren. Anschließend wurden die Kisten, zwecks Leerguts, wieder unterm Tresen verstaut. „Was hast du, Kyo-kun?“, fragte Nobu ein wenig besorgt, schien sein neuer Kollege doch ein wenig in seinen Gedanken versunken zu sein. „Nun ja“, fing dieser an und suchte nach den richtigen Worten, „Ich frage mich schon die ganze Zeit... Dürfen wir hier überhaupt Getränke austeilen? Das ist schließlich ein Musikladen und keine Bar.“ Für einen Moment sah ihn das quirlige Etwas vollkommen verständnislos an, dann fing er schallend an zu lachen. „Der war gut. Der war wirklich gut.“ Er legte einen Arm um Kyos Schulter und machte sich mit ihm auf den Weg in die hinteren Räume, um sich dort auf das Sofa zu setzen. Noch etwas die Beine hoch legen, bevor sie die halbe Nacht stehen würden. „Natürlich dürfen wir das hier. Genauso wie das mit der Bühne und dem Konzert. Sonst würden wir doch solche Abende gar nicht erst veranstalten. Das hat alles schon so seine Richtigkeit.“ Der Ältere nickte, hatte er doch verstanden. War aber auch eine dumme Frage gewesen. Natürlich hatten seine Freunde dafür gesorgt, dass das alles hier seine Richtigkeit hatte. Allen voran Kaoru, der als Verantwortlicher für die Band, den meisten Mist abkriegen würde. Weswegen der auch schon früher immer gerne alles doppelt und dreifach und am besten mit einem Juristen in der Hinterhand abgesegnet hatte, nur um sicher zu gehen, dass alles in geregelten Bahnen verlief. Am späten Abend war das Konzert im vollen Gange. Die Musik war laut, die Band fantastisch und die anwesenden Gäste in bester Stimmung. Kyo stand am Rande des Ganzen und fühlte sich in die Zeit vor 20 Jahren zurückversetzt. Er erinnerte sich an die schönen Ereignisse, das tolle Gefühl, welches man dort oben hatte und wie die Menschen zu einem aufgesehen hatten. Wie glücklich sie schienen, weil man für sie gespielt hatte. Wieder einmal verfluchte er sich dafür, damals so unüberlegt gehandelt zu haben. Dass er so dumm gewesen war, jemanden zu töten. „Was ist los, Kyo?“ Selbiger zuckte zusammen, hatte er doch gar nicht bemerkt, wie Kaoru sich neben ihn gestellt und besorgt gemustert hatte. „Worüber hast du nachgedacht?“ Dass sein Freund nämlich über etwas Trauriges nachgedacht hatte, hatte er an dessen Augen und dem Blick daraus ablesen können. Außerdem war ihm dieser Ausdruck auf dem Gesicht seines Freundes in den letzten Jahren viel zu häufig begegnet, als dass er ihn nicht erkennen würde. „Na komm, sag es mir.“ Kyo druckste herum. Wenn er sagen würde, an was er gerade gedacht hatte und dass er es vermisste, dann würde er Kaoru doch nur wieder Hoffnungen machen, dass sie Fünf es irgendwann selbst wieder auf eine Bühne bringen würden. Doch was, wenn das nie der Fall sein würde? Dann würde er sich auf ewig Vorwürfe machen, dass wusste er. Er spürte, wie ihn der Größere immer noch musterte und auf eine Antwort wartete. Seufzend wiegelte er noch mal das Pro und Contra ab, konnte sich jedoch immer noch nicht entscheiden. Instinktiv fühlte Kaoru, was in dem Jüngeren vor sich ging. Wenn dieser nicht sofort antwortete, dann nur, weil er gut darüber nachdachte. Und wenn er nachdachte, dann ging es um etwas Ernstes und vor allem Persönliches. Dadurch wurde er zwar auch nicht viel schlauer, hatte er doch immer noch keine Ahnung, worum sich dessen Gedanken drehten, aber bohren würde er nicht. Schließlich würde er da ganz bald auf Granit beißen. Sollte er aber die flüchtigen Blicke und die Sehnsucht richtig deuten, die Kyo der Bühne zu wand, dann bekam er eine Ahnung von dem, was er wissen wollte. Um diese Ahnung zu verfestigen formulierte er die Frage nochmal anders. „Auf der Bühne zu stehen ist schon was besonders, nicht?“ Für einen Moment sah Kyo verwirrt auf. Sah man ihm das so deutlich an? Zaghaft nickte er. „Es ist schon ein tolles Gefühl, wenn man weiß, dass man es geschafft hat.“ Wieder ein Nicken. Kyo fühlte sich im Moment nicht wirklich fähig einen vernünftigen Satz heraus zu bringen. Dafür bekam er von Kaoru einen Arm um die Schulter gelegt und wurde anschließend freundschaftlich an diesen gedrückt. Irgendwie das heute alle. Heute morgen hatte Die das ebenfalls getan, als der Sänger zusammen mit Toshiya und Akio zu dessen Wohnung gefahren war, da Akio den Tag dort verbringen sollte. Im Laden hätte er immerhin nicht wirklich hilfreich sein können. Außerdem würden sie erst in den frühen Morgenstunden fertig sein. So lange sollte Akio nicht alleine sein dürfen. War so oder so ein Wunder gewesen, dass Toshiya ihn wieder bei sich haben durfte nach dem letzten Wochenende. Dafür hatte Toshiya aber auch noch mal ein ziemlich langes Telefonat mit seiner Ex-Frau gehabt. Aus diesem und auch ein paar anderen Gründen hatte sich Kyo in den letzten Tagen heimlich die Immobilienseiten in der Zeitung und dem Internet angesehen, immer auf der Suche nach einer passenden Wohnung. Bis jetzt hatte es erst eine einzige geschafft in die nähere Auswahl zu kommen. Nächste Woche wollte er sie sich auch gleich mal angucken. „Kaoru, hör auf“, nuschelte er, als selbiger keine Anstalten machte ihn von sich aus wieder los zu lassen. Jedoch war er ihm nicht einmal wirklich böse, fühlte es sich doch gerade sehr angenehm und wohltuend an. „Nein, werde ich nicht“, entgegnete der Gitarrist lächelnd. „Ich hab immer noch ein bisschen Angst, dass du dann einfach so wieder verschwindest.“ „So schnell wirst du mich schon nicht wieder los. Versprochen.“ „Gut.“ So standen sie noch eine gute weitere halbe Stunde da und genossen die Musik, während Kaoru, stolz wie Oskar persönlich, mit einer Flasche Bier in der Hand seine Lämmer beobachtete. Ja, seine Lämmer, denn bis die Vier da oben irgendwann mal erwachsen sein sollten, rein musikalisch und am Erfolg gemessen, würden sie noch einiges über sich ergehen lassen müssen. Außerdem war 'Dir en Grey' bisher seine einzigen 'Schäfchen'. Wenn er nun anfangen würde, andere Bands und ihre Mitglieder so zu nennen, würde er sich irgendwie so vorkommen, als würde er seine besten Freunde verraten. Ebenso den Wunsch wieder selbst zu spielen. „Weißt du was, Kyo?“ „Hm?“ „Ich glaube, die kleine Miyazawa-san hat ein Auge auf dich geworfen.“ Mit einem breiten Grinsen stand Kaoru da, starrte auf die Bühne und nippte an seinem Bier. Sein Erstes an diesem Abend, wohlgemerkt. Und auch sein Einziges, schließlich musste er ja mitkriegen was dort oben vor sich ging. Völlig verwirrt sah Kyo hoch zu seinem Kumpel. „Bitte, wer?“ Er meinte zwar, den Namen am heutigen Tag irgendwo schon mal gehört hätte, aber da konnte er sich natürlich auch irren. „Na, Miyazawa Sachiko. Mensch, die Sängerin.“ „Ach so?“ Nun richtig durcheinander sah Kyo wieder zur Bühne und die junge Frau an, wie sie dort über die Bühne tanzte und kraftvoll ihre Zeilen sang. Schlecht sah sie nicht aus, mit ihrem braun-blond und eine gute Figur hatte sie, aber warum sollte die sich ausgerechnet für ihn interessieren? Das ergab keinen Sinn. Die war doch mit Sicherheit erst halb so alt wie er. Nein, er könnte sogar ihr Vater sein, wenn er sich nicht komplett blöde angestellt hätte. Womit er wieder bei den Gedanken von vor einer halben Stunde angekommen. Ein Seufzer seinerseits. „Was? Sie ist hübsch. Und seit sie hier ist, wirft sie dir immer wieder verstohlene Blicke zu. Du wirst mir doch nicht allen ernstes sagen wollen, dass dir das noch nicht aufgefallen ist?“ „Ähm, doch?“ Lachend warf Kaoru den Kopf in den Nacken. Der Kleinere war wirklich herzallerliebst heute. Aber sollte Sachiko wirklich was für den ehemaligen Sänger übrig haben, wäre das gar nicht mal so verkehrt. Mit Sicherheit wäre es sogar mehr als nur hilfreich, denn es würde dem Jüngeren einen Weg aus seinem Schneckenhaus zeigen und ihm wieder Selbstbewusstsein geben. Was dieser schwer nötig hatte. Kapitel 13: Sehnsucht und Verlangen ----------------------------------- „Nein, ich werde den Song heute Abend nicht singen!“, ertönte es lautstark aus der Garderobe. Kaoru, der vor der Tür stand und eigentlich durch selbige hatte gehen wollen, stockte und runzelte die Stirn. Was ging denn da drinnen ab? Seit wann hatte die kleine Miyazawa-san solche Starallüren drauf? Seufzend betrat er den Raum und musste sich ansehen, wie die drei jungen Männer der Band auf sie einredeten, sie aber nur mit verschränkten Armen auf einem der Stühle saß und auf Durchzug geschaltet hatte. „Wieso denn auf einmal nicht? Es steht schon seit Wochen fest, dass wir 'The Final' als Abschlusslied nehmen.“ Naoki, der Drummer, war schon am Verzweifeln. Wenn nicht bald etwas passierte, dann würde er sich sämtliche Haare raus reißen. Und das, wo er doch so viel Arbeit in sie hinein steckte. Mit einem ernsten Gesicht beugte sich Youdai, der Gitarrist, zu der Sängerin hinunter, stützte sich rechts und links von ihr auf den Armlehnen ab. „Du liebst dieses Lied. Und auch, wenn wir es nur covern, ist es eines unserer Besten. Außerdem haben wir doch das Einverständnis von Niikura-san und seinen Freunden bekommen.“ „Ganz recht“, meldete sich Kaoru zu Wort und trat näher. „Also, warum willst du es nicht mehr singen? Immerhin hat er recht. Ihr könnt dieses Lied sehr gut spielen. Und bei der Besprechung für die Setlist des heutigen Abends, warst du noch Feuer und Flamme und wolltest es unbedingt dabei haben. Was ist also das Problem?“ Die junge Frau fing an auf ihrer Unterlippe herum zu kauen. Es war ihr wohl unangenehm, den Grund zu sagen. Zumal sie sich auch äußerst kindisch anstellte. Ächzend kniete sich Kaoru neben sie. Die berüchtigten alten Knochen. „Hättest du denn zumindest eine Idee, was ihr stattdessen als Abschluss spielen könntet?“ Obwohl er nun wirklich nicht begeistert davon war, dass nicht alles nach Plan lief. Nach kurzem zögern, schüttelte sie den Kopf. „Dann werdet ihr 'The Final' spielen.“ „Nein!“ Allmählich wurde es Naoki zu viel. Als Leader der Band musste man sich auch nicht alles gefallen lassen. Das hatte er von Kaoru gelernt. „Dann sag uns halt warum du das Lied nicht singen willst!“ Frustriert seufzte er auf. „Du bist gerade drauf und dran uns alles zu verbauen, ist dir das klar?“ „Ja...aber-“ „Aber was?“ Schüchtern sah Sachiko zu Boden, begann mit ihrem Fuß Kreise auf diesen zu malen. Youdai verschränkte die Arme, baute sich mit seinen beiden Freunden vor ihr auf. „Es ist wegen Kyo-san.“ Ihren Kollegen und auch Kaoru stand plötzlich ein großes Fragezeichen im Gesicht. Bis: „Wegen mir?“ Erschrocken drehte sich Kaoru um. „Wann bist du denn hereingekommen?“ „Jetzt gerade. Ich sollte noch was zu trinken herbringen.“ Ein wenig hilflos hob Kyo das Tablett mit den Wasserflaschen an, um Kaoru zu zeigen, dass seine Aussage stimmte. Er ging ein paar Schritte auf die kleine Menschenmenge zu und sah die Sängerin an, fragte sie: „Warum möchtest du unser 'The Final' nicht singen?“ Ihre Wangen verfärbten sich rot unter der ganzen Schminke und sie hatte Mühe ein paar Worte heraus zu bringen. „Weil... weil Sie da sind.“ „Oh“, war alles, was Kyo dazu einfiel. Er stellte das Tablett auf den Tisch. „Dann werde ich Toshiya und Die mal fragen, ob ich nicht bis nach dem Konzert weg bleiben kann. Wenn ich nicht da bin, dann kannst du es doch singen, oder?“ Kyo hatte ja geahnt, dass dieser Abend schwierig werden würde. Alleine schon wegen der vielen Menschen und weil er nicht so viel Ahnung von der Arbeit auf der anderen Seite der Bühne hatte. Aber dass er jemanden dadurch behinderte, das zu tun, was dieser Person am Herzen lag und dadurch auch die mögliche Karriere verhinderte, indem er einfach da war, damit hatte er, zumindest nicht in diesem Ausmaß, gerechnet. Und er hätte doch noch in seiner Zelle bleiben sollen. Er dreht sich gerade zum gehen um, ignorierte, dass Kaoru ihn aufhalten wollte, als Sachiko aufsprang und: „Nein!“ rief. Mit großen Augen wurde sie angesehen. „Aber... ich dachte... Ich verstehe nicht.“ Beschämt über sich selbst senkte die Sängerin ihren Kopf. „Es geht nur darum... Wenn sie dabei sind, dann... ich trau mich einfach nicht.“ Ihren Bandkollegen stand der Mund offen. Hatte jemand einen Karpfenteich bestellt? Nach einem kurzen Moment der weiteren Verwirrung, fasste sich Kaoru wieder. „Aber ich hab euch das Lied schon so oft spielen und dich dieses Lied so oft singen hören.“ 'Nicht zuletzt, weil ich euch dazu gebracht habe', fügte er gedanklich hinzu. Schließlich würde er niemanden eines ihrer Babys öffentlich und unter seiner Aufsicht spielen lassen, wenn er sich nicht sicher sein konnte, dass es perfekt war. Aber perfekt war es eben leider doch nur, wenn Kyo es sang... „Kaoru-san hat recht“, meldete sich auch endlich mal Kanade, der Bassist zu Wort und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du kannst es doch. Da brauchst du nun wirklich keine Angst haben.“ Schweigend musterte Kyo das „Mädchen“, welches sie durch ihre Jugend in seinen Augen noch war. Wenn Kaoru schon sagte, dass sie gut waren, dann konnte man das beruhigt glauben. So etwas sagte der nicht einfach so. „Ich glaube, ich verstehe, warum du nicht singen magst, wenn ich da bin.“ Ertappt zuckte sie zusammen. „Du magst es nicht singen, weil es mein Lied ist, nicht wahr?“ „Ist das wahr, Sachiko?“ Sie nickte dem Drummer zu und Kaoru fing an zu lächeln. „Das hättest du auch sagen können, anstatt hier so ein Theater zu veranstalten. Das ist immerhin nichts, was dir peinlich sein muss.“ Und schon fand sie sich in einer väterlichen Umarmung wieder. „Kaoru, du wirst allmählich weich.“ „Was war das?“, gespielt verärgert sah er seinen jüngeren Freund an. „Wenn du nicht aufpasst, dann werde ich dich gleich umarmen.“ Mit Freude nahm er war, wie der Andere sich versteifte. Genauso freute er sich über die versuchten bösen Blicke. In solchen Momenten blitzte dann immer das Warumono auf. Ein kleines Zeichen dafür, dass Kyo sich wieder normalisierte. Dann aber zog er sich wieder zurück. Nach innen. Derweil fuhr sich Youdai gestresst und seufzen durch die Haare: „Und jetzt? Wenn Sachiko es nicht schafft 'The Final' zu singen, solange Kyo-san anwesend ist und uns keine Alternative einfällt, dann wird das gleich echt blamabel.“ „Jap, zumal wir nur noch drei Minuten Pause haben.“ Auch der jüngere Bandleader wusste gerade nicht mehr weiter. Wie sollten sie einen guten Eindruck bei diesem Auftritt hinterlassen, wenn sie nicht alle ihre Trümpfe ausspielten? Und was würde erst Kaoru-san von ihnen denken, wenn sie das jetzt hier vermasselten? Noch sah er nicht wütend oder sauer oder sonst etwas aus, aber er war auch sehr gut darin, dergleichen zu verstecken, nur um dann mit aller Wucht zu explodieren. Und während er seinen Gedanken nach hing, diskutierten seine drei Kollegen angeregt darüber, welches Lied man nun als Ende nehmen konnte. „Sing es.“ Ein kollektives: „Nani?“ „Sing es. Bitte“, wiederholte Kyo und sah Sachiko nachdrücklich an, wobei es in seinen Augen freudig glitzerte. „Ich würde mich freuen, wenn ihr es spielen würdet. Ich möchte es gerne hören.“ Von ihren Gefühlen völlig überrumpelt, eine Mischung aus Freude, Überraschung und Ehrfurcht, stammelte sie: „Wenn... Wenn Sie damit einverstanden sind“, sie fing an zu strahlen, „dann singe ich es sehr gerne.“ Gebannt stand Kyo hinter der Theke und starrte zur Bühne. Laut Kaoru standen nach der Pause nur noch drei Lieder auf der Liste, das letzte davon 'The Final'. Gerade hörte er den letzten Takten des zweiten Songs zu. Innerlich wurde er ganz kribbelig. Es fühlte sich ein wenig an wie Lampenfieber. Er trat von einem Fuß auf den anderen und ohne es zu merken, machte Nobu einfach mit. Hatte gerade nichts besseres zu tun. Außerdem war 'still stehen' nicht gerade seine beste Disziplin. Die trat von hinten an die beiden Kleineren heran, legte jedem eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen: „Spart euch eure Energie. Die Nacht ist noch lang.“ „Aber ich hüpfe doch nur, weil Kyo-kun nicht still halten kann.“ Die grinste: „Du kannst nie still halten, Nobu.“ Er wuschelte ihm durchs Haar. „Und warum bist du so nervös, Kyo?“ Kyo kam gar nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn in dem Moment bekam Die die Antwort praktisch auf dem Silbertablett serviert: Die ersten Töne von 'The Final'. Er schloss die Augen, erinnerte sich daran, wie sie früher dieses Lied gespielt hatten und konnte nicht verhindern, dass seine Finger sich so bewegten, als hätte er seine Gitarre in seinen Händen. Natürlich hatte Kyo erwartet, dass sich das Lied anders anhören würde. Allein schon, weil es eine Frauenstimme war, die den Text sang. Aber da oben waren nur drei Leute, die ein Instrument spielten und der Song war nun einmal für zwei Gitarren konzipiert. Doch anscheinend war Sachiko vielseitig, denn sie hielt nun ebenfalls ein Instrument in den Händen. Und wenn er die Bewegungen ihrer Hände, mit denen seines Freundes hinter sich verglich, war es definitiv dessen Part. Unentwegt betrachtete er die Bühne, fühlte von Note zu Note mehr, wie sein Herz immer schwerer zu werden schien. So schwer wie sein Seufzen. Tief in ihm drin begann etwas zu erwachen, zu keimen. Das Lied gehörte ihm. War aus ihm, seinen Gefühlen und der Hilfe seiner besten Freunde entstanden. Wenn einer das Recht hatte es zu singen, dann doch wohl er, nicht wahr? Dort oben wollte er wieder hin. Nicht des Ruhmes wegen. Sondern wegen des Lichtes. Des reinen, strahlenden Lichtes. Und dem Gefühl der Befreiung. Dem losgelöst sein. In ihm erblühte der Wunsch dort oben zu stehen. Bekräftigt durch das Spiel seiner Freunde, die hinter ihm standen und ihm mit den Klängen, den sie ihren Instrumenten entlockten, den Rücken stärkten. Kapitel 14: Laufen lernen ------------------------- Das Konzert war bereits seit etwa einer Stunde zu Ende, doch der Laden war noch immer gut gefüllt. Die Gäste unterhielten sich angeregt mit der Band und feierten einfach den Abend. All dass bekam Kyo allerdings nur am Rande mit. Seit dem er 'The Final' gehört hatte, war ihm, als würde die Bühne versuchen ihn zu hypnotisieren und dadurch auf sie zu locken. Selbst als Nobu sich an ihn hängte und ungestraft herzte, schwirrte nichts anderes als diese Bühne durch seinen Kopf. Das Mikrofon schrie geradezu nach ihm. Wenn das Scheinwerferlicht doch wirklich eine reinigende Wirkung hätte... Nicht eine Sekunde würde er mehr zögern, dort hoch springen und sich alles von der Seele singen, schreien. „Was ist, Kyo-kun?“, versuchte Nobu ihn in ein Gespräch zu verwickeln, denn dessen, beinahe schon lethargisches, Verhalten war einfach zu seltsam. Sogar für einen wie Kyo. „Hey, was hältst du davon, wenn wir mal sowas wie einen Karaokeabend veranstalten? Wäre das nicht toll?“ Er stupste dem Schwarzhaarigen in die Seite, wollte eine Antwort von ihm hören. „Sag schon, was hältst du von meiner Idee?“ Kyo jedoch löste sich von dem fröhlichen Anhängsel und trat geradewegs auf das Podest zu. Noch immer hypnotisiert von dem Mikrofon und der Melodie in seinem Kopf. Angetrieben von seinem Herzen, welches die Worte schon bereit gelegt hatte. Die, Kaoru und Toshiya hielten in ihrem Tun inne und starrten ungläubig, beinahe fassungslos dem Freund nach, wie er sich auf die Bühne stellte. Auf den Platz, wo vor kurzem noch Sachiko gestanden hatte. Nach und nach wurde es still in dem Laden und alle Augen richteten sich auf Kyo. Seine allerdings konzentrierten sich nur auf das Mikrofon. In seinem Inneren erklang 'The Final', auf seiner Zunge tummelten sich bereits die Worte, drängten nach draußen. In seiner Brust schwoll sein Herz an, schlug gegen die Ketten an, in denen es seit dem Vorfall gefangen war. Es wünschte sich zu singen. Wünschte sich endlich all den Schmerz seiner geschundenen Seele hinaus zu schreien. Es zwang seinen Besitzer regelrecht dazu es zu tun, in dem es immer heftiger schlug und immer schwerer wurde. Abseits der Bühne konnten seine drei besten Freunde noch immer nicht glauben, was sich dort für ein Bild bot. Seinen Blick nicht abwendend, gab Kaoru einem Techniker ein kleines Zeichen, woraufhin dieser den Scheinwerfer anmachte, der auf die Position der Sängerin eingestellt worden war. Kurz zuckte Kyo zusammen, kam es doch überraschend, schien es dann aber zu genießen, richtig darin aufzugehen. Toshiya kam währenddessen nicht umhin ein Foto mit seinem Handy zu machen, sonst glaubte Shinya ihnen die Geschichte nicht oder schmollte, weil er nichts gesehen hatte. „Kaoru?“ „Hai?“ Die fing an zu zittern, genauso wie der Jüngere dort oben. „Wir müssen ihn da runter holen. Er kann das noch nicht.“ Kurz, tonlos und auch ein wenig sarkastisch lachte Kaoru auf. „Wer hat mich denn letztens angebrüllt, dass Kyo gefälligst wieder auf die Bühne zu gehen hat? Dass er wieder singen soll?“ Natürlich war ihm nicht entgangen, wie Kyo mit sich haderte. Wenn sie Pech hatten, dann brach der Kleinere gleich zusammen. Oder aber Glück und er fand wieder zu sich selbst zurück. „Bitte. Bitte, lass mich ihn da runter holen. Er leidet.“ „Nur einen Moment noch.“ Nur so lange es noch dieses kleine bisschen Hoffnung gab, dass es sich zum Positiven wenden konnte. Sie durften nur nicht diesen einen Moment verpassen, in dem es schief ging. Als das Zittern des Sängers jedoch stärker wurde, er anfing zu schwanken und sich fest in seine Haare krallte, stürmte Die auf das Podest zu und erreichte den Jüngeren in dem Moment, als er ohnmächtig wurde. Sofort ging das Licht wieder aus und Bewegung kam in die Menge. Viele der anwesenden Gäste kannten die Musik von Dir en Grey. Nicht zuletzt, weil ihr Erfolg auf der ganzen Welt Ansporn und Vorbild für so viele neue Musiker gewesen war. So auch für die Band um die junge Sachiko, 'Sugar Nightmare'. Warum sonst hätten sie eines der Lieder von ihnen in ihr Programm aufnehmen sollen? Während Die, mit Hilfe von Keisuke, Kyo nach hinten in die Garderobe trug, gefolgt von seinen beiden Freunden, sowie der Band, fing es an zu blitzen. Sie hatten ja völlig vergessen, dass einige Reporter und Fotografen anwesend waren, um von dem Konzert zu berichten und so die Popularität der drei Jungs und Sachiko zu steigern. Wenn die schon Fotos schossen, konnte man davon ausgehen, dass es ihnen auch eine Erwähnung oder gar einen eigenständigen Artikel wert war. In der Garderobe wurde Kyo erst einmal auf das Sofa gelegt. Toshiya eilte gleich wieder nach vorne, um dafür zu sorgen, dass sich alles wieder beruhigte und der Rest der Veranstaltung nicht den Bach runter ging. Schließlich sollte diese wegen der Musik und der Band in den Köpfen der Menschen hängen bleiben. Derweil kam Kyo bereits wieder zu sich. „Alles in Ordnung?“, wurde er auch gleich von Dai gefragt, der sich am Kopfende des Möbels hin gehockt hatte. Ihm war eben das Herz ganz schön tief in die Hose gerutscht, als der Andere einfach zusammen gebrochen war. Dieser brauchte jetzt erst einen Moment, um sich wieder vollends zu fassen, bevor er die an ihn gerichtete Frage mit einem Nicken beantwortete. Kaoru kniete sich neben das Sofa, musterte Kyo besorgt. „Was war denn los?“ Mit zittriger Stimme fing dieser an zu erzählen: „Ich wollte singen. So gerne wieder singen.“ Seine Augen bekamen einen sehnsüchtigen Blick, während er sich ans Herz fasste. Ganz, als wolle er verhindern, dass es wegen des Fehlschlages aus der Brust sprang oder gar zerbrach. „Beinahe hätte ich es getan. Und als der Scheinwerfer anging... Für einen Moment habe ich mich wieder so lebendig gefühlt, wie schon seit Jahren nicht mehr. Und so leicht. Frei von allen Sorgen, von jedweder Last.“ Die Erinnerung an diesen Moment tat ihm schon fast weh. „Aber dann war mir so, als stünde sie in der Menge. Genau vor mir. Sie zeigte anklagend auf mich und schrie mir entgegen: Mörder! Da konnte ich nicht mehr.“ Ein Schluchzen unterdrückend, schlug er die Hände vors Gesicht. Mitfühlend legte Die ihm eine Hand auf den Oberschenkel, kämpfte selbst ein wenig mit den Tränen. Was Kyo da sagte, wie er es sagte, das klang schon fast so poetisch wie von dem alten Kyo. „Du warst noch nicht so weit. Schon gar nicht mit Publikum.“ „Können wir irgendetwas tun?“, erkundigte sich Sachiko und sah von Kyo zu Kaoru. Dieser schüttelte jedoch nur den Kopf. „Das einzige , was ihr im Moment tun könnt, ist da wieder raus zu gehen und dafür zu sorgen, dass ihr wieder zum Mittelpunkt des Abends werdet. Sonst wäre das alles hier doch umsonst gewesen.“ Die Vier nickten und verließen, ein wenig betrübt, den Raum. „Ich sollte auch wieder zur Theke. Nobu-kun, Haraide und Toshiya- Sie brauchen mit Sicherheit Hilfe.“ „Nein, du bleibst hier“, widersprach Die vehement und drückte Kyo, der halb aufgestanden war wieder aufs Sofa zurück. „Wenn du jetzt nach vorne gehst, ziehst du die ganze Aufmerksamkeit auf dich. Du bist doch nur ungern im Mittelpunkt. Nicht wahr?“ Daraufhin nickte Kyo. Nein, im Mittelpunkt stehen war gerade das Letzte, was er wollte. Jedoch wollte er auch nicht, dass seine neuen Arbeitskollegen dachte, dass er eine Sonderbehandlung benötigte. Schließlich war es ja seine eigene Dummheit gewesen, die ihn in diese Situation gebracht hatte. „Tut mir Leid, Die.“ „Mach dir keine Vorwürfe. Ich müsste zwar lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich nicht gefreut hätte, wenn du wirklich gesungen hättest, aber ich freue mich auch schon darüber, dass du es zumindest versucht hast.“ Er schenkte dem Jüngeren ein aufmunterndes Lächeln, welches schwach erwidert wurde. „So, du bleibst jetzt hier sitzen und erholst dich erst einmal. Alles weitere kannst du ruhig uns überlassen.“ Doch der Kleinere schüttelte energisch den Kopf. „Ich will hier nicht einfach nur rum sitzen. Ihr habt schon so viel für mich getan. Das kann ich jetzt schon nicht mehr gut machen.“ Kaoru setzte sich neben Kyo und legte ihm einen Arm um die Schulter und drückte diesen ein wenig an sich. „Freunde können niemals zu viel füreinander tun. Kein Grund also, sich wegen irgendetwas verrückt zu machen. Immerhin würdest du uns doch auch helfen, hab ich recht?“ Ein zustimmendes Nicken. „Dann ist ja alles in Ordnung.“ Er stand auf, um mit Die wieder in den vorderen Teil des Ladens zu gehen, als der ehemalige Sänger sie noch mal aufhielt: „Sag, Kaoru: Wie viele Glückskekse musstest du essen, um so einen Spruch zu finden?“ „Stell dir vor, Warumono“, grinste Kaoru, „dafür musste nicht ein einziger sein Leben lassen.“ Es war reichlich spät, als sie endlich ganz zu machen konnten. Die Besucher hatten einiges an Chaos hinterlassen. Welches erst beseitigt wurde, wenn sie ein wenig geschlafen hatten. Zumindest was die Feinarbeiten anging. Zerbrochene Gläser und herrenlose Getränkeflaschen wurden allerdings jetzt schon weggeräumt, damit es später nicht ganz so viel wurde. Man verabredete sich für 10 Uhr in der Frühe, dann hatten auch die Techniker, die die Nacht über bleiben und das Bühnenequipment abbauen würden, genügend Zeit, um ihr Pensum zu erreichen. Akio blieb den Rest der Nacht über bei Die und dessen Verlobten. Wäre ja auch irrsinnig gewesen, den armen Jungen jetzt zu wecken. In der Wohnung von Toshiya angekommen, ging Kyo auch gleich in sein Zimmer, wünschte dem Bassisten, der Richtung Bad verschwand, vorher noch eine gute Nacht und setzte sich an den provisorischen Schreibtisch. Dort knipste er die kleine Lampe an und widmete sich dem schwarzen Notizbuch, um seine wirren Gedanken nieder zu schreiben und zu ordnen. Wie früher. Aus einer Schublade des Rollcontainers, den er früher schon im Arbeitszimmer stehen hatte, holte er seinen alten mp3-Player hervor. Darauf waren viele ihrer alten Songs gespeichert. Darum hatte er Toshiya gebeten, auch wenn dessen Computer leichte Schwierigkeiten wegen der veralteten Technik hatte. Aber er hing nun mal irgendwie an dem Ding, weswegen er auch den Vorschlag vorerst abgewiesen hatte sich ein neueres Modell zuzulegen. Je ein Ende der Kopfhörer fand seinen Platz in einem Ohr, dann schaltete er den Player an und suchte ihr 'The Final' heraus. Beinahe genießend schloss er die Augen und lehnte den Kopf nach hinten. Ja, genau so musste sich das Lied anhören. So und nicht anders. Kyo öffnete wieder die Augen und rief sich den Moment auf der Bühne in Erinnerung. Für einen kleinen Augenblick waren die vergangenen 15 Jahre wie weggefegt. Ausradiert. Aber dann hatte er ihre Stimme gehört und kurz darauf ihr blutiges Gesicht. Das war es dann gewesen mit der Leichtigkeit und er hatte sich wieder wie damals gefühlt, als er sich in seiner Wohnung eingeschlossen und geschworen hatte, sich dort nie wieder hinaus zu wagen. Würde er denn jemals dazu in der Lage sein, sich vergeben zu können? Es tat ihm noch immer Leid, dass er so gehandelt hatte und dafür gebüßt hatte er ja. Doch in ihm drin nagte noch immer das schlechte Gewissen. Wie hatten es nur all diese Schwerverbrecher geschafft ihren Verstand zu behalten? Nein, besser er wusste es nicht. Er wollte keinen Einblick in den kranken Kopf eines skrupellosen Mörders. So ein grausames Monster war er dann doch nicht. Das Lied fand sein Ende, woraufhin Kyo das Gerät und anschließend die Lampe ausmachte und ersteres wieder in der Schublade verstaute. Danach entledigte er sich seines Shirts und seiner Hose, warf beides achtlos auf den Boden. Völlig müde kroch er unter die Decke und verdrängte das Bild von Ayaka, um einigermaßen ungestört einschlafen zu können. Was sich dann aber doch als schwieriger erwies, als gedacht. Denn in seinem Kopf hörte er immer wieder ihre Stimme widerhallen, die ihn dazu brachte sich unruhig von einer Seite zur anderen zu wälzen. Kapitel 15: Glockenläuten ------------------------- Alles wieder so herzurichten, wie vor dem Konzert, war einfacher, als anders herum. Trotz dem Staubsaugen und Wischen. Und mit vereinten Kräften waren sogar die schwereren Instrumente ein Kinderspiel. Zudem waren ja die Techniker und die ganze Elektrik für die Bühne nicht mehr da, da ja alles noch in der Nacht abgebaut worden war. Das ging aber auch nur, weil Kaoru persönlich aufpasste und der Laden somit in vertrauensvollen Händen war. Am frühen Nachmittag, nachdem alles wieder da war wo es sein sollte und auch alles wieder sauber war, hatten sich die Männer in den Aufenthaltsraum zurückgezogen und genossen eine Tasse Kaffee. „Wo ist eigentlich Nobu-kun?“, fragte Kyo. Es fiel ihm auch erst jetzt auf. Kein Wunder, dass es so ruhig gewesen war, während der letzten Stunden. Skeptisch sah Die zu dem Jüngeren. „Auf der Hochzeit, vielleicht?“ „Aber… ich dachte...“ „Du hast nicht zugehört, als er uns vor vier Tagen erzählt hat, dass es einen Fehler beim Drucken der Einladungen gab, was den Termin angeht. Das ganze Spektakel findet erst heute statt. Peinlich sowas, wo doch gerade bei einem Anlass wie diesem nichts schief gehen sollte.“ Kyo musste sich gestehen, dass er wirklich nicht zugehört hatte. Aber Nobu sagte über den Tag verteilt auch einfach zu viel, als dass er das alles behalten würde. Die hatte allerdings auch in dem Punkt recht, dass etwas derart peinliches, wie ein falsch gedruckter Hochzeitstermin, bei einem so großen Ereignis nicht passieren durfte. Für viele Menschen war es der Tag im Leben. Alles musste bis ins kleinste Detail perfekt sein, damit man sich noch lange daran erinnern konnte. Das hübsch hergerichtete Brautpaar, das gute Essen, die Feierlichkeit als solches. Jetzt würde allen der Druckfehler zuerst in den Sinn kommen. Irgendwie tat ihm Nobus Schwester gerade ein wenig Leid. „Hast du eigentlich jemals vor zu heiraten, Die-kun?“, fragte Keisuke. „Immerhin bist du schon fast drei Jahre mit Aimi-san verlobt.Und ihr habt die kleine Nanami.“ Ruhig nahm er einen Schluck seines Kaffees, sah Die abwartend an. Dieser grinste verlegen. „Das ging jetzt aber schon ein wenig unter die Gürtellinie.“ Er lachte kurz, bekam dann aber einen nachdenklichen, schwärmerischen Blick. „Ich würde sie schon gerne heiraten. Sie träumt da auch schon seit einer Ewigkeit von. Ganz zu schweigen von den vielen Zeitschriften mit Kleidern, die sie vor mir versteckt. Es ist nur ein wahnsinnig großer Schritt, der mir, wie ich zugeben muss, ganz schön Angst einjagt.“ „Aber, du liebst sie doch.“ Die sah Kyo an, der jedoch in seine Tasse blickte und wirkte, als würde er gerade einfach nur seine Gedanken laut aussprechen. „Liebst sie vermutlich mehr, als du glaubst oder denkst. Nie hättest du doch daran gedacht sie zu fragen, ob sie denn die deine werden will, wenn du sie nicht auch wirklich so an dich binden willst. Und euer gemeinsames Kind kann auch nicht der einzige Grund dafür sein, denn dann hättest du sie doch schon viel früher gefragt.“ Er kam ins grübeln. Bedächtig ließ Daisuke sich die Worte des Jüngeren durch den Kopf gehen und er musste zugeben: Der andere hatte Recht. Er hatte verdammt noch Mal Recht. Jeden Abend freute er sich darauf nach Hause zu kommen, das Gesicht seiner Liebsten zu sehen. Und auf den kleinen, unschuldigen Kuss, den sie sich zur Begrüßung immer gaben. Er liebte ihr Wesen, das kleine Grübchen auf ihrer Wange, welches immer dann erschien, wenn sie ihn anlachte oder lächelte. Die neckischen Haarsträhnen über ihren Ohren, die sich vorwitzig kräuselten. Und erst recht liebte er ihren süßen Schmollmund, bei dem er gar nicht anders konnte, als ihn zu küssen. Wenn man es genauer betrachtete, dann führten sie eigentlich seit etwa 8 Jahren eine Ehe ähnliche Beziehung. Warum es dann nicht endlich amtlich machen? Mit allem, was dazu gehörte. So, wie sich seine Aimi es wünschte. „Was macht dich eigentlich so sicher, Kyo, dass ich sie so sehr liebe, wie du es sagst?“ Immerhin war Kyo niemand, der eine derartige 'These' ohne Begründung aussprach. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen habend, wandte Kyo seinen Blick zu Die und antwortete: „Weil ich euch gesehen habe. Auf der Geburtstagsfeier von Shinya und als Toshiya und ich Akio zu euch gebracht haben. Bei euch beiden war so eine...“ Nein, keine rosa Wolke. Das passte nicht zu Die, den er doch immer wieder mit rot in Verbindung brachte. Es war irgendwie zu Dais Farbe geworden. Ganz allein seine. Er seufzte, suchte einen passenden Vergleich. „Eine tiefe Verbundenheit. Wie ein Puzzle aus zwei Teilen. Ihr ergebt einfach ein Ganzes. Ihr wisst, an was der Andere gerade denkt, selbst wenn ihr euch nicht direkt anseht. Wisst, was der Andere braucht, manchmal sogar bevor dieser es selbst weiß. Das ist schon... ein wenig...“, druckste er herum und nuschelte dann verlegen: „...beneidenswert.“ Wieder richtete er seinen Blick in die Tasse. Er hatte gesagt, was er los werden wollte. Jetzt musste Daisuke nur noch den für ihn richtigen Schluss ziehen. Insgeheim wünschte er sich jedoch, dass sich sein gute Freund für eine Heirat entscheiden würde, denn es würde nicht nur Aimi glücklich machen. Aber er wollte ihn auch nicht zwingen. „Und das alles hast du bemerkt, obwohl du uns noch nicht oft zusammen gesehen hast?“ Kyo zuckte mit den Schultern. „Es ist so offensichtlich, dass man schon komplett blind und gefühllos sein müsste, um das nicht mitzukriegen.“ Und das war er nicht. Er mochte zwar oft distanziert wirken, heute mehr noch als vor 20 Jahren, aber er verfolgte das Geschehen in seiner Umgebung und bekam sehr genau mit, was passierte. Von kleineren Ausnahmen abgesehen. Zudem lag ihm viel am Glück seiner Freunde. Nachdem, was er ihnen zugemutet hatte, gönnte er ihnen jedes noch so kleine bisschen. Plötzlich fing Die an zu lachen. „Wisst ihr eigentlich, was der größte Witz an der Sache ist?“ Fragend sah er in die Runde, sah sich die verwirrten Gesichter mit Genugtuung an und meinte dann: „Ich hab die Ringe seit über zweieinhalb Jahren ständig bei mir.“ „Was?!“, platzte es aus Toshiya heraus, während Haraide wie verrückt hustete, weil er sich verschluckt hatte. Keisuke und Kyo begnügten sich dagegen damit Die einfach nur verständnislos anzustarren. „Ich schaffe es nur nicht, ihr das zu sagen.“ Mit einem immer schiefer werdenden Grinsen zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete einen Reißverschluss und holte zwei funkelnde Ringe daraus hervor. „Was haltet ihr von denen?“ „Und die schleppst du schon seit einer halben Ewigkeit mit dir rum?“ Haraide schnappte sich die beiden Schmuckstücke, um sie sich genauer ansehen zu können. Vor lauter Staunen bekam er die Augen kaum zu. „Die waren doch bestimmt arschteuer, bei dem Gefunkel. Immerhin sind das schon so einige Steinchen.“ „Hey, das sind Trauringe. Da sollte man sich nicht lumpen lassen.“ Voller Stolz nahm Daisuke sein Eigentum wieder an sich. „Normalerweise macht man sowas, wenn man jemandem einen Antrag machen will, ich weiß. Das ist nur so ein wahnsinnig großer Sprung.“ Mit einem leicht traurigen Blick verstaute er beide Ringe wieder in seiner Geldbörse. Daraufhin konnte Toshiya nur die Augen verdrehen. „Wenn du so feige bist, hättest du sie gar nicht erst fragen sollen. Ganz ehrlich.“ Kopfschüttelnd stand er auf und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Wirklich Daisuke“, meldete sich Keisuke zu Wort, „mach endlich einen Termin mit ihr aus.“ „Genau“, stimmte Toshiya dem zu. „Am Besten morgen, wenn wir unseren freien Tag haben.“ Resigniert seufzte Daisuke auf. Er haderte wieder einmal mit sich selbst. Klar wollte er, aber dieses 'auf Ewig' machte ihm einfach Angst. Nicht, dass er seine Liebste nicht immer bei sich haben wollte, aber ewig war definitiv eine lange Zeit. Hilfesuchend sah er zu Kyo, der ihm nur aufmunternd zunickte. „Könntest du deine Rede von vorhin noch einmal halten?“ Kyo schmunzelte ein wenig und schüttelte den Kopf. „Du hast das eben schon richtig verstanden.“ Noch am Montagabend bekamen Kaoru, Kyo, Toshiya und Shinya einen Anruf. Sie sollten sich den 14. Juli frei halten. Komme was wolle. Denn an dem Tag wollten Die und seine Aimi es endlich tun. Sie wollten sich das Ja-Wort geben. Kapitel 16: Am Anfang anfangen ------------------------------ Ein paar Tage später... Im Laden war es weitestgehend ruhig. Die hatte sich im 2.Stock eingenistet und erfüllte das Geschäft mit sanften Gitarrenklängen. Nobu tänzelte, bewaffnet mit einem Staubwedel, durch die Gänge. Kyo saß, ein wenig gelangweilt, hinter der Kasse und sah Toshiya beim Schlafen zu. Aus dem Aufenthaltsraum kam Rika getrottet, in jeder Hand eine Kaffeetasse, wovon sie eine an den Sänger weitergab. Sie alle warteten gespannt auf Kundschaft. Nach weiteren 5 Minuten, in denen nichts weiter passiert war, hörte man plötzlich lautstark ein Schlagzeug ertönen. „Nobu!“, schrie Rika und hielt sich die Ohren zu, nachdem sie reflexartig die Tasse zur Seite gestellt hatte. „Alle wieder wach?“, grinste jener nur frech um die Ecke. „Ja!“, kam es einstimmig zurück. Toshiya, der vor Schreck von der Ladentheke gefallen war, stand, sich den Kopf reibend, wieder auf und brummelte etwas unverständliches in Nobus Richtung. Als er den Kaffee in den Händen seiner Kollegen entdeckte fing er an zu schmollen: „Und ich?“ „Du hast geschlafen. Aber es ist auch noch welcher da.“ Und schon war er verschwunden. „Hat er heute Morgen noch keinen gekriegt?“, wandte sich Rika an ihren älteren Kollegen. „Du meinst, außer der halben Kanne, die er auch sonst immer zu sich nimmt? Nein.“ „Seltsam.“ Rika nahm einen weiteren Schluck ihres Bohnengebräus. In dem Moment öffnete sich die Ladentür. Sofort richteten sich alle Augen auf die eintretende Person. Es war Sachiko, die, nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, schnurstracks auf den Tresen zu ging. „Ohayou“, grüßte sie Kyo, welcher den Gruß unsicher erwiderte und sie dann fragte: „Was kann ich für Sie tun, Miyazawa-san?“ „Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht. Haben Sie sich vom Wochenende erholt?“ „Ano...Ja, habe ich. Danke der Nachfrage.“ Warum fragte sie nur ihn? Die Anderen hier hatten mindestens ebenso, wenn nicht sogar noch mehr gearbeitet als er und waren dementsprechend erschöpft gewesen. Oder war am Ende doch etwas an Kaorus Aussage dran, dass sie 'ein Auge auf ihn geworfen' hatte? Auf jeden Fall war ihm der Wirbel um seine Person unangenehm. Meinte sie am Ende aber vielleicht seinen unfreiwilligen Auftritt? Das war seine eigene Dummheit gewesen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Schon gar nicht jemand wie sie, als Außenstehende. Zumal es ihn selbst wohl am meisten erstaunt hatte, dass er es überhaupt bis zum Mikrofon geschafft hatte. Wenn das Publikum nicht gewesen wäre... Wer weiß, wie weit es dann gekommen wäre. „Das ist schön zu hören.“ Ein erleichtertes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, was Kyo insgeheim dann doch ein bisschen freute. „Ich habe da noch was für Sie.“ „Nani?“ Sachiko öffnete ihre große Handtasche und holte ein liebevoll verpacktes Tütchen hervor. „Es sind nur Kekse, aber...“Leicht schüchtern und rötlich um die Nase hielt sie Kyo das Geschenk entgegen, welcher das Präsent ein wenig überfordert annahm. „A- Arigatou“, war alles, was er dazu erst einmal sagen konnte, wurde ebenfalls ein wenig rot. „Ich hoffe, sie schmecken Ihnen.“ Und damit war sie auch schon wieder verschwunden. Sofort hatte Kyo Nobu am Arm kleben, der mit großen, funkelnden Augen auf das Gebäck starrte, um dann dem Älteren mit einem Dackelblick direkt ins Gesicht zu sehen. Jeder war irgendwie zu erweichen. Das wusste er. „Darf ich einen?“, fragte er ganz besonders lieb und schob die Unterlippe noch weiter vor. Aber der Andere schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, sah stattdessen unschlüssig blinzelnd zwischen Tür und Präsent hin und her. „Also...das war schräg.“ Mehrfach blinzelnd nahm Rika einen Schluck Kaffee, der ihre Gedanken ordnen sollte, bekam von Kyo ein zustimmendes Nicken. Mit einem seligen Grinsen spazierte Toshiya, der von allem nichts mitbekommen hatte, hoch zu Daisuke, um sich ein wenig mit diesem zu unterhalten. Sah dann aber runter zur Kasse, weil er hörte wie ihr menschlicher Hüpfball quengelte. Er staunte nicht schlecht über die Szenerie dort: Ein eingefrorener Kyo und scheinbar fünf Nobu, die zeterten und nach einem Keks bettelten. Wo die allerdings herkamen, war ihm ein Rätsel. „Guck mal, Die. Kyo kann zaubern. Oi, Kyo! Was kriegst du außer Keksen denn noch hin?“ Die neben ihm lachte sich still ins Fäustchen, auf Grund von Toshiyas Unwissenheit. Als ihr gemeinsamer Freund dann auch noch knurrte, dass sein bester Trick ein Hörsturz deluxe sei, rutschte er vor Lachen von seinem und schnappte nach Luft. Toshiyas planloser Gesichtsausdruck war einfach zu komisch. Derweil wurde es Nobu zu bunt, so erfolglos um Kyo herum zu hüpfen. Schmollend stellte er sich neben seinen Kollegen und erklärte Toshiya, wie Kyo zu dem Naschwerk kam. „Und er will mir keinen abgeben!“ Der Sänger verdrehte die Augen. Manchmal benahm sich der Jüngere wie ein fünfjähriger. Aus einer Schublade an der Theke holte er eine Schere hervor und schnitt damit das Geschenkband durch mit dem das durchsichtige Folienpapier zusammengehalten worden war. „Da hast du einen. Bist du jetzt glücklich?“ Eine rein rhetorische Frage bei dem Leuchten in Nobus Augen. Fröhlich hüpfte er durch den Laden und rief immer wieder: „Ich hab einen Keks. Ich hab einen Keks.“ „Der geht einem manchmal echt auf den Keks“, seufzte Rika. Woraufhin Kyo leicht schmunzelnd antwortete: „Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Rika bekam auch eines von den Gebäckstücken ab. Er war ja nicht so. „Und wir?“, schallte es prompt in Stereo von oben herunter. Sich an die Beiden wendend, rief Kyo: „Kommt runter!“ Immerhin eigneten sich Kekse nicht besonders gut zum Werfen. Nachher war alles voll von verkrümelten Keksen und die Sauerei wollte er dann auch nicht weg machen. Jetzt war es aber mal an der Zeit die Dinger selbst zu probieren. Schmeckten gut. Wirklich. Ihr buntes Etwas hüpfte wieder an ihnen vorbei und Kyo musste gestehen, dass das wirklich süß aussah, wie er vor sich hin mümmelte. Fehlte eigentlich nur noch, dass er anfing zu schnurren. Nein, das wäre dann wohl doch zu viel des Guten gewesen. Als erneut die Eingangstür aufging schoss Nobu in einem Affenzahn auf den Besucher zu, fiel ihm um den Hals. Gut, jetzt durfte er wirklich anfangen zu schnurren, denn wäre er eine Mangafigur hätte er jetzt ein paar schicke Katzenohren plus Schwanz und Pfoten. Der Mann, an dem er sich fest krallte war fast einen ganzen Kopf größer als Nobu selbst und auch viel muskulöser. Seine Schultern waren so breit, dass Kyo es schon als kleines Wunder empfand, dass der Fremde damit in den dunkelblauen Anzug passte, den er trug. Das symmetrische, fein geschnittene Gesicht wurde ein wenig von einer randlosen Brille mit dünnem Gestell versteckt, hinter der sehr wache grüne Augen hervor blitzten. Das auffälligste an diesem Mann war, neben der gemusterten Krawatte, die Haarfarbe: Goldblond. Und es sah sehr stark nach Natur aus. Hätte der Fremde keine Mandelaugen gehabt, er hätte ihn für einen Europäer gehalten. Genau dieser Mann kraulte mit einem verliebten Blick und einem sanften Lächeln den Nacken von Nobu, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Hallo Maboroshi-kun.“, begrüßte Rika den Besucher und bestätigte damit die Vermutung, die Kyo bereits hatte. „Was führt dich denn hier her?“ „Ist das nicht offensichtlich? Ich hatte Sehnsucht nach meinem kleinen Kätzchen. Ihr habt ihn immerhin viel länger als ich an manchen Tagen und vom Wochenende ist ja auch nicht viel für uns geblieben.“ Besitzergreifend legte er einen Arm um Nobu, drückte ihn dadurch an sich und gab ihm zusätzlich einen leidenschaftlichen Kuss. Das hätte ihm Kyo gar nicht zugetraut, sah dieser Maboroshi trotz allem doch mehr wie ein konservativer Büromensch aus. Von oben meldete sich Dai zu Wort: „Nicht auffressen! Den brauchen wir noch.“ „Ach? Und wozu? Als Maskottchen?“ „Jep“, antwortete Toshiya grinsend. In der Zwischenzeit war Nobu, von dem ganzen Gerede unbeeindruckt - entweder er ignorierte es gekonnt oder es kümmerte ihn wirklich nicht, was andere über ihn sagten - wieder zu Kyo gehüpft und sah diesen mit bettelndem Blick an. Es dauerte auch nicht lange und der Andere hatte sich erweichen lassen, hielt ihm einen weiteren Keks unter die Nase, in welchen das 'Kätzchen' gleich biss. Glücklich über die 'Beute' zog es ihn zwischen die Regale, damit ihm auch ja niemand das Errungene wieder wegnehmen konnte. „Wenn der weiter so viele Süßigkeiten futtert, dann brauche ich ihn nicht mehr zum Mittagessen mitnehmen.“ Kopfschüttelnd, aber mit einem Lachen ging er weiter auf die Theke zu. Sein Kätzchen würde früher oder später den Weg hierher zurückfinden. Deshalb wandte er sich etwas weitaus Wichtigerem zu. Dem kleineren, schwarzhaarigen Mann, den er noch nicht kannte. „Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Watashi wa Otashi Maboroshi desu.“ Er deutete, wie es sich gehörte, eine Verbeugung an, musterte seinen Gegenüber, welcher sich nun ebenfalls vorstellte. „Ah, Sie sind also Kyo-san. Seit zwei Wochen erzählt er fast nur von Ihnen .“ Der Ältere wurde rot um die Nase. Auch, wenn es ihn ein wenig ehrte, dass Nobu scheinbar so viel von ihm hielt, es war ihm unangenehm zu hören, dass man über ihn redete... „Mein Nobu scheint Sie jedenfalls richtig gern zu haben. So sehr, dass ich schon fast ein wenig neidisch bin.“ Ein wenig geschockt blickte Kyo dem Größeren ins Gesicht. „Da gibt es wirklich nichts, weshalb Sie neidisch sein müssten. Nobu-kun ist...“ Wie hieß das Wort, das er gleich suchte? „Nobu ist vielmehr wie ein kleiner Bruder für mich.“ Ja, das traf den Nagel auf den Kopf. 'Bruder'. Denn mit seiner kindlichen Art hatte es das liebenswert, verrückte Etwas sich direkt in Kyos Herz gewirbelt und dort ein wenig Wärme verbreitet. Und gerade wegen diesem kindlichen war er eben wie ein kleiner Bruder für den ehemaligen Sänger geworden. Bei ihm machte es Kyo nicht einmal etwas aus, dass der Jüngere ein wenig zu ihm aufzusehen schien. Zumindest kam es ihm hin und wieder so vor. „Nobu ist ein großartiger Mensch.“ Wissend lächelnd nickte Maboroshi und sah sich nach seinem Uke um. „Nobu?“ „Hai?“, hörte man und sah kurz darauf den dazugehörigen Kopf hinter einem Regal hervorschauen. „Wollen wir zusammen Mittag essen?“ „Was denn?“ „Darfst du dir aussuchen.“ „Takoyaki.“ Seine Augen glitzerten plötzlich wie ein ganzer Sternenhimmel in einer klaren Nacht. Einladend hielt ihm sein Lebensgefährte die Hand hin, welche auch sogleich ergriffen wurde. Sein Schatz wusste, womit man ihn glücklich machen konnte. Es folgte eine kurze Verabschiedung, woraufhin sich das Paar auf den Weg nach draußen machte. „Ach, Otashi-kun?“, hielt Toshiya die beiden nochmal zurück. „Da gibt es etwas, was ich dich eigentlich schon lange mal gefragt haben wollte.“ „Und das wäre?“ Jetzt war der Größere aber gespannt. Ebenso alle anderen im Laden. Bis auf Nobu, der hatte sein Essen im Sinn. Die jedoch sah sich schon mal nach etwas um, dass er dem Jüngeren bedenkenlos an den Schädel werfen konnte, da er so ein ungutes Gefühl in der Magengegend hatte. „Naja“, fing der Übeltäter für Daisukes dumpfes Gefühl auch endlich mal an, „Nobu ist ja immer so hyperaktiv. Der sprudelt ja den ganzen Tag über vor Energie. Was nichts schlechtes ist, aber dennoch... Ich würde gerne wissen, ob es bei ihm eine Möglichkeit gibt, den mal für eine Minute ruhig zu stellen. So einen Knopf mit dem man ihn einfach mal etwas runter fahren kann.“ „Da muss ich dich leider enttäuschen, Hara-kun.“ Schelmisch grinsend lächelte er nach oben. „Ich kenne leider nur den zum lauter machen. Obwohl er danach wirklich ein wenig ruhiger werden kann.“ Mit einem zweideutigen Augenzwinkern wandte er sich wieder an sein Kätzchen, welches nach Takoyaki bettelte. Liebevoll strich er ihm über den seidigen Haarschopf. „Aishiteru.“ „Mo“, hauchte Nobu und verschloss seine Lippen mit denen seines Liebsten. „Ach, sind die Beiden süß“, schmachtete Rika und sah die beiden verträumt an. Kyo nuschelte nur ein: „Wenn du meinst.“ und knusperte am nächsten Keks. Sachiko sollte nicht die Einzige an diesem Tag sein, die dem Laden nur aus einem Grund einen Besuch abstatte. Völlig ratlos saß Kyo kurz vor Feierabend im Aufenthaltsraum, auf dem Tisch vor ihm ein Berg aus kleinen Päckchen. Teils gefüllt mit Gebäck, teils mit anderen selbstgemachten Sachen. Alles für ihn. Wirklich realisiert hatte er das noch nicht. Bei manchen war sogar noch ein Kärtchen bei, mit aufmunternden Worten für ihn. „Ich verstehe das nicht. Warum sind die alle so besorgt um mich? Dabei habe ich es doch noch nicht einmal geschafft einen Ton raus zubringen. Und außerdem-“ „Jetzt hör schon auf“, fuhr Die ihm dazwischen. „Jeder andere wäre überglücklich, wenn er gerade mal halb so viele Geschenke bekommen würde. Und du nörgelst hier herum. Also wirklich.“ „Es ist doch nur, weil... und ich war doch... weil ich... Ich kann es nur nicht verstehen.“ Liebevoll strich der Gitarrist im vorbei gehen über die schwarzen Haare des Sängers. „Mach dir nicht so viele Gedanken darüber.“ „Freu dich lieber“, meinte Nobu strahlend. „Da sind so“, er breitete die Arme aus, „viele die dich mögen. Die wollen, dass es dir gut geht. Und überhaupt: Wie kann man sich nicht über Geschenke freuen?“ Ein Ding der Unmöglichkeit, wie die Jüngste im Bunde fand. Resigniert seufzte der Beschenkte auf. Er konnte es nicht nachvollziehen. Da war irgendeine Blockade in seinem Denken, die verhinderte, dass es 'klick' machte und sich ihm praktisch das Wissen über das 'Warum?' in die Arme flog. „Dennoch: Ich habe es nicht geschafft zu singen. Das Ganze war lediglich ein missglückter Versuch von etwas, was ich seit vielen Jahren nicht mehr gemacht habe. Von dem ich nicht einmal mehr weiß, ob ich es noch kann.“ Verzweifelt sah er in eines der Kärtchen, welches vor seiner Nase baumelte. 'Ich hoffe, dass du deine Stimme wieder findest' stand darin. „Warum will mich nur jeder wieder singen hören?“ „Weil du es kannst! Bei allen Göttern, weil du es kannst! Unser Erfolg damals basierte nicht zuletzt auf deiner gefühlvollen Singstimme. Kapierst du es endlich?“ Daisuke war der Kragen geplatzt. Die Antwort war doch so offensichtlich. Für jeden von ihnen. Natürlich nur nicht für Kyo. Wutentbrannt hatte er den Jüngeren samt Stuhl zu sich gedreht, sich rechts und links von ihm abgestützt und ihm direkt in die Augen gesehen, während er sprach. „Warum geht das nicht in deinen Dickschädel?“, fuhr Die in einem weitaus sanfteren Ton fort. „Sie wollen deine Stimme hören. Dass du im Gefängnis gesessen hast ist ihnen egal. Ja, geradezu unwichtig. Deine Tat war schlimm, keine Frage. Aber sie vermissen es dich zu hören.“ Kyo erwiderte Daisuke eindringlichen Blick, war gerührt und überwältigt von der tiefen Überzeugung, die in dessen Stimme lag. „Denk darüber nach“, schmunzelte der Gitarrist und klopfte zuversichtlich auf die Schulter des Freundes. „Ich mach mich dann mal auf den Heimweg. Meine beiden Damen warten sicher schon auf mich.“ Nach und nach verabschiedeten sich alle voneinander. Zuletzt blieben nur noch Kyo und Toshiya, die, nachdem sie alle Präsente im Wagen verstaut hatten, den Laden abschlossen, ehe auch sie sich auf den Weg nach Hause machten, wo Toshiya ihnen noch ein kleines Abendessen zauberte. Eine warme Mahlzeit am Tage musste einfach sein, seiner Meinung nach. Nach dem wenigen Abwasch gingen beide zu Bett, um für den nächsten Tag wieder fit zu sein. Nur dass Kyo das Einschlafen wieder einmal schwer fiel. Er dachte zu viel nach, wie er sich eingestehen musste. Aber wenn einem der Kopf drohte auf Grund vieler Fragen zu platzen, dann war es doch besser, wenn man über sie und ihre Antworten nachdachte, damit sie abgeheftet und weggeräumt werden konnte. Gebannt sah er auf den Geschenkeberg, versuchte diesen zu hypnotisieren, damit er endlich Antworten bekam. Nach einer Weile war ihm jedoch, als würden die kleinen Päckchen versuchen den Spieß umzudrehen. So, als würden sie nun versuchen ihm ihren Willen aufzudrängen, in dem sie immer wieder nur ein Wort von sich gaben. Wie einen monotonen Singsang. Beschwörend, wie ein Mantra: „Sing.“ Urplötzlich erhob sich Kyo von seinem Bett, verließ das Zimmer, nur um geradewegs zu dem von Toshiya zu gehen. Die Tür zum Schlafzimmer wirkte auf ihn wie eine gewaltige Wand, die ihn und sein Temperament bremsten. Allerdings auch seine Entschlossenheit und er fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleiner Junge, der aus Angst vor den Schatten der Nacht, einem bösen Traum oder einem Unwetter zu seinen Eltern flüchtete, um sich zu ihnen zu legen, sich wieder geborgen und sich zu fühlen. Vorsichtig öffnete er und ging leise zu dem Bett des Freundes, rüttelte ihn sacht an der Schulter, nachdem er noch einmal tief durch geatmet hatte. Verschlafend blinzelnd sah der Jüngere sich um, machte das Licht am Kopfende des Bettes an und war gleichsam überrascht und verwirrt seinen Mitbewohner zu entdecken. „Kyo? Was ist? Brennt es?“ „Nein“, murmelte Kyo, wurde zusehend unsicherer in seinem Tun. „Wieso bist du dann hier?“ „Nun... ich habe mich gefragt...“ Himmel, wie sollte er das jetzt formulieren? „Mich gefragt, ob Kaoru uns an die Gurgel springen würde, wenn wir ihn jetzt noch anrufen.“ „Jetzt? Bist du wahnsinnig? Der kommt an gerast und verarbeitet uns zu Tintenfischbällchen mit Original Tintenfisch. Oder schlimmer: Der engagiert nen Psychopathen, der an uns seine tollsten Mordfantasien ausleben darf.“ Toshiya war hellwach. Wie kam der Kleinere überhaupt auf diese todessüchtige, absurde Idee? „An gerast kommen würde er so oder so, wegen dem Grund für den Anruf. Und der sollte wirklich noch heute erledigt werden, bevor ich es mir komplett anders überlege.“ „Anders überlegen?“ Nach anfänglicher Verwirrung hellte sich sein Gesicht auf und er fasste Kyo an den Oberarmen, in der Hoffnung nicht zu träumen. „Soll das etwa heißen...?“ „Ja, das soll es. Ich will es zumindest versuchen. Versuchen zu singen.“ Kapitel 17: It has been a while ------------------------------- Hibbelig ging Die in dem Proberaum auf und ab. Vor fünf Minuten hätten sie beginnen sollen. Vor fünf Minuten! Und Toshiya und Kyo waren noch nicht da. „Er hat es sich anders überlegt. Bestimmt!“ Mit den Augen rollend stand Kaoru von dem Sofa auf, legte dabei seine Gitarre zur Seite. Er schritt geradewegs auf den anderen Gitarristen zu, hielt ihn an den Schultern fest, damit er endlich aufhörte hier so herumzutigern. Das war erstens sein Job und zweitens konnte man schon eine erste Furche im Boden erkennen. „Es ist noch zu früh sowas zu sagen. Zumal er noch nie pünktlich war. Von Toshiya ganz zu schweigen. Und überhaupt: Was machen schon diese paar Minuten im Vergleich zu den letzten sechzehn Jahren? Nichts. Also krieg dich wieder ein, setz dich hin und schnapp dir deine Gitarre, damit sie gestimmt ist, wenn es los geht.“ Er drückte den Jüngeren auf einen der Sessel. „Und du hörst mit dem Fingergetippel auf! Immer diese Drummer.“ „Sei froh, dass ich mich noch nicht hinters Schlagzeug gesetzt habe.“ „Genau. Sei froh.“ Ruckartig sahen die drei Musiker zur Tür, in der ein schadenfroh drein blickender Toshiya stand. Neben ihm Kyo, der auch gleich von Daisuke umarmt wurde. Er freute sich einfach so sehr. „Zwickt mich mal einer, damit ich weiß -au!“ Wütend funkelte er den Bassisten an. „Was? Wenn du schon gezwickt werden willst, lasse ich mich doch nicht zweimal bitten.“ „Menno“, schmollend und sich die schmerzende Stelle reibend, schlurfte Daisuke zu seiner Gitarre, begann damit auf dieser zu spielen. Kaoru hingegen war immer noch völlig paralysiert. Viel zu lange warteten sie jetzt schon auf diesen Moment. Und obwohl es so ein außergewöhnlicher Anblick war den Jüngeren mal wieder hier zu sehen, fühlte sich das alles hier so normal an wie eh und je. Dennoch beschlich ihn so ein dumpfes Gefühl der Besorgnis je länger er den Freund ansah. Er erinnerte sich an den Auftritt vor ein paar Tagen, an das zittern. „Und du bist dir absolut sicher?“ Ein wenig betreten sah Kyo zu Boden: „Frag mich das noch ein paar Mal öfter und ich werde es wirklich nicht mehr sein.“ Shinya stand auf und ging auf Kyo zu. „Du kannst das schaffen, wenn du es willst und daran glaubst. Wir glauben jedenfalls an dein Wollen.“ „Dann sollte ich das wohl auch tun.“ Mit einem amüsierten Lächeln dirigierte der Drummer den Älteren zu den Sitzmöbeln, drückte ihn auf die Couch und setzte sich daneben. Toshiya platzierte sich auf der anderen Seite, nachdem er sich noch eine Flasche Wasser mit Lycheesaft geholt hatte. Irgendwie musste er sich ja davon abhalten über Kaoru zu lachen, der mitten im Raum stand und grinste, als wäre er der sprichwörtliche Oskar persönlich. Aber stolz sein konnte er ja auch. Endlich waren sie fünf wieder zusammen, um Musik zu machen. Das, was schon immer ihr Wunsch und was ihr Traumberuf war. Ihm juckte es derbe in den Fingern, weshalb er die Arme verschränkte und die Hand flach an seinen Körper presste. Jedoch gelang es ihm nicht seine aufgeregten Füße im Zaun zu halten. „Erhoff' dir nicht zu viel, Kaoru“, ermahnte Kyo ihn, wusste er im Moment doch selbst nicht, wie weit er kommen würde. Kaoru drehte sich zu seinem Instrument um, nahm es an sich und schlug ein paar Takte an. „Und? Welches Lied würdest du gerne singen? Dann weiß ich ja, wie weit ich hoffen darf.“ „Ano... Darüber habe ich mir noch gar nicht keine Gedanken gemacht“, gestand Kyo und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich war so darauf versteift den Willen zu singen nicht zu verlieren. Da war kein Platz mehr für Gedanken, welches Lied es denn jetzt sein soll.“ „Wenn das so ist“, grinste Die und schlug ein paar Mal die Saiten an. „Such ich mir eines aus.“ „Wieso du?“, fragte Shinya und fing an zu schmollen, ebenso den Älteren böse anzusehen. „Weil ich diese Idee zuerst hatte. So einfach ist das.“ In bester Rockermanier streckte er die Zunge heraus, woraufhin Kaoru nur seufzen konnte: „Du bist ein zu groß geratenes Kleinkind.“ Ergänzend fügte Toshiya hinzu: „Ist er, war er und wird es auch noch eine ganze Weile bleiben.“ „Ihr seid heute wirklich wieder herzallerliebst.“ Das man sich sowas gefallen lassen musste. Und das in seinem Alter. Warum eigentlich traf er sich noch mit denen? Ah, ja, sie waren seine Freunde. „Welches?“, unterbrach Kyo die Stille, die nach den Sticheleien entstanden war. Er holte nochmal tief Luft, um sich Mut zu machen. „An welches Lied hast du denn gedacht?“ Das Gesicht des Gitarristen hellte sich wieder auf. Kurz schlug er ein paar Takte an, diesmal nicht willkürlich. Kyo runzelte die Stirn, kam ihm der Klang doch irgendwie bekannt vor. „Ich hatte da an 'Unknown...Despair...a Lost' gedacht.“ „Warum denn ausgerechnet das?“ Kaoru war merklich verwirrt. Warum wollte sein guter Freund denn ausgerechnet dieses Lied? Außerdem hatten sie wahrlich erfolgreichere, während Shinya und Toshiya ebenso unwissend aus der Wäsche schauten. Derweilen arbeitete es bereits in Kyos Kopf. Irgendwas musste Die sich doch dabei gedacht haben. „Lasst es uns spielen. Ihr könnt ja währenddessen darüber nachdenken.“ „Das ist doch nur irgendeine Anspielung, oder?“ Die zuckte nur verschwörerisch mit den Schultern, stand dann auf und stellte sich auf seinen Stammplatz. Den links hinter Kyos Mikrofon. Wie in alten Zeiten eben. „Jetzt schwingt schon eure Hintern hier hoch, sonst spiele ich ganz alleine. Unsere komplette Diskographie in chronologischer Reihenfolge.“ Kaoru verstärkte den Griff um sein 'Baby', stieg grinsend auf die Bühne, wo er sich auf seinen Platz stellte. Zu Die meinte er dann noch: „Als ob du das auf die Reihe kriegen würdest. Alter Angeber.“ Lachend folgten Bassist und Drummer auf die kleine Bühne und brachten sich in Position. Kyos Blick wanderte von einem zum Anderen und bei jedem entdeckte er eine Art Aura des vollkommenen Glücks. Sie schienen in diesem Augenblick so zufrieden. Das dort oben war definitiv ihre Welt. Ihr Element. Der Kleine konnte ihnen ansehen, wie sehr ihnen das gefehlt haben musste. Wie einem Fisch das Wasser. Nach einem kurzen Einstimmen wandten sie ihren Blick synchron zu ihrem , seit langem fehlenden, fünften Mitglied. Ihre Augen, ihre Mimik und ihre gesamte Körperhaltung riefen nach ihm, luden ihn in ihre Mitte ein. Und aus irgendeinem Grund kam ihm das bekannt vor. 'Ein bisschen wie in dem Traum damals, wo sie mich gerettet haben.' Unsicher und nervös erhob Kyo sich, ging auf die Bühne zu. Da oben war sein Platz, richtig? Dort, in ihrer Mitte, wo sie ihm den Rücken stärken konnten. Hoffentlich waren sie nicht allzu enttäuscht, wenn es ihm nicht gelingen sollte zu singen. „Gib dir einen kleinen Ruck.“ Kaorus Worte holten ihn aus seiner Starre. Ja, den sollte er sich geben, wenn er denn endlich wissen wollte, ob er schon dazu bereit war. Das würde sich zeigen. Seine Hände zitterten, seine Knie waren weich und mit jedem Schritt wurde seine Kehle trockener. Wie war der Text noch gleich? Mit der Hilfe von Die und Kaoru erklomm er die Bühne. Er war eben doch nicht mehr der Jüngste. „Gut, dann fangen wir mal an. Shinya, Einsatz bitte.“ Shinya nickte dem Leadgitarristen zu. „Kommt sofort.“ Kyo fühlte, wie die Musik ihn einhüllte und ihm den Rücken stärkte, aufrichtete. Er hörte, wie sein Einsatz immer näher rückte, doch mit jeder Note zogen sich die Worte weiter zurück. Er sah das Mikrofon vor sich. Es war noch dasselbe von damals. Vieles hatte es durchgemacht, hatte ihm auf der Bühne geholfen sich von seinem seelischen Schmerz zu befreien. Dadurch war es schon fast zu einem guten Freund geworden. Wie lange es jetzt wohl bereits stumm war? Nach Ansicht seiner Freunde: Zu lange. Nach Ansicht vieler gebliebener Fans: Zu lange. Nach seiner Ansicht? Darauf fand er keine Antwort. Die Musik brachte seine Hände wie von alleine dazu, sich um das Mikrofon zu legen. Das war so vertraut. Sein Körper erinnerte sich wieder. Langsam fielen seine Augen zu und er ließ sich von den Klängen erfüllen. Jetzt kehrten auch die Worte zurück, drängten sich in seinen Mund, um gesungen zu werden. Erwartungsvoll legten sich, von ihm unbemerkt, die Blicke der Anderen auf ihn. In wenigen Atemzügen sollte das geschehen, worauf sie alle die Jahre sehnlichst gewartet hatten. Sie verfolgten aufgeregt Kyos Körpersprache, wie er sich anspannte, Luft holte und ... Kapitel 18: Next try -------------------- ...wie er sich anspannte, Luft holte und... ...nicht einen Ton raus brachte. Sofort stoppten die anderen Vier. Besorgnis machte sich in ihnen breit. „Kyo?“ Shinya trat hinter seinem Drumset hervor. Der Kleinste unter ihn atmete schnell ein und aus, zitterte und war blass. Der Drummer stellte sich ganz nah an den Sänger heran. „Ist sie wieder da? Siehst du sie wieder?“ Sofort wusste jeder im Raum, wer mit 'sie' gemeint war. Doch Kyo schüttelte den Kopf. Nach und nach beruhigte sich der Schwarzhaarige. Eine Hand löste sich von dem Mikrofon, strich damit durch die dunkle Mähne. 'Vielleicht sollte ich sie mir wieder blondieren.' „Was war denn?“, fragte Die nochmal nach. Wenn es einen Störfaktor gab, musste dieser beseitigt werden. „Ich glaube“, fing Kyo an, musste aber den Kopf über sich selbst schütteln und lachen. Der Grund war doch zu absurd. Derweil verstanden die anderen Vier die Welt nicht mehr. Den Freund seit langem mal wieder lachen zu sehen und zu hören, war zwar etwas besonderes, aber sie sahen beim besten Willen keine Ursache dafür. „Was glaubst du?“, erkundigte sich Kaoru, machte ihm das Ganze doch ein wenig Angst. Zudem war er überfordert mit der Situation. War der Jüngere vielleicht wahnsinnig geworden? „Gomen ne, Jungs“, meinte Kyo nach dem er sich wieder beruhigt hatte. „Was ich sagen wollte, war“, wieder ein kurzer Lacher. „Nun sag schon.“ Toshiya war noch nie einer der geduldigsten Menschen auf dieser Welt gewesen. „Lampenfieber.“ Ein kollektives: „Nani?“ „Ich hab schon so lange auf keiner Bühne mehr gestanden, schon so lange nicht mehr richtig ernsthaft gesungen. Trotz allem weiß ich noch, wie sich Lampenfieber anfühlt und das eben... versteht ihr jetzt, warum ich lachen musste? So viel Bühnenerfahrung und nur wegen einer längeren Pause hab ich so großes Lampenfieber, wie beim ersten Mal. Obwohl nicht mal Publikum hier ist.“ Natürlich hatte Shinya recht gehabt. Natürlich war sie da. Mit einem breiten Grinsen saß sie ihm genau gegenüber auf dem Sofa. Die Arme gekreuzt, die Beine überschlagen und einem Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Sie sah jedoch genauso wie damals, nachdem er sie - Aber das konnte er den Anderen nicht sagen. Das würde sie nur aufregen. Mit Ayaka musste er allein fertig werden. Sie war seine Bürde. Seine Last, die er zu tragen hatte. „Ich geh mich kurz frisch machen. Kaltes Wasser soll ja Wunder bewirken.“ „Soll einer von uns dich begleiten?“ „Nein, nicht nötig. Mir müsste nur einer sagen, wo ich lang muss.“ Shinya erklärte ihm den kurzen Weg, auf den sich der Schwarzhaarige gleich darauf machte. So ruhig es ging, legte er diesen kleinen Fußmarsch zurück, doch sobald er den Sanitärraum erreicht hatte, war es mit dieser Ruhe vorbei. Kurzerhand schloss er sich in einer der Kabinen ein, klappte den Toilettendeckel herunter, damit er sich setzen konnte. Wieder übermannte ihn das, mittlerweile altbekannte, Zittern. „Wie schwach du doch bist.“ Kyo blickte auf und sah direkt in Ayakas Gesicht. „Das macht dir Spaß, oder?“, flüsterte er, damit ihn niemand hören konnte. Man konnte ja nie wissen, ob man nicht doch gehört wurde. „Ja, doch. Kann man so sagen.“ „Bitte, Ayaka-san. Es tut mir Leid, was ich dir angetan habe. Ich habe deswegen fünfzehn Jahre im Gefängnis verbracht. Und es wären auch noch ein paar Jahre mehr, wenn die nicht der Meinung gewesen wären, dass ich genug gebüßt habe. Und dass ich dich immer noch sehen kann ist doch der beste Beweis, dass ich mir immer noch nicht verziehen habe. Werde ich auch nicht. Werde ich nie. Allerdings... Im Moment existiert für mich nur dieser eine kleine Wunsch. Nämlich das Singen. Selbst das ist zu neunzig Prozent zum Wohle meiner besten Freunde. Um ihnen damit ein bisschen 'glücklich sein' zu schenken.“ Es war verrückt sich mit einer Halluzination zu unterhalten. Sich vor dieser Halluzination auch noch zu rechtfertigen konnte man schon als Wahnsinn bezeichnen. Aber Kyo half es mit seinem Gewissen fertig zu werden. „Warum sollte ich es dir erlauben?“ „Weil ich es in erster Linie für meine Freunde tun will. Ich möchte ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Sie haben dir nichts getan. Also kannst du sie nicht für mein Vergehen bestrafen.“ Fest und gleichzeitig verzweifelt sah er ihr in die Augen. „Nur ein Lied.“ Sie starrte kalt zurück. „Onegai.“ „Ein Lied. Und danach mache ich dir jeden Tag zu deiner persönlichen Hölle.“ Das war kein faires, aber zumindest ein Angebot. Eines, dass er zum Wohle seiner Freunde eingehen würde. „Einverstanden.“ „Geht es dir jetzt besser?“, war gleich die erste Frage, die Kyo bei seiner Rückkehr zu hören bekam. Mit einem Nicken beantwortete er die Frage des Bassisten. „Ganz sicher?“ „Na ja, nicht mehr als vor fünfzehn Minuten, als ich den Raum das letzte Mal betreten habe.“ Die kam mit einem Glas Wasser an, welches der Jüngere dankbar entgegen nahm. „Zumindest hast du etwas mehr Farbe im Gesicht als vorhin“, merkte der Gitarrist noch an und verfrachtete den Freund zur Vorsicht noch aufs Sofa. „Und es war wirklich nur Lampenfieber?“ So ganz konnte Kaoru das nämlich noch nicht glauben. Dafür war der Freund zu aufgewühlt gewesen. Seine Reaktion war der vom Konzertabend zu ähnlich. Ganz zu schweigen von denen damals im Krankenhaus. „Sag mir die Wahrheit.“ Fest sah er den anderen Schwarzhaarigen an, damit er nicht in Versuchung kam zu lügen. Da kam wieder sein Bewusstsein als Bandleader durch. Er wusste, wenn er jemanden mit seiner autoritären Ausstrahlung lange und starr genug ansah, dann würde das mit dem Lügen nichts mehr werden. „War sie da?“, hakte er nochmal nach. Merklich schrumpfte Kyo zusammen. Seine Hände spielten mit dem Wasserglas herum, sein Blick huschte immer wieder zur Tür. Kaoru zog eine Augenbraue hoch. Wenn der an Flucht dachte, war er bei dem Gitarristen an der falschen Adresse. Eine Flucht würde nur der Anfang für den Weg zurück bedeuten. „Kyo?“ Allmählich wurde er richtig ungeduldig. „Ich weiß jetzt, welches Lied wir spielen könnten.“ Kaoru entgleisten sämtliche Gesichtszüge. Sein Mund ging immer wieder auf und zum schaffte es aber nicht Worte zu formulieren. Shinya rollte mit den Augen, sah schon, was gleich kommen würde. „Entschuldigt uns kurz“, meinte er, stand auf und zog den, noch immer sprachlosen, Kaoru vor die Tür und ein paar Meter davon weg. „Wenn wir da gleich wieder reingehen, fragst du Kyo, an welches Lied er gedacht hat. Du wirst ihm keine Standpauke halten. Denn dann würdest du ihm sagen, dass er sein schlechtes Gewissen abzuschalten hat. Dass dieses, sein Gewissen, etwas ist, dass nicht normal ist. Gut, es ist wirklich nicht normal, dass man sein Gewissen sieht, aber es ist einfach so.“ „Dann sollen wir seine Hallus ignorieren?“ Das war etwas, was behandelt, aber nicht ignoriert werden sollte. „Nein, nicht ignorieren. Viel mehr akzeptieren. Bis zu einem bestimmten Grad jedenfalls. Außerdem haben wir ihm doch versprochen für ihn da zu sein. Schließlich ist er unser Freund.“ Kaoru sah ihn ungläubig an. „Im Endeffekt ist es trotzdem ignorieren.“ Zerknirscht und mit erhobener Augenbraue sah Shinya den Älteren an. „Noch ein Wort und ich scheuer dir eine. Ganz im Ernst. Wir werden akzeptieren müssen, dass Ayaka Takeno ein Teil von Kyo geworden ist. Du, ich und auch die anderen Beiden, wissen nicht, wie es ist jemanden zu töten. Sie wird ihn nie ganz loslassen. Daran müssen wir uns gewöhnen. Also sei ihm nicht böse. Zumindest hat er nicht gelogen.“ „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich es hasse, wenn du recht hast.“ Jetzt zierte ein süffisantes Grinsen das Gesicht des Drummers. „Was meinst du eigentlich, warum ich mit dir rede, obwohl die anderen Beiden dasselbe denken? Und jetzt lass uns zurück gehen.“ Kaoru seufzte auf. „Denk dran -“ „Kein Anpfiff, sondern nachfragen. Hab ich verstanden.“ Kaoru hielt sich wirklich daran. Er ging nicht verbal auf Kyo los, dabei sah man selbigem an, dass er sich schon darauf eingestellt hatte. „Wo waren wir? Ach ja. Du wolltest uns gerade erzählen, was du gerne singen möchtest.“ Verwirrt, dass er so 'glimpflich' davongekommen war, fing der Sänger an zu sprechen: „Also... Seit letztem Wochenende verspüre ich... man könnte fast sagen, Drang 'The Final' wieder zu meinem, zu unserem Song zu machen. Einmal wieder so erleben, wie ich es kenne. Wie ich... es liebe.“ Kyo war immer leiser geworden. Es war ihm ein wenig peinlich diese Worte zu wählen, aber sie waren einfach am Treffendsten. Mit einem verständnisvollen Lächeln drückte Daisuke den Jüngeren an sich. „Dann spielen wir das. Solange es dich glücklich macht.“ „Hai, das würde es.“ Kurz huschte sein Blick erneut zur Tür, an der Ayaka stand. Die Arme vor der Brust verschränkt und mit herablassendem Blick. Kyo konnte sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Wie sie darüber nachdachte, wie sie ihn am Besten quälen konnte. Bevor er sich aber ausmalen konnte, was sie ersann, erhob er sich und ging auf die Bühne zu. Je länger er wartete, umso unsicherer würde er werden und je größer würde seine Angst vor dem, was ihn noch erwartete. Alles andere ausblendend bestieg er die Bühne, klammerte sich an das Mikro und sah seine Freunde mit einem scheuen Lächeln an. „Können wir?“ „Klar doch“, erschallte es einstimmig und keine zwei Minuten später befand sich jeder von ihnen wieder an seinem Platz. Jeder ein wenig hibbelig vor Aufregung. „Lasst uns diese Bude rocken!“, rief Toshiya übermütig und schlug auf die Saiten seines Basses. „Da sprüht ja einer nur so vor Energie.“ „Ich bin einfach nur glücklich, Kaoru.“ „Dann solltest du“, meinte Kyo, sich zu dem Jüngeren umdrehend, „deine Energie ins Spielen stecken. Shinya? Dein Einsatz.“ Der Drummer nickte lächelnd, holte Luft, straffte die Schultern, schloss die Finger nochmal enger um die Sticks. Kurz darauf umhüllte den Sänger abermals das Spiel seiner Freunde. Ein letzter flehender Blick Richtung Tür, dann schloss er die Augen, wollte lediglich den Moment in vollen Zügen genießen. Er holte langsam und tief Luft, öffnete die Lippen und - sang endlich wieder. Sang aus ganzem Herzen. Sang voller Inbrunst und Leidenschaft. Und es tat ihm so gut. Es befreite ihn so ungemein. Aus einem Augenwinkel löste sich eine Träne, rollte über seine Wange. Sein Herz wünschte sich, dass das Lied nie enden würde. Zu sehr wollte er diesen vollkommenen Moment auf ewig genießen. Auf ewig. Kapitel 19: Eigenständigkeit ---------------------------- Kyo stand in der Küche und kümmerte sich um das Abendessen, während Toshiya in der Wohnung für ein wenig Ordnung sorgte. Er sortierte gerade die Zeitungen fürs Altpapier, als ihm etwas ins Auge fiel. „Kyo?“ Mit der Zeitung in der Hand ging er in die Küche, den Blick auf die aufgemalten Linien auf der aufgeschlagenen Seite gerichtet. „Hai?“ „Weißt du, wer hier auf der Immobilienseite diverse Anzeigen angekreuzt oder eingekreist hat?“ „Klar, ich.“ Gelassen rührte der Ältere in den Nudeln, probierte eine und befand, dass die Dinger noch ein wenig brauchten. „Aber, aber...“, stammelte der Bassist eine Weile, ehe er es schaffte ein: „Warum?“ hervorzubringen. „Weil ich mir eine eigene Wohnung suche? Warum sollte man sowas sonst ankreuzen?“ „Ja, aber... Wieso willst du denn weg von mir?“ „Wie?“ Verwundert sah Kyo von den Kochtöpfen auf. „Wie kommst du denn bloß auf die Idee? Toshiya. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du mir ein guter Freund bist, dass du mir in den letzten Wochen sehr geholfen hast. Aber es wird Zeit. Zeit für eine eigene Bleibe. Schließlich war das hier nur als Übergangslösung gedacht, nicht wahr?“ Außerdem war es ihm bereits in den letzten 3 Wochen schon ziemlich schwer gefallen zu verstecken, wie fertig ihn Ayakas Anwesenheit machte. Sie hatte sich nur zu gerne an ihren Teil der Abmachung gehalten. Jeden Abend schluckte Kyo Schlaftabletten, damit die Möglichkeit schreiend aufzuwachen, verringert wurde. Immerhin könnte er so Toshiya aufwecken, der dann nur nach bohren würde. Zum Glück brauchte er kein Rezept für die Tabletten, sonst wäre er bei seinem Konsum schon aufgefallen. Weshalb er auch ständig die Apotheke wechselte. Er musste hier einfach weg, bevor Toshiya Verdacht schöpfte, bevor er Fragen stellte. Natürlich könnte er versuchen so überzeugend wie möglich zu behaupten, dass er schlichtweg Albträume gehabt hatte. Ganz normale Albträume, wie sie jeder mal hatte. Doch welcher normale Mensch hatte schon so viele Albträume? Spätestens das würde Toshiya doch misstrauisch machen. Und sollte er in einem Anflug extremer Neugier auch noch die Tabletten finden... Dann war es nur noch ein Katzensprung, bis sich die anderen Vier alles zusammengereimt hätten. Nein. Nein, nein, nein. Er brauchte seine eigene Wohnung. Für seine Albträume. Seine Schreie. Seine Hölle. Er musste nur noch eine Passende finden. Und dann eine Möglichkeit, um einen der Räume Schalldicht zu machen oder zumindest so zu präparieren, dass alle Geräusche gedämpft wurden. Immerhin sollte nur er selbst seine Schreie und Tränen hören, wenn er sich Ayaka aussetzte. Das bei weitem größere Problem war jedoch, dass er nicht in Versuchung kam sich wieder zu ritzen. Erwischt hatte er sich in den letzten beiden Wochen dabei öfter, wie er etwas scharfkantiges angesetzt hatte. Und sie hatte ihm dann immer noch ganz verführerisch ins Ohr geflüstert: „Ja, tu es. Drück zu. Ich will dein Blut sehen. Zeig mir dein Blut.“ Doch er war tapfer geblieben, hatte nicht einen Tropfen vergossen. „Du willst mich also hier allein lassen?“ Kyo schmeckte noch die Soße ab, dann erst antwortete er. „Es ist ja nicht so, als wenn du allein sein müsstest. Und zumindest am Wochenende ist doch jemand hier, der dir Gesellschaft leistet.“ Fachmännisch schaltete er die Herdplatten aus. Essen war fertig. „Außerdem bräuchtest du gar nicht allein sein. Gibt bestimmt genug hübsche Damen da draußen, die gerne mit dir zusammen sein würden.“ Ein Topf nach dem anderen landete auf dem Esstisch. „Und wenn du dich ganz geschickt anstellst, könntest du sogar wieder mit Akemi zusammenkommen.“ „Das glaubst du doch jetzt nicht wirklich, oder? Wir sind seit zwei Jahren geschieden! Das wird doch nie und nimmer wieder was mit uns.“ Missmutig und mit verschränkten Armen ließ sich der Größere auf seinen Stuhl fallen. Toshiya glaubte nicht wirklich daran, dass er und seine Ex es noch einmal schaffen würden. Zwar vermisste er sie, liebte sich noch immer, aber jedes Mal, wenn sie sich trafen, stritten sie. Er wusste nicht einmal mehr, wann und warum sie angefangen hatten sie so zu verhalten. „Ihr seid beide einfach nur verdammt stur.“ Munter lud Kyo Toshiya und sich eine ordentliche Portion auf die Teller. „Sie ist in der letzten Zeit nur zusätzlich so verstimmt, weil ich hier bin. Weil sie in mir eine Gefahr für ihr Kind sieht. Wenn ich weg bin, dann entspannt sich die Lage schon mal ein wenig.“ „Ja, klar. Und dann ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Happy End.“ Gefrustet schob sich der Jüngere einen Bissen in den Mund und kaute deprimiert darauf herum. Kyo rollte mit den Augen. Nicht nur wegen dem Sarkasmus, sondern auch wegen der negativen Einstellung des sonst so fröhlichen Mannes. Auch er nahm ein paar Bissen seines Essens, von dem er einfach mal sagen musste, dass es ihm richtig gut gelungen war. „Dass das Ganze nicht einfach wird“, fing Kyo an, musste aber erstmal schlucken, „ist doch selbstverständlich. Außerdem habe ich nie davon gesprochen, dass es ein Kinderspiel sein würde. Natürlich muss auch bei euch beiden der Wille für einen neuen Versuch da sein. Etwas, was du erst mal bei ihr feststellen solltest.“ „Ach, und wärst du auch so hilfreich mir zu verraten wie? Dr. Love?“ Dafür fing sich der Größere einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein ein. „Trottel. Fang mit Blumen an. Meines antiquierten Wissens nach klappt das immer.“ „Wenn ich ihr aber ohne Grund mit Blumen komme, wird sie misstrauisch.“ Verstimmt nahm der Größere einen weiteren Bissen zu sich. Kyo hatte wahrlich seltsame Vorstellungen. Es stimmte zwar, dass er seine Ex nach all der Zeit noch immer liebte und sie auch vermisste, nur hatte er einfach das Gefühl, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. „Und wenn du dich dafür bedanken willst, dass sie dir immer noch erlaubt Akio zu sehen? War schließlich eine Menge Überzeugungsarbeit von dir und ein großes Stück Überwindung ihrerseits. Zu akzeptieren, dass das eigene Kind mit einem Straftäter zusammenlebt, auch wenn es nur für ein paar Tage die Woche ist, das ist schwer. Was ich, wie ich schon öfter gesagt habe, sehr gut verstehen kann.“ Sie schwiegen eine Weile, genossen soweit ihr Essen. „Da ist kein Anfang“, maulte Toshiya los. „Wofür?“ „Na, für Akemi und mich natürlich.“ Er schmiss seine Stäbchen auf den Teller. Kyo seufzte. Das konnte ja nicht wahr sein. „Fangen wir von hinten an: Warum habt ihr euch getrennt?“ Verlegen sah der Bassist auf die Tischplatte. „Ich hab nicht mehr die geringste Ahnung.“ Dann sollte er in dem Punkt wohl eher Akemi löchern. Frauen wussten sowas. „Du bist mir schon einer. Aber ändern kann man es ja nicht mehr.“ Schmunzelnd widmete der Sänger sich dem letzten Rest Essen, der sich noch auf seinem Teller befand. Er war ja schon versucht, sich einen Nachschlag zu nehmen, so lecker wie es schmeckte. Jedoch sagte ihm sein Bauch, dass da nicht mehr allzu viel hineinpasste. Zum Glück gab es ja noch die Möglichkeit sich das Essen bei Bedarf wieder zu erwärmen. Er nahm sein Essgeschirr und brachte es zur Spüle, wo er auch schon mal alles ein wenig für den kommenden Abwasch vorbereitete. „Wenn es dich glücklich macht, dann verschiebe ich das mit der eigenen Wohnung. Zumindest bis-“ Weiter kam er nicht, da er plötzlich siebzig Kilo lebendigen Toshiya am Hals hängen hatte, die ihn regelrecht erdrückten. „Luft“, japste er, freute sich jedoch darüber, dass er den guten Freund hatte aufmuntern können. Wobei dieser ruhig endlich mal wieder etwas locker lassen konnte. Mittlerweile war er bestimmt schon ganz blau im Gesicht. „Toshi~“, keuchte er und klopfte dem Jüngeren auf den Arm, worauf dieser seine Umarmung endlich löste. Nach Luft schnappend meinte Kyo dann noch schwach lächelnd: „Bring mich doch nicht um, wenn ich noch hier bleiben soll.“ Da sah Toshiya ihn einfach nur mit großen, leicht geschockten Augen an. „Was?“ „Sag doch sowas nicht, Kyo. Mit dem umbringen und so.“ Doch Kyo winkte ab. „Solange es von mir kommt, ist es schon gut. Und es gehört doch auch ein wenig zur Rehabilitation.“ Er nahm noch mal einen tiefen Atemzug, verdrängte, dass Ayaka hinter Toshiya stand und diesen böse anfunkelte, weil er sein „Werk“ nicht vollendet hatte, dann sah er den Jüngeren erneut schmunzelnd an. „So, jetzt darfst du dich weiter freuen. Nur nicht so fest zudrücken, hai?“ Mit einem zögerlichen Nicken nahm er Kyo wieder in den Arm, wollte ihm nicht das Gefühl geben abgelehnt zu werden. Zudem war er ja doch immer noch glücklich darüber, dass Kyo noch ein wenig bei ihm bleiben wollte. Dabei würde er ihn gerne auch noch eine Weile länger bei sich behalten. „Geh noch nicht, Kyo. Geh bitte noch nicht.“ Kapitel 20: Gespräche --------------------- Eifrig werkelte Kyo in der Küche herum, schnitt all das Gemüse, die Pilze und das Fleisch für das Abendessen klein. Nicht zu vergessen den Tofu. Immerhin war auch dieser ein wichtiger Bestandteil des Shabu-Shabu, welches zur Feier des Tages serviert wurde. Ein einfaches, aber geselliges Gericht. Im Wohnzimmer kümmerte sich Toshiya derweil um die bereits eingetroffenen Gäste. Einzig Shinya entschloss sich dem Sänger ein wenig Gesellschaft zu leisten. „Na? Kann man der fleißigen Hausfrau bei ihrem Werk helfen?“ „Pass auf, dass dir die 'Hausfrau' nicht irgendwas an den Kopf wirft“, erwiderte Kyo mit einem breiten Grinsen, ehe er sich wieder dem Gemüse widmete, welches er gerade auf einem Teller drapierte. Das Auge aß ja bekanntlich mit. „Wenn du unbedingt helfen möchtest, kannst du dich gerne um den Reis kümmern. Der müsste jeden Augenblick fertig sein.“ Shinya nickte und machte sich daran, der ihm aufgetragenen Aufgabe nachzugehen. „Warum verkriechst du dich eigentlich hier in der Küche?“ „Ich verkrieche mich doch gar nicht“, nuschelte der Kleinere, merkte aber ganz genau, wie offensichtlich diese Lüge war. Dennoch hielt er an ihr fest: „Ich werde doch gar nicht weiter zum Vorbereiten kommen, wenn ich jetzt da raus gehe. Am Ende gibt es dann vielleicht sogar gar nichts zu Essern.“ Seine Worte waren leise, gedrückt von dem schlechten Gewissen seinerseits. Denn, um Shinya anzulügen musste man schon ganz schön dreist sein. „Feigling.“ Der Drummer seufzte auf. Nein, das was Kyo ihm da erzählte war nur die halbe Wahrheit. Zumal er sich eh fragte, warum sich Toshiya nicht um das Essen kümmerte. Immerhin war der Große der Gastgeber. „Gibt es da draußen irgend wen, den du nicht treffen willst?“ Neugierig schielte er zu Seite, während der Reiskocher das Signal gab, dass seine Arbeit beendet war. Und Kyos Reaktion sprach Bände. In der Bewegung innegehalten, krampfte sich seine rechte Hand um den Messergriff, mit dem dieser gerade den letzten Rest Tofu zerschneiden wollte. Zudem das nervöse Kauen auf der Unterlippe. Also war da jemand, auf den er nicht treffen wollte. Hatte der zierliche Japaner also mal wieder ins Schwarze getroffen. Manchmal hasste er sich selbst dafür. Gerade in Momenten wie diesen. „Wer ist es?“ In Gedanken ging er noch mal die Anwesenden durch, aber da war niemand, den Kyo nicht schon auf seinem Geburtstag begegnet wäre oder von sonst wo her kannte. Der Schwarzhaarige löste sich derweil wieder aus seiner Starre, begann langsam und vorsichtig den Tofu in Würfel zu schneiden. Sollte er es Shinya sagen? Nachher hielt der ihn noch für kindisch. Obwohl... Shinya? Nein, dieser würde Verständnis dafür haben, würde ihn nicht auslachen. „Akemi kommt auch.“ Die Nachricht haute den Drummer jetzt aber doch schon von den Socken. Wie hatte Toshiya denn das hinbekommen? Bei dieser Überraschung vergaß er völlig, dass der Reis auf dem großen Löffel eigentlich in die dafür vorgesehene Reisschüssel gehörte. „Wie jetzt?“ „Du hast mich schon verstanden, Shinya. Akemi kommt hierher. Heute.“ Er schnappte sich einen Lappen und beseitigte den verschütteten Reis, während der Größere ihn immer noch ansah wie das achte Weltwunder. „Ich gebe ja zu, dass das Ganze auf meinen Mist gewachsen ist. Immerhin habe ich Toshiya dazu gedrängt sie einzuladen.“ „Und wieso das?“ So ganz kam der Andere immer noch nicht hinterher. Kyo musste sich ein Augenrollen verkneifen. War der Grund denn nicht offensichtlich? „Damit die beiden sich wieder vertragen. Und auch vielleicht noch wieder ein bisschen mehr draus wird.“ „Heißt das, dass du die beiden wieder verkuppeln willst?“ Irgendwie stand Shinyas Welt gerade Kopf. Natürlich hatten sie mitbekommen wie Toshiya zusehends sein Lachen verloren hatte, nachdem die Scheidung offiziell gewesen war. Obwohl es in letzter Zeit wieder mehr wurde. Ob das an Kyo lag? „Und du glaubst wirklich, dass du das schaffst? Denn ich denke, du hast dir da ein bisschen viel vorgenommen.“ Eine Hand in die Hüfte gestemmt, drehte er sich zu Kyo um, stützte sich mit der anderen auf die Arbeitsplatte. Kritisch musterte er den Älteren, wollte am liebsten hören, dass er es sich anders überlegte. Akemi und Toshiya wieder zusammen zu bringen... das hatten sie alle schon vor einer geraumen Weile hinter sich gelassen. Vor allem, weil Toshiya selbst aufgegeben hatte. Kyo seufzte. Als ob er nicht wüsste, wie schwer dieses Vorhaben war. Es war ja auch nicht gerade schwierig die verhärteten Fronten zu spüren. Unsicher kaute er auf seiner Unterlippe herum. „Aber ein Anfang ist doch schon gemacht. Immerhin kommt sie hierher. Und... Und wenn ich weiß, was der Grund war, dann... dann... Es wird schon klappen.“ Mitfühlend legte der Größere seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Übernimm dich nicht.“ Aber wenn Kyo sich das in den Kopf gesetzt hatte, würde er ihn unterstützen. Da gab es jedoch noch eine Sache: „Warum willst du das machen? Aus heiterem Himmel kann diese Idee doch auch nicht entstanden sein.“ „Na, weil“, druckste der Sänger herum, kam aber nicht weiter, denn in dem Augenblick kam Die in die Küche gestiefelt, um Kyo ebenfalls zu begrüßen. „Hallo, Kyo. Oh man, was zieht ihr Beide denn für lange Gesichter. Heute ist ein Tag zum Feiern. Oder wollt ihr allen ernstes Trübsinn verbreiten?“ Je ein Arm landete um der Schulter von einem seiner Freunde, wobei er grinsend von einem zum anderen sah. „Oder wollt ihr zwei Glucken euch hier verkriechen, während da draußen der ganze Spaß abläuft? Na los, raus hier.“ „Aber... Aber das Essen.“ Kyo versuchte noch sich aus dem Klammergriff zu befreien, jedoch war er gegen die Kraft dieser Gitarristenarme irgendwie machtlos. „Das drücken wir jetzt Toshiya aufs Auge. Du kommst jetzt mit mir mit. Keine Widerrede.“ Und bevor Kyo auch nur einen weiteren Versuch machen konnte, sich dem ganzen Vorhaben zu entziehen landete er kurzerhand auf der Schulter des etwas Älteren, woraufhin sich Shinya ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte. Nicht zuletzt, weil Kyo so ungläubig aus der Wäsche schaute. Auf dessen anschließenden nach Hilfe schreienden Blick wurde er dann doch tätig. Jedoch anders, als der Sänger es eigentlich haben wollte. Denn, anstatt ihm aus der Situation zu helfen, machte der schlanke Japaner doch allen ernstes die Küchentür auf, damit der Gitarrist leichter hindurch kam. „Verräter“, knurrte Kyo und verschränkte, so gut es in seiner derzeitigen Lage ging, die Arme. Im vorbeigehen warf er dem vermeintlichen Freund noch einen bösen Blick zu, was den jedoch nur dazu brachte noch mehr zu Lachen. „Schaut mal, was ich Feines in der Küche gefunden habe.“ Noch immer das breite Grinsen im Gesicht drehte Die sich einmal um 180 Grad, damit die anderen auch Kyos Vorderseite betrachten konnten. „Schäm dich Toshiya, dass du ihn uns vorenthalten willst.“ Belustigt drehte er sich noch ein paar Mal im Kreis. Sofort hielt sich Kyo krampfhaft an Dies Oberteil fest, damit er nicht fallen konnte. „Die. Halt sofort an! Bitte, bitte, bitte.“ Denn allmählich wurde ihm richtig schwindelig. Sogar ein wenig mehr als schwindelig. Die schien es jedoch genauso zu gehen. Er kam ins straucheln, stolperte und geriet immer mehr in die Waagerechte. Alle Anwesenden hielten die Luft an und sprangen vor Schreck zur Seite, als der Gitarrist es irgendwie noch schaffte sich und seine Last Richtung Sofa zu dirigieren. Manchmal hatte dieser Mann wirklich mehr Glück als Verstand. Deutlich mehr Glück. Im letzten Moment schaffte Kyo es die Arme schützend vor sein Gesicht und den Oberkörper zu bringen, rechnete er doch fest damit, dass dieses übermütiger Etwas, welches ihn in diese Situation gebracht hatte, auf ihm landen würde. Er spürte den Aufprall auf der Couch, dann wie etwas Schweres auf ihm landete, woraufhin sämtliche Luft aus ihm gepresst wurde. Für einen Moment war es ganz still. „Alles... klar bei euch?“, fragte Kaoru und besah sich das Debakel. Das wäre jetzt eine unschöne Sache, wenn sie noch einen Krankenwagen rufen mussten. Der Erste von den beiden Verunglückten, in den wieder Leben kam, war Kyo, der versuchte den Größeren von sich und dem Sitzmöbel hinunter zu schubsen. Einem Fisch gleich lag er nach getaner Arbeit da, schnappte nach Luft. Warum wollte ihn jeder in letzter Zeit umbringen? Er war ja kein Unschuldsengel, aber leben wollte er im Moment schon noch ein wenig. Auch, wenn Ayaka da weit anderer Meinung war. Den schmerzenden Hinterkopf reibend, richtete sich Die wieder auf, wurde aber von Kyo gleich wieder mit einem nur halb ernst gemeinten Schubs zu Boden geschmissen. „Du Kindskopf“, war dessen einziger Kommentar zu dieser Handlung. Aimi kniete sich hinter ihren Verlobten, vergewisserte sich, ob dieser nicht doch mehr als eine Beule am Kopf hatte. Aber da war wirklich nicht mehr. „Geht's dir gut, Schatz?“ Sie erhielt ein Nicken, worauf hin sie kurz lächelte, dann aber ernst wurde und dem Mann vor ihr einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste. „Musst du dich eigentlich immer so unmöglich benehmen? Du hättest dir und Kyo-kun ernsthaft weh tun, wenn nicht sogar was brechen können. Denk doch einmal nach, bevor du so einen Blödsinn machst.“ Schmollend schlang sie ihre Arme um Dies Hals, schmiegte sich an ihn. „Ich hab dich auch lieb.“ Allgemeine Erleichterung machte sich breit. Offensichtlich schien ja nichts ernsthaftes passiert zu sein. So setzten nach und nach wieder die Unterhaltungen ein. Toshiya wurde unterdessen von Shinya in die Küche geschoben, damit dieser sich um die restlichen Vorbereitungen kümmern konnte. Unterdessen hatte sich auch Die aufgerappelt, war damit beschäftigt seine Tochter zu beruhigen, die immer noch größte Angst um ihren Vater hatte. Einzig Kyo hatte sich nicht mehr einem Millimeter bewegt. Wirkte noch wie paralysiert. Dabei wandte er nur all seine Kraft darauf an, Ayaka und ihr dummes Gerede auszublenden. Ihre Todeswünsche und Beleidigungen. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“, fragte Kaoru ihn noch Mal, setzte sich neben den Jüngeren. Dessen Starre wirkte nämlich ein wenig beunruhigend auf ihn. „Hast du Schmerzen?“ „Nein“, antwortete ihm der Andere, schüttelte sacht den Kopf. „Ich... fühle mich nur...geplättet?“ Ein missglücktes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. „Nein, ich bin einfach nur müde.“ „Sonst nichts?“ „Sonst nichts.“ Ächzend brachte sich Kyo in eine sitzende Position, atmete tief durch. Heute war ein fröhlicher Abend. Da wollte er nicht derjenige sein, der hier miese Stimmung verbreitete. Wenige Augenblicke später hatte er eine kleine Person auf dem Schoss sitzen. „Oh. Hallo Nanami. Wie geht es dir heute?“ „Mir geht es prima, aber was ist mit dir, Onkel Kyo? Hat Papa dir weh getan?“ „Nein, hat er nicht. Aber warum spielst du nicht mit den anderen?“ „Weil ich viel lieber mit dir spiele.“ Die Kleine schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und kuschelte sich an ihn. Kaoru streichelte dem kleinen Mädchen liebevoll über den Kopf. „Du bist eine ganz liebe.“ Nanamis Lächeln war eine perfekte Kopie von ihrem Vater. „Was möchtest du denn spielen, Nanami-chan?“ Kapitel 21: Umzugsplanung ------------------------- Mit viel Gerede und der Hilfe der anderen drei Dir en Grey- Mitglieder hatte Toshiya es tatsächlich geschafft Kyo noch zu einem weiteren Monat des Bleibens überreden können. Im Gegenzug war er aber auch mit zu jeder Wohnung, die der Ältere in Betracht gezogen hatte. Mit dem Ergebnis, dass er anschließend jede einzeln schlecht geredet hatte. Im Endeffekt hatte er damit nur mäßigen Erfolg, da der Sänger seiner Gewohnheit auf Durchzug zu schalten nachging und sich lieber auf sein eigenes Urteilsvermögen verließ. Er gestand zwar, dass keine von den Wohnungen perfekt war, aber welche war das schon? Man machte immer mal hier und da ein paar Abstriche. Im Prinzip brauchte sein künftiges Heim ja auch nur dieses eine Kriterium einzuhalten: Die Möglichkeit einen der Räume weites gehend zu isolieren. Obwohl er ja dagegen halten musste, dass die Methode mit den Schlaftabletten bisher verdammt gut funktioniert hatte. Vielleicht war dieses entscheidende Kriterium also gar nicht mehr nötig. Nichtsdestotrotz musste er sich auch leider eingestehen, dass ein Großteil der Wohnungen nach seinem Einzug viel Liebe von Nöten gehabt hätten und dem Jüngeren dadurch indirekt Recht gab. Aber dafür fehlte ihm Zeit, Geduld und ja, auch ein wenig an finanziellen Mitteln. Schließlich schluckte so eine komplette Renovierung doch einiges. Zumindest Toshiya freute sich über die Verzögerung, was er auch nicht im Geringsten versteckte. Dennoch suchte Kyo unermüdlich weiter, studierte fleißig die Immobilienseiten. Als er das wieder einmal während einer ruhigen Phase bei der Arbeit machte, riss ihm Nobu einfach die Zeitung aus der Hand. „Mensch, seit Wochen durchstöberst du diese Seiten und findest einfach nichts, was dir zusagt.“ Kritisch beäugte er die Zeitung. „Kein Wunder, dass du nichts findest. Bei dem Mist, der hier angeboten wird.“ „Ach? Und du bist Experte auf dem Gebiet?“ Mürrisch riss Kyo sein Eigentum wieder an sich, glättete es. Dass die Wohnungen nicht die Besten waren, wusste er auch. Dafür hatte er sich schon genug von den Dingern angesehen. Und wenn man sich bei einigen auch noch die Adresse ansah... Vieles davon lag mehr am Rande der Stadt. Was im Endeffekt lange Wege zur Arbeit und seinen Freunden bedeuten würde. Außerdem: Sicher, war garantiert was anderes. Aber alles andere lag einfach nicht in seiner Preisklasse. Vielleicht sollte er aber auch noch mal umdenken. Mit dem was er gespart hatte und dem was er jetzt verdiente... Da konnte er sich in ein paar Jahren auch etwas vernünftiges Kaufen. „Hey, ich habe mein Loft ganz alleine gefunden und hergerichtet. Und das Teil ist ein Traum. Mein Maboroshi war so begeistert davon, dass er mich gleich nach unserem zweiten Treffen nahezu angefleht hat, einziehen zu dürfen. War auch nicht verwunderlich. Bei der winzigen Wohnung, die er da zur Miete hatte. Da hätte nicht mal mein Bett vernünftig rein gepasst.“ Skeptisch zog Kyo eine Augenbraue hoch. Der Hüpfzwerg konnte viel erzählen, so ganz ohne Beweise. „Du glaubst mir nicht, was? Na warte.“ Nobu zog sein Handy aus der Hosentasche und fuhr einige Male mit dem Finger über das Display. „Wo ist denn jetzt...? Die müssten hier doch... Ah. Gefunden!“ Stolz hielt er Kyo sein Telefon unter die Nase. „Guckst du hier. So sah mein Wohnzimmer letzte Woche aus. Das sieht doch genial aus, oder? Wie die aufgehende Sonne alles sanft anstrahlt. Bin ich froh, dass ich da mal so früh wach geworden bin.“ Nobu hatte sich hinter Kyo gestellt und legte seinen Kopf verträumt auf dessen Schulter ab. „Das war so ein schöner Moment.“ Wie gebannt starrte Kyo auf den kleinen Bildschirm. Das Motiv war wirklich atemberaubend. „Und DIE konntest du dir leisten?“ Das Wohnzimmer war groß. Nein, riesig. Mit einer gewaltigen Aussicht durch eine große Fensterwand. Kein Wunder, dass es lichtdurchflutet war. Nobu zeigte noch einige weitere Bilder, die Kyo nur noch mehr zum Staunen brachte. „Wie bist du da ran gekommen? Ich tippe Mal auf geerbt oder reiche Eltern.“ Empört nahm Nobu sein Handy wieder an sich und entfernte sich von dem Älteren. „Weder noch, Kyo-chan. Die habe ich mir selbst gekauft und auch eingerichtet. Na ja, beim einrichten hatte ich schon Hilfe. Alleine streichen dauert so lange.“ Keck streckte er dem Schwarzhaarigen die Zunge heraus. „Und obwohl du so gemein zu mir bist, werde ich mich mal umhören, ob sich für dich was ähnliches finden lässt.“ In dem Moment stieß Toshiya dazu, hatte nur den letzten Teil gehört. „Was will er für dich finden?“ Kyo, ein wenig verblüfft über den Sinneswandel des Jüngeren, stierte planlos vor sich hin, weshalb der Bassist anfing mit der Hand vor dem Gesicht seines Freundes herum zu wedeln. „Eine Wohnung.“ „Wie bitte?“ „Nobu-kun will eine Wohnung für mich suchen.“ Geschockt sah Toshiya zu Kyo und dann zu der Stelle, an der ihr 'Maskottchen' verschwunden war. „Das... Aber... Nobu!!!“ Er flitzte hinter dem Jüngeren her. Soweit kam es noch, dass dieser Flummi den Auszug seines besten Freundes auch noch beschleunigte. Die, der in Toshiyas Laufrichtung geriet machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Gut, dass er den Kaffee in einer Kanne mitgebracht hatte. „Was ist denn in den gefahren?“ Statt einer Antwort bekam er nur eine leere Tasse entgegen gehalten. „Ich rede nur gegen Bezahlung.“ Lachend goss der Gitarrist dem Sänger einen Kaffee ein: „Na, dann sprich dich aus.“ Schmunzelnd schilderte ihm der Kleinere die kurze Geschichte, damit sich 'BigRed' auf dem neuesten Stand befand. Seinen Kaffee schlürfend lehnte sich Die gegen die Verkaufstheke, ließ sich das gehörte noch mal durch den Kopf gehen. „Ich persönlich finde es ein wenig... beängstigend, dass du alleine leben willst. Wir wissen beide, dass du noch mit deinem Dämon zu kämpfen hast. Und wir wissen auch den Namen dieses Dämons. Du, alleine mit ihr... Da ist mir nicht wohl bei. Außerdem... Nobu kennt die halbe Stadt persönlich. Sein Telefon platzt bald durch die vielen Telefonnummern, die er schon gespeichert hat. Keine Ahnung, ob er all den Leuten auch noch Gesichter zuordnen kann. Wenn er dir beim Suchen hilft, dauert das keine zwei Tage bis er einen ganzen Katalog an möglichen Wohnungen zusammen hat. Vielleicht solltest du ihn lieber zurück pfeifen.“ Doch Kyo schüttelte den Kopf. „Du weißt genauso gut, wie ich, dass das nicht möglich ist. Und anstatt davor wegzulaufen, sollte ich mich dem stellen.“ Auch, wenn ihm der Gedanke an das allein sein ein gehöriges Herzrasen verursachte. „Ich muss es tun. Für Toshiya. Damit er seine Familie wieder bekommt. Ich bin zweitrangig. Bin eine Belastung.“ „Baka. Wenn du etwas nicht bist, dann eine Belastung. Und um Toshiya brauchst du keine Angst haben. Wenn er dich als Belastung empfinden würde, dann würde er unser Kätzchen nicht quer durch den Laden jagen.“ Nach einem Moment der Stille wuschelte er dem Kleineren kräftig durch die Haare. „Aber wenn du was gefunden hast, dann helfen wir dir gerne beim Einzug.“ „Tja, wenn. Aber ich melde mich dann. Versprochen.“ Plötzlich hörte man laute Schreie aus dem hinteren Bereich des Ladens: „Nobu! Leg sofort wieder auf!“ „Niemals!“ Synchron verdrehten Die und Kyo die Augen, sahen gleichzeitig zur Tür, als die Glocke ertönte. Kundschaft. „Hallo Sachiko-san“, begrüßte Daisuke die junge Dame. „Was können wir für dich tun? Ein neues Mikro vielleicht?“ „Eto... Eigentlich bin ich gekommen, weil ich...“, sie schielte zu Kyo, woraufhin Die ein breites Grinsen im Gesicht wuchs. „Weil ich...“ Nervös spielte sie mit den Henkeln ihre kleinen dunkelblauen Handtasche. Um sie ein wenig zu beruhigen ging Die um die Theke herum, legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schulter. „Also, im Moment ist gerade reichlich wenig los. Wenn du dir unseren Kyo ausleihen willst: Sein Chef gibt ihm gerade grünes Licht für eine längere Pause“, zwinkerte er ihr zu, wobei er beim letzten Teil zu dem Kleineren hinüber sah. Dieser musste betreten zur Seite sehen, fielen ihm bei Dies Gehabe doch wieder Kaorus Worte ein. Ob denn da wirklich was dran war? Hatte sie wirklich so etwas wie gefallen an ihm? Ein seltsames Gefühl. Sollte es wirklich so sein. Zumindest merkte er, wie sein Blut seine Wangen rot färbte. Himmel, er war doch keine 15 mehr. Derweil wurde Sachiko immer nervöser. Sie würde schon sehr gerne mit ihrem Idol weggehen. Es musste ja nichts besonderes sein. Auf einen Kaffee würde ihr schon reichen. Würde sie in allen Wolken schweben lassen. Gedanklich driftete sie bereits zu so einem Treffen ab. Das würde so schön werden. Nur sie und Kyo-san... Bevor ihre Fantasie ein solches Treffen jedoch zu weit ausschmücken konnte, wurde sie von Dai durch ein Rütteln zurück in die Gegenwart geholt. „Sachiko? Alles in Ordnung?“ „Ähm... Ja. Alles in Ordnung.“ Eilig kramte sie in ihrer Handtasche, förderte einen kleinen Notizblock zu Tage, schlug ihn auf und überreichte ihn dem Gitarristen. „Ich brauche dringend ein paar Sachen. Ein paar neue Bass- und Gitarrenseiten, Pleks. Kleinigkeiten eben.“ Fachmännisch las Daisuke sich die Liste durch, nickte. „Ich such dir die Sachen schnell raus. Habt mir ja alles aufgeschrieben hier. Bin gleich wieder da.“ Er ging schon los, blieb aber noch einmal kurz stehen und wandte sich an Kyo: „Kyo, sei lieb zu Sachiko solange ich weg bin.“ Ein Knurren war die Antwort des Angesprochenen. Als ob er diesem Mädchen gegenüber unhöflich sein könnte. Sie war ein nettes, junges Ding, auf dem Weg ihren Traum zu verwirklichen. Außerdem riss Kaoru ihm doch den Kopf ab, wenn er sich nicht benahm. Dennoch fiel es ihm schwer, die peinliche Stille zwischen ihnen zu unterbrechen. Worüber redete man auch als 'alter Knacker' mit einer jungen Frau? Außer, über Musik. Aber darüber musste er sich nicht lange Gedanken machen, da Sachiko das reden übernahm. „Ano... Kyo-san... ich... ano... hätten sie nicht vielleicht doch Lust mit mir...?“ Verblüfft sah Kyo sie an, stellte fest, dass sie ziemlich rot im Gesicht war. War ihr wohl nicht leicht gefallen. Trotzdem: Was sollte er jetzt sagen? Er war da so dermaßen aus der Übung. „Nun... Dai hat ja gesagt... und viel zu tun ist auch nicht... Ich hätte da also nichts gegen...“ „Wohin soll es denn gehen?“ Erschrocken zuckten Kyo und Sachiko zusammen, als Nobu so aus dem Nichts auftauchte. Wenn der das noch öfter machte bekam Kyo noch einen Herzanfall. „Schleich dich gefälligst nicht so an. Da kriegt man ja Zustände.“ „Mou~ Das hat nur so einen Spaß gemacht. Ihr beide steht hier so schüchtern in der Gegend rum, da hab ich gedacht, ich sorge für ein bisschen Stimmung.“ Diese verdammte Grinsekatze. „Komm du noch mal an, dass du Kekse oder dergleichen willst. Das kannst du ab sofort vergessen.“ Beleidigt schmollend setzte Nobu sich an Ort und Stelle auf den Boden. „Wie gemein. Das erzähle ich meinem Schatz. Dann kannst du dich auf was gefasst machen. Und meinen Rundruf wegen der Wohnung, den werde ich auch wieder rückgängig machen. Jetzt kannst du wieder alleine suchen.“ Kyo schüttelte, die Augen verdrehend, den Kopf, ging dann um die Theke herum und auf Sachiko zu. Im Vorbeigehen strich er dem jüngeren Schwarzhaarigen über den dunklen Schopf. „Schmoll du noch ein wenig.“ Reichlich nervös stand er dann vor der jungen Dame, die ihn um wenige Zentimeter überragte. „Ano... ich geh kurz meine Jacke holen und den anderen Bescheid sagen und dann... können wir los?“ Eifrig nickte sie, zu aufgeregt, um auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. „Gut.“ Der Sänger atmete noch einmal tief durch, drehte sich um und eilte nach hinten. So allmählich fing er an sich zu freuen. Kapitel 22: Mein Gewissen und ich --------------------------------- Kyo hatte das Treffen mit der kleinen Sachiko sehr genossen. Es war erfrischend und so... normal. Niemals hätte er gedacht, dass er sich so gut mit ihr unterhalten konnte. Sie sogar ein wenig mehr gemeinsam hatten als nur die Musik. Da war nur ein kleines Problem mit jemand ganz bestimmten, der meinte ihm das Ganze vermiesen zu müssen. Mit ihrer kreischenden, schrillen Stimme. Natürlich hatte er mit sich gekämpft. Damit man ihm nicht anmerkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Nicht als verrückt abgestempelt wurde. Zusammen mit Sachiko kehrte er wieder in den Laden zurück. Immerhin hatte sie ja eigentlich ein paar Besorgungen machen sollen. Um sich von Ayaka abzulenken, schloss er immer wieder seine Faust fest um das Feuerzeug in seiner Jackentasche. Das Rauchen hatte er zwar nicht wieder angefangen, doch es war ein Gefühl aus alten Zeiten, das ihm ein wenig Halt in dieser veränderten Welt gab. „Ah, da sind die beiden Turteltäubchen ja“, grinste Daisuke, der die beiden als Erstes den Laden betreten sah. Kyo knurrte nur ein wenig vor sich hin, strafte ihn zusätzlich mit einem bösen Blick – der langsam aber sicher wieder besser wurde. Sollte der doch reden. Sie hatten einen schönen Nachmittag zusammen verbracht, mehr nicht. Vielleicht auch ein wenig geflirtet. Das konnte er nicht mehr sagen, weil er nicht mehr wirklich von sich behaupten konnte, dass er wusste, wie das ging. Das Verhalten des Freundes mit einem Schmunzeln und einem Kopfschütteln kommentierend, holte der Gitarrist eine Tüte hinter der Theke hervor: „Ich hab deine Bestellung hier. Alles, was du auf deiner Liste stehen hattest. Willst du noch mal nachgucken?“ Sachiko schüttelte sacht den Kopf: „Iie, ich vertraue dir, Andou-san.“ Sie holte ihre Geldbörse aus der Handtasche, beglich die Rechnung. Sie war nur froh, dass ihr ihre Jungs das Geld bereits gegeben hatten, denn vorstrecken war einfach nicht drin. Jeder von ihnen hatte nur einen kleinen Nebenjob, mit denen sie sich ihr Leben und gerade so auch ihre Musik finanzieren konnten. Und es war ein richtiger Balanceakt beides unter einen Hut zu bringen, denn Ersatz gab es bei ihren Jobs reichlich da draußen. Sie nahm die Tüte entgegen, verabschiedete sich von Dai und Kyo und verließ das Geschäft, allerdings nicht ohne dem Sänger noch einen letzten verstohlenen Blick zuzuwerfen. Mit einem vielsagenden Grinsen wurde er von der Theke aus angesehen und in seinem Nacken hatte er auch so ein verdächtiges Gefühl. Und damit meinte er nicht Ayaka, die mit hasserfüllten Augen um ihn herumschlich. Na ja, nicht nur. „Es gibt so viele Dinge, die ich dir gerne antun würde. Die ich dir an den Kopf werfen würde. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich hasse. Du brichst den Vertrag. Es war deine Idee, vergiss das nicht, du Abschaum“, keifte sie ihn an. „Dein Leben gehört mir. Ich darf es dir zur Hölle machen. Hölle, hörst du? Da ist kein Platz für glückliche Momente.“ Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, flüsterte ihm ins Ohr: „Du nahmst mir mein Leben, ich nehme mir jetzt deines. Nur fair, oder?“ Nobu war derweil auf Daisukes Rücken gesprungen, klammerte sich an dem Älteren: „Hatte er das früher auch? Dieses Starren?“ Aber der Gitarrist schüttelte den Kopf. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Da war irgendwas nicht in Ordnung. Er konnte sich jedenfalls denken, weshalb er so blass war. Und Toshiyas Blick zufolge, ging es diesem genauso. Verdammt! Das wurde ja von Tag zu Tag schlimmer, statt besser. Wenn das nicht bald bergauf ging, dann hatten sie bald die selbe Situation, wie vor sechszehn Jahren. Obwohl ein Psychiater keine üble Idee zu sein schien. Sicher war nur, dass sie Kyos Problem nicht weiter ignorieren durften. Sie hatte ihm das Leben doch jetzt schon lange und oft genug erschwert. Er sollte sie nicht vergessen. Das verlangte ja auch keiner von ihnen. Ihm jedoch dabei zuzusehen, wie rapide es mit dem Kleinen hinab ging seit er wieder frei war, das war nicht zu ertragen. „Nobu, häng dich wieder hinter dein Telefon“, sagte Die und setzte den Jüngeren auf der Ladentheke ab, ehe er zu Kyo hinüber ging, diesen sachte an der Schulter berührte. Wie ein verschrecktes Reh sprang der jedoch einen Meter zurück, sah ihn panisch an. Ein allzu bekanntes Bild für Die. „Ich bins nur“, beschwichtigte er den Jüngeren und hob die Hände. Es dauerte nur noch einen Wimpernschlag, bevor Kyo sich entspannte. „Lass uns nach hinten gehen.“ Schützend legte Dai einen Arm um den Kleineren, führte ihn in den Aufenthaltsraum, wo er ihm auch gleich ein Glas Wasser in die Hand drückte. „Geht es wieder?“ Kyo nickte, obwohl eigentlich überhaupt nichts besser war. Gerade jetzt versuchte er einfach nur alles in seinem Inneren zu verschließen. „Warum erzählst du es ihm nicht? Sag ihm doch, dass ich hier bin und was ich dir antue“, säuselte Ayaka ihm ins Ohr. „Obwohl ich wetten könnte, dass er es schon weiß.“ Sie warf einen abschätzenden Blick in die Richtung des Gitarristen und fing an sich kaputt zu lachen. Kyo warf ihr einen verächtlichen Blick zu, knurrte ein wenig. Sie durfte sich über niemanden lustig machen. Nur über ihn. Er musste und konnte das ertragen, wenngleich sein Fell in all den Jahren auch recht dünn geworden war. „Hey, du machst ja gleich das Glas kaputt“, lächelte Die schief und nahm selbiges auch gleich an sich, bevor Kyo es wirklich noch schaffte es kaputt zu drücken. Schwer seufzend drückte er den Kleineren auf den nächstbesten Stuhl, sah ihm tief in die Augen: „Müssen wir das ganze jetzt noch einmal durchkauen? Deinen Rückzug aus unserer Welt? Deine Selbstaufgabe? Den Kampf, dich wieder in unsere Mitte zu bringen?“ Er ließ seine Worte einen Moment wirken, sah auch, dass Kyo ihm nicht mehr in die Augen schauen konnte, dass er mit sich haderte, so wie er auf seiner Unterlippe herumkaute. „Denk immer an den einen Traum, den du hattest. Wo wir dir die Hand gereicht haben. Dich beschützt haben. Wir helfen dir. Wir sind deine Freunde.“ Das wusste Kyo. Das wusste er alles. Auch an den Traum erinnerte er sich. Und auch, wenn er sich sehnsüchtig Erlösung von dieser seelischen Qual wünschte, so wusste er doch auch, dass es falsch wäre, dass er nicht das Recht dazu hatte. Er hasste sich doch schon dafür bei seinen Freunden all die schlechten Erinnerungen hervor zu rufen. Aber was sollte er denn machen? „Was soll ich denn machen?“, flüsterte er, sich nicht einmal bewusst, dass er überhaupt etwas sagte. „Gar nichts. So wie es jetzt ist, ist alles perfekt.“ „Was du machen sollst?“ Die zog sich einen Stuhl heran, setzte sich dem Vocal gegenüber. „Gib als erstes Mal diese verrückte Idee mit der eigenen Wohnung auf. In deinem jetzigen Zustand, da... Ich... Wir hätten dann ständig Angst, dass alles wieder von vorne beginnt. Bleib doch noch eine Weile bei Toshiya. Bitte. Nicht nur, weil sich der Kurze dann einen Ast freuen würde, sondern weil es auch dir hilfreich wäre. Mit jemandem in deiner Nähe, der nicht Ayaka heißt, würdest du nicht mehr alleine kämpfen müssen. Denn eines ist klar: Wenn ich oder besser gesagt, wenn wir merken, dass du uns wieder entgleitest, dann schleppen wir dich notfalls zu einem Psychiater. Ich schwöre es dir. Wir werden dir nicht dabei zusehen, wie alles wieder von vorne anfängt.“ Stumm saß der Jüngere einfach nur da, versuchte Sinn in den Worten seines Freundes zu finden. Aber da war keiner nicht in seinen Augen und Ohren. „Ich verstehe euch nicht. Ihr seid verrückt euch so an mich zu klammern. Ausgerechnet mich. Ich bin es nicht wert. Ich sollte nicht hier sitzen dürfen und mit dir reden können. Ich sollte am Besten noch immer in dieser dummen Zelle hocken und dafür büßen, was ich getan habe. Ich bin ein Mörder. Abschaum. Der Dreck unter euren Schuhen. Nicht mehr und gleichzeitig noch viel weniger als das.“ Ja, er hatte schon mal anders gedacht, aber dies hier war eine tiefe Wahrheit, die sich in seine zerbrochene Seele gebrannt hatte. Er wollte ja nicht leiden und schon gar nicht, dass ausgerechnet die Menschen litten, an die er sein Herz gehängt hatte. Nur wollte er auf keinen Fall vergessen. Und das hatte weitaus mehr Priorität, als sein Selbsterhaltungstrieb. Das hätte er nicht ignorieren dürfen, als er mit Sachiko weg ging, als er versucht hatte, sich einen Weg zurück zu erkämpfen. „Weißt du was?“ Wütend stand Die auf, versuchte seine Stimme nicht allzu laut werden zu lassen: „Deine scheiß Selbstkasteiung“, er warf den Stuhl durch die Gegend, was Kyo unweigerlich zusammenzucken ließ, „die steht mir bis hier.“ Er zog mit der Hand eine Linie, weit über seinem Kopf. „Deine Moral in allen Ehren, aber was du hier veranstaltest ist einfach nur dämlich, stur und vor allem verletzend.“ Aufgebracht stürmte er zur Tür, die in den Laden zurück führte, riss diese auf, verharrte nochmals. „Du solltest mal darüber nachdenken. Oder sollte ich vielleicht 'ihr' sagen, wo du doch zu zweit bist?“ Innerlich völlig aufgewühlt raste Daisuke in die 2. Etage, wo er sich einfach eine E-Gitarre nahm, diese verkabelte und sich dann seinen Frust lautstark von der Seele spielte. Das mit Kyo war ja einfach nicht mehr auszuhalten. Währenddessen schlich sich Toshiya in den Aufenthaltsraum, wo er einen fast völlig paralysierten Kyo vorfand. Die hatte ja recht, mit dem was er gesagt hatte. Zumindest dem, was der Bassist so gehört hatte, aber es war vielleicht doch eine Spur zu hart. „Toshiya?“ „Hai?“ „Kann ich mir vielleicht den Rest des Tages frei nehmen und nach Hause?“ Toshiya nickte, schnappte sich seine Autoschlüssel und öffnete die Tür zum Hinterhof: „Ich fahr dich. Nicht, dass du dich verläufst.“ Nachdem Toshiya den Älteren in der Wohnung abgesetzt hatte, fuhr er wieder zum Laden zurück, denn einen aufgebrachten Die sollte man nicht zwischen all den empfindlichen Instrumenten wüten lassen. Obwohl Keisuke sich nicht scheuen würde, beherzt einzugreifen, sollte es nötig sein. Mit ruhigen Schritten näherte er sich seinem Geschäftspartner, ließ sich neben diesem nieder. „Musste das eben sein?“ Ein Schnauben seitens des Gitarristen. „Du hast überreagiert, findest du nicht?“ „Ganz und gar nicht. Einer musste ihm das ja mal sagen und ihm die Augen öffnen.“ Genervt stellte er die Gitarre wieder zur Seite. Heute wirkte das Spielen nicht einmal annähernd so beruhigend, wie sonst. „Warum bist du denn bei mir und nicht bei ihm, wenn ich deiner Meinung nach zu hart zu ihm war?“ „Weil Kyo jemand ist, der in so einer Situation damit anfängt über alles nachzudenken. Und weil du gerade genauso jemanden brauchst, der dir zur Seite steht.“ 'Dai hat recht', hatte Toshiya noch zu ihm gesagt, bevor er wieder gefahren war. Aber war das auch wahr? Dachten seine Freunde wirklich so? Hassten sie ihn für seinen Selbsthass? Kyo fühlte bereits, wie er in den alten Teufelskreis von damals abrutschte. Dem Zwiespalt zwischen seinem Gewissen und dem Wunsch nach Normalität. Er lag auf seinem Bett, starrte zur Decke. Was war der richtige und was der falsche Weg? „Warum fragst du nicht mich? Ich kenne die Antwort auf diese Frage.“ Genauso, wie er wusste, was sie antworten würde. Eine Antwort, die ihm nicht gefiel, gleichzeitig aber auch ein Stück von Richtigkeit vermittelte. „Ich wünschte, ich wäre tot.“ „Dabei kann ich behilflich sein.“ Kapitel 23: Fallen ------------------ Mit einem schlechten Gewissen fuhr Die abends nach Hause. Er hatte sich Toshiyas Worte mehrfach durch den Kopf gehen lassen und war dann zu dem Entschluss gekommen, dass er wirklich übertrieben hatte. Zumindest ein bisschen. Ein ganz kleines bisschen. „Hallo Schatz“, begrüßte ihn seine Liebste im Hausflur, gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. „Was bedrückt dich?“, war dann auch gleich ihre nächste Frage und strich besorgt über das Haar ihres Liebsten. „Ist im Laden irgendetwas passiert?“ Die seufzte, während er sich seiner Jacke und seiner Schuhe entledigte, ihr schlussendlich antwortete: „Ich hab mich mit Kyo gefetzt.“ „Inwiefern 'gefetzt'? Habt ihr mit Gegenständen nacheinander geworfen?“ Daisuke schüttelte langsam den Kopf. „Nicht ganz. Ich hab nur... Und dann hab ich...“ Er schlang seine Arme um seine Verlobte, drückte sie ganz fest an sich. „Ich hab Angst, dass er uns wieder entgleitet.“ Völlig fertig von diesem Tag kam Toshiya abermals nach Hause. Den Gitarristen hatte er die letzten Stunden einfach bei den Gitarren sitzen und spielen lassen, damit er sich wieder beruhigte. Gedanklich war er die ganze Zeit hier und er hoffte jetzt noch, dass er nur einen äußerst nachdenklich Kyo vorfinden würde. Einen, der sich, rein körperlich gesehen, in einem Top Zustand befand. Vielleicht hätte er doch hier bleiben und nicht wieder in den Laden zurück fahren sollen. Denn dann würde er nicht mit so einem mulmigen Gefühl hier in seinem eigenen Flur stehen und Angst davor haben, tiefer in die eigene Wohnung vorzudringen. Er sah flehentlich zur Decke, flüsterte: „Oh, bitte. Lasst meine Bedenken unbegründet sein.“ Erst dann entledigte er sich seiner Jacke und tauschte die Schuhe. In der ganzen Wohnung war es ruhig. Beunruhigend ruhig. Beängstigend ruhig. Eine Stille, die Toshiya seit Wochen schon nicht mehr gehört hatte. Sein Weg brachte ihn direkt zum Gästezimmer. Obwohl seine größte Angst darin lag, was er dort hinter der Tür vorfinden könnte. Höflich, wie er war, klopfte er zuerst an, wartete auf eine Antwort. Wartete vergeblich. War Kyo so sehr in seine Gedanken vertieft? Hoffentlich war das der Grund. „Kyo? Ich komme jetzt rein, ja?“ Lauschend legte er ein Ohr an die Tür. Wieder keine Antwort. Ein Zittern erfasste Toshiya und auch seine Knie wurden ganz weich. Nichtsdestotrotz musste er da jetzt rein. Sollte Kyo sich wirklich etwas getan haben, dann musste er tätig werden. Tief durchatmend betätigte er die Türklinge, öffnete langsam die Tür und linste hinein. Mit einem Ruck schlug er die Tür ganz auf, sprintete zu den im Bett liegenden Kyo. Nicht, dass an einem schlafenden Kyo etwas ungewöhnlich wäre, aber ein am Boden zersplittertes Glas Wasser gepaart mit mehreren leeren Tablettenstreifen ließen in dem Musiker die Alarmglocken schrillen. „Kyo!“ Sofort zerrte er den Älteren vom Bett herunter, ungeachtet der Scherben. Er schleifte ihn zur Mitte des Raumes, brachte ihn in die Seitenlage, so wie er es mal gelernt hatte, in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät war. „Verdammt, was hast du jetzt nur wieder getan?“ Verzweifelt rannte Toshiya zum Telefon, wählte den Notruf. Abgehetzt und kreidebleich traf Kaoru im Krankenhaus ein. Im Eingangsbereich fand er auch gleich Shinya und Toshiya vor, die mit gesenkten Köpfen dasaßen. „Toshiya.“ Selbiger sah auf. Die Augen rot und verquollen. Das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Was ist mit Kyo?“ „Sie -“, er brach ab, richtete seinen Blick wieder nach unten, „Sie pumpen ihm gerade den Magen aus. Das waren Schlaftabletten, die er da genommen hat.“ Toshiyas Stimme wurde brüchig und man konnte regelrecht hören, dass ihm bereits wieder die Tränen in den Augen standen. „Harmlose... schwache Tabletten, aber...es war definitiv ein Selbstmordversuch.“ Also genau das, was Kaoru hatte nicht hören wollen. „Scheiße“, fluchte er und ließ sich auf einem der Sitze nieder, seufzte. Das gab es doch nicht. Wieso um alles in der Welt ging es mit Kyo so dramatisch bergab? Da musste es doch irgendeinen Auslöser geben. Nur was? „Wo ist eigentlich Die?“ „Der kommt nicht“, antwortete Shinya. „Er ist am Telefon zusammengebrochen, als er es gehört hat. Jetzt gibt er sich die Schuld dafür, dass es so weit gekommen ist.“ „Und das denkt er, weil..?“, fragte Kaoru und sah von einem zum Anderen. Toshiya fing an herum zu drucksen: „Eto... Das war so... Angefangen hat es damit, dass...“ Und so erzählte er dem Älteren stockend, was an diesem Nachmittag im Musikgeschäft vorgefallen war. Gleichzeitig machte er sich große Vorwürfe, dass er den guten Freund alleine gelassen hatte. Er war sich in dem Moment nur so sicher gewesen, dass Daisuke ihn mehr gebraucht hatte, als Kyo. „Warum macht er es sich nur so schwer?“, seufzte Kaoru. „Er bettelt ja geradezu darum wieder in den Knast zu gehen. Zu büßen.“ Einstimmiges Nicken der anderen Beiden. Vor ein paar Wochen, als sie bei Kaoru gesessen und den Anruf bekommen hatten, da hatten sie die Sonne aufgehen sehen. Da haben sie alle gedacht, dass alles wieder normal wird. Und wenn man dann daran dachte, wie gut Kyos Rückkehr am Anfang verlaufen war... Shinya schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, unterdrückte die aufkommenden Tränen immer wieder aufs Neue. „Wir hätten ihn nicht so schnell wieder zum Singen bringen sollen. Ich denke, das war unser Fehler.“ „Sag das bloß nicht Dai. Dann fängt er nur an sich noch schuldiger zu fühlen. Im schlimmsten Fall tut er sich auch noch was an.“ Wenn Kaoru daran dachte, wie sehr der andere Gitarrist darauf gepocht hatte... Das würde nur ein Dilemma werden. Ihr weitaus größeres Problem war derzeit nur: Was machten sie mit Kyo? Am Sichersten wäre er ja hier, zwischen all den Ärzten und Pflegern, die rund um die Uhr ein Auge auf ihn haben konnten. Denn, wer garantierte ihnen, dass er nicht noch einen zweiten Versuch startete? Auf jeden Fall sollten sie erst einmal das Gespräch mit dem Kleineren suchen, der ganzen Sache ein wenig auf den Zahn fühlen. Eine junge Dame kam auf sie zu, stellte sich ihnen als Tomoyo Naoto vor. Die Ärztin, die für Kyo zuständig war. „Zur Zeit ist Niimura-sans Zustand stabil. Aufgrund der Sedierung schläft er im Moment. Zudem haben die Tabletten natürlich ihre Wirkung gezeigt. Akute Lebensgefahr bestand nicht, dennoch bereitet mir die Tatsache, dass er etwas Derartiges getan hat große Sorgen. Sie wissen nicht zufällig einen Grund für sein Handeln?“ Forschend sah sie von einem Mann zum anderen, welche sich untereinander mit mulmigen Blicken unterhielten. Schließlich antwortete Kaoru, ganz in seiner Rolle als Leader, zerknirscht: „Nun, für die Antwort müssen wir ein paar Jahre zurück in die Vergangenheit, um Ihnen die Gründe verständlich zu machen.“ Und er wollte heute nur sehr ungern über Kyos Vergangenheit reden. Die Ärztin schien zu überlegen, schürzte die Lippen, meinte dann, mehr zu sich selbst, als an irgendwen sonst: „Dann ist er also tatsächlich der Niimura-san.“ Sie hob den Blick. „Hab ich recht?“ „Wenn sie mit der Niimura-san den Sänger von Dir en Grey meinen, der wegen einer Straftat ins Gefängnis musste, dann ja“, erklärte Kaoru wahrheitsgemäß. „Ich hab es mir gedacht. Obwohl ich dadurch immer noch nicht weiß, was der Auslöser war.“ Kaoru seufzte. Es half ja alles nichts. Kyo konnte nur geholfen werden, wenn man alles erzählte. Das kannten sie ja bereits. Das Erste, was er dachte, als er den Geruch und die Geräusche um sich herum wahrnahm, dass er einen langen, komplizierten Traum gehabt hatte. Dass Ayaka ihn nicht so sehr drangsaliert und er sich gerade erst von Shinya verabschiedet hatte. Aber irgendwer musste die Lampe ausgetauscht haben. Die surrte nicht mehr so nervtötend. Nur: Warum fühlte er sich so schlapp? Er hatte doch so lange geschlafen. Träge öffnete er die Augen und Verwirrung machte sich in ihm breit. Das gesamte Zimmer sah anders aus. War er am Ende verlegt worden, während er sich in diesem seltsamen Traum befunden hatte? Damit hätten sie ja nun wirklich warten können, bis er wach war. Die Tür öffnete sich und als Kyo nachsah, wer ihn da besuchen kam, konnte er nicht anders, als die Augen weit auf zu reißen. Nein, er hatte nicht geträumt. Kaoru, Toshiya und Shinya sahen genau so aus, wie er sie in seinem 'Traum' gesehen hatte. Nur mit den Nerven noch ein wenig mehr am Ende. Verdammt. „Hey, bist ja doch schon wieder wach“, lächelte Shinya schwach, während Toshiya so aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Nur Kaoru, der sich neben ihn gestellt hatte, blickte ihn nahezu emotionslos an. Bis er ihm eine derbe Kopfnuss verpasste. „Dafür, dass du so ein absoluter Volltrottel bist. Als ob es irgendwem besser gehen würde, wenn du dir das Leben nimmst.“ Sich über die schmerzende Stelle reibend, betrachtete er verlegen die Bettdecke, setzte sich halbwegs aufrecht hin. „Ihre Familie würde sich freuen.“ „Und wir?“, fauchte Kaoru. „Was ist mit uns Vieren? Was ist mit deinen Kollegen im Laden?“ „Nobu hat vorhin angefangen jämmerlich zu weinen. Er hatte mich angerufen, weil er sich auch Sorgen um dich gemacht hat.“ Ein weinender Nobu? Das ergab in Kyos Ohren keinen Sinn, hatte er doch nur dessen lachendes oder schmollendes Gesicht in Erinnerung. „Dann wären da noch Akio und vor allem die kleine Nanami. Stell dir vor, sie würden nie wieder lachen können, weil sich ihr Lieblingsonkel umgebracht hat.“ Ein Gedanke, der Kyo einen Stich ins Herz trieb. Die kleine Nanami, die dieses wunderschöne Lachen hatte, dass einem ganz warm wurde. Nein, das könnte er niemals verantworten. „Vergiss nicht, Sachiko-kun“, warf Toshiya ein. „Die wäre am Boden zerstört.“ „Und die Liste könnte ich jetzt noch mal mit ungefähr zwanzigtausend weiteren Namen fortführen“, ergänzte Kaoru. Zwanzigtausend? Ungläubig sah Kyo zu dem Älteren. Wie kam dieser denn jetzt bitte schön auf diese Zahl? Aber bevor jener fortfuhr, zog er sich einen Stuhl heran. Die Nachricht, die er jetzt hatte, war selbst für ihn noch so überwältigend. „Ano... Wie fange ich das jetzt am Besten an?“ Hilfesuchend sah er zu den beiden Freunden, die aber nur betreten weg sahen. Kyos Blick wanderte von einem zum Anderen. Wieso wussten die Bescheid? Schließlich ergriff Shinya das Wort. „Nach... nach deinem kleinen 'Auftritt'... im Shop...“ „Da waren doch so viele Presseleute, erinnerst du dich?“, warf Toshiya an, woraufhin Kyo schwach nickte, immerhin hatte er die gar nicht wirklich wahr genommen. Kaoru seufzte, erzählte dann weiter: „Die haben, ganz wie sie sollten, über den Auftritt von 'Sugar Nightmare' berichtet. Aber eben nicht nur...“ In Kyos Kopf ratterte es emsig, dann weiteten sich seine Augen. Dann wurde sein Zusammenbruch publik gemacht? Fragend, aber auch zutiefst geschockt sah er in die Ruhe, bekam von jedem ein bestätigendes Nicken. „Es fanden sich ziemlich viele Artikel. Aber wir hielten es für das Beste, sie von dir fern zu halten.“ Kaoru sah entschuldigend zu dem Jüngeren, versuchte schon einmal abzuwiegeln, wie dieser noch auf den eigentlichen Kracher reagierte. Toshiya lachte kurz auf. „Du kannst dir vorstellen, wie schwer es ist Nobu dazu zu bringen etwas für sich zu behalten.“ Kyo nickte. Ja, das konnte er sich vorstellen. Wobei es wirklich an ein Wunder grenzte, dass der kleine Flummi das bis jetzt durchgestanden hatte. „Dôshite...?“ „Damit du dich nicht unter Druck gesetzt fühltest“, antwortete der Gitarrist. „Du glaubst gar nicht, wie oft die Frage auftauchte, ob es jetzt zu einem Comeback von Dir en Grey käme.“ „Und die zwanzigtausend“, sagte Shinya und lächelte schief, „das sind die Zuschriften von... von Fans. E-Mails, Briefe, ganze Päckchen sind teilweise bei Kaoru im Label eingetroffen.“ Dieser nickte bestätigend. „Alle mit ein und der selben Aussage.“ Kyo nickte. „Ich soll singen.“ Zwanzigtausend. Zwanzigtausend Menschen da draußen wollten, dass er sich wieder auf eine Bühne stellte und für sie sang. „Zwanzigtausend...“ Der Älteste holte einmal tief Luft, räusperte sich. „Was?“, hakte Kyo nach. Eine derartige Geste machte der andere schließlich nicht ohne Grund. Antworten übernahm jedoch Toshiya: „Das sind nur die Zuschriften, die in den ersten drei Tagen nach erscheinen der Berichte eingetroffen sind.“ „Und auch nur die aus Japan.“ Sprachlos und mit offenem Mund sah Kyo Shinya an, dann wanderte sein Blick weiter. Die wollten ihn doch auf den Arm nehmen. Aber natürlich. Warum sollte das auch der Wahrheit entsprechen? Anderseits waren sie seine besten und engsten Freunde. Es gab keinen Grund für sie zu lügen. Nicht, wenn sie solche Gesichter zogen. Nicht, wenn sie sich in einer Situation wie dieser befanden. Und beinahe hätte er all diese Menschen ins Unglück gestürzt, weil er so dumm und schwach war. Kurz versteckte er sein Gesicht hinter seinen Händen, versuchte sich zu sammeln, dann fuhr er sich durch die Haare, sah einmal durch den Raum und blieb an Ayaka hängen. Spöttisch erwiderte sie seinen Blick. „Sumimasen“, flüsterte er. „Pah“, sie wandte ihr Gesicht von ihm ab, wirkte jedoch nicht mehr ganz so überheblich. „Sag mir das ins Gesicht, wenn du dich traust.“ Ins Gesicht? Aber das hatte er doch gerade, oder nicht? Kapitel 24: Von Blumen, Erdbeeren und einem Hauch von Meer ---------------------------------------------------------- Nachdem Kyo noch ein paar Tage auf seinen eigenen Wunsch hin in der Klinik geblieben war, holte Toshiya ihn von dort ab, um ihn wieder zu sich zu holen. Das Wochenende hatte er ganz allein mit seinem Sohn verbracht, der gar nicht erfreut davon war, dass Kyo fehlte. Um ihn nicht zu beunruhigen hatte der Bassist dem Kleinen erzählt, dass der Sänger übers Wochenende bei einem der Anderen wohnte, weil sie es unfair fanden, dass nur einer von ihnen das Vergnügen hatte so viel Zeit mit dem lang vermissten Freund zu verbringen. Für Toshiya selbst war es an den Wochentagen eine Tortur gewesen die leere Wohnung zu betreten. Diese verhasste Stille ertragen zu müssen. So viele Wochen lang hatte er sie nicht mehr gehört. Hatte beinahe schon vergessen, dass sie überhaupt existiert hatte. In diesen paar Tagen war er der Erste, der im Laden war und der Letzte, der wieder ging. Ein seltsames Verhalten, aber gesagt hatte niemand was. Kannten sie das doch noch aus der Zeit nach der Scheidung vor zwei Jahren. Toshiya hatte sich noch ein wenig Verstärkung geholt, an dem Tag, als er Kyo abholen kam: Daisuke. Er hatte wirklich ein schlechtes Gewissen gehabt, nachdem er von Kaoru gehört hatte, was passiert war. Dieser hatte ihn nämlich noch am selben Abend angerufen, damit er es nicht von irgendwem anderes erfahren musste. Zum Glück hatte Nanami nichts von alledem mitbekommen. Die Kleine wäre sonst ebenso fertig gewesen, wie ihr Vater. Wenn nicht sogar noch schlimmer. Es war nicht leicht ihr zu verheimlichen, warum ihr Vater sein Lachen verloren zu haben schien. Zumal sie vieles versucht hatte, um ihm selbiges wieder zu entlocken. Erfolglos. Gemeinsam betraten die beiden Männer das Krankenhaus, machten sich auf den Weg durch das Gewirr der Gänge, direkt zu Kyos Zimmer. Dieser verstaute gerade seine wenigen Habseligkeiten in einer Tasche. Beides hatte ihm Toshiya vor 6 Tagen nach der Arbeit vorbeigebracht. Gerade wollte er den letzten Gegenstand hinein legen. Das, mittlerweile gerahmte, Bild, welches Daisuke damals im Krankenhauspark gemacht hatte. Beinahe wehmütig sah er auf dieses einfache und doch so ausdrucksvolle Bild. Er hatte den Bassisten speziell darum gebeten es mit zu bringen. Es hatte ihm in den letzten Jahren Hoffnung gegeben und es tat es immer noch. Dieses kleine Wunderwerk der Natur. „Warum kann ich nicht auch wie diese kleine Blume sein?“ „Wieso? Möchtest du mal wieder Besuch von einer Biene haben?“ Verwundert blickte Kyo auf, sah einen grinsenden Toshiya in der Tür stehen. Hinter ihm ein ziemlich eingeschüchterter Die, der es kaum wagte seine Augen vom Boden abzuwenden. „Ha, ha. So war das ja gar nicht gemeint.“ Verstimmt legte er das Bild in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. Zumindest schien Toshiya sich halbwegs von dem Vorfall erholt zu haben, wenn er sich wieder so verhalten konnte. Oder er wollte nur den Eindruck erwecken. War wohl auch besser, wenn sie diesen Vorfall schnell vergaßen. „Hast du alles?“, erkundigte sich der Jüngste von ihnen, sah sich noch einmal prüfend im Raum um. Kyo nickte bestätigend. „Sogar meine Entlassungspapiere. Ich muss jetzt eigentlich nur noch bezahlen gehen und dann können wir von hier verschwinden.“ Er schulterte die Tasche und sah die anderen beiden abwartend an. Toshiya erwiderte den Blick, Daisuke hingegen wandte seinen Kopf zur Seite. „Lasst uns hier raus, ja? Von Krankenhäusern haben wir ja alle genug, oder?“ Zustimmendes Nicken der anderen Beiden. Toshiya nahm die Tasche an sich, meinte, dass er mit Daisuke schon mal Richtung Auto ging. „Dauert ja nicht lange bei dir, ne?“ Sie verließen noch gemeinsam das Zimmer und machten sich auf den Weg in die Eingangshalle, wo sie sich dann kurz aus den Augen ließen. Kyo musste noch einen Moment warten, waren doch auch noch andere Leute vor ihm dran. Die eigentliche Prozedur dauerte dann vielleicht zwei Minuten, dann konnte er sich ruhigen Gewissens zum Parkplatz begeben, wo er auch schon von seinen beiden, rauchenden, Freunden erwartet wurde. Wie gemein. Einem ehemaligen Raucher was vor zu qualmen. Er könnte ja wieder anfangen, jedoch vermisste er es auch nicht wirklich. „Was dagegen, wenn wir jetzt erst einmal zu Kaoru fahren? Der wollte doch noch irgendwas von dir.“ Kyo nickte. Kaoru hatte ihn wirklich gebeten vorbei zu kommen, gleich nachdem er entlassen wurde. Natürlich ohne irgendeinen genaueren Grund zu nennen. Der machte ihn mit Absicht neugierig, damit er kommen musste. Ach ja, er war nicht umsonst Bandleader und einer von Kyos engsten Freunden. Und er musste gestehen, dass er immer neugieriger wurde und es kaum erwarten konnte, dass das Rätsel gelöst wurde. „Raucht schneller, ihr Zwei.“ „Keine Hektik. Wir brauchen so lange, wie wir brauchen“, grinste Toshiya, zog genüsslich an dem Glimmstängel und pustete den Rauch langsam wieder aus. Kyo fing an zu husten und mit den Händen vorm Gesicht herum zu wedeln. Toshiya erreichte gerade einen ziemlich kritischen Moment, in dem er dem Jüngeren, so dankbar er ihm auch war, am liebsten an die Gurgel springen würde. Schmollend sah er zu dem grinsenden Etwas, ehe sich sein Blick wieder auf Die richtete, der beschämt weg sah. So langsam machte er sich Sorgen um den Größeren. So ein Verhalten zeigte er doch sonst nicht. Was also bedrückte ihn so? Kyos Selbstmordversuch? War es das? Die Zigaretten fanden ihr Ende auf dem Boden, woraufhin sich der Bassist hinters Steuer schwang und Dai sich auf die Rückbank verzog. Stillschweigend, wie die ganze Zeit schon. Bevor er die Tür jedoch schließen konnte, hielt Kyo ihn auf, sah ihm fest in die Augen. „Was ist los mit dir? Du hast mir nicht mal 'Hallo' gesagt.“ Der Gitarrist hielt dem Blick nicht lange stand, richtete seinen lieber auf die Rückseite des Beifahrersitzes. „Hallo, Kyo“, nuschelte er leise, spielte nervös mit seinen Händen. Was sollte man dazu jetzt noch sagen? Mensch, da kam der Gitarrist schon mit und schaffte es dann nicht einmal drei Worte mit ihm zu wechseln? Der war wirklich seltsam drauf. Seufzend wollte der Sänger die Tür schließen, damit sie endlich losfahren und er seine Neugier stillen konnte, doch Die hielt ihn auf. „Ich-Ich hab da noch was für dich.“ „Hm?“ Vom Sitz neben sich holte er eine kleine Pappschachtel mit einem Bäckereilogo und hielt sie dem Jüngeren entgegen. Verwundert nahm Kyo die Schachtel entgegen, blinzelte einige Male verwirrt, ehe er einen vorsichtigen Blick hinein warf. „Ein... Erdbeerkuchen?“ Jetzt nahm seine Verwirrung sogar noch zu. Er sah zu Toshiya, der aber nur schmunzelnd zurückblickte und die Situation lieber beobachtete. Der Kleinste sah nochmals zu dem Gebäck. Plötzlich durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz und er sah mit großen Augen zu dem Gitarristen, der wieder anfing mit seinen Händen zu spielen. „Arigatou.“ „Ach was. Ist doch nicht der Rede wert. Lass uns das jetzt nur nicht zur Tradition machen. Du kannst doch auch Kuchen bekommen, wenn du... wenn du fragst.“ Schüchtern sah Dai zu dem Jüngeren, hoffte darauf, dass er die Anspielung verstand. Immerhin war er ja sonst nicht so dafür bekannt irgendwelche Metaphern vom Stapel zu lassen. Kyo nickte, als Zeichen dafür, dass er begriffen hatte und musste vor lauter Rührung einfach vor sich hin lächeln, gleichzeitig gegen die aufkommenden Tränen kämpfen. Toshiya, der diese Geste zwar auch unheimlich lieb von ihrem Gitarristen fand, wurde zunehmend ungeduldiger. Schließlich wartete Kaoru auf sie und sie wussten ja, dass er warten nicht so mochte. Vor allem bei seinem vollen Terminkalender. So forderte er Kyo sanft, aber bestimmend dazu auf, endlich in den Wagen zu steigen, damit sie losfahren konnten. „Huhu, Kaoru“, krakelte Toshiya nachdem er sich, durch das übertriebene Aufreißen der Tür, Zutritt zu dem Büro des Älteren verschafft hatte. „Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht.“ Hinter ihm tauchten Die und Kyo auf, wobei sich Letzterer einfach so an dem Bassisten vorbei und in den Raum schob und zu dem Ältesten flüchtete, sich hinter dessen Sessel versteckte, was diesen dazu brachte skeptisch eine Augenbraue nach oben zu ziehen und zur Tür zu blicken. „Was habt ihr jetzt wieder angestellt?“ Das diese beiden Scherzkekse nicht ernst bleiben konnten. Jedoch, so wie Toshiya grinste und Die bedrückt aus der Wäsche guckte, war der Übeltäter einzig und allein der Jüngere von ihnen. „Was ist passiert?“ „Frag dein Geschenk“, antwortete Die und ging zu der Sitzecke, bestehend aus einem größeren Sofa für drei Leute, zwei Sesseln und einem niedrigen Wohnzimmertisch. Er wählte das Sofa, da man vorn dort einen guten Blick auf den Schreibtisch hatte, aber auch aus dem großen Fenster, wenn man zur Seite sah. Auf dem Tisch landete eine Pappschachtel, die etwas größer war, als die, die er Kyo geschenkt hatte. Mit einigen wenigen Handgriffen öffnete er die Schachtel und zum Vorschein kam eine Auswahl verschiedenster Gebäcke, Kuchen- und Tortenstücken. „Gibt es in diesem Laden auch nen anständigen Kaffee?“ „Auch noch Ansprüche stellen.“ Kaoru schüttelte den Kopf, bat seine Sekretärin dennoch ihm und seinen Gästen sowohl Kaffee, als auch Geschirr zu bringen und im Anschluss dafür zu sorgen, dass sie in den nächsten Stunden nur dann gestört wurden, wenn es absolut wichtig war. Dann wandte er sich dem zu, was sich hinter seinem Rücken befand. „Also, was hat-“, er stockte und schaute ziemlich verdutzt drein, als er dieses zusammen gekauerte, schmollende Etwas sah. „Oh man. Kein Wunder, dass er dich als Geschenk bezeichnet hat.“ Kyo fing an zu knurren. „Anstatt zu starren, könntest du mich besser von diesem... diesem...Ding befreien.“ Er zerrte an der Schleife herum, die ihm ihr lustiger Bassist in die Haare gebunden hatte. Dabei musste er wohl eine ganz spezielle Technik verwendet haben, denn je mehr Kyo an diesem Monstrum zog, um so mehr schien es sich zu verheddern. Er sollte sich die Haare ganz kurz schneiden, dann hatte der andere keine Möglichkeit mehr so einen Schwachsinn zu veranstalten. Immer weiter zerrte er an der Schleife herum, gab schließlich missmutig auf, da er das Gefühl hatte, sich sämtliche Haare auszureißen. „Hilft mir jetzt endlich mal jemand?“ Mit einem amüsierten Kichern erbarmte sich Kaoru und machte sich daran, sein 'Geschenk' zu öffnen. Einfacher als gedacht. Vor allem, weil Kyo zappelte wie blöde und dabei auch noch jammerte wie ein kleines Kind. „Halt still. Entweder du lässt es mich jetzt in aller Ruhe weiter probieren oder ich schneide sie dir aus deiner Mähne.“ „Lass sie drin, das wäre die größere Strafe.“ „Das würdest du nicht wagen.“ Geschockt war Kyo aufgestanden und starrte den Jüngsten im Raum an. Dieser zuckte mit den Schultern, warf ihm jedoch gleichzeitig einen viel sagenden Blick zu. Ja, wenn man ihn weit genug provozierte, dann war er zu einer solchen Tat fähig. Zumal er ja bei dem Größeren wohnte. So konnte er dafür sorgen, dass er sich diese Schleife nicht rausfummelt oder ihm eine neue verpassen. Aber dass konnte Kyo ja nicht zulassen. Er sah absolut lächerlich aus mit dem Ding. Zu seinem Glück war sie immerhin nicht rosa. Obwohl Mintgrün auch schon eine Strafe war. Mit verschränkten Armen stapfte er aufs Sofa zu, ließ sich neben Die auf das Sitzmöbel fallen. „Wärst du so freundlich?“, fragte er den anderen und lehnte sich gegen ihn. „Und Kaoru kann in der Zwischenzeit erzählen, warum wir hier her kommen sollten.“ Nach einem kurzen Zögern machte sich Dai daran seinen kleineren Freund vorsichtig von dem Schabernack zu befreien. Und da dieser sich nun recht ruhig verhielt, ging es auch ziemlich gut und schnell. In der Zwischenzeit war die Sekretärin herein gekommen, hatte ihnen Kaffee und Geschirr, samt Besteck gebracht. Kaoru setzte sich zu den Anderen, goss jedem eine Tasse von dem geliebten Kaffee ein. So wartete er seelenruhig ab, bis Die ihr, in Ansätzen bereits wieder erkennbares, Warumono von der kindischen Schleife befreit hatte. Immerhin war so gewährleistet, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit von diesem hatte. „Der Grund, weshalb ich dich gebeten habe her zu kommen, Kyo, ist folgender: Wir hatten dir im Krankenhaus doch bereits von den vielen Zuschriften erzählt und ich dachte, ich zeige sie dir mal. Damit du uns das auch wirklich glaubst.“ Toshiya sah von seinem Kaffee auf und den Bandleader verwundert an: „Du willst uns doch jetzt nicht etwa weiß machen, dass du die alle hier aufbewahrst, oder?“ „Doch, das tue ich. Es befindet sich alles hier. Gleich nebenan, im Konferenzzimmer.“ Kyo wurde doch ein wenig blass um die Nase. Konferenzzimmer waren nicht gerade dafür bekannt, klein zu sein. Also musste es wirklich eine Menge sein, wenn Kaoru es für nötig fand, dafür speziell diesen Raum zu verwenden. Zumal das ein wichtiger Raum war. „Willst du es sehen, Kyo?“, fragte Kaoru den jüngeren Freund, wollte sicher gehen, dass seine Entscheidung, die richtige war. Dieser nickte, flüsterte: „Hai.“ Und bereute diese Entscheidung fast im selben Moment schon wieder. Aber er musste es sehen. Er hatte ja damals auf der Arbeit schon so viele Päckchen geschenkt bekommen. Dann rief er sich die Zahl ins Gedächtnis, die ihm seine Freunde vor etwa einer Woche mitgeteilt hatten: Zwanzigtausend. Er versuchte sich das vorzustellen, scheiterte aber. Zusätzlich erinnerte ihn sein Gedächtnis auch noch daran, dass diese Zahl nicht einmal das Endergebnis darstellte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und eine Gänsehaut breitete sich über seinen Körper aus. Kaoru erhob sich und mit ihm seine drei Freunde, die ihm zu der Tür folgten, die von seinem Büro direkt ins Konferenzzimmer führte. Er atmete noch einmal tief durch. Zwar wusste er, was ihn erwarten würde, aber weder Toshiya und Die und erst recht nicht Kyo, wussten Bescheid von den Ausmaßen, die das ganze angenommen hatte. „Alle bereit?“ Als Antwort bekam er ein einstimmiges, wenngleich auch ein wenig zaghaftes, Nicken. „Okay.“ Damit öffnete er die Tür und gab somit den Blick auf ein wahres Präsentmeer frei. „Wow“, gab Kyo staunend von sich und trat in den Raum hinein. Das war ja unglaublich. Fast jeder Quadratzentimeter war mit einem Geschenk bedeckt. Päckchen in allen nur erdenklichen Größen. Eingewickelt in buntem Papier oder in durchsichtiger Folie, verziert mit bunten Bändern und Schleifen. Mit und ohne Kärtchen. In der hinteren linken Ecke standen einige große Postsäcke, randvoll mit Briefen. „Und das ist alles für mich?“ Kaoru nickte bestätigend. Er selbst konnte nur allzu gut nachvollziehen, was gerade in Kyo vor sich ging. Immerhin staunte er selbst immer wieder aufs Neue, wenn er diesen Raum betrat. Manchmal sogar mit dem Gefühl, dass es noch mehr geworden waren. „Wie kommt es eigentlich, dass das alles bei dir gelandet ist?“ „Nun, gelandet ist erst einmal alles bei unserem alten Label. Und die haben es mir bringen lassen. Schließlich bin ich immer noch der Bandleader und so gesehen ja auch noch der Einzige, der etwas mit dem Showbusiness zu tun hat“, erklärte er Kyo mit einem Lächeln, welcher verstehend nickte. Klang in seinen Ohren sehr logisch, diese Vorgehensweise. Toshiya sah sich einmal staunend um: „Und in welcher Ecke willst du anfangen?“ „Anfangen? Womit?“ „Na, mit auspacken natürlich. Oder willst du das alles so lassen?“ „Eto... natürlich nicht. Denke ich jedenfalls.“ Verlegen kratzte sich Kyo am Kopf, sah sich noch einmal um. Das war eine Menge zum Öffnen. Fraglich, ob er das alles heute schaffen würde. Er nahm sich das kleine Paket, dass direkt neben ihm auf dem Tisch lag. Es war leicht und flach, eingewickelt in hellblaues Papier, mit einer goldgelben Schleife. Vorsichtig wickelte er es aus. Zum Vorschein kamen ein Briefumschlag und eine Schachtel, die, nachdem er hineingesehen hatte, Schokolade enthielt. Mit einer Schrift aus weißer Kuvertüre: O-daiji ni. Gute Besserung. Er öffnete den Brief, las die dort stehenden, aufmunternden Worte, von denen er auch erfuhr, dass die Süßigkeit selbst gemacht war. Die Sätze waren ein wenig seltsam. Die Grammatik nicht einwandfrei und die Schriftzeichen noch ein wenig unsicher. Am Ende angekommen wusste er auch wieso: Der Brief kam gar nicht aus Japan, sondern aus Europa. Und den weiten Weg hatte die Schokolade unbeschadet überstanden? Alle Achtung. Die musste ja ziemlich fest sein. Von Die kam ein Seufzen: „Warum habe ich eigentlich Kuchen mitgebracht, wenn in etwa neunzig Prozent dieser Dinger eh Schokolade ist?“ Sein Blick wanderte einmal durch den Raum. Unbewusst hatte er es zwar geahnt, aber da er ja eh wegen des Erdbeerkuchens in die Konditorei gegangen war hatte er einfach noch ein bisschen mehr mitgebracht. Toshiya piekte ihm seinen Ellenbogen verspielt in die Seite: „Jetzt sei nicht so miesepetrig. Da wird nicht überall Schokolade drin sein. Auch nicht zu neunzig Prozent.“ Mit einem Grinsen meinte Kaoru dazu: „Das wissen wir nur, wenn alles ausgepackt ist.“ Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln, als er sich an Kyo wandte, der seine Augen immer noch über den geöffneten Brief und das Naschwerk wandern ließ. „Sollen wir uns aufteilen? Jeder übernimmt eine Ecke? Oder...?“ Aber Kyo schüttelte den Kopf: „Ich werde das alleine machen. Immerhin steckt in jedem einzelnen Geschenk und jedem Brief hier so viel Zeit und Liebe... Das bin ich all diesen Leuten einfach schuldig.“ Kapitel 25: Heilprozess ----------------------- Ehrfürchtig und immer noch sprachlos ging Kyo weiter durch den Raum. Das Ganze war doch verrückt. Absolut verrückt. Jedoch auch ein kleines bisschen Balsam für seine zerbrochene Seele. Er räumte einen der Stühle frei, setzte sich anschließend darauf. Denn so allmählich knickten ihm die Knie weg, nachdem er der ersten 'Schock' überwunden hatte. Vorsichtig nahm er eine der Schachteln in die Hand, die er gerade beiseite geräumt hatte. Er befreite sie von dem bunten Papier und stellte fest, dass sich auch hier drin Schokolade und ein Brief befanden. Beides diesmal aus Japan. In dem Schreiben fand er dieselben aufmunternden Worte, denselben innigen Wunsch, wie in dem Anderen. Und er würde sie in jedem einzelnen Geschenk wiederfinden. Allmählich zweifelte er an dem, was er dachte und fühlte. Dass er sein altes Leben einfach nicht mehr verdient und schon froh darüber sein konnte, dieses normale Leben führen zu dürfen, welches er jetzt hatte. Immerhin war allein diese Tatsache ja schon ein Geschenk. Ein Wunder. „Was sagst du dazu, Ayaka-san?“ Er schielte zu seiner rechten. Bis jetzt hatte sie sich ruhig verhalten. War im allgemeinen stiller geworden, seit dem Tag im Krankenhaus. „Soll einer die Menschen doch verstehen. Einen Mörder so zu verehren. Erbärmlich.“ Irgendwo musste er ihr ja Recht geben. Er hatte etwas Unrechtes getan und doch schien ihm die halbe Welt verziehen zu haben. „Das Singen fehlt mir schon. Es hat mich so viele Jahre über begleitet.“ Wehmütig seufzte er auf. „Tu doch, was du willst. Auf mich hörst du ja eh nicht.“ Mit einem verärgerten Schnauben wandte sie sich ab, ging geradewegs auf die Wand und den davorstehenden Geschenkberg zu. Und hindurch. „Ayaka-san?“ Verwundert sah er ihr hinterher. Was sollte das denn jetzt werden? Ihr Verhalten passte zu ihrer plötzlichen Stummheit. Seltsam, absolut seltsam. Er drehte sich wieder herum, sah mit leerem Blick auf die Tischplatte vor sich. Mit einem Mal fühlte er sich einsam. Richtig einsam. Gleichzeitig allerdings auch ein wenig, wie sollte er es sagen, befreit. Ja, befreit, erleichtert, unbeobachtet und - ganz wichtig – frei. Einfach nur frei. Herrliches Gefühl. Mit neu gewonnener Leichtigkeit öffnete er die Schachtel von eben erneut, brach sich ein Stück von der Schokolade ab und steckte es sich in den Mund. Angenehm süß. Man konnte sogar ein wenig von der Liebe schmecken, die bei der Herstellung hineingelegt worden war. Und es schmeckte nach Erlösung. Die Süße schenkte ihm die Erlösung, dadurch, dass sie das Gefühl Vergebung in sich trug. Deswegen sollte er jedoch nicht damit anfangen sämtliche Schokolade zu verputzen, die sich hinter all dem Papier hier drin verbarg. Dadurch würde er nicht nur platzen, sondern auch für die nächsten Wochen Bauchschmerzen haben, die sich gewaschen hätten. Aber er hatte sich ja vorgenommen jedes einzelne Geschenk zu öffnen, jeden Brief zu lesen, der hier eingetroffen war. Weshalb er sich auch gleich das nächste Präsent nahm. Es war ein wenig größer als die beiden bisherigen, aber auch leichter. Neugierig packte er es aus, nur um dann mit einem Schmunzeln festzustellen, weshalb es so leicht war: Es enthielt nämlich keine Schokolade, sondern eine Plüschkatze. Himmel, da war er jetzt ein erwachsener Mann, der auf die fünfzig zu ging und er bekam immer noch Kuscheltiere geschenkt. Sollte er sich nun geehrt oder dezent verarscht vorkommen? Besser geehrt, wo er doch schon ahnte, dass in einigen anderen Schachteln ebenfalls ein Stofftier war. Zumindest, wenn man sich an der Größe orientierte. Trotz allem würde er jedes Einzelne schätzen. Der Brief, der zu der grau-getigterten Katze gehörte, war selbiger als Papierröllchen um den Hals gebunden. Kyo löste die Schleife mit der das Schreiben befestigt war und entrollte es. 'Komm zurück und sing für uns!' Das war alles, was auf dem Zettel stand. „Der Kuchen ist wirklich gut. Den Konditor musst du dir merken“, schmunzelte Kaoru und nahm einen Bissen von seinem Stück. „Mach ich“, erwiderte Die und widmete sich seiner Kaffeetasse. Seinen Kuchen hatte er noch nicht einmal ansatzweise angerührt. Sein Appetit hielt sich seit einigen Tagen massiv in Grenzen. Sein Blick wanderte unkontrolliert immer wieder zu der Tür, die zum Konferenzzimmer führte. Er machte sich seine Gedanken darum, wie es Kyo gerade ging, was er fühlte. Schließlich war er ja ohne Aufsicht da drin. Und sie wussten ja, zu was das führen konnte. „Hey“, sagte Toshiya und stupste den Älteren an. „Geh doch nachgucken. Dann weißt du Bescheid.“ „Ich weiß gar nicht, wovon du redest.“ Schmollend sah er zur Seite. Er fand es peinlich, dass man ihm sein inneres Chaos so genau ansehen konnte. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn einfach noch. Wieso zur Hölle schaffte er es eigentlich Kyo ständig an die Schwelle zu bringen? Das war ja fast so, als würde er ihn an die Hand nehmen und ihn direkt dort absetzen, mit den Worten: „Geh noch einen Schritt weiter. Da drüben ist das Land ohne Sorgen.“ „Die“, versuchte es Kaoru auf die sanfte Weise. „Nach dem letzten Mal ist doch auch alles wieder gut geworden. Da wird es dieses Mal auch nicht viel anders. Bestimmt.“ Er schenkte jedem eine weitere Tasse Kaffee ein. „Hm, ich sollte Ryuka-san fragen, ob sie uns noch eine Kanne macht.“ So ging er mit der leeren Thermoskanne aus dem Büro heraus und zu seiner Sekretärin, bat sie darum Nachschub zu organisieren. „Meint ihr, wir finden Kyo da drin wieder? Der sitzt da immerhin schon seit drei Stunden drin. Da wird er wohl schon so einiges ausgepackt haben.“ Die schmunzelte: „Nachher hat er wieder eine Schleife im Haar und bekommt sie nicht heraus.“ „Oder er hat sich komplett eingewickelt und kann sich jetzt nicht mehr befreien.“ Schallend begann Toshiya zu lachen. Diese Vorstellung war einfach zu köstlich. Himmlisch. Fantastisch. Das musste er unbedingt mal ausprobieren mit ihrem Sänger. Als Kaoru den Raum wieder betreten wollte, blieb er verwundert in der Tür stehen und besah sich mit hochgezogener Augenbraue das Spektakel. Da war er keine zwei Minuten aus dem Raum und der Jüngste konnte sich nur unter Anstrengung auf seinem Stuhl halten. Verrückt. Und Daisuke saß daneben, grinste hinter vorgehaltener Hand. Er warf diesem einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein Kopfschütteln. „Hast Recht. Ich will es nicht wissen.“ In dem Moment öffnete sich die Tür, durch die Kyo vor einigen Stunden hindurch gegangen war und nun wieder zurückkehrte. Neugierig und erwartungsvoll sahen die drei Männer zu ihrem Freund, der ein wenig schüchtern im Raum stand. „Du bist doch noch nicht fertig, oder?“, erkundigte sich Toshiya mit einem schiefen Grinsen. Es war zwar einige Zeit vergangen, aber in Anbetracht der vielen Berge wäre es schon ein ziemliches Wunder gewesen, wenn er alles ausgepackt und gelesen hätte. Kyo schüttelte den Kopf: „Nein, noch lange nicht. Es wird wohl auch noch eine Weile dauern, bis ich da durch bin.“ Verlegen blickte er zu Boden. „Eigentlich bin ich auch nur Mal kurz herausgekommen, weil ich Kaoru um einen kleinen Gefallen bitten.“ Erstaunt blickte der Ältere in die Runden: „Was denn für einen Gefallen?“ „Nun, weißt du... Ich hab mir gedacht... Es sind so viele Briefe und Geschenke und all so was. Ich finde, da wäre ein 'Danke' ganz angebracht. Nein, sogar überfällig. Mehr als überfällig.“ Kaoru stellte die Kaffeekanne ab und ging auf den Jüngeren zu. „Du hast doch sicherlich schon eine Idee, so wie ich dich kenne.“ „Du willst doch nicht etwa, dass wir dir jede Menge Briefpapier und was zum Schreiben organisieren?“ „Nein, Toshiya. Das will ich nicht. Mir würde, ehrlich gesagt, auch schon eine Kamera reichen.“ Mit einem verlegenen Grinsen kratzte er sich am Hinterkopf. „Ah“, machte Kaoru verstehend und man konnte die brennende Glühbirne über seinem Kopf förmlich sehen. „Du willst eine Videobotschaft benutzen. Clever. Na dann organisiere ich mal eine Kamera und du überlegst dir schon ein mal, was genau du sagen willst.“ Und schon stürmte der Älteste mit einem zufriedenen Grinsen aus dem Raum. Derweil hatte Die für Kyo einen Kaffee eingegossen und ihm diesen gebracht. „Möchtest du vielleicht auch noch ein Stück Kuchen? Noch ist was da. Oder Toshiya läuft gerade zum Auto und holt deines.“ Jedoch schüttelte der Kleinere den Kopf: „Nicht nötig. Sowieso blöd von mir, den im Wagen zu lassen. Allerdings hab ich mich da drin ganz gut an die viele Schokolade und die Kekse gehalten. Mir ist schon etwas flau, wenn ich ehrlich sein soll.“ Mit einem schiefen Lächeln nahm er einen Schluck, ging dann zum Sofa, auf dem Die noch kurz zuvor gesessen hatte. „Und wie weit bist du jetzt?“, fragte Toshiya und schob sich einen weiteren Bissen seines Kuchenstücks in den Mund. Seufzend antwortete Kyo: „Schon viel geschafft und dennoch ganz am Anfang. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass das nie enden wird. Man merkt kaum, dass ich schon irgendwas ausgepackt habe. Wenn man mal von dem ganzen Papier und den herumliegenden Schleifen absieht. Es ist der absolute Wahnsinn.“ In aller Ruhe genoss er seinen Kaffee, wollte für einen Moment einfach nur abschalten. Den Kopf frei kriegen für einige geordnete Gedanken. Für ein paar Sätze, die er gleich in dem Video sagen wollte. Jedoch irritierte ihn die leicht bedrückende Stille, die vor allem von Die ausging. Machte der sich etwa immer noch Vorwürfe? Kyo seufzte. Sein bester Freund sollte sich nicht so fertig machen. Er konnte da nichts für. Nicht dafür, dass Kyo damals dieser Frau über den Weg gelaufen war. Nicht dafür, dass sie ihm dieses Mistzeug untergejubelt hatte. Und erst recht nicht für die Kurzschlussreaktion seinerseits. An allem, was in den letzten nahezu siebzehn Jahren passiert war, da war nur er, Kyo, Schuld. Na ja, er und Ayaka. Aber doch nicht Die. Der Gitarrist hatte ihm in der Vergangenheit doch immer wieder die Anstöße dazu gegeben, den Weg zurück in die Normalität zu gehen und ein Stück weit zu seinem alten Leben wieder zu finden „Daisuke?“ „Nani?“ Aus seinen eigenen Gedanken aufgeschreckt, sah sich Die erst einmal verwundert im Raum um, um herauszufinden, wer ihn da angesprochen hatte, bis er an Kyo hängen blieb, der ihn zudem auch noch ansah. Fragend blickte er den Jüngeren an, auch wenn er ein wenig Angst davor hatte zu erfahren, was jener denn von ihm wissen wollte. „Es war nicht wegen dir.“ Jetzt verstand Dai gar nichts mehr. Wenn Kyo das meinte, was er im Kopf hatte, dann war es doch natürlich seine Schuld. Er hatte dem Jüngeren so viele Dinge einfach so ins Gesicht gesagt, ohne sich darüber klar zu sein, welche Folgen das haben konnte. Zumal sie doch eigentlich wussten, wie extrem ihr Freund reagieren konnte. „Nein, Daisuke“, erwiderte Kyo, genau wissend, was der Größere dachte, wo sein Gesicht doch ganze Romane erzählte. „Es war nicht, weil ich die Wahrheit nicht verkraften konnte. Denn das waren deine Worte ja: Die Wahrheit. Es ist nur... Ich nehme seit dem missglückten ersten Versuch bei der Probe damals nahezu ausnahmslos jeden Abend Schlaftabletten, damit ich Ayaka-san nicht mehr hören brauche. Damit ich einen tiefen, traumlosen Schlaf und zumindest ein paar Stunden Ruhe am Tag vor ihr habe, weil sie mich doch ziemlich fertig macht durch ihre Anwesenheit. An dem Abend sind es nur dummerweise ein paar mehr geworden, weil sie so extrem penetrant war. Und getreu dem Motto: Mehr hilft mehr und schneller... Ich hatte mich einfach in der Stärke des Mittels vertan, weshalb es im Endeffekt so missglückt aussah.“ Beim Sprechen hatte er die Augen von Die genommen und sie, ins Leere blickend, gen Boden gerichtet. Das gerade war ein Geheimnis gewesen, welches er seinen Freunden noch nicht hatte erzählen können, da er dachte, dass sie mit einem Selbstmordversuch einfacher würden umgehen können. So war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich -und Toshiya im besonderen- Vorwürfe machten, dass sie nichts gemerkt hatten. „Am Wichtigsten ist jedoch: Du bist nicht der Auslöser.“ Wieder sah er auf, sah dem Älteren direkt in die Augen. „Sei nicht mehr so niedergeschlagen, ja? Denn du bist nicht der Grund.“ „Du lügst doch.“ Kyo schüttelte den Kopf: „Nein, tue ich nicht. Es war wirklich nur, weil ich schnell schlafen wollte, um ihre Stimme nicht mehr hören zu müssen. Deine Worte waren nicht der Grund. Sie haben mich zum nachdenken gebracht. Und das hat ihr Stoff gegeben, ja. Dennoch ist es nicht deine Schuld. Also, lass den Kopf nicht mehr so hängen. Bitte. Ich sitze hier, mir geht es gut und alles ist überstanden. Kein Grund sich jetzt noch irgendwelche Sorgen zu machen.“ So wirklich überzeugten Die die gehörten Worte noch nicht. Er hatte noch immer das Gefühl der Auslöser gewesen zu sein. Toshiya sah verstört zu Kyo. Er hasste sich gerade selbst dafür, dass er nichts von diesen Tabletten mitbekommen hatte. Wenn sein Mitbewohner das wirklich schon eine Weile machte, hätte er ja eigentlich irgendetwas merken müssen. Zum Beispiel leere Tablettenstreifen im Müll. War er ignorant? „Da ist man für ein paar Minuten aus dem Raum und ihr benehmt euch bei meiner Wiederkehr, als wäre einer gestorben.“ Da hatte sich Kaoru wirklich den passenden Moment für seine Rückkehr ausgesucht. Er schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor seinen Sessel und die Kamera auf den Tisch. „Also, was geht hier vor sich?“ In einer Kurzfassung beichtete Kyo nochmals, damit auch der Älteste auf dem neuesten Stand der Dinge war, weshalb dieser sich geschockt in den Sessel fallen ließ. Mit einem tiefen Seufzer beendete der Kleinste unter ihnen seinen Vortrag und leerte seine Tasse. In seinem Inneren herrschte gerade ein gewaltiger Sturm. Anstatt die Situation zu verbessern, hatte er es geschafft, dass sich die anderen Drei noch schlechter fühlten. Wenn, ja wenn Shinya es damals nicht in seine Wohnung geschafft hätte, dann hätte er seinen Freunden diesen Moment ersparen können. Diesen und einige andere. „Kyo, hör auf so zu denken“, kam es drohend von Kaoru, der ihm gegenüber saß. Der Andere hatte seine Mimik einfach nicht mehr so unter Kontrolle wie früher. „Was passiert ist, ist traurig und ich möchte dir am liebsten noch ein paar Kopfnüsse verpassen, damit du dir merkst, diesen Scheiß nicht noch einmal zu machen.“ „Das merke ich mir auch ohne die Kopfnüsse.“ „Wie dem auch sei. Wir sollten in die Zukunft sehen. Und das Video drehen. Wäre jedenfalls ein guter Ansatz.“ Toshiya schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf: „Shinya hat abgefärbt.“ „Nein, ich habe nur gelernt, dass es manchmal der bessere und einfachere Weg ist.“ Er vernaschte den Rest seines Kuchens und ließ die Worte wirken. Sie mussten nach vorne schauen. Zwar aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, aber den Blick nach vorne gerichtet haben. Die griff nach der Kamera, die auf dem Tisch lag: „Soll ich dir bei dem Video helfen?“ „Gerne.“ Kapitel 26: Arigatô ------------------- Angestrengt fachmännisch drein blickend werkelte Die an der Kamera herum, um heraus zu finden, welcher Knopf was bewirkte. „Okay, ich glaube, jetzt hab ich es. Kann es los gehen?“ Fragend sah er zu dem Jüngeren. Dieser wirkte ein wenig nervös, spielte mit einem Schleifenband herum, um nicht an das Bevorstehende denken zu müssen. Es war seine Idee gewesen, jedoch behagte ihm das Kommende gerade gar nicht. Und all die Worte, die er sich zurecht gelegt hatte, waren jetzt in seinen Ohren schlecht und unbrauchbar. Wenn er sie aufgeschrieben hätte, wäre es dann jetzt besser? Nein, vermutlich nicht. Was nun? Ein Rückzieher kam nicht in Frage. Er wollte das Durchziehen. Lediglich der Anfang musste endlich mal gemacht werden. Ein wenig frustriert griff er in eine der Schachteln und brach sich ein Stück der darin liegenden Schokolade ab. Ihm war zwar schon flau von dem ganzen süßen Kram, aber er erhoffte sich irgendwie ein kleines Wunder von dem Ding. „Hey.“ Die hockte sich neben ihn, sah ihn von unten herauf an. „Was ist los?“ Leise grummelnd wandte Kyo sein Gesicht ab. Er merkte schon, wie er leicht rot auf den Wangen wurde. Das hier war ihm schon sehr peinlich. „Wir werden so lange von vorne anfangen, bis dir das Video gefällt. Es muss ja nicht auf Anhieb klappen.“ Da hatte Die allerdings auch wieder Recht. Sie hatten Zeit, um dieses Video so zu gestalten, bis er zufrieden war. Immerhin standen sie nicht unter einem solchen Druck, wie damals bei den PV's. Also konnten sie es ruhig locker angehen lassen. Eine Einsicht, die Kyo dabei half sich entspannter zu fühlen und die die zuvor ausgesuchten Worte mit einem Mal doch passend erscheinen ließen. „Sei einfach du selbst, Kyo. So mögen wir dich. So mögen dich die Fans. Und du dich auch bald selbst wieder.“ Mit einem zuversichtlichen, wenngleich auch ein wenig schiefen, Grinsen, bei dem man das Gefühl hatte, er würde gleich anfangen zu heulen. Er kam einfach nicht über den Vorfall hinweg. „Sag... Sag einfach das, was dir auf dem Herzen liegt und was du gefühlt hast, während du die Geschenke ausgepackt hast. Dann wird dein 'Danke' mit Sicherheit gut ankommen.“ Kyo nickte Die mit einem zuversichtlichen Grinsen zu, dann fuhr er sich seufzend durch die Haare, merkte, wie sein Puls vor lauter Vorfreude schneller wurde. Aber: Er fühlte sich gerade gut. Verdammt gut. „Du hast Recht. So werde ich es machen. Einfach gerade heraus sagen, was in mir vorging und vorgeht.“ Sich wappnend sah Kyo geradeaus, fokussierte einen Punkt an der gegenüber liegenden Wand. Mit jedem Moment, der verging fühlte er sich ein wenig glücklicher. Sein Blick richtete sich wieder nach rechts zu Die. „Ich bin soweit.“ „Gut.“ Daisuke schaltete die Kamera ein und trat ein paar Schritte zurück, um Kyo perfekt im Bild zu haben. Den Rest erledigte die Kamera eigentlich von alleine. Der Vorteil von intelligenter Technik. „Auf dein Zeichen geht es los.“ Kyo setzte sich aufrecht hin, atmete ein letztes Mal tief durch. „Kann los gehen.“ Der Aufnahmeknopf wurde betätigt und mit einem erhobenen Daumen signalisierte der Gitarrist, dass Kyo jetzt sprechen mit seinem Text los legen konnte. Dieser öffnete den Mund, brachte allerdings keinen einzigen Ton raus. Peinlich berührt fing er an zu lachen und sich verlegen am Hinterkopf zu kratzen. „Ganz ruhig. Du schaffst das.“ „Okay“, hauchte Kyo, machte sich noch ein Mal Mut. Hilfe suchend sah er sich noch einem in dem Konferenzzimmer um, ließ seinen Blick über all die Geschenke gleiten, woraufhin sich ein Lächeln auf seinen Lippen zeigte. „Etooo... Ihr seht vielleicht diese ganzen Präsente hier“, fing er an, ehe er seinen Blick wieder zur Kamera richtete. „Tja, die sind alle von euch. Aber das habt ihr euch ja denken können, nehme ich an.“ Er nahm sich einen der Briefe und eines der vielen Plüschtiere, die auf dem Tisch lagen. „Ich hab schon einiges ausgepackt, wie man vielleicht erkennen kann. Bis ich jedoch alles geschafft habe, wird es noch eine ganze Weile dauern.“ Er wedelte mit dem Zettel: „Ich habe jeden einzelnen Brief gelesen und werde das auch weiterhin. Hab mir schon überlegt die alle in ein paar dicke Ordner zu packen und die dann zu Hause irgendwo aufzustellen. Dann kann ich sie immer wieder lesen, wenn ich ein bisschen Aufmunterung brauche. Ich freue mich auch über all die kleinen Geschenke“, er wedelte mit dem Stofftier. „Das ist wirklich... lieb von euch.“ Kyo ließ seine Hände in den Schoß sinken, starrte kurz auf diese, ehe er von unten herauf in die Linse der Kamera sah: „Domo Arigatô.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Domo Arigatô dafür, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, etwas zu schicken. Dafür, dass ihr euch noch an Dir en Grey und an mich erinnert.“ Er sah wieder nach oben in die Kamera. „Vor allem aber dafür, dass ihr mir hierdurch ungemein den Rücken stärkt. Das tut gut. Wirklich gut. Es hilft mir. Ich kann euch gar nicht genug für eure Hilfe danken. Tut mir Leid, dass es nur so eine Videobotschaft ist, aber habt Verständnis dafür, dass es ein bisschen viel wäre, auf alles einzeln zu antworten.“ Er schwieg einen Moment. Er brauchte noch einen abschließenden Satz. Einen der gut war und nicht alles in der Luft schweben lassen würde, der gleichzeitig aber auch klar machte, dass die Botschaft hier zu Ende war. „Wer weiß, vielleicht bin ich eines Tages in der Lage euren Wünschen nachzukommen. Bis dahin... Nochmals vielen Dank. Ohne euch... Danke.“ Verlegen huschten seine Augen durch den Raum, ehe er schüchtern die Hand hob und zum Abschluss winkte. Daisuke stoppte die Aufnahme und ließ die Kamera sinken. Ein leichtes Lächeln zeigte sich in seinem Gesicht. „Ich denke, wir brauchen keine weiteren Aufnahmen. Das eben war perfekt.“ „Ja?“ „Jap. Das können wir so online stellen. Immerhin war es ja so geplant.“ „Stimmt“, bestätigte Kyo mit einem leisen Lachen. Die nickte in Richtung Tür, hinter welcher Kaorus Büro lag. „Kaoru lässt uns bestimmt an seinen Rechner, um das hoch zu laden.“ Mit einem zurückhaltenden Schuljungenlächeln sah Die zu Kyo. Irgendwie wollte er was machen. Irgendwas um seine schlechten Gedanken zu vertreiben. Um Kyo dabei zu helfen voran zu kommen und aus seiner kleinen Welt heraus zu helfen. Deswegen hatte er doch die Kamera ergriffen. Hatte er dem Jüngeren helfen wollen. Mit einem Seufzen setzte er sich auf den Stuhl neben den Anderen. „Du, Kyo.“ „Hm?“ „Wenn... Wenn du in Zukunft wieder Probleme haben solltest... du weißt, wo du uns finden kannst. Und das mit den Schlaftabletten... Lass sie bitte weg in Zukunft. Bitte.“ Mit einem betretenen Gesicht sah der Kleinere zu Boden. „Ich sollte es wissen, oder?“ Nervös fing er an die Hände aneinander zu reiben. „Ich sage es mir ja auch immer wieder. Seit... Seit so langer Zeit schon. Das mit den Tabletten war wirklich nur ein Unfall. Ich wollte nicht, dass es so weit kam. Außerdem ist das, wie wir alle wissen, nicht meine Methode.“ Zum Ende hin war er leiser geworden. Immerhin waren das gerade Worte, die böse Erinnerungen wach riefen. „Ich weiß nicht, warum ich es nicht schaffe zu euch zu kommen. Mit euch über das zu reden, was mich belastet. Das tut mir Leid. Aber mir reicht es schon, dass ihr immer wieder meine Nähe sucht. Das hilft mir. Auch jetzt seid ihr mir eine große Hilfe. Und ich bin euch sehr dankbar. Ihr habt mich nicht aufgegeben. Eine Tatsache, die mir sehr dabei geholfen hat ein wenig zu mir selbst zurück zu finden.“ Er rückte ein wenig an Die heran, der sich unbeholfen auf der Unterlippe biss. So fest, dass man schon befürchten musste, dass gleich Blut zwischen seinen Zähnen hervor quoll. Ein wenig unbeholfen wurde der Gitarrist von dem Sänger in den Arm genommen. „Danke für deine Hilfe.“ Schlagartig war Daisuke rot geworden. So rot wie früher seine Haare, als er merkte, wie sich zwei Arme um ihn schlangen. „K-Kein Problem“, nuschelte er und erwiderte die Umarmung, indem er eine Hand auf Kyos Arm legte. „Kein Problem.“ Bevor sie den kleinen Film veröffentlichen konnten, sprach Kaoru alles noch mal mit ihrem ehemaligen Manager ab. Nicht, dass der sich übergangen fühlte. Außerdem handelte es sich ja irgendwie um eine Bandaktivität, also sollte man dementsprechend agieren. Ihr Manager war richtig erfreut über dieses kleine Lebenszeichen des Sängers und versprach, sich sofort um alles zu kümmern, wenn sie ihm die Aufnahme zugeschickt hatten. Das würde keine fünf Minuten dauern, so seine Aussage. Vorsichtshalber warteten sie zehn Minuten, ehe sie ihre alte Homepage, sowie verschiedene andere Plattformen aufriefen, bei denen Dir en Grey angemeldet waren. Und tatsächlich: Überall sprang ihnen der Film förmlich ins Gesicht. „Woah, so viele Menschen haben das schon gesehen?“ Toshiya war völlig von den Socken, nachdem sie YouTube geöffnet hatten. „Das ist ja der Wahnsinn.“ „Und seht euch mal die vielen Kommentare an.“ Kaoru scrollte weiter hinunter. „Bei einigen steht sogar bei, von wo aus sie geschrieben haben. Japan, nochmal Japan, der da kommt aus Südamerika.“ Aufgeregt zeigte der Bassist auf eine Nachricht weiter unten: „Der da ist sogar aus Russland. Hast du gehört, Kyo?“, er sah zum Sofa, auf dem der Kleinere leicht apathisch saß. „Aus Russland.“ Kaoru klickte sich durch die verschiedenen Tabs. „Schaut mal, wie viele Kommentare wir auf den anderen Seiten haben. Ich möchte gar nicht wissen, wie das aussieht, wenn ich die alle aktualisiere.“ Er war sprachlos angesichts dieser vielen Rückmeldungen. Gleichzeitig war er auch ein bisschen Stolz auf ihre Fans. Dass sie immer noch so stark zu ihnen hielten, nach all dieser Zeit. Es zeigte ihm aber auch, dass sie es geschafft hatten. Es gab schließlich nicht viele Musiker, die von sich behaupten konnten, nach so langer Zeit noch immer in den Erinnerungen der Menschen zu sein. „Was sagen sie denn?“ So ein bisschen neugierig war Kyo dann doch. Schließlich war es ja sein Werk. Da interessierte ihn natürlich auch die Kritik. Mit einem Schmunzeln schaute Kaoru hinter seinem Monitor hervor: „Sie freuen sich über deine Freude und über das Lebenszeichen, das von dir beziehungsweise uns kommt.“ „Und sie würden sich freuen, wenn da noch mehr käme“, ergänzte Toshiya und in seinen Augen lag dieses Funkeln. Die Begierde etwas zu schaffen. Den gleichen Blick konnte Kyo auch in den Augen seiner anderen beiden Freunde sehen. Und er schwor: Wenn Shinya hier gewesen wäre, dann würden seine Augen ebenfalls so Funkeln. Ginge es nach ihnen würden sie sofort loslegen und das Studio für einige Tage nicht mehr verlassen. Jetzt lag es nur noch an ihm. Nur er musste das noch wollen. Ein ernstes Gesicht machend wanderte sein Blick von einem zum Anderen: „Ihr tut ja gerade so, als ob ich mir so einen Text einfach so aus dem Ärmel schütteln kann. Ich brauche da schon ein wenig Inspiration.“ Daisuke zuckte mit den Schultern: „Dann lass dir was einfallen.“ „Vielleicht hilft dir das“, meinte Kaoru und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Er öffnete einige Ordner, suchte eine Musikdatei heraus und ließ diese abspielen. Es war ein Stück, das sich schon sehr lange in seinem Besitz befand und zusammen mit einigen anderen Dateien dieser Art immer das erste war, was er auf eine neue Festplatte packte. Das war eine der Melodien, die sie damals aufgenommen hatten, als alles begann und Kyo sich zurück gezogen hatte. Verträumt lauschte der Sänger dem Lied. Es war eingängig, bewegend und berührte etwas tief in ihm drin. Zugegeben, es war ein trauriges Grundthema, dennoch war es wunderschön. „Damit lässt sich was anfangen.“ Ehrlich gesagt hatte er bereits ein paar Zeilen im Kopf. Mit wachsender Begeisterung sahen die Anderen sich an. „Wir haben noch mehr.“ „Genug für zwei Alben?“ Er wusste nicht warum, aber ihm war dieser Satz gerade durch seine Gedanken geschwebt. Als wäre er eine Erinnerung. Aus lang vergangener Zeit. „Ja, kommt in etwa hin“, meinte Die erstaunt. „Woher weißt du das?“ „Ich habe keine Ahnung“, antwortete der Kleinste und fing leicht an zu lachen. Toshiya hob gleich abwehrend die Hände: „Ich hab kein Wort gesagt. Wirklich.“ Alle Blicke richteten sich abwartend auf den Band-Leader. „Von mir weiß er auch nichts. So viel Zeit hab ich ja nun auch nicht mit Kyo verbracht. Wann hätte ich-“ Er verstummte, als sich ein Erinnerungsfetzen an die Oberfläche kämpfte und ihm ein Bild zeigte. Das Bild, wie ihr Sänger in einem Krankenhausbett lag, schlafend, verbunden, angeschlossen an viele Kabel. „Ich hab es ihm doch erzählt“, gestand er. „Damals. Einen Tag nachdem wir Kyo gefunden und ins Krankenhaus gebracht haben. Da habe ich es erzählt. Auch wenn damals noch nicht alles ausgefeilt war und von den meisten Liedern nur das Grundgerüst stand. Ich hab ihm eigentlich nur gesagt, dass Die genug komponiert hat, dass es für zwei Alben reichen würde.“ Der Schwarzhaarige sah direkt zu Kyo. „Aber du warst in einem komatösen Zustand. Du hast zwar was mitbekommen, aber dann war es eher... körperlicher Natur.“ Kaoru merkte, wie die Augenbraue seines Gesprächspartners gefährlich nach oben wanderte. „Du hast auf kleine Berührungen reagiert. Aber, dass du dich an etwas erinnerst, das gesagt wurde... Wow.“ Verlegen sah Kyo zu Boden: „Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich an alles erinnere.“ „Ich glaube doch.“ „Wie?“ Verwundert sah Kyo zu ihrem zweiten Gitarristen. „Was meinst du?“ Schief grinsend kratzte dieser sich am Hinterkopf. „Erinnerst du dich noch an unseren kleinen Spaziergang durch den Park, der zum Krankenhaus gehörte? Und an das Gefühl, dass du damals hattest?“ Kyo bejahte diese Fragen mit einem langsamen Kopfschütteln. „Welches Gefühl meinst du?“ „Das mit dem Kaninchen.“ „Ka-“ Ja, er erinnerte sich. Er wusste bis heute den genauen Grund nicht, aber er erinnerte sich an damals. „Tja, lag daran, dass ich an besagtem Tag nach deiner Einlieferung versucht habe, dich mit Hilfe des abscheulichen Krankenhauskaffees zu wecken.“ Schuldbewusst sah Dai zur Seite. Er schämte sich ein wenig für das kindische Verhalten von damals. „Dann weiß ich unbewusst wohl doch mehr, als gedacht“, murmelte Kyo. Ein seltsames Gefühl. Ähnlich einem Black Out und doch ganz anders. Wie viel würde wohl noch zum Vorschein kommen? Die Frage konnte er sich wohl nur selbst und mit der Zeit beantworten. Kapitel 27: Die Qual der Wahl ----------------------------- Als Kyo am nächsten Tag wieder bei der Arbeit erschien wurde er von ihrem kleinen Maskottchen förmlich umgerannt. Insgeheim hatte er ja schon damit gerechnet so stürmisch begrüßt zu werden, aber das übertraf es ja fast schon. Er hatte ja auch den Vordereingang nehmen müssen. Aber an diesem Morgen hatte er auch zu seinem Bewährungshelfer gemusst, weshalb er im Anschluss mit Hilfe der öffentlichen Verkehrsmittel hergekommen war. Ihm war zwar von Toshiya angeboten worden, dass dieser wartete und sie dann zusammen zur Arbeit fuhren, aber niemand hatte ja vorhersagen können, wie lange dieser Besuch dauern würde. Die Begrüßung von Haraide fiel da wesentlich kürzer und unspektakulärer aus. Von ihm wurde nur er einmal kurz und freundschaftlich in den Arm genommen. „Hast uns wirklich einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ „Hab ich schon von gehört.“ Mit einem leichten Lächeln strich er über den dunklen Haarschopf seines Anhängsels. „Nicht mehr traurig sein, Nobu-chan.“ „Bin ich aber. Immerhin hat mein großer Bruder versucht sich umzubringen.“ 'Großer Bruder'? Kyo blinzelte verwirrt. Der Ausdruck war ihm neu. So hatte ihn ihr Flummi ja noch nie genannt. Ihm war schleierhaft, wie der andere auf diese Idee kam. Bis ihm wieder einfiel, dass er gegenüber dessen Lebensgefährten Maboroshi erwähnt hatte, dass er in dem quirligen Etwas eine Art kleinen Bruder sah. Da lag wohl die Vermutung nahe, dass dieser es weiter erzählt hatte. Wie auch immer: Es bedeutete ihm viel, dass er dem Jüngeren so am Herzen zu liegen schien. Liebevoll drückte er den Kleinen an sich. Danke konnte er in letzter Zeit einfach nicht mehr oft genug sagen. Das war ihm klar. Er konnte es zehn Mal in der Stunde sagen, es würde nicht ausreichen. Während sie noch so dastanden und sich darüber freuten, dass Kyo nichts passiert und gesund und munter wieder zurück war, kamen zwei jüngere Mädchen hinter den Regalen hervor, die nach ein paar Übungsstücken fürs Klavier gesuchten hatten. Schüchtern, aber definitiv neugierig traten sie an die Gruppe heran. „Kyo-san?“, fragte die Eine leise, während die Andere sich halb hinter ihr versteckte. Der Angesprochene drehte sich herum. Er war ein wenig verwirrt. Konnte er sich doch nicht vorstellen, was die beiden Mädchen von ihm wollten. „Hai?“ „Er ist es wirklich“, quiekten sie vergnügt und fassten sich an den Händen. Jetzt wurde der Sänger doch ein wenig rot um die Nase. Die machten hier ja einen Wirbel um seine Person, das war er in der Form einfach nicht mehr gewohnt. Das Mädchen von eben wandte sich ihm wieder zu, wurde puterrot im Gesicht und spielte vor lauter Aufregung mit ihren Händen. „Wir haben Sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Da wollten wir nur sicher gehen, dass Sie es wirklich sind.“ Okay, woher wussten die, dass er ein paar Tage nicht gearbeitet hatte? „Geht es Ihnen gut? Wir sind große Fans von Dir en Grey und meine Freundin hier liebt ihren Gesang.“ Dafür bekam sie von dem anderen Mädchen einen leichten Schlag auf den Oberarm und einen bösen Blick. Anscheinend war es ihr unangenehm, dass das verraten wurde. „Es ist auf jeden Fall schön, dass sie wieder hier sind.“ „Danke, ich... fühle mich geehrt.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an. Eine peinliche Stille legte sich über den Laden. Keiner wusste so recht, was er jetzt sagen oder machen sollte. Selbst Nobu stand ausnahmsweise still. Haraide war der Erste, der sich wieder fing und sich räusperte, wie auf Kommando sein charmantestes Lächeln aktivierte: „Habt ihr gefunden, was ihr gesucht habt?“ „Nun, nicht ganz. Ein ganz bestimmtes Übungsheft fehlt uns noch.“ „So, dann erzählt mir doch Mal, welches und ich helfe euch suchen. Notfalls können wir es ja bestellen.“ Er führte die beiden Mädchen zurück zu den Regalen mit den Heften, warf aber noch mal einen Blick über die Schulter und zwinkerte den Anderen zu. Kaum waren er und die beiden Kundinnen aus dem Sichtfeld, entspannten sich Kyo und seine Kollegen. Vor allem dem Sänger war die Situation gerade doch schon reichlich unangenehm gewesen. Dummerweise hatte er die Befürchtung, dass er derartige Gespräche noch öfter in den nächsten Tagen führen würde. Oh, wie hatte er doch gerade Sehnsucht nach Toshiyas kleinem, für ihn eingerichteten Gästezimmer. „Keine Zeit zum Trübsal blasen, Kyo. Wir bekommen in ein paar Minuten eine Lieferung. Da muss ausgepackt, überprüft und verstaut werden“, erklärte Toshiya und begab sich schmunzelnd hinter den Verkaufstresen, wo er nochmal einen Blick auf den Bestellschein für die besagte Lieferung warf, um sich zu überlegen, was wo hin sollte. Verstehend nickte Kyo und entledigte sich auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum seiner Jacke, die er dort über einen Stuhl warf. Er wollte sich noch einen Kaffee holen, um dann in aller Seelenruhe auf die besagte Lieferung zu warten. Allerdings hatte er plötzlich wieder Nobu an sich hängen, der es scheinbar sehr gemütlich fand Huckepack bei Kyo zu sitzen. Und bevor dieser sich beschweren konnte, wurde ihm ein Handy unter die Nase gehalten. „Sieh dir das an. Sieh es dir an!“, wurde er aufgefordert, weshalb er seinen Blick auf das Display richtete. Sofort weiteten sich seine Augen. „Nobu-kun, ist das, was ich da sehe, das, was ich denke?“ „Nicht ganz. Das ist nämlich erst deine Wohnung, wenn du dich für die entscheidest. Und das solltest du möglichst bald. Sonst schnappt sie dir jemand anderes weg. Aber vielleicht“, er blätterte ein paar Bilder weiter, „sagt dir die hier eher zu.“ Und schon wurde Kyo ein weiteres Bild von einer kleineren, aber nicht minder schönen Wohnung gezeigt. „Darf ich mir das kurz ausleihen?“ Er würde sich nämlich schon ganz gerne auch die ganzen anderen Bilder ansehen, die sich da offensichtlich noch auf dem Gerät befanden. Nobu händigte ihm sein Handy ohne wenn und aber aus. „Einfach nach links und rechts bewegen. Ich hab ganz schön viele Bilder von jeder der vier Wohnungen gemacht.“ Vier? Vier Wohnungen? Ein wenig baff sah er ihrem Flummi hinterher, der wieder in den Laden zurück hüpfte, auf direktem Weg in die Ecke mit den Schlagzeugen. Das würde gleich verdammt laut werden, so wie er den anderen kannte. Mit dem Handy bewaffnet ging Kyo zurück zum Verkaufsraum, ließ seinen Daumen über das Display und seinen Blick über die verschiedenen Bilder gleiten. Und es waren wirklich eine Menge davon. Beinahe hatte man das Gefühl, man würde sich in den einzelnen Wohnungen befinden und sich in jedem Raum einmal um sich selbst drehen. Sie waren alle viel kleiner, als die von Nobu. Zumindest, soweit er das noch von der Erinnerung an die Fotos davon beurteilen konnte. Nichtsdestotrotz hatte Nobu durch seine Kontakte einige wirklich schöne Immobilien gefunden. Der Kleine war ein wandelndes Wunder. Er würde sogar soweit gehen und sagen, dass dieses quirlige, herzerwärmende Etwas das achte Weltwunder war. Kyo blätterte immer wieder hin und her, um sich ja alles einzuprägen. Am auffälligsten war jedoch, dass man noch ein bisschen was machen musste. Bei jeder der Wohnungen. Aber größtenteils beschränkten sich diese Renovierungsarbeiten aufs Säubern, streichen oder einen vernünftigen Boden. Allerdings drängte sich in ihm die Frage auf, warum die leer standen. Da musste es doch einen Haken geben. Zielgerichtet ging er zu den Schlagzeugen, von wo man laute Rhythmen hören konnte. Mit wirbelnder Mähne saß der Jüngere da und schlug mit einer Begeisterung auf die Drums und Becken, dass Kyo unweigerlich an Shinya erinnerte wurde. An dessen leidenschaftliches Spiel, sowohl bei den Proben und erst Recht bei ihren Konzerten. Davon hatte er selbst zwar erst mehr mitbekommen, wenn eine neue DVD anstand, aber wie sollte man vergessen können, wie sich ein Mensch so sehr von seinem Spiel fesseln lässt, dass man auf den ersten Blick merkte, dass er mit Leib und Seele dabei war. So von dem Anblick eingenommen, vergaß er seine Frage und beobachtete den anderen lieber, merkte nicht einmal, wie sich ein zaghaftes Lächeln auf seine Lippen legte. Gott, er wollte Shinya mal wieder so erleben. Bei den Proben vor einiger Zeit, war noch alles ein wenig steif gewesen, die anderen vier trotz all der Energie, der Freude, der Begeisterung noch ein wenig zurückhaltend. Vielleicht hätte er sich aber auch einfach öfter umdrehen sollen und nicht die Augen die ganze Zeit geschlossen halten. Als ihn der Jüngere bemerkte, hielt dieser in seinem Spiel inne und sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. „Und? Gefallen dir die Buden? Sind doch ganz gut, oder?“ Meine Güte. So sehr hatte Kyo noch nie gegen den Drang ankämpfen müssen, jemanden in den Arm nehmen zu wollen. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so niedlich sein? Den hatte man doch aus Zucker gegossen. Und wenn jemand wie er schon so etwas dachte, dann sollte das schon was heißen. „Ja, die sind wirklich fantastisch. Ich bin ganz erstaunt, wie du die gefunden hast.“ „Ach, das war ganz einfach. Zuerst hab ich Mimiko angerufen. Die kennt so viele Leute, die sich mit Wohnungen auskennen. Zudem eine Meisterin am Telefon. Dann hab ich noch bei meinem alten Freund Hakuro angerufen. Der kennt über ein paar Ecken auch ein paar Makler. Oh, nicht zu vergessen-“ „Danke, das reicht mir. Eine Rundrufaktion.“ Er war ja gewarnt worden. „Ich hätte trotzdem mal ein paar Fragen.“ „Welche denn?“ „Nun, zum einen: Wieso stehen die noch leer? Was sind die Haken? Sind die so teuer, oder..?“ Nobu nahm sein Handy wieder an sich, blätterte zurück. „Also, bei der hier ist eigentlich nur, dass die Fenster schon etwas älter sind. Aber es ist ganz schön kostspielig die austauschen zu lassen. Immerhin liegt die im fünfundzwanzigsten Stock.“ „Und wie alt?“ Immerhin lag das im Auge des Betrachters. Schließlich gab es Leute, die die Mode der letzten Saison für uralt hielten. Da wollte er sich lieber ein eigenes Urteil bilden. Nobu legte die Stirn in Falten, überlegte scharf. „Also, wie alt das Gebäude ist weiß ich gerade nicht mehr, aber die Fenster sind da schon seit über fünfzehn Jahren drin.“ Für ein Gebäude kein Alter, fand Kyo. Von Fenstern ganz zu schweigen. Dicht mussten sie also sein. „Okay, was ist mit der Zweiten?“ Der kleine Hopser verzog das Gesicht. „Da hat man den Vorbesitzer tot im Sessel sitzend aufgefunden. Seitdem will da halt keiner mehr rein“, gestand er leise. „Ist etwa sechs Jahre her. Aber sonst ist mit der Wohnung alles in Ordnung. Die Heizung läuft tadellos, der Fußboden ist neu gemacht. Und der alte Mann ist seelenruhig eingeschlafen. Der lag auch nur zwei Tage da und wurde dann von seinem Sohn gefunden.“ Mit großen, traurig Augen sah er zu Kyo. Man konnte sehen, dass ihm dieser fremde, ältere Herr Leid tat. Gleichzeitig war Kyo aber auch klar, dass er ihm das mulmige Gefühl nehmen wollte. Wirkte es doch wirklich ein wenig abschreckend in eine Wohnung zu ziehen, in der ein Mensch seinen letzten Atemzug gemacht hatte. Die Geschichten der anderen beiden Behausungen waren weitaus weniger tragisch. Die eine war vor kurzem erst frei geworden, der Kaufpreis der anderen war für die meisten schlichtweg zu hoch. „Das wäre das Nächste was ich dich noch fragen wollte. Was die mich kosten würden. Sowie die Lage. Wo befinden sich die Wohnungen denn?“ Der Kurze mit dem grünen Pony lachte: „Also, die dritte liegt bei uns im Haus. Direkt unter meinen vier Wänden. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen.“ An dem Grinsen Nobus konnte man erkennen, dass ihm dieser Gedanke am liebsten war. Liebevoll strich Kyo ihm über den Kopf. Es klang schon verlockend, sich in der Nähe eines bekannten Gesichts aufzuhalten. Vor allem die anderen Vier würden erleichtert sein, bei dem Wissen, dass jemand immer mal wieder nach ihm schauen würde. Dabei war der Sänger ja nun wirklich kein kleines Kind mehr. Dennoch musste er sich eingestehen, dass es gar nicht mal so schlecht war, wenn sich jemand hin und wieder die Zeit nahm, ihm Gesellschaft zu leisten. Wohl doch ein Kind. „Weißt du, Nobu. Ich kann das nicht so spontan entscheiden. Da gibt es verschiedene Faktoren, die zu berücksichtigen sind, wie die Höhe der Miete, die Lage und das alles.“ Was voll und ganz der Wahrheit entsprach. Das sollte schließlich eine wohl überlegte Entscheidung sein. So eine Wohnung behielt man normalerweise ja für eine Weile. „Kyo?“, rief Toshiya. „Hier.“ „Die Lieferung ist da. Kommst du mit anpacken?“ „Bin sofort bei dir.“ Er strich dem Jüngeren neben sich noch einmal über den Kopf. „Aber dass du mein Nachbar werden könntest ist schon mal ein deutliches Plus für Nummer drei.“ Damit ging Kyo zu Toshiya, verbeugte sich vorher noch leicht, als er an der Kasse vorbei kam, an der die beiden Mädchen von vorhin standen und ihre Notenhefte bezahlten, versuchte sogar noch so etwas wie ein Lächeln. Und schon bekam er das erste Paket in die Hand gedrückt. Kapitel 28: Let us talk ----------------------- Es war wieder ein Mal Freitag Mittag. Und gleich würde Akio wieder kommen, um das Wochenende mit seinem Vater zu verbringen. Wie schon schon an so vielen Wochenenden zuvor. Mit dem Unterschied, dass Toshiya heute noch nicht zu Hause war. Im Gegensatz zu Kyo. Schließlich sollte irgendjemand den Jungen in Empfang nehmen. Gerade bereitete er das heutige Mittagessen zu, als es auch schon an der Tür klingelte. Ein wenig nervös war er schon, denn diese Situation war für alle Beteiligten neu. Zumal auch keine Zeit gewesen war Akemi Bescheid zu sagen. Hoffentlich nahm sie den Kleinen nicht einfach wieder mit. Tief durchatmend ging er zur Tür, fuhr sich noch einmal durch Haare und Gesicht, dann öffnete er. Sofort wurde er von Akio angesprungen und fest gedrückt. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Akio-kun“, sagte Kyo und strich sanft über den schwarzen Schopf von diesem. „Wo ist Toshimasa?“, kam es misstrauisch von Akemi, die genau wusste, dass ihr Ex-Mann es sich sonst nicht nehmen ließ seinen Sohn in Empfang zu nehmen. Okay, die Stunde der Wahrheit war gekommen. Wie brachte Kyo ihr das jetzt am Besten bei? „Möchten Sie nicht vielleicht einen Moment hereinkommen, Akemi-san? Ich möchte Ihnen das jetzt nur ungern zwischen Tür und Angel erklären und muss auch noch ein Auge auf das Essen haben.“ Er trat einen Schritt zur Seite und lud sie mit einer Geste dazu ein, die Wohnung zu betreten, knabberte an seiner Unterlippe. „Onkel Kyo? Wo ist Papa?“ „Der... kommt etwas später. Aber er beeilt sich. Das hat er mir versprochen. Und es tut ihm auch sehr Leid, dass er jetzt nicht hier ist.“ Jetzt war es raus. Unsicher warf er einen Seitenblick zu der Mutter des Jungen. Er sah, wie sie die Augen aufgerissen hatte und zu irgendetwas ansetzen wollte, ihr aber noch nicht die passenden Worte einfielen. „Ach so“, meinte Akio und schlenderte, leicht geknickt zu seinem Zimmer. Kyo konnte es ihm nachfühlen. Schließlich wusste er, wie sehr die beiden ihre gemeinsame Zeit genossen. Er hörte, wie Akemi Luft holte, entschied, dass genau jetzt der beste Zeitpunkt wäre, um alles zu erklären. „Im Laden wurde eingebrochen.“ „...“ Es hatte gewirkt. Also am besten weiter erklären. „Als wir heute morgen zur Arbeit gingen, haben wir die Schaufenster zertrümmert vorgefunden. Und im Inneren ist auch einiges verwüstet worden. Die Kasse aufgebrochen. Wir können schon von Glück reden, dass da nicht allzu viel drin war. Es sind zwar in erster Linie nur Regale umgestoßen und alles quer über die Verkaufsflächen verteilt worden, aber es sind auch einige Instrumente kaputt gegangen. Teilweise auch entwendet, wie wir bei genauerer Untersuchung festgestellt haben. Und noch einiges mehr. Alles hab ich noch nicht gesehen. Nur haben Daisuke und Toshimasa dann erst Mal beschlossen, dass alle Angestellten wieder nach Hause gehen sollten, da wir den Laden so ja nicht betreiben können. Jetzt sprechen die beiden mit der Polizei und der Versicherung.“ Zum ersten Mal traute er sich ihr in die Augen zu sehen. „Deswegen bin nur ich hier. Tut mir Leid.“ Sie schüttelte den Kopf, war noch zu geschockt von dem, was sie da gerade gehört hatte. „Nein, nein. Schon gut.“ „Wenn ihnen trotz allem unwohl bei dem Gedanken ist, dass nur ich hier bin... Bleiben sie doch zum Essen. Ich hab eh zu viel gemacht. Dann können sie warten, bis Toshiya wieder zurück ist“, bot er ihr an. Er hasste es, bei ihr immer das Gefühl haben zu müssen der Staatsfeind Nummer 1 zu sein. Sie willigte zögernd ein und folgte ihm zur Küche, wo sie sich, noch immer ein wenig unter Schock, setzte und etwas abwesend vor sich hin starrte. Kyo überprüfte derweil den Inhalt seines Topfes. Heute stand Ramen auf dem Speiseplan. Noch richtig selbstgemacht. War noch alles in Ordnung. Nichts angebrannt, nichts verkocht. Er fügte noch das eben geschnittene Gemüse hinzu, ehe er das Essen wieder sich selbst überließ. Dann konnte er sich in der Zwischenzeit ja schon mal um den Tisch kümmern. Da gab er sich heute sogar noch ein wenig mehr Mühe. Zuerst Platzdeckchen, dann die Schüsseln und zum Schluss die Essstäbchen samt kleiner Bank zum Ablegen. „Darf- Darf ich Sie vielleicht etwas fragen?“, erkundigte Kyo sich und sah die hübsche Frau mit den langen, schwarzen Haaren an, die noch immer total geschockt dasaß. „Was denn?“, war ihre Gegenfrage, richtete ihren Blick auf den ihr, noch immer ein wenig suspekten, Mann. „Ich würde gerne wissen, warum Sie und Toshiya sich getrennt haben. Ihn brauche ich nicht fragen. Er verfällt dann immer in Schweigen und wird ganz melancholisch.“ Hatte er damit schon zu viel verraten? Vielleicht wollte Toshiya ja gar nicht, dass sie das von ihm wusste. „In den Scheidungspapieren habe ich unüberbrückbare Differenzen angegeben. Dabei habe ich nur gemerkt, dass er nicht mehr so glücklich war, wie zu Beginn unserer Beziehung war. Durch Akio hatte sich das alles noch einmal gebessert, aber es war einfach, dass ich merkte, wie er Jahr für Jahr immer mehr das Glänzen in seinen Augen verlor. Ehrlich gesagt... ich dachte, dass es an mir liegt. Dass er mich nicht mehr will und wir uns statt anzuschreien nur an schweigen würden. Was bei Weitem grausamer ist. Aber selbst nach der Scheidung kam es nicht zurück.“ Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Es fiel ihr bestimmt nicht leicht das zu erzählen, wobei Kyo sich schon etwas über ihre Ehrlichkeit wunderte. „Bis... Es ist wieder da. Kommt langsam zurück. Seit ein paar Monaten.“ Hatte sie ihren Kopf bisher gesenkt, sah sie ihm nun eindringlich ins Gesicht. „Seit Sie wieder da sind.“ Das kam doch etwas überraschend für Kyo. Grübelnd stand er auf, rührte das Essen ein paar Mal um. „Danke, dass Sie so offen zu mir sind.“ Er stellte den Herd aus und den Topf auf den Tisch, wo er in jede Schüssel etwas von der Nudelsuppe tat. „Tut mir Leid, dass ich so unhöflich zu Ihnen war. Ich hatte damals nur-“ „Angst. Ich weiß. Hätte ich an Ihrer Stelle auch gehabt.“ Damit war es für ihn erledigt. Schließlich war er ihr nie böse gewesen, wegen ihres Verhaltens. „Gäbe es... Wäre es vielleicht möglich, dass sie beide wieder zueinander finden?“, fragte er und garnierte jede Portion mit ein wenig zusätzlichem Grün. „Ich würde es mir wünschen“, flüsterte Akemi und sah traurig auf ihre Schüssel. Im Gegensatz zu ihr glaubte Kyo jedoch mehr daran, dass es funktionieren würde. Es gab noch eine Chance für diese kleine Familie. Schnell holte er Akio noch zu Tisch, bevor das Essen kalt wurde. „Itadakimasu“, kam es von jedem, ehe sie mit der Mahlzeit begannen. Akio erzählte von der Schule und was er diese Woche so alles erlebt hatte und was er dieses Wochenende gerne mit seinem Papa machen wollte. Und seinem Onkel. Viel zu viel jedenfalls für nur 2 1/2 Tage. Als er hörte wie die Haustür geöffnet wurde, sprang er mit einem freudigen: „Otou-san“, vom Tisch auf und rannte zu dem vermissten Elternteil. Auf Kyos Lippen legte sich ein leichtes Lächeln, als er die glücklichen Stimmen aus dem Hausflur vernahm. Ja, Toshiya liebte seinen Sohn. Liebte ihn über alles. Das konnte man spüren. „Ich sollte vielleicht besser gehen“, murmelte Akemi, aber Kyo wehrte ab. Toshiya würde sicher nichts dagegen haben, dass sie noch ein wenig blieb. Außerdem hatte sie ja noch gar nicht aufgegessen. Und für Akio wäre es sicherlich auch mal wieder schön ein wenig Zeit mit beiden Elternteilen zu verbringen. Ein Argument, dass sie überzeugte. Später am Abend, nachdem Toshiya seinen Sohn endlich zu Bett gebracht hatte, setzte er sich zu Kyo aufs Sofa, der sich gerade gelangweilt durch das Programm zappte. „Sag Mal.“ „Hm?“ „Wie hast du es eigentlich geschafft, dass Akemi so nett zu dir war? Nicht, dass sie sonst jemand wäre, der alles und jeden gleich mit einer kalten Schulter behandeln würde, aber ihr hattet ja nun keinen Traumstart.“ Das Treffen hatte er auch noch allzu lebhaft in Erinnerung. Von den Folgen ganz zu schweigen. „So ist das nun Mal mit Meinungen: Sie können sich ändern.“ Er warf Toshiya ein Lächeln zu. „Wir haben uns heute einfach ein wenig unterhalten. Jetzt verstehen wir uns besser. Ist doch gut so, oder?“ Ein Gähnen unterdrückend stand er auf, drückte seinem Freund die Fernbedienung in die Hand. „Ich geh schlafen. Wir haben ja morgen mit den ganzen Aufräumarbeiten einiges zu tun.“ Lächelnd klopfte er dem anderen auf die Schulter, wünschte ihm eine 'Gute Nacht', ehe er ins Badezimmer ging und sich die Zähne bürstete. Er dachte noch mal an das Mittagessen zurück. Wie sehnsüchtig Toshiyas Blick doch geworden war, nachdem er sich kurz darüber gewundert hatte, dass seine Ex-Frau zum Essen geblieben war. Aber er hatte sich gefreut. Von ganzem Herzen. Er selbst hatte die Beiden in aller Ruhe reden lassen. Das war der erste Schritt, um sich wieder anzunähern. Währenddessen hatte er sich mit dem Abwasch beschäftigt und kontrolliert, ob Akio sich bereits an seine Hausaufgaben gesetzt hatte. Kyo musste lächeln, als er daran dachte, dass die beiden zwei Stunden in der Küche gesessen und einfach nur geredet hatten. Diese Beziehung hatte definitiv noch eine Chance. Vor allem eine verdient. Kapitel 29: Die Vergangenheit holt einen immer ein -------------------------------------------------- Einige Tage nach dem Einbruch hatten sie soweit alles auf Vordermann gebracht, dass man nichts mehr sah. Zumindest nicht im Verkaufsbereich. Die Einbrecher hatten nämlich noch ein hübsches Souvenir im Keller gelassen. Und genau vor diesem stand Kyo, starrte regelrecht an die Wand und zerbiss sich die Unterlippe. Tod dem Mörder! Nur er, Die, Toshiya und die Polizei wussten hiervon. Die war derjenige, der es bei der Beschau des Schadens gefunden hatte. Alle Drei waren geschockt gewesen, wenngleich sie es auch seltsam fanden, dass es hier unten im Lagerraum geschrieben stand. Aber den drei Wissenden war sofort klar gewesen gegen wen sich diese Worte richteten. Den anderen Mitarbeitern hatten sie es bisher verschwiegen und sie so unauffällig wie möglich von den Lagerräumen fern gehalten. Sie waren so oder so schon völlig fertig von dem eigentlichen Vorfall, da mussten sie mit diesem Detail nicht auch noch belastet werden. Genauso wenig wussten Shinya und Kaoru von dieser Angelegenheit. Kyo stand bereits seit etwa einer Stunde hier. Der Laden war schon geschlossen. Der Grund warum er noch hier war, war der, dass Daisuke diesen Schandfleck übermalen wollte. Jetzt besorgte er gerade die Farbe. Eigentlich war der Gitarrist dagegen gewesen, dass Kyo mit dabei war, aber er hatte sich so lange quer gestellt, bis er nachgegeben hatte. Die Nachricht war für ihn gewesen, das Chaos drum herum demnach auch seine Schuld, also half er Minimum beim Überstreichen. Denn ganz alleine würde Die ihn die Arbeit auch nicht machen lassen. Schritte ließen den Schwarzhaarigen aufhorchen. In der Erwartung Die zu sehen, der beladen war mit unzähligen Farbrollen, Pinseln und ein paar schweren Eimer, wandte er sich von der Wand ab und ging um die Ecke, damit er dem Anderen was abnehmen konnte. Er war erst ein paar Schritte weit gekommen, da entdeckte er den Gitarristen bereits. Mit Shinya im Schlepptau. „Er ist mir im Baumarkt über den Weg gelaufen“, entschuldigte sich Die im vorbei gehen, da sie sich ja eigentlich darauf geeinigt hatte es den anderen Beiden noch eine Weile zu verschweigen. Klagend sah der Drummer den Kleineren an: „Wie schlimm ist es wirklich?“ Also wusste der Jüngere schon fast alles. Da konnte Kyo ihm nichts mehr vor machen. Er trat zur Seite und zeigte in die Richtung, in die Die gegangen war. „Schau es dir an und sag es mir.“ Ihm tat es nur sehr Leid, dass seine Freunde und seine Kollegen mit in die Sache hineingezogen worden waren. Traurig und auch ein wenig beschämt sah er zu Boden. Derweil sah Shinya Stirn runzelnd zu dem alten Freund, der von Augenblick zu Augenblick kleiner zu werden schien, dann ging er in die Richtung, die ihm angezeigt wurde. Das Erste, was er sah, war Die, der dabei war schon mal das ganze Plastik von den Utensilien zu entfernen. Nach einem Kopfnicken Richtung Wand drehte der Schlagzeuger seinen Kopf schlimmes ahnend zur Seite. Ein Zucken fuhr durch seinen ganzen Körper und vor Entsetzen schlug er eine Hand auf den Mund. Vieles hatte er sich ausgemalt, aber nicht das. „Wie schrecklich“, flüsterte er, starrte weiterhin fassungslos auf die Schrift. „Wie kann man nur?“ „Man nehme ein Sprühdose mit Farbe, atmet noch einmal tief durch und fängt dann an.“ „Kyo!“ Geschockt sah Shinya zu dem Älteren, der sich in der Zwischenzeit lässig an die Eckwand gelehnt hatte und ihn jetzt mit einem Gesicht ansah, als würde er die Kontrolle über seine Tränen jeden Moment verlieren. „Was? Du hast gefragt“, entgegnete der Angesprochene und biss sich auf die Unterlippe, um sich besser zusammen reißen zu können. Aber er hatte doch nicht damit gerechnet eine Antwort zu bekommen. Wieder sah Shinya zu der Schmiererei, konnte darüber nur den Kopf schütteln. Hatte Kyo denn nicht schon genug gelitten? Allein durch die Tatsache, dass sich sein Gewissen in der Form der Frau manifestiert hatte, der er Leid zugefügt hatte? „Anscheinend“, mischte sich Die ein, während er die Farbe umrührte, „war es nicht ganz so einfach.“ Er merkte nicht, wie die anderen Beiden ihn neugierig ansahen. „Die Polizei hat einige Flaschen sicher gestellt. Bier und so etwas. Die Vandalen haben sich ihren Mut und ihre Zerstörungswut erst antrinken müssen.“ Mit einem matten Lächeln wandte er seinen Blick zu seinen beiden Freunden. „Das heißt, dass sie so blöd waren genug Fingerabdrücke und auch DNA zu hinterlassen. Was es der Polizei nur einfacher macht. Sie sollten diese Pfeifen also demnächst haben.“ „Ich würde ja fast sagen: Glück im Unglück“, seufzte Shinya. „Aber das rechtfertigt noch lange nicht diese... diese... diese Grausamkeit.“ Er entledigte sich seiner Jacke, legte sie in eines der Regale und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, ehe er sich einen Pinsel griff. „Oder willst du hier vorher noch was auslegen, damit der Boden nichts abbekommt.“ Doch Daisuke schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Das hier ist immerhin nur das Lager. Da stören ein paar Farbflecke nicht. Hauptsache, die Schrift ist anschließend nicht mehr zu sehen.“ Kyo, der sich ebenfalls einen Pinsel gegriffen hatte, stellte sich so bewaffnet neben seine beiden Freunde: „Ansonsten kommt hier irgendein Plakat oder ein weiteres Regal hin. Dann sieht man auf jeden Fall nichts mehr.“ „Sehen wir dann.“ Daisuke zog einen Eimer heran, tauchte seine Farbrolle hinein. „Dann wollen wir mal.“ „Sag mal, was hast du eigentlich im Baumarkt gesucht?“, fragte Die, als sie nach getaner Arbeit im Aufenthaltsraum saßen und sich jeder einen Kaffee genehmigte. „Ach“, erwiderte Shinya und zuckte mit den Schultern. „Mami und ich haben uns überlegt den Flur neu zu gestalten. Und dann wollte ich mal nach einer neuen Farbe schauen.“ „Das würde dann auch erklären, wie du es geschafft hast mich in dem großen Laden zu finden.“ Schnippisch sah Shinya zu dem Gitarristen. „Du tust ja geradewegs so, als wäre ich eigentlich nur zum Baumarkt gefahren, weil ich wusste, dass du da in der Farbabteilung bist. Das war schlichtweg Zufall. Und nichts anderes.“ Ein wenig pikiert darüber, dass Daisuke so über ihn dachte, widmete er sich seinem Kaffee. Der Zweitälteste unter ihnen, Kyo, ignorierte größtenteils das Gespräch. Er hatte ein anderes Problem. Ein anderes Gespräch, bei dem er sich Mühe gab die Klappe zu halten und nicht irgendeinen Kommentar zu den Beleidigungen abzugeben. Da war sie so lange spurlos verschwunden gewesen, hatte sich wer weiß wo rumgetrieben und in dem Moment, wo er von dem Graffiti erfahren und dann davor gestanden hatte, war sie aus den Schatten aufgetaucht. Die Pause und die Beleidigung hatten ihr neuen Zündstoff gegeben. Eigentlich brauchte er jetzt etwas, das weitaus stärker war als Kaffee, aber Alkohol hatte er ja noch nie gut vertragen. Und andere Mittel... Nein, er hatte doch Versprochen, dass er die Finger von Schlaftabletten ließ. Das beinhaltete auch alles, was dem ähnlich war. Seine geistige Abwesenheit blieb von seinen Freunden nicht unbemerkt. Bedeutungsvolle und auch leicht ängstliche Blicke seitens Die flogen über den Tisch. Immerhin hatte sich Kyo seit dem Nachmittag bei Kaoru viel fröhlicher und offener gezeigt. Was im Endeffekt nur denjenigen aufgefallen war, die ihn schon länger kannten. Umso trauriger war es daher diese Rückentwicklung zu beobachten. Mit einem Seufzer leerte Shinya seine Tasse und stellte sie in die Spüle. „Ich sollte wieder nach Hause. Bestimmt wurde ich schon als vermisst gemeldet.“ „So schnell geht das auch wieder nicht. Da musst du schon einen ganzen Tag lang verschwunden sein oder eben auf medizinische Hilfe angewiesen sein“, klärte ihn der Gitarrist auf. „Da magst du recht haben, aber da die Geschäfte seit etwa einer Stunde zu haben und ich noch nicht zurück bin... Zudem habe ich Mami ja nicht einmal Bescheid gesagt, dass ich mich verspäte. Die wird schon ganz krank vor Sorge sein.“ Verlegen kratzte sich der Jüngste am Hinterkopf. Das war normalerweise nicht seine Art. Er verabschiedete sich schnell von den beiden Freunden, verließ dann das Geschäft durch die Hintertür, um zu dem Angestelltenparkplatz zu kommen, wo er zusammen mit Daisuke geparkt hatte. Der Gitarrist folgte dem Beispiel des Gegangenen in dem er seinen Kaffee ebenfalls aus trank, verfrachtete sowohl seine Tasse, als auch die von Shinya im Geschirrspüler. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, frage er Kyo, erhielt aber keine Antwort. Mit sorgenvollem Blick beobachtete er seinen kleineren Freund, sah wie dieser sich schon fast in seine Tasse gekrallt hatte. Dieses dumme Geschmiere da unten musste mehr in dem anderen ausgelöst haben, als er zugeben wollte. Seufzend ging er auf ihn zu, hockte sich neben diesen. „Hey, Kyo.“ Vorsichtig stupste er ihn an der Schulter an, worauf dieser so heftig zusammen zuckte, dass Die vor Schreck das Gleichgewicht verlor und hin fiel. Einige Momente sahen sie sich einfach an, bis sich Kyos Augen klärten und er scheinbar ins hier und jetzt zurück fand. Verwirrt blinzelnd schaute der Sänger auf den am Boden liegenden Mann. „Was machst du denn da unten?“ Er drehte seinen Kopf zu der anderen Seite: „Shinya, wieso- Wo ist Shinya?“ „Der ist schon gegangen“, erklärte Die. „Hat sich sogar verabschiedet.“ Ächzend rappelte er sich wieder auf. „Wollen wir gehen? Ich bring dich auch nach Hause.“ Müde und mit einem Gähnen rieb sich Daisuke über die Augen. Es war ein langer Tag gewesen und selbiger schon weit voran geschritten. Stumm nickte der Gefragte, erhob seine Tasse, um einen letzten Schluck zu nehmen, stellte aber auf halbem Wege fest, dass sein Getränk bereits eiskalt war. Missmutig verzog er das Gesicht. Das wollte er dann auch nicht mehr trinken. Der Rest landete im Ausguss und das Gefäß bei den anderen in der Maschine. „Lass uns gehen“, meinte er und schnappte sich seine Jacke, ging voran. Daisuke blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, aber er war ja auch dafür verantwortlich, dass die Tür ordentlich verriegelt war. Weitere Einbrüche konnten sie nicht gebrauchen. Sie waren ja schon froh, dass die Schäden im Laden endlich beseitigt waren und die Versicherung einen Großteil der angefallenen Kosten übernommen hatten. Gerade Schaufensterscheiben waren unheimlich teuer. Schweigend stiegen beide in Dais roten Flitzer, brachten schlussendlich nur ein paar Worte des Abschieds zustande, als sie bei Toshiyas Wohnung angekommen waren. Drinnen traf Kyo noch den jüngeren Freund an, der es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. „Die DVD kenne ich“, schmunzelte der Sänger, ließ sich auf das Sofa fallen. „Wirklich? Wie das bloß kommt“, erwiderte der Bassist grinsend. Ein Seufzen kam von dem Kleineren. „Die 'It withers and withers'- Tour.“ Und Toshiya war schon bis kurz nach der 2. Pause angekommen. „Wie lange ist das jetzt schon her? Zwanzig? Fünfundzwanzig Jahre?“ „Ich glaube, irgendwas dazwischen. Aber es ist auf alle Fälle schon verdammt lange her.“ Wehmütig schauten sie weiterhin auf den Fernseher, schwelgten jeweils für sich in den Erinnerungen, die sie speziell mit diesem Auftritt und auch der gesamten Tour verbanden. Es waren viele schöne Momente dabei. Klar, es war anstrengend von einer Halle zur nächsten zu hasten. Wie es bei jeder Tour gewesen war. Doch für all das wurden sie durch die leuchtenden Augen und die Energie, die die Fans ausstrahlten jedes Mal entschädigten. Gebannt verfolgten sie die letzten Minuten. Wer hatte denn damals ahnen können, wie ihr Leben nur zehn Jahre später aussehen würde? Ziemlich müde wünschten sie sich eine 'Gute Nacht', dann verzogen sie sich in ihre jeweiligen Schlafzimmer. Gerade als Kyo in sein Bett kroch und die Decke über sich ziehen wollte, öffnete sich seine Tür. Verwundert setzte Kyo sich noch einmal auf. „Was ist los, Toshiya?“, fragte er, als er den Anderen im Türrahmen ausmachen konnte. „Weißt du... Nachdem ich mir jetzt die DVD noch einmal angesehen habe, da würde ich mich wieder gerne mit den Anderen zusammen setzen und proben. Das letzte mal ist auch schon wieder so lange her.“ 'Lange? Das waren vielleicht gerade mal fünf Wochen her, dass wir mal wieder gemeinsam musiziert haben', dachte Kyo. Er hatte es als schön empfunden, kein Zweifel, aber sie hatten einfach ein schlechtes Timing. Immer stellten sie die Frage, wenn er gerade wieder mit seinem 'Geist' zu kämpfen hatte. Und er konnte es ihnen doch so schlecht abschlagen, freute er sich doch immer wieder über die Tatsache, dass er ihnen nach all der Trauer und Sorgen ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. „Eigentlich...“, wollte er absagen und alles weiter nach hinten verschieben. Möglichst lange hinaus zögern. Warum? Die Antwort wüsste er auch gern. Seine Augen wanderten von Toshiya zur Wand gegenüber von seinem Bett. Blickten Ayaka so direkt in ihre Augen. Wieso war sie so still? Seit Beginn der Autofahrt vorhin hatte sie kein einziges Wort gesagt. Dabei war sie doch sonst redebedürftig. Und wenn er an ihre Keiferei dachte, damals, als sie ihre erste Probe nach so langer Zeit hatten, war das hier richtig unheimlich. Ihr Blick allerdings sprach Bände. Eine Mischung aus Wut, Trotz und Abneigung. Schwer seufzend wanderten seine Augen zurück zur Tür, wo Toshiya noch immer stand. „Eigentlich wollte ich die paar Textfetzen, die ich habe erst mit Kaoru absprechen. Ihn fragen, was er als Leader davon hält.“ Der Bassist kam auf Kyo zu, setzte sich neben den Freund aufs Bett. „Und was ist mit uns? Wann kriegen wir die Sachen zu lesen?“ „Bald. Versprochen. Mit dem einen Text bin ich auch schon fast fertig. Die Stücke, die ihr komponiert habt sind unheimlich inspirierend. Es steckt so viel Gefühl in eurer Musik.“ Kyo senkte den Kopf. „Vor allem viel Trauriges.“ „Wir waren ja auch nicht gerade in Hochstimmung, als wir angefangen haben mit dem Komponieren“, erklärte Toshiya und verfiel in ein deprimiertes Schweigen, bei der Erinnerung an die vielen Stunden, die sie im Studio gesessen haben. „Hey, Kopf hoch. Wir können uns bald zusammen setzen. Dann werden das nicht einfach nur traurige Songs, sondern sehr schöne, gefühlvolle Lieder.“ „Das wäre schön.“ Jetzt zeigte sich wieder ein leichtes Lächeln auf den Lippen des Jüngeren. Er freute sich schon auf das, was sie gemeinsam schaffen würden. „Du, sag mal. Du hast doch demnächst wieder einen Termin bei deinem Bewährungshelfer, nicht wahr?“ „Ja, übermorgen. Also, Montag“, erklärte Kyo bereitwillig. „Soll ich dich hinbringen?“ „Nein, nicht nötig“, verneinte Kyo. „Ich fahre hier morgens mit dem Bus los. Da ist eine Route, die ganz gut passt. Und für den Weg zurück zum Laden habe ich auch schon was. Ich hab zwar keine Ahnung, wie lange die ganze Sache dauert, aber laut den Fahrplänen, die ich habe, fährt jede Stunde einer in die Richtung, die ich brauche.“ „Gut. Aber wenn dir das Warten zu lange dauert, dann ruf an. Dann kommen Die oder ich angebraust“, schmunzelte Toshiya. „Wer weiß: Wenn wir nicht schnell genug sind kommt Nobu angehüpft und nimmt dich mit.“ „Und womit? Der verlässt den Laden immer zu Fuß. Wie will er mich da abholen?“ „Kyo“, sagte der Größere langgezogen. „Du vergisst immer wieder seine Geheimwaffe. Sein Telefon.“ Beide Männer fingen leise zu lachen. Ihr Maskottchen sorgte selbst in Abwesenheit für Gute-Laune. „Ich geh dann mal wieder in mein Zimmer. Ist ja schon reichlich spät. Oyasumi.“ „Oyasumi“, erwiderte der Sänger, wartete, bis er hörte, wie sich sein alter Freund in sein Zimmer begeben hatte. Dann wandte er sich wieder seinem personifizierten Gewissen zu. „Oyasumi“, flüsterte er ihr zu, legte sich schlafen, bekam gerade noch ihr empörtes Aufschnauben mit, ehe er eingeschlafen war. In einem anderen Teil der Stadt: „Hatschi!“ Niesend schreckte Nobu aus dem Schlaf hoch. Von Maboroshi wurde er wieder zurück gezogen, ganz nah an die breite Brust. „Wie war das Sprichwort? Wenn man niest, dann redet jemand über einen. Was mich bei deinem Bekanntenkreis nicht wundern würde“, nuschelte der Größe verschlafen. „Na, dann hoffe ich doch, dass es nur Gutes ist.“ Mit einem katzengleichen Grinsen kuschelte er sich an seinen Liebsten, in die schön warmen Arme. Kapitel 30: Besuche ------------------- Pflichtbewusst fuhr Kyo zwei Tage später zu seinem Bewährungshelfer, um diesem wieder einmal eine kleine Übersicht über sein neues Leben zu geben und ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel zu spielen. Zeigen, dass er außerhalb des Gefängnisses gut zurecht kam und die Entscheidung mit der Bewährung eine gute war. Artig wartete er vor dem Büro, war etwa zehn Minuten zu früh dran. Um sich die Wartezeit angenehmer zu machen und sich selbst ein wenig zu entspannen, nahm er auf einem der Stühle im Flur Platz. Die Unterlagen, die er hatte mitbringen sollen - Kontoauszüge, Arbeitszeugnisse – lagen alle in einer Mappe auf seinem Schoß. Neben ihm auf dem freien Platz, hatte sich Ayaka niedergelassen, stillschweigend und die Hände fein säuberlich in ihren Schoß gelegt, nachdem sie sich eine blutverschmierte Strähne aus dem Gesicht gestrichen hatte. Schon den ganzen Morgen war sie so wortkarg gewesen, hatte ihn aber auf Schritt und Tritt verfolgt. Was irgendwo doch noch anstrengender und nervenaufreibender war, als alles bisherige. Gut eine Minute war vergangen, da öffnete sich die Bürotür und heraus kam sein Bewährungshelfer, der einen anderen Klienten verabschiedete. „Ah, Niimura-san. Sie sind ja schon da. So früh hatte ich Sie gar nicht erwartet. Wenn Sie möchten, dann können wir jetzt schon anfangen.“ Mit einer einladenden Geste wies er in sein Büro. Kyo stimmte dem Vorschlag nickend zu. Warum sollte er hier auch weiter herum sitzen? Je eher sie anfingen, umso eher waren sie fertig. Kibo-san, ein groß gewachsener, hellblonder junger Mann, mit wachen, rehbraunen Mandelaugen hinter einer großen, schwarzgerahmten Brille, ließ Kyo den Vortritt, schloss hinter sich die Tür. „Nehmen Sie Platz. Machen Sie es sich bequem“, bat er, während er sich selbst hinter seinen Schreibtisch setzte, sich Kyos Akte, die er schon bereit gelegt hatte, nahm. „Bei Ihnen ist alles in Ordnung? Keine Probleme auf der Arbeit oder so?“ „Indirekt...“ „Indirekt?“ „Vor drei Tagen wurde bei uns eingebrochen. Und die Einbrecher haben einen netten Spruch auf einer der Wände im Lager hinterlassen, der sich gegen mich richtete“, nuschelte Kyo seinen Füßen entgegen. Natürlich hätte er das auch verschweigen können, aber was, wenn das heraus gekommen wäre? Wenn das dann auch noch Ärger nachgezogen hätte? Nein, darauf konnte er verzichten. Außerdem machte sich Lügen nicht gut, wenn die eigene Freiheit auf dem Spiel stand. „Gegen Sie? Was macht Sie da so sicher?“ „Wenn sich da jemand wünscht, dass ein Mörder stirbt und alle Anderen in dem Laden haben eine weiße Weste, wem gilt das dann wohl?“ „Oh. Ja, das wird sich dann vermutlich wirklich an Sie gerichtet haben. Das stellt dann schon ein Problem dar. Wie kommen Ihre Kollegen und Ihre Arbeitgeber damit zurecht?“ „Das Wissen nur Andou-san, Hara-kun, die Polizei und ich. Meine Kollegen haben keine Ahnung. Sie waren von dem Einbruch selbst nervlich schon so am Ende“, erklärte der Ältere. „War es mehr auf Ihr drängen oder hatten Ihre Chefs darauf bestanden?“ „Meine Chefs.“ „Ah, gut.“ Nachdenklich notierte er sich etwas in der Akte. Das war ein Thema, auf das er als guter Bewährungshelfer weiterhin ein Auge haben sollte. „Aber sonst ist alles in Ordnung? Gibt es vielleicht etwas, wobei ich helfen kann?“ Kyo überlegte. Da gab es schon noch eine Bitte, war sich aber nicht sicher ob und wie er sie formulieren sollte. „Sie haben mir erzählt, dass Sie eine Wohnung suchen. Kommen Sie damit voran?“ „Ja. Einer meiner jüngeren Kollegen hat ein paar gute Kontakte in der Stadt und mir vor kurzem ein paar sehr schöne Immobilien vorgeschlagen. Bei Gelegenheit wollten wir die auch besichtigen, aber wegen dem Einbruch haben wir das fürs Erste aufgeschoben.“ Wenn Nobu seine gute Laune wiedergefunden hatte, dann würde er den Jüngeren wieder drauf ansprechen. „Sie können aber weiterhin bei Ihrem Freund wohnen?“ „Ja, kann ich. Das ist kein Problem“, erklärte Kyo. „Am liebsten würde der mich auch gar nicht wieder ausziehen lassen.“ „Wieso denn das?“ Jetzt war Kibo-san doch ein wenig verwirrt. Zwar war man als Freund froh, wenn man helfen konnte -würde er auch machen – jedoch konnte er sich auch vorstellen, dass man irgendwann erleichtert war, wenn der Andere auszog und wieder auf eigenen Beinen stand. Um die Verwirrung zu lösen, fügte der Ältere hinzu: „Aus Angst. Um mich.“ Jedoch merkte er schnell, dass das nicht weiter half. „Wegen der Sache mit den Schlaftabletten letztens.“ „Weswegen Sie im Krankenhaus waren?“ „Genau. Und wegen“, Kyo schob die Ärmel seiner Jacke hoch, legte seine Unterarme demonstrativ auf den Schreibtisch, zeigte somit die verblassten, feinen Narben. „Mein Freundeskreis hat Angst, dass ich damit wieder anfange.“ Sein Gegenüber musste schlucken. So viele Schnittwunden auf einer vergleichsweise kleinen Fläche hatte er noch nie gesehen. Diese Reaktion brachte Kyo dazu seinen Armen ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken. Vorsichtig strich er über die feinen Linien auf seinem linken Unterarm. Eine Geste, die ihn an Shinyas Geburtstag und an die kleine Nanami erinnerte. Sie hatte diese Linien nicht beachtet. Hatte sich nur um die Tattoos gekümmert. Alles andere war ihr egal gewesen. War wohl auch besser so. Denn ihr erzählen woher die weißen Striche kamen wollte er nicht. Im schlimmsten Fall würde sie Angst bekommen oder es aus Neugier noch selbst ausprobieren. „Ich finde, dass aus dem weiß ruhig wieder rot werden könnte. Das passt besser zu deinen blutbesudelten Händen.“ Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem gesamten Körper aus, als Ayaka seine Bewegung imitierte. Aber er sagte nichts, reagierte nicht weiter. Nur schneiden würde er sich nie wieder. Nicht wegen ihr oder sonst jemandem. Nie wieder. In den nächsten Minuten besprachen sie, nachdem für einen Moment betretendes Schweigen geherrscht hatte, noch einige Kleinigkeiten. „Ich denke, wir können an dieser Stelle dann auch Schluss machen. Soweit ist ja alles in Ordnung. Sie erfüllen die Auflagen und haben sich nichts zu schulden kommen lassen. Ich kann Sie ruhigen Gewissens weiterhin unter Bewährung durchs die Straßen ziehen lassen.“ Gute Neuigkeiten. Aber obwohl dieses Treffen damit als beendet angesehen werden konnte, blieb Kyo sitzen, starrte auf die Papierberge vor sich. „Niimura-san?“ „Ich hätte da eine Bitte an Sie“, nuschelte Kyo und spielte ein wenig an der mitgebrachten Mappe herum. „Welche denn?“, erkundigte sich der Hellbraune wissbegierig. Wenn er helfen konnte, wollte er das gerne tun. „Ich würde gerne das Grab von Takeno-san besuchen.“ Kurz ließ er den Satz wirken. Schließlich kam dieser Wunsch reichlich überraschend. „Wenn Sie vielleicht mit der Familie reden könnten? Ihr Einverständnis einholen? Vielleicht wollen sie ja gar nicht, dass ich dem Grab ihrer Tochter zu nahe komme. Und wenn sie wollen, dass irgendwelche Vorkehrungen getroffen werden, wenn sie wollen, dass ich keinen Schritt, keinen Atemzug ohne Erlaubnis ihrerseits machen darf, dann bin ich damit einverstanden.“ Fest sah er in das Gesicht des Jüngeren. „Ich will ja nichts Schlimmes. Ich will mich nur entschuldigen und ein paar Blumen hinterlegen.“ „Das willst du wirklich tun?“, hörte er Ayaka neben sich fragen und woraufhin er sacht nickte. Er hätte ihr auch gerne eine mündliche Antwort gegeben, aber wenn andere Menschen dabei waren hielt er sich zurück. Es musste ihn ja nicht jeder gleich für verrückt erklären. „Nun“, fing der größere Japaner an, „Ihre Bitte kommt überraschend. Zeigt mir aber auch, dass ich Sie richtig eingeschätzt habe. Ich werde mich noch gleich heute darum kümmern.“ Lächelnd erhob er sich, zeigte somit an, dass er das Gespräch beenden und gleich mit der Erfüllung der Bitte beginnen wollte. Kyo stand ebenfalls auf, wurde wie sein Vorgänger zur Tür begleitet und dort verabschiedet, bekam von Kibo-san noch das Versprechen, dass er alles tun würde, damit dieser Besuch so schnell wie möglich stattfand. Auf dem Weg nach draußen schielte er immer wieder zu Ayaka herüber. Sie wirkte nachdenklich. „Ich mache das, weil du es so willst.“ Zumindest hatte er ihre Aussage damals im Krankenhaus: 'Sag es mir ins Gesicht.' so verstanden. „Und was willst du dafür?“ „Die Freiheit zu singen. Mit den Anderen wieder musizieren, ohne mir die ganze Zeit Vorwürfe von dir anhören zu müssen.“ Er meinte es nicht böse, schmunzelte sogar ein wenig. „Deine Wünsche ändern sich wohl auch nicht“, erwiderte sie, hatte dabei leichtes Lächeln mit einem Hauch Spott, der aber alles andere als böse gemeint war. „Nein, nicht wirklich.“ Derzeit gab es wirklich nichts, was er mehr wollte. „Dir ist schon klar, dass du mich nicht fragen brauchst. Wenn du es mit dir vereinbaren kannst, dann sing doch.“ „Aber das ist doch der Grund, weshalb ich dich frage“, flüsterte der kleine Japaner, sah sich immer wieder verstohlen nach rechts und links um. Es musste ja keiner etwas von seinen 'Selbstgesprächen' mitkriegen. „Du bist mein Gewissen. Wenn ich mich nicht mit dir einig werden kann, mit wem denn dann?“ Als Kyo etwa eine halbe Stunde später in den Laden kam, saßen seine Kollegen, was an diesem Tag neben Die und Toshiya, Nobu und Keisuke waren, in der Angestelltenküche und tranken Tee oder Kaffee. „Hallo Leute“, begrüßte er alle, legte die Mappe mit den Unterlagen auf den Tisch und entledigte sich seiner Jacke, die er über die Lehne des Stuhles hängte, auf den er sich dann auch setzte. Allerdings wunderte ihn, dass er keine Antwort bekam. Zumindest keine so fröhliche wie sonst. Und gerade bei Nobu war das Besorgnis erregend. „Was ist los?“, fragte er und sah unsicher von Einem zum Anderen. Die regte sich als Erster. „Toshiya und ich hatten vorhin ein Gespräch mit den Polizisten, die für unseren Fall zuständig sind.“ Mit traurigem Blick starrte er in die Tasse, die er in seinen Händen herum drehte. „Und?“ „Die Einbrecher sind vorgestern gefasst worden. Hat wohl nur so lange gedauert, weil die Jungs keinen festen Wohnsitz haben. Ein paar Jugendliche ohne Perspektive. Sollen wohl auch recht schnell gestanden haben.“ „Das-Das ist doch gut, oder nicht?“ So allmählich verstand Kyo die Welt nicht mehr. Wenn die Übeltäter gefasst wurden, war das doch ein Grund zur Freude. Jetzt war es an Toshiya zu antworten: „Wenn es die üblichen Gründe wie Langeweile, Zerstörungswut oder sowas wie eine Mutprobe gewesen wäre, dann wäre das zwar auch ärgerlich, aber nicht so schlimm wie das, was wirklich dahinter steckt.“ Erwartungsvoll sah Kyo in die Runde, nachdem Toshiya gestoppt hatte. Sollte er jetzt raten, warum ihnen ein paar Jugendliche die Bude demoliert hatten oder erbarmte sich vielleicht mal einer von den anderen Vieren und erzählte die ganze Geschichte? „Jemand hat sie dazu angestiftet“, klärte Daisuke auf. „Hat ihnen den Alkohol und ein bisschen Geld dafür gegeben, dass sie das alles hier anrichteten.“ „Auch für -?“ „Bezahlt für alles“, antwortete Die, der wusste worauf Kyo sich bezog. „Darauf hatte der ominöse Kerl sogar bestanden. Hat sogar noch die Spraydose spendiert.“ Jegliche Farbe wich aus dem Gesicht des Sängers. Das war alles nur wegen ihm passiert. Seinen Freunden war Schaden zugefügt worden, weil er hier war. Nein, weil es ihn gab. Verzweifelt ließ er den Kopf in seine Hände sinken. Es war eben doch falsch gewesen, dass man ihn wieder raus gelassen hatte. Plötzlich spürte er, wie jemand ihn in eine Umarmung zog. An den grünen Haarspitzen konnte er erkennen, dass es ihr Kätzchen war. „Nicht traurig sein, Kyo-san. Für das Ganze ist ein ganz, ganz böser Mann verantwortlich. Das er so etwas veranlasst hat, ist unverzeihlich. Du darfst nicht sterben. Dafür hab ich dich viel zu gern.“ Erst jetzt wurde Kyo klar, dass Die eben offen über die Schweinerei unten im Keller geredet hatte. Und dass Nobu Bescheid wusste, konnte nur heißen, dass die beiden eingeweiht worden waren. Vorwurfsvoll sah er und zu den beiden engen Freunden. „Nach der Information mussten wir es ihnen erzählen“, rechtfertigte sich der Gitarrist. Kyo holte tief Luft, wurde ärgerlich, aber so schnell wie sie gekommen war, war seine Wut auch schon wieder verpufft. Hatte er nicht noch vorhin bei seinem Gespräch mit Kibo-san festgestellt, dass es besser war die Wahrheit zu sagen? „Hat die Polizei denn eine Ahnung, wer dahinter steckt?“ Toshiya zuckte mit den Schultern. „Uns wurde erzählt, dass man versucht ein Phantombild zu erstellen, aber die Jungs sind nicht einfach. Jeder sagt was anderes. Man vermutet, dass die beim Treffen schon nicht mehr ganz nüchtern waren. Nur in einem Punkt sind sie sich alle einig: Es war ein Kerl mit eiskalten Augen. Stechenden, kalten Augen.“ Kibo-san war schnell. In etwas weniger als zwei Wochen hatte er alles organisiert. Noch am selben Tag, an dem er von der Bitte seines Mandanten gehört hatte, hatte er die Familie Takeno kontaktiert und ihnen dieses Anliegen näher gebracht. Überrumpelt von dieser Anfrage hatten sie erst einmal um ein wenig Bedenkzeit gebeten, sich dann nach drei Tagen wieder bei dem Hellbraunen gemeldet. Sie waren einverstanden, hatten allerdings auch zwei Bedingungen: Das Erste war, dass sie dabei sein wollten. Als Zweites wünschten sie sich die Anwesenheit von Polizeibeamten, die die ganze Aktion überwachen sollten. Mit beidem erklärte sich Kyo einverstanden, so wie er gesagt hatte. Was sprach auch schon dagegen? Zudem: Er wollte zu dem Grab, wollte der von ihm getöteten Frau, gegenüber treten, sich entschuldigen und so ein wenig Buße tun. Nach den 15 Jahren Haft ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Es war Freitag Morgen, als zwei Polizeibeamte bei Toshiya klingelten. Noch vor den Beamten waren Die, Kaoru und Shinya nacheinander bei den beiden Freunden eingetroffen, um Kyo zu begleiten. Hatten sich extra hierfür frei genommen. Nach einer kurzen Absprache mit den Beamten einigte man sich darauf, dass diese voraus fahren würden, während die anderen Vier und Kibo-san, der ebenfalls dabei sein wollte, folgen würden. Kyo kam sich schon ein wenig komisch vor, als er im hinteren Teil des Streifenwagens Platz nahm. Schließlich war er, wenn man mal von der Bewährung absah, ein freier Mann. Es war ein beengendes Gefühl hier zu sitzen. Als ob ihm seine Freiheit wieder genommen werden würde. Doch das musste er auf sich nehmen. Hatte er sich doch bereit erklärt, alle gestellten Bedingungen zu akzeptieren und einzugehen. Das gehörte einfach dazu. Während der Fahrt, die doch eine Weile dauerte, drehte er sich immer mal wieder nach hinten um, um sicher zu gehen, dass seine Freunde noch da waren, den Wagen mit ihm darin nicht aus den Augen verloren hatten. Wenn er Dies roten Wagen entdeckte, dann war er immer wieder aufs Neue beruhigt. Vor dem Eingang zum Friedhof konnte er schon von weitem ein älteres Paar ausmachen, welches reichlich gebeugt dastand und sich die eine Person sogar auf einem Krückstock abstützte. Neben ihnen ein Mann Mitte 40, dessen stechenden Blick Kyo schon auf diese Entfernung auf sich spüren konnte. Die Familie Takeno. Kyos griff um den mitgebrachten Blumenstrauß auf seinem Schoß festigte sich. Sein Blick wanderte zu Ayaka neben sich. Sie war offensichtlich mindestens genauso nervös wie er selbst. Der kleine Konvoi fuhr auf den Parkplatz. Erst der Polizeiwagen, dann Die und zu guter Letzt Kibo-san. Allmählich wurde es ernst. In den Gesichtern seiner Freunde konnte Kyo dieselbe Nervosität entdecken, die ihn selbst erfasst hatte. Dabei mussten sie ja gar nicht so fühlen. Für ihn war es ein schwerer Gang. Sie waren nur begleitend dabei. Trugen nicht seine Bürde. Einer der beiden Beamten öffnete eine der Hintertüren und ließ Kyo aussteigen. Sogleich wurde er von beiden Seiten flankiert. Mit seinen Freunden im Rücken und Kibo-san vorneweg ging es zu der Familie, die geduldig am Eingang wartete. Nun, mehr oder weniger, denn der Sohn wippte auf seinen Füßen herum. Freundlich begrüßte Kibo-san die Eheleute, stellte sich als der vor, mit dem sie telefoniert hatten. Es folgte ein kleiner, allgemeiner Austausch von Begrüßungen, ehe sich der kleine Trupp in Bewegung setzte. Während die Eltern Kyo gegenüber deutlich machten, dass sie sich über dessen Bitte und seine jetzige Anwesenheit so etwas wie freuten, spürte er im Nacken die hasserfüllten Blicke des Bruders. Von Ayaka war er ja einiges gewöhnt, aber das hier war wirklich heftig. Richtig unheimlich und ein Schauer nach dem anderen rannte ihm den Rücken runter. Nur langsam kamen sie voran, da Herr und Frau Takeno nicht die schnellsten waren, aber sie mussten ihnen ja den Weg weisen, weil sonst keiner wusste, wo sich die Grabstelle befand. Viel gesprochen wurde auch nicht mehr, da die ganze Atmosphäre und die Umgebung reichlich bedrückend wirkten. Irgendwann hielten sie vor einem schlichten, weißen Grabstein auf dem ihr Name eingraviert war. Nachdem die Familie kurz ein kleines, stilles Gebet gesprochen und einige Räucherstäbchen angezündet hatte, durfte Kyo vortreten. Mit wackeligen Beinen trat er heran, legten den kleinen Strauß ab und die Hände aneinander. 'Es tut mir Leid. Nie habe ich gewollt, dass ein Mensch durch meine Hand stirbt. Ich bedauere zutiefst, dass es dich treffen musste. Dass ich mich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Könnte ich etwas in meinem Leben ändern, dann...' Eigentlich gehörte hier die Stelle mit dem Schlag hin, aber Kyo war mehr für den Zeitpunkt, als er den angeblichen Überfall vereitelt hatte. Aber das wäre nicht richtig gewesen. Immerhin hätte er es bis zu dem 'Unfall' schaffen können, dass sich ihre Wege unwiderruflich trennten. Doch wenn er ganz tief in sich hinein horchte, dann war das, was er wirklich am meisten bereute und ungeschehen machen wollte, dieser eine Tag. Dieser eine Moment, der ihren Tod bedeutet hatte. „Gomen nasai, Takeno-san“, flüsterte er, verneigte sich tief vor Ayakas letzter Ruhestätte. Als er sich wieder aufrichtete, merkte er wie er von hinten von ihr umarmt wurde. „Danke. Das war alles, was ich von dir hören wollte.“ Ein sanfter Kuss landete auf seiner Wange. „Ich vergebe dir. Und um ehrlich zu sein: So schön war mein Leben zum Schluss ja auch nicht mehr.“ Sie löste sich von ihm, schritt an der Gruppe vorbei. Das Blut in ihrem Gesicht, ihren Haaren und ihrer Kleidung war verschwunden. Einige Meter weiter blieb sie stehen und mit einem strahlenden Lächeln und einem Winken verschwand sie. „Lebe wohl“, wisperte er ihr hinterher, strich sich Tränen, von denen er noch nicht einmal gemerkt hatte, wie sie flossen aus dem Gesicht. Tränen der Erleichterung. Hierher zu kommen, sich an ihr Grab zu begeben und sich für alles zu entschuldigen war definitiv richtig gewesen. Das war es, was ihn in den letzten sechzehn Jahren wohl doch noch mit am meisten belastet hatte, neben der Tatsache, dass er eben jemandem auf dem Gewissen hatte: Dass er ihr nicht in irgendeiner Form das letzte Mal gegenüber getreten war, um sich, wie jetzt zu entschuldigen. Natürlich fühlte er sich immer noch schuldig, aber eben auch ungemein befreiter. Froh diesen Schritt getan zu haben, wandte sich Kyo zu den Eltern herum, verneigte sich tief. „Dass mir erlaubt haben hierher zu kommen, bedeutet mir sehr viel. Arigatou Gozaimasu.“ Das Ehepaar deutete ihrerseits eine Verbeugung an, schafften sie es in ihrem Alter doch nicht mehr richtig. Der Bruder hingegen zeigte sich immer noch eiskalt, als Kyo sich vor ihm noch einmal extra verneigte. Sein Bewährungshelfer bedankte sich ebenfalls für die gegebene Chance, natürlich erst nachdem er Ayaka noch die Ehre erwiesen hatte. Die anderen vier Dir en Grey- Mitglieder taten es ihm gleich, sprachen ihr Beileid aus. Kyo hielt sich wieder ein wenig abseits auf, genoss das neu gewonnene Stück seelischer Freiheit ein wenig, sah träumerisch in den durchbrochenen, grauen Himmel. Plötzlich legte sich eine Hand wie ein Schraubstock um seinen linken Oberarm. Verwirrt sah er in das Gesicht des Mannes, der dafür verantwortlich war, traf auf hasserfüllte Augen. „Wenn es vollkommen nach mir gegangen wäre, dann wären Sie hier in dicken Ketten aufgetaucht, eingekreist von Mitgliedern irgendeiner Spezialeinheit der Armee. Wenn ich denn überhaupt die Erlaubnis gegeben hätte. Sie sind ein Mörder. Abschaum. Ein Nichts“, zischte er ihm zu. „Gefängnisstrafe. Pah. Man hätte Sie töten sollen. Mörder gehören getötet.“ Wie paralysiert starrte Kyo den jüngeren Mann an. Selbst nachdem dieser ihn weggestoßen und davon gegangen war. 'Mörder gehören getötet.' War das ein Zufall? Es gab schließlich viele Menschen, die so dachten. Die für die Todesstrafe waren. Aber diese Augen, die ihm noch jetzt eine Gänsehaut bereiteten. Das konnte alles doch nur Zufall sein. Aber es passte einfach zu perfekt. Steckte Takeno-kun hinter dem Einbruch? Kapitel 31: Takt, bitte ----------------------- Kyo brauchte Ablenkung. Der Blick, mit dem er vor zwei Tagen von Ayakas Bruder bedacht worden war und das von diesem gesagte ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. 'Mörder gehören getötet.' 'Ein Kerl mit eiskalten Augen.' 'Tod dem Mörder.' Das passte alles irgendwie zusammen, oder nicht? Der Typ hasste ihn wie die Pest. Aber war ihm das nur deshalb auch zuzutrauen? Außerdem sollte man mit Beschuldigungen vorsichtig sein. Sehr vorsichtig. Um sich abzulenken, erhob er sich von seinem Bett und ging ins Wohnzimmer, beobachtete Toshiya und Akio, die es sich am Tisch gemütlich gemacht hatten und sich mit irgendwelchen Gesellschaftsspielen beschäftigten. Sie waren so vertieft, dass sie nicht einmal mitbekamen, wie er sich dazu setzte. Nachdem sie ihn auch eine Minute später immer noch nicht wahrgenommen hatten, nahm er einfach die Würfel an sich. „Hey! Was soll denn das? Kyo, gib die Würfel wieder her!“, beschwerte sich Toshiya und plusterte sich auf. Was für eine Frechheit. „Ich will in den Proberaum.“ Und sofort war Toshiya stumm, saß stocksteif und mit großen Augen da. Dann wurde er von einer Sekunde auf die andere hektisch. Er rannte in sein Schlafzimmer, wo er sich schnell eine andere Hose anzog und sich seinen Bass schnappte. Wieder draußen wandte er sich an Akio, der völlig verwirrt sitzen geblieben war. „Akio, zieh dich an. Wir wollen jetzt raus.“ Verwundert sah der kleine Junge zu seinem Vater, dann zu seinem Onkel: „Ich darf auch mit?“ „Natürlich“, sagte Toshiya. „Ich kann dich doch nicht hier alleine lassen.“ Zur Sicherheit sah der Kleine noch mal zu Kyo, der bestätigend nickte. Mit einem Freudenschrei sprang das Kind auf und rannte zum Flur, wo er sich Schuhe und Jacke anzog. „Kyo! Worauf wartest du noch? Du wolltest doch jetzt los?“ „Wann habe ich das Wort 'jetzt' benutzt?“ Toshiyas Mund klappte mehrfach auf und zu. „Aber...Aber....“ „Mensch. Natürlich habe ich jetzt gemeint. Wir müssen nur noch die anderen Drei anrufen.“ „Das können wir auch vom Auto aus erledigen. Und jetzt rein in die Klamotten.“ „Schon unterwegs“, schmunzelte Kyo, stand auf, ging aber erst einmal in sein Zimmer, um sein Textbuch und den Mp3-Player zu holen. Das würden sie heute noch benötigen. Von dem Bassisten weiterhin angetrieben wurden sie regelrecht zum Auto gescheucht und sobald sie saßen, bekam Kyo das Handy des Jüngeren in den Schoß geworfen, welches bereits Kaorus Nummer wählte. Ein wenig überrumpelt hielt er sich das Gerät ans Ohr, wusste gar nicht, was er gleich sagen sollte, da meldete sich der Angerufene auch schon. „Was gibt es Toshiya?“ Kaoru klang ein wenig genervt. „Nicht Toshiya.“ „Kyo?“ „Ja, genau der. Hast du heute noch Zeit?“ „Wann heute?“ „Ab jetzt. Toshiya und ich sind gerade auf dem Weg zum Proberaum und-“ Weiter kam er nicht, da aus dem Hörer nur noch ein Tuten kam. „Ich glaube, unser Leader ist schon so gut wie auf dem Weg.“ „Klasse. Dann ruf noch schnell bei den anderen beiden an. Los.“ Seufzend rollte der Sänger mit den Augen, ignorierte so gut es ging den rasanten Fahrstil des Freundes. Wen nahm er denn als nächstes? Shinya. Der hatte, wenn er sich richtig erinnerte, den weitesten Weg. Er wusste ja wie heilig dem Jüngsten die Wochenenden waren, hatte von daher schon ein schlechtes Gewissen, ihn von seiner Familie wegholen zu wollen. Dennoch wählte er die Nummer ihres Drummers, bekam aber nur den Anrufbeantworter in die Leitung. Wie immer an den Wochenenden. „Hallo Shinya. Ich weiß, dass du heute nicht gerne gestört wirst, aber ich wollte dich trotzdem fragen und bitten, dass du zum Proberaum kommst. Wir... Ich will mich gerne mit euch zusammen setzen und... proben, komponieren und so. Wäre schön, wenn du auch kommen würdest.“ Mal schauen, wann er die Nachricht hören würde. Blieb also noch Die. „Hallo?“, meldete sich eine Mädchenstimme. „Nanami-Chan? Hier ist Onkel Kyo.“ Vom Fahrersitz kam unterdrücktes Gelächter. Schnell hielt Kyo eine Hand über das Telefon, damit die kleine Nanami am anderen Ende nicht so viel mitbekam. „Sei froh, dass du fährst, sonst würde ich dich jetzt treten .“ Es folgte noch ein böser Blick, der noch ein wenig mehr Gelächter erntete. Böse gucken sollte er wirklich nochmal üben. Resignierend wandte er sich wieder dem Telefon zu. „ist dein Otou-san zu Hause? Ich würde den gerne sprechen.“ Das kleine Mädchen holte kurz Luft, wollte wohl nach ihrem Erzeuger rufen, dann sagte sie: „Der ist gerade weg. Der hatte es ganz eilig nachdem Onkel Kaoru angerufen hatte. Weißt du vielleicht warum?“ „Dein Papa und deine Onkel wollen sich treffen und ein bisschen Musik zusammen machen. Musst dir keine Sorgen machen.“ „Okay.“ Und schon hatte sie aufgelegt. „Die ist auch unterwegs“, verkündete Kyo, ehe er seinen Blick hinaus auf die vorbeifliegende Landschaft richtete. "Dann hoffen wir Mal, dass Shinya es demnächst schafft seinen AB abzuhören. Sonst macht Proben nicht viel Sinn.“ „Ach was, wir werden so oder so genug zu tun haben. Bei den vielen Texten, die ich hier habe.“ Zur Verdeutlichung wedelte er mit dem kleinen schwarzen Notizbuch. 'Auf jeden Fall ein wenig Zeit miteinander verbringen', ergänzte Kyo gedanklich, war das doch eigentlich das, worauf er sich am meisten freute. Mit quietschenden Reifen hielten sie auf dem Parkplatz, der zu dem Gebäude gehörten, in dem sie ihren Raum hatten. Verwunderlich, dass sie nicht von der Polizei angehalten worden waren. Während Toshiya es eilig hatte und seine Begleiter zur Eile antrieb, nahm Kyo sich den Moment, um seinen Blick über die wenigen anderen Autos schweifen zu lassen. Noch war keiner der Anderen da. Dachte er, bis ein schwarzes Gefährt auf den Platz geschossen kam. Da musste ihr Leader ja die Schallmauer durchbrochen haben, um jetzt schon hier zu sein. Pfiffen die heute etwa alle auf die Straßenverkehrsordnung? Nicht zu fassen. So dringend war sein Anliegen auch wieder nicht. Einem Grinsen, welches dem von Die sehr nahe kam, stieg ihr Leader aus. „Hallo ihr Drei“, begrüßte er sie, holte seinen Gitarrenkoffer aus dem Kofferraum. „Sind wir die Ersten?“ Toshiya und Kyo nickten, als sie merkten, wie sich ein rotes Gefährt auf sie zu bewegte und links neben dem von Toshiya hielt: Daisuke. „Hallo ihr“, grinste ihr zweiter Gitarrist, nachdem er ausgestiegen war. Kyo musste schmunzeln. Die hatten ja alle scheußlich gute Laune. Und alles nur, weil eine Probe bevorstand. Aber schön, dass er ihnen eine Freude machen konnte. Die anderen Drei grinsten sich wie blöde an, während Kyo allmählich anfing an deren Verstand zu zweifeln. Ein Blick zu Akio verriet ihm, dass der Junge in etwa das selbe dachte. „Wollen wir schon mal reingehen?“, schlug er vor. Dann konnten die Jungs schon Mal ihre Instrumente stimmen. Und wer konnte schon voraussagen, wie lange ihr Drummer noch brauchte. Einstimmiges Nicken der anderen und schon ging es hinein. Kaoru vorneweg, der auch schon mal den Schlüssel hervor holte. „Ich setz' uns erst Mal einen Kaffee auf, einverstanden?“ „Ich will eine Limo“, meldete sich Akio. „Hm, ich weiß nicht, ob wir sowas noch da haben, aber ich schau Mal.“ Immerhin wussten sie ja vorher nie, wann sie sich wieder hier treffen würden. Und da kam es schon mal vor, dass einige Lebensmittel schlecht wurden oder nicht vorhanden waren. Weswegen sie schon nichts zu essen da hatten. Bis auf Kaffeepulver eben. Das hielt sich ja ne Weile, wenn es entsprechend aufbewahrt wurde. Sollten die Proben wieder regelmäßiger werden, dann würde sich das aber von heute auf morgen ändern und in dem kleinen Kühlschrank auch ein paar Sachen gegen den kleinen Hunger landen. Das, was sie beim letzten Mal hatten, waren ja auch schon die letzten Vorräte gewesen. Kaoru schloss die Tür auf. „Ist das kalt“, bibberte Dai auch gleich, als er den Raum betrat, weswegen ihn sein erster Weg auch gleich zur Heizung führte. Akio machte es sich auf dem Sofa gemütlich, kuschelte sich tief in seine Jacke. Toshiya stellte seinen Bass neben das Sofa, ließ sich neben seinem Sohn nieder, den er erst mal ein wenig an sich drückte, damit diesem warm war. Die beiden Gitarristen hingegen legten ihre Instrumente auf die Bühne, ließen sie noch eingepackt. Und während Kaoru in den kleinen Nebenraum ging, der die Küche darstellte, um wie angekündigt Kaffee aufzusetzen, machte es sich Daisuke neben Kyo auf dem Sitzmöbel gemütlich. „Das war aber wirklich ne spontane Überlegung von dir“, grinste er Kyo an. Dieser erwiderte das ganz nur mit einem Schulterzucken. „Ich hab Toshiya nur gesagt, dass ich gerne in den Proberaum möchte. Da ist der wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen. Der wollte in dem Moment schon seit ner Stunde hier sitzen.“ „Jetzt bin ich wieder Schuld. Außerdem hast du dann doch selbst noch gesagt, dass-“ „Hab ich. Aber im Grunde hatte ich eigentlich eher einfach an 'heute' gedacht. Gedacht, dass wir erst Mal bei euch dreien anrufen und fragen, ob ihr überhaupt Zeit und Lust habt. Das wir jetzt innerhalb von zwanzig Minuten hier sind, damit hatte ich eigentlich nicht so gerechnet. Wobei ich zugeben muss, dass ich unbewusst schon damit gerechnet habe, dass es keiner von euch erwarten kann“, erklärte der Sänger schmunzelnd. Kaoru kam grinsend aus der Küche zurück. „Als ob wir uns nicht aufs proben freuen würden.“ Es ließ sich neben Akio fallen, streichelte dem Jungen einmal über den Kopf. „Es gibt Augenblicke, dass ich enttäuscht auf seufze, nur weil du nicht am anderen Ende bist und fragst, ob wir uns nicht mal wieder hier treffen können.“ Verdutzt sah Kyo zu dem älteren Freund. Das hatte er nicht mal geahnt. Er sah zu Die, der ein Gesicht machte, als würde es ihm zwischendurch ähnlich gehen. Seine Freunde mussten es wirklich vermissen. „Ich denke, ab sofort werdet ihr Anrufe wie heute öfter bekommen.“ Er kramte den Player aus seiner Jackentasche, legte diesen auf den Tisch. „Eure Melodien sind so inspirierend, dass ich schon Einiges zusammengeschrieben habe. Hier und da würde ich gerne noch kleine Änderungen haben. Aber sonst... Da merkt man wieder, wie lange ihr schon im Geschäft seid und wie viel Erfahrung ihr habt.“ Mit einem Lächeln legte er sein schwarzes Notizbuch zu dem Mp3-Player. „Haben wir hier eine Möglichkeit, das Gerät anzuschließen? Oder muss ich den auf volle Lautstärke bringen?“ „Gut, dass du mich dran erinnerst“, meinte Kaoru und stand auf. „Ich hab doch meinen Laptop eingepackt. Bin gleich wieder da.“ Noch ein kurzes Winken, dann war er aus dem Raum verschwunden. „So zerstreut hab ich den gar nicht mehr in Erinnerung“, witzelte Die. „Aber er hat zumindest daran gedacht ihn überhaupt mitzubringen“, verteidigte Toshiya den Älteren, hatte aber auch ein dickes Grinsen im Gesicht. Dann wandte er sich wieder seinem Sohn zu. „Ist dir warm so?“ Zur Vorsicht rieb er dem Kleinen noch einmal wärmend über die Arme. Akio nickte, kuschelte sich aber noch ein wenig mehr an seinen Vater. Daisuke stand auf und betastete die Heizung, meinte dann kritisch: „Lauwarm wird sie schon. Sollte also nicht mehr lange dauern, bis es richtig schön warm wird hier drin.“ Mit einem Grinsen ging er zurück zum Sofa, kuschelte sich aber auch noch mal etwas mehr in seine Jacke. „Wie weit bist du denn mit neuen Texten?“, fragte er und nickte in die Richtung des Notizbuchs. „Ganz fertig ist noch keiner“, erklärte Kyo. „Aber zu der einen Melodie ist schon fast einer fertig.“ „Ah, und welcher?“ „Sehr intelligente Frage, da die ja auch schon alle einen Titel haben.“ „Haha.“ „Aber wenn Kaoru gleich wieder hier ist, dann wirst du es hören.“ „Wo bleibt der eigentlich? So weit ist es doch auch wieder nicht. Zumal der ja auch ein ganz nettes Tempo drauf hatten.“ Grübelnd sah Toshiya zur Tür hinter sich, erwartete insgeheim, dass ihr Leader genau in diesem Moment wieder eintreten würde. Aber dem war nicht so. Kyo schmunzelte. „So eilig ist es doch auch nicht.“ „Doch“, erwiderte Die trotzig. Lachend griff der Sänger nach dem Abspielgerät, schaltete es an. Sofort wurde ihm der Song angezeigt, von dem sie die ganze Zeit sprachen. Keine Zauberei, sondern die Tatsache, dass er dieses eine Stück immer und immer wieder gehört hatte in letzter Zeit. Einfach, weil es ihn so unheimlich inspirierte. „Den meine ich.“ Damit reichte er Daisuke die Hörer, wartete, bis er sie sich in die Ohren gesteckt hatte, dann drückte er auf 'Play'. Er ließ den Anderen den Song bis zu Ende hören, fand es interessant, ihm zuzusehen. Wie er im Takt mit wippte. Musiker, durch und durch. „Das war das erste Lied, das wir fertig hatten.“ Ein melancholisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Angefangen haben wir mit dem, kurz nachdem du angefangen hattest dich abzukapseln.“ Das erklärte, warum Kyo dieses starke Gefühl von Traurigkeit gespürt hatte, als er es das erste Mal gehört hatte. „Und was willst du daran noch ändern?“ „Nichts großartiges. Da ist nur eine Passage, wo ich es schön fände, wenn nur eine Gitarre spielt. Ein wenig ruhiger, du verstehst? Das würde ganz gut zu einer Stelle in meinem Text passen. Aber dazu würde ich dann gerne eure Meinung hören.“ Toshiya grinste: „Und wenn wir 'Nein' sagen?“ „Dann muss ich das wohl akzeptieren.“ Immerhin war so ein Song eine Zusammenarbeit. Jeder hatte eine Stimme und wenn es nicht allen gefällt, dann wird daran weiter gearbeitet. Die Tür ging auf und herein kam ihr Leader-Tier. „Da bin ich wieder. Mit meinem Laptop“, er hielt kurz die Tasche, in der das Gerät war, hoch, „Und einem Drummer.“ Kaoru trat zur Seite und gab den Blick auf Shinya frei, der einen freundlichen Gruß in die Runde warf. Während Die und Toshiya regelrecht auf ihren Jüngsten zustürmten, fühlte Kyo sich schon ein wenig geehrt. Ihr Shinya hatte die Zeit mit seiner geliebten Familie geopfert, um hier her zu kommen. Nur weil es hieß, dass sie wieder zu fünft proben wollten. Dann begrüßte auch er den Neuankömmling, der sich im Anschluss vor ihnen aufbaute, die Hände in die Hüften gestemmt und ein freudiges Glitzern von Tatendrang in den Augen: „Womit fangen wir an?“ Kapitel 32: In unserem Element ------------------------------ Während Kaoru seinen Laptop aufstellte und dafür sorgte, dass dieser dauerhaft Zugang zu Strom hatte, gab Kyo den fast vollständigen Text Preis, sodass die anderen Drei jetzt mit Lesen beschäftigt waren. „Papa? Darf ich auch mitlesen?“ Akio versuchte vergeblich einen Blick auf den Zettel zu erhaschen. Er wollte auch wissen, was in dem Text stand. Für ihn war es unheimlich spannend zu erfahren, was sein Onkel da geschrieben hatte und wie daraus dann später ein fertiger Song entstand. „Papa!“ „Gleich, mein Kleiner“, vertröstete Toshiya ihn, die Augen weiterhin aufs Papier und die niedergeschriebenen Zeilen gerichtet. „Du darfst gleich mit mir zusammen lesen, Akio“, versprach Kaoru, der ja auch wissen wollte, worum es ging. „Aber Kyo könnte mir in der Zwischenzeit ja mal zeigen, welches Lied er meint.“ Erwartungsvoll sah er den Kleineren an. Der Sänger nickte und rutschte näher an den Älteren heran, der bereits den Ordner mit den Musikstücken aufgerufen hatte. Gut, dass sie zumindest durchnummeriert waren, damit man einzelne Stücke wiederfinden konnte. „Die sechsundzwanzig ist es.“ „Alles klar.“ Kaoru öffnete die Datei und sorgte dafür, dass dieser Song fürs Erste in einer Dauerschleife abgespielt werden würde. „Der Text ist... wow“, meldete sich Shinya irgendwann zu Wort und die anderen Beiden stimmten ihm mit einem Nicken zu. Kurz hörte er dem Lied zu. „Ja.... Ja, noch ein paar kleine Änderungen und das wird ein Hit.“ Kyo schmunzelte über die Begeisterung, die Shinya an den Tag legte. Ihr 'Küken' blühte ja richtig auf. „Was für Änderungen schweben dir denn vor? Mehr am Text oder doch an der Melodie.“ „Der Melodie. Bei dem Text könnte ich mir gut noch eine Untermalung mit Klavier vorstellen.“ Die Augen von Dai und Toshiya fingen an zu glänzen. Und auch Kyo überlegte kurz, versuchte sich das Ganze vorzustellen. Und er musste sagen: Die Idee gefiel ihm. Es passte zu dem Text und zu der Art und Weise wie er dazu singen wollte. „Wenn ihr mir mal endlich den Text herüber reichen würdet, dann könnte ich auch einen Beitrag leisten“, seufzte Kaoru und hielt den anderen Dreien fordernd die Hand hin. Mit einem schiefen Grinsen reichte Daisuke den Text an ihren Leader weiter, wandte sich dann wieder an die beiden Jüngsten, die rege besprachen, wie man denn den Song perfekt machen könnte. Derweil enthielt sich Kyo weiteren Äußerungen, da er erst noch das Urteil von dem Mann neben ihm abwarten wollte. Ihm war die Meinung von allen Vieren wichtig. Akio war ganz nahe an Kaoru herangerutscht, gab aber schon nach einigen Zeilen auf. „Ich verstehe den Text nicht. Und da sind so viele Schriftzeichen drin, die ich noch nicht kenne.“ „Das macht nichts Akio“, wurde er von Kaoru getröstet. „Selbst wir verstehen die Texte von Kyo nicht immer.“ „Aber das macht nichts. So lange ich verstehe, worum es geht, reicht mir das schon“, erklärte Kyo mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „ Und eigentlich schreibe ich meine Texte ja in erster Linie für mich selbst. Jedoch ist es immer wieder spannend, wie die Menschen meine Texte interpretieren.“ „Ich würde den Text trotzdem gerne verstehen“, nörgelte Akio und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem liebevollen Lächeln zog Toshiya seinen Nachwuchs auf seinen Schoss: „Wenn du älter bist, dann wirst du das schon. Dann kannst du auch schon alles lesen.“ Der kleine Junge zog einen Schmollmund: „So lange will ich aber nicht warten.“ „Ach, du.“ Lachend wuschelte der Bassist dem Kleinen durch die Haare. In dem Punkt war er hin und wieder ganz der Papa. In der Zwischenzeit war Kaoru fertig mit Lesen, legte das Notizbuch zurück auf den Tisch. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Kyo. Das ist wirklich ein sehr schöner Text. Und er passt hervorragend zu der Melodie.“ „Kein Wunder“, entgegnete Kyo. „Schließlich habe ich den zu dieser Melodie geschrieben.“ „Und was hältst du von der Idee mit der Klaviermusik?“, fragte Shinya neugierig. „Sehr viel. Das kann wirklich etwas sehr Schönes werden. Aber mich würde auch interessieren, wie du dir den Gesang vorgestellt hast, Kyo. Dann können wir uns ein besseres Bild von dem Gesamtwerk machen.“ „Ich merke schon. Ich muss jetzt singen.“ Kyo entledigte sich seiner Jacke, war es doch mittlerweile angenehm warm. Zudem störte sie beim Singen nur. „Natürlich musst du.“ Daisuke sah in entrüstet an. „Wenn du schon einen Rundruf startest und etwas von Proben faselst, dann schließt das mit ein, dass du singst.“ Kyo nahm sich sein Notizbuch, zog es ihrem zweiten Gitarristen kurz über den Schädel. „Baka.“ Er stellte sich auf die kleine Bühne, holte ein paar mal tief Luft. „Startest du das Stück noch Mal von vorne?“, fragte er Kaoru, der daraufhin nickte und dem Wunsch des Kollegen nach kam. Kyo wartete ein paar Sekunden, ehe er zu dem zu hörenden Gitarrenspiel einsetzte. Spätestens als er beim Refrain ankam, benötigte er die aufgeschlagene Seite nicht mehr. Er klappte das Buch zu, sang aus dem Gedächtnis weiter. Gebannt sahen ihm die Anderen zu. So war es schon sehr schön, berührte tief in ihnen drin etwas. I bleed as my way of compensating everything to you How heavy is blood? Happiness and sadness lies too close Umaretekuru asu no te wa juunsui sono mama de namida de kimi ga mou mienai Kigeki no namida yori dare yori mo hakanaku ubawareru mama kegareru mama koko ni ai wo... kimi wo mioroseru hitotsu no kanransha tada kuzureiku senritsu sae amaku kirei de kowai asai kotoba yori taiyou ni sarasareta kagi ga yakitsuku kokoro ni fure Nachdem die Melodie verklungen und es wieder still in dem Raum war, sah Kyo zu seinen Freunden, wartete auf eine Reaktion ihrerseits. Auf irgendeine Rückmeldung zu dem, was er da gerade getan hatte. Aber da kam nichts. Sie sahen ihn nur stumm an. Einzig das Glitzern in ihren Augen gab einen Hinweis darüber, wie es in ihnen aussah. „Jetzt sagt doch schon was!“ Allmählich fühlte er sich reichlich unwohl in seiner Haut, während er auf der kleinen Bühne stand. Wieso sagten die denn nichts? Langsam aber sicher hatte er das Gefühl immer kleiner zu werden. Er kam mit Kritik zurecht. Mit fehlender allerdings mal gar nicht. „Jungs?“ Kaoru fasste sich als erster. Zwar starrte er Kyo noch immer an, doch zumindest hatte er seine Sprache wieder gefunden: „Entschuldige. Aber es ist einfach zu schön, dich wieder singen zu hören.“ Zustimmend Gemurmel und einheitliches Kopfnicken der anderen drei Dir en Grey Mitglieder. Erleichterung machte sich in Kyo breit, dennoch schüttelte er den Kopf: „Und deswegen bekomme ich keine Rückmeldung? Ich dachte, wir wollen hier etwas schaffen.“ „Rückmeldung... Also“, stammelte sich Die zurecht, kratzte sich kurz am Hinterkopf. „Ähm, Shinya, wie gut ist dein Klavierspiel noch?“ „Das fragst du jetzt nicht allen ernstes, oder? Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt. Das ist völlig eingerostet. Und spielen konnte ich eh nie wirklich gut.“ Kaoru überlegte. „Yoshiki könnte uns bestimmt helfen, aber das wäre jetzt ein bisschen kurzfristig.“ „Zumal wir auch erst einmal Noten für ihn bräuchten“, warf Toshiya ein. Doch Daisuke winkte ab. „Der ist so gut, wenn wir ihm was vor summen, dann dürfte er das auch so hinbekommen. Aber Klavier wäre wirklich schön. Und zwar hatte ich mir gedacht, dass...“ Stunden saßen sie zusammen, spielten diesen einen Song immer mal wieder mit Gesang und ohne, aber zu einem abschließenden Ergebnis kamen sie nicht wirklich, denn nur die Vorstellung von Klaviermusik reichte ihnen nicht aus. So sprach man schließlich über einige weitere Texte, diskutierte über weitere Songs. Darüber was passte, was besser noch geändert werden sollte und wie. Während die anderen mit der Arbeit weiter machten, fuhr Toshiya zusammen mit Akio nach Hause, um dessen Sachen zu holen und anschließend zu Akemi zu bringen, da das Wochenende ja jetzt zu Ende war. Als er zurück kam merkten jedoch die Anderen, dass irgendetwas anders war. Ihr Bassist war kaum ansprechbar und starrte, scheinbar fassungslos, Löcher in die Luft. Shinya stupste in irgendwann so stark an der Schulter an, dass Toshiya zur Seite fiel. Aber regungslos liegen blieb. „Das muss etwas ganz Ernstes sein“, diagnostizierte er. Kopf schüttelnd ging Kaoru zu dem Jüngeren, versuchte es mit wach rütteln. Was von Erfolg gekrönt war. „Kaoru?“ „Ja, genau der.“ „Wie bin ich denn wieder in den Proberaum gekommen?“, fragte Toshiya, nachdem er sich einmal umgesehen hatte. „Durch die Tür, wie denn sonst“, seufzte der Band-Leader. Der Jüngere war ja noch verwirrter als sonst. „Hättest du jetzt mal die Freundlichkeit uns zu erklären, warum du so weggetreten warst?“ Von einem Moment auf den anderen fing Toshiya das Grinsen an, seine Augen funkelten. „Sie hat mich geküsst.“ „Hä?“, kam es von den anderen Vieren. „Akemi!“ Toshiya richtete sich wieder auf, grinste noch breiter als zuvor. „Sie hat mich geküsst. Auf den Mund! Ist das nicht wunderbar? Es gibt noch eine Chance für uns.“ Während die anderen Drei sich noch ein wenig skeptisch ansahen, schlich sich auf Kyos Lippen ein Lächeln. Er freute sich ehrlich für seinen Freund. Und er hatte auch gehofft, dass es zwischen den Beiden irgendwann besser wurde. Zwar hatte er mit kleineren Schritten gerechnet, aber da es in die richtige Richtung ging, nahm er es so, wie es war: Positiv. „Und wie kam es dazu?“, fragte Die vorsichtig nach. Denn er hatte noch allzu gut in Erinnerung, wie fertig Toshiya gewesen war, als die Trennung offiziell gewesen war. „Keine Ahnung, es ist einfach passiert. Ich bin mit Akio zu ihrer Wohnung gefahren, was ja an sich schon ein Premiere gewesen ist, und hab ihr erklärt, warum ich ihn gebracht habe. Akio ist vorhin ganz vergnügt um sie herum gehüpft und hat ihr erzählt, dass wir geprobt haben. Dann hat sie den Kleinen gebeten seine Sachen in sein Zimmer zu bringen und kaum war er um die Ecke, da hat sie mich so komisch angesehen. Ich hab erst gedacht: Mist, jetzt hält sie mir einen Vortrag. Wieso, weshalb, warum auch immer, aber Frauen sind da ja erfinderisch. Und von einem Moment auf den anderen hat sie angefangen zu lächeln und mich geküsst!“ Toshiya freute sich wie ein Schneekönig. Er sah definitiv eine Zukunft für sich und seine kleine Familie. Oh, wie sehr er sich das doch wünschte. Kapitel 33: Der Platz im Leben ------------------------------ „Hey, Nobu-kun.“ „Hai?“ Sofort kam ihr Kätzchen auf Kyo zugesprungen und sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an. Mit einem Lächeln besah sich Kyo einen Moment das Bild, welches sich ihm bot. Der Jüngere war wirklich einfach nur niedlich. Aber es gab jetzt Wichtigeres, als darüber zu sinnieren, dass der Kleine herzallerliebst war. „Du, sag mal. Weißt du zufällig, ob die Wohnungen, die du mir letztens gezeigt hast, noch frei sind? Ich würde mir die nämlich gerne mal ansehen im Laufe der Woche.“ Kurz überlegte sein Gegenüber. „Also, bei der Wohnung, die unter mir liegt, weiß ich definitiv, dass sie noch frei ist. Aber dass es auch schon ein oder zwei Interessenten gibt. Bei den anderen... Ich kann ja mal gerade ein bisschen telefonieren, dann kann ich dir genaueres sagen. Einverstanden?“ „Mach das“, lächelte Kyo und strich ihm über den Kopf. „Danke dir.“ „Kein Problem.“ Und schon hüpfte Nobu wieder davon, zog sein Handy aus der Tasche und wählte bereits die erste Nummer. „Hallo Onizuka. Du sag mal weißt du, ob die Wohnung in...“ Mehr verstand Kyo nicht mehr. Dafür war er sich sicher, dass er in spätestens fünfzehn Minuten Bescheid wusste. „Bist du schon wieder bei der Idee mit der eigenen Wohnung?“ Lässig stand Die an der Verkaufstheke, in der Hand eine dampfende Tasse Kaffee. Sein Blick war jedoch alles andere als lässig. „Ach, Daisuke“, seufzte der Jüngere und gesellte sich zu selbigem. „Ich bin fast fünfzig. Und ich habe doch früher auch allein gelebt. Und wenn Toshiya und Akemi wieder zueinander finden sollen, dann bin ich doch nur ein Störfaktor.“ „Ja, aber-“ „Dai. Ihr werdet mich jeden Tag hier sehen. Wenn es mir also in irgendeiner Weise wieder schlechter gehen sollte, dann werdet ihr das merken. Meinst du nicht? Und wenn es dich beruhigt, dann könnt ihr mich auch hin und wieder besuchen kommen. Um euch davon zu überzeugen, dass es mir gut geht.“ So lange sich diese Besuche nicht allzu sehr häuften. Hin und wieder brauchte schließlich auch er ein wenig Ruhe. „Und jetzt guck gefälligst ein wenig fröhlicher. Denn, noch habe ich keine Wohnung, in die ich ziehen könnte.“ Spielerisch piekte er ihm ein Mal mit dem Ellenbogen in die Seite, was dem Älteren wirklich ein kleines Lächeln entlockte. „Erzähl lieber, wie es mit der Hochzeitsplanung vorangeht. Es ist schließlich nicht mehr lange bis zum großen Tag.“ „Wir sind recht weit. Aimi hat ihr Kleid, ich meinen Anzug und für Nanami haben wir auch schon ein ganz niedliches Kleidchen besorgt. Sie sieht furchtbar süß aus darin. Als wir ihr das heraus gesucht haben und sie es anprobiert hatte, konnte ich verstehen, warum meine Süße eine westlich angehauchte Hochzeit haben wollte. Auf jeden Fall ist der Raum für die anschließenden Feierlichkeiten auch schon gebucht. Und um das Essen kümmert sie sich heute Vormittag.“ „Wie das?“ „Probeessen beim Catering-Service. Zusammen mit meiner Schwiegermutter in spe.“ Jetzt wurde Kyo doch ein wenig stutzig. „Macht man das nicht eigentlich als Paar? Also, du und Aimi?“ „Ich vertraue ihr. Sie weiß ja, was mir schmeckt. Und solange sie glücklich ist, bin ich es auch.“ „Das würde erklären, warum du so gelassen bist. Dennoch. Ich bin gespannt, was dabei heraus kommt.“ „Du tust ja gerade so, als würde das Essen das Wichtigste an der ganzen Hochzeit sein. Meine Süße und ich werden an dem Tag im Mittelpunkt stehen. Nicht das Essen.“ „Ja, aber wenn das Essen nicht gut bei euren Gästen ankommt, dann werden sie sich eher an das erinnern. Und nicht an das traumhafte Kleid, die schöne Trauung in der Kirche. So ist es leider. Der Mensch erinnert sich eher und besser an das, was schlecht war, als an das, was gut war. Hat, glaube ich, etwas mit dem Überleben zu tun“, philosophierte Kyo. „Ach, du bist doch doof“, schmollte Die. Daraufhin zuckte Kyo nur mit den Schultern. „Die Platte kenne ich. Leg eine Neue auf.“ Ächzend stemmte er sich auf die Platte der Verkaufstheke. „Ich werde zu alt für so was“, grinste er, sah dann wieder zu dem Anderen. „Es wird eine wundervolle Hochzeit. Eine traumhafte Hochzeit. Aimi wird nicht zulassen, das irgendetwas schief geht. Eure Hochzeit wird allen Gästen noch lange in Erinnerung bleiben.“ Mit einem aufmunternden, zuversichtlichem Lächeln legte er dem Freund eine Hand auf die Schulter. Als dieser ihn ansah meinte er nochmals: „Alles wird super. Die Hochzeit wird großartig.“ „So, fertig telefoniert“, grinste Nobu, ging auf die beiden älteren Kollegen zu und machte neben Kyo einen kleinen Hüpfer, wodurch er jetzt neben diesem saß. „Also-“ „Kurzfassung. Danke“, unterbrach der Sänger den Jüngeren, bevor dieser anfing jedes Detail seiner Gespräche preis zu geben. Nobu fing an zu schmollen. Nie durfte er alles erzählen. Nur seinem Maboroshi, aber der hörte auch nie komplett zu. „Tut mir Leid, Nobu-chan. Aber wir können ja auch nicht den ganzen Tag hier sitzen und reden. Außerdem möchte ich mich bald für eine Wohnung entscheiden. Wir können uns ja irgendwann einen Abend zusammen setzen und du erzählst mir alles, was du erzählen willst. Was hältst du davon?“ „Oh ha, das ist mutig“, kommentierte Die das Gespräch. Daraufhin schob Kyo ihn spielerisch, aber nichtsdestotrotz ernst bei Seite: „Hier läuft bestimmt noch irgendein Kunde herum. Geh dem auf den Geist.“ Lachend zog Daisuke von dannen, verstand er doch, dass er jetzt gehen sollte. „So dann erzähl“, forderte Kyo den Jüngeren auf. „Und denk dran, nur eine Kurzfassung bitte.“ „Also gut. Die Kurzfassung: Die Wohnung bei mir im Haus ist, wie gesagt, noch frei, aber es gibt Interessenten. Die von dem alten Mann ist ebenfalls noch frei. Da will einfach keiner einziehen. Die mit den etwas älteren Fenstern ist weg und die Letzte hat vor etwa einer Stunde ein paar neue Besitzer gefunden. Kurz genug?“ „Ja, danke. Du bist mir wirklich eine Hilfe.“ „Immer doch. Ich halte dich auf dem Laufenden“, versprach ihr Kätzchen, sprang von der Theke und spazierte davon. Kyo blieb noch sitzen, atmete einmal tief durch. Noch hatte er 2 Möglichkeiten aus denen er wählen konnte. Aber nicht mehr lange. Der Gedanke in eine Wohnung zu ziehen, in der jemand gestorben war, war schon gruselig. Da war der Gedanke in Nobus Nähe zu sein weitaus angenehmer. Nur, bei Konkurrenten... Sein finanzielles Polster war nicht allzu groß und er wusste ja nicht, wie hoch der Preis bereits war. Die andere Wohnung dagegen... sie stand schon eine ganze Weile leer. Da würde es allerhöchstens nach Staub und abgestandener Luft riechen. Zur Not konnte man sich ja einen Exorzisten holen. Und fürs Erste würden es doch ein paar Amulette und dergleichen tun. Alles in einem war es jedoch keine einfache Entscheidung. „Ach, Nobu“, hielt er selbigen auf, als dieser gerade, beladen mit einem Stapel Übungsbüchern, an ihm vorbei ging. „Hai?“, fragte er und stellte die Bücher neben dem Älteren ab. „Du kannst mir doch mit Sicherheit auf deinem Handy zeigen, wo du wohnst und wo die andere Wohnung liegt. Das würde mir ein bisschen bei meiner Entscheidung helfen.“ „Klar, kann ich das. Sekunde...“ Schnell fuhr er mit seinem Finger auf dem Display herum, tippte ein paar Mal darauf herum. „So... und noch das... Fertig. Bitte schön.“ Kyo bekam das Handy gereicht, ehe Nobu auch schon wieder weiter zog und seiner Aufgabe nachging. Auf dem Display konnte er eine Karte sehen, auf der 3 Punkte markiert waren. Der zeigte den Standpunkt des Ladens, folglich mussten die anderen beiden zu den Wohnungen gehören. Lagen beide recht Nahe. Und wenn er die Karte richtig las, dann wohnte Kaoru gar nicht mal so weit weg von der einen. Wobei sich da auch nicht viel tat. Lagen schon sehr praktisch die Wohnungen. Was es nicht unbedingt einfacher machte sich zu entscheiden. Ihr Maskottchen kam wieder, woraufhin Kyo ihn noch ein bisschen was fragte. Dann meinte er: „Ich glaube, ich habe mich entschieden. Könntest du mir die Nummer von demjenigen besorgen, der für die Wohnung hier zuständig ist?“ Nobu schaute ihn schmollend und traurig an. „Warum willst du denn die nehmen?“ „Weil sie für mich groß genug ist. Zudem ist sie bestimmt preiswerter als die andere. Und ich wohne doch fast um die Ecke. Da kannst du mich doch immer noch besuchen kommen, wenn du möchtest.“ „Ooookay. Einverstanden. Ich erkundige mich mal nach der Telefonnummer.“ „Du bist klasse Nobu-chan.“ „Pah, ich bin doch nicht einfach nur klasse. Ich bin Super-Extra-Sonder-Spitzenklasse“, grinste der Floh mit den grünen Haarspitzen und begann auch gleich mit dem telefonieren. „In spätestens drei Minuten hast du deine Auskunft.“ Kapitel 34: Home, sweet Home ---------------------------- Ächzend verfrachtete Kyo die letzte Kiste aus dem Lager in den gemieteten Umzugswagen. Geschafft, aber auch glücklich ließ er seinen Blick über sein Eigentum wandern, ehe er die Tür schloss. Und obwohl ihm, sowie seinen fleißigen Helfern bereits die Arme ein wenig schmerzten, freute er sich schon darauf das alles in seine Wohnung zu bringen. Zum Glück gab es einen geräumigen Fahrstuhl in dem Gebäude. Grinsend drehte er sich zu seinen Freunden herum. Es war Mittwoch und sie hatten sich extra alle Vier frei genommen, um ihm zu helfen. Wobei Dai und Toshiya ihm ja auch noch frei geben mussten, damit dieser Umzug überhaupt stattfinden konnte. „Wir können.“ „Gut“, schmunzelte Kaoru. „Dann können wir uns gleich noch um die Schlüsselübergabe kümmern.“ Die fünf Männer nickten sich zu und stiegen in die Fahrzeuge. Kyo zusammen mit Kaoru in den Umzugswagen, während Daisuke es sich zusammen mit Toshiya in Shinyas Wagen bequem machte, wo auch noch ein paar Sachen in einem Anhänger verstaut waren. Kaoru fuhr voraus, Shinya folgte ihm bis zum Eingang, wo sie noch schnell die letzten Formalitäten klärten und der Schlüssel wieder zurück gegeben wurde. Danach ging es weiter. In die Innenstadt zu Kyos neuen vier Wänden. Er hatte sich für die seit Jahren leer stehende Wohnung entschieden und hatte sich sogar recht schnell mit dem derzeitigen Eigentümer einigen können. Eigentlich hatte der die Wohnung vermieten wollen, aber nachdem er Jahrelang niemanden gefunden hatte, war er sogar bereit gewesen Kyo die Wohnung recht günstig zu verkaufen, nur damit er sie endlich los wurde. Und nachdem sich Kyo die Wohnung, zusammen mit ein paar Experten, gründlich angesehen hatte, gefiel ihm der Vorschlag auch sehr gut. Zu Hause hatte er seine finanzielle Lage genauer betrachtet und alles durchgerechnet. Mit dem Ergebnis, dass er es sich leisten könnte die Wohnung zu kaufen, ein wenig zu renovieren und auch ein paar neue Möbel anzuschaffen. Wobei er die Küche im großen und ganzen behalten wollte, sowie die Waschmaschine und den Trockner im Badezimmer. Bei der Küche wollte er eigentlich nur noch eine schicke neue Arbeitsfläche samt Spülbecken. Alles andere war soweit in Ordnung und würde seine Nebenkosten, die er mit seinem Gehalt auch problemlos würde decken können, nicht ins Unermessliche steigen lassen. So war der Kauf recht schnell vollzogen und auch die Arbeiten, die sonst noch anstanden, Dinge wie sauber machen, neue Tapeten und Farbe an die Wände bringen, sowie das Rausschmeißen der alten Teppiche und verlegen neuer Böden, benötigte gerade mal eine Woche, da er viel Hilfe von den Anderen, allen voran Nobu, bekam. Anschließend hatte er eine Umzugsfirma damit beauftragt, schon mal einiges von seinem Lagerhaus zu der neuen Wohnung zu bringen und zum Teil auch schon aufzustellen. Wobei es sich dabei in erster Linie um die Sofas, sein Bett und die vielen Schränke handelte. Aber dann mussten sie das später nicht mehr selbst machen und konnten eher fertig werden. Und so kam es, dass sie jetzt mit den voll beladenen Wagen durch die Gegend fuhren. Immer dem Navigationsgerät nach. „Freust du dich auf dein eigenes zu Hause?“, fragte Kaoru, um eine Konversation zu starten. „Ja, tue ich. Eine ganze Wohnung als Ruhepunkt zu haben statt nur eines Zimmers ist ein großer Unterschied. Bei mir kribbelt es vor Aufregung sogar, wie damals bei der allerersten eigenen Wohnung.“ Kyo schmunzelte und fühlte sich wieder wie der frühreife, junge Erwachsene, der er damals war. „Und, Kaoru?“ „Hm?“ „Ich bin mir darüber bewusst, was ihr von dem Ganzen haltet. Doch ich kann dir versprechen, dass das vorbei ist. Es wird nie wieder etwas in der Art passieren. Keine Selbstverletzungen, kein Abschotten mehr. Wirklich.“ Man konnte Kaoru ansehen, dass er seinem Freund glauben wollte, aber Zweifel hatte, weswegen er sich auf der Unterlippe herum kaute. „Kaoru. Ihr seid jetzt darauf vorbereitet. Ihr werdet schneller merken, wenn etwas nicht stimmt. Meinst du nicht?“ „Schon, aber ich würde gerne dafür sorgen, dass es gar nicht erst so weit kommt. Du verstehst?“ „Gegen manche Dinge kann man einfach nichts tun. Manches passiert eben. Dagegen kannst selbst du nichts unternehmen. Auch du bist nicht allmächtig.“ „Ich rede mir aber gerne ein, dass dem so ist. Vor allem, wenn ich so meine Freunde und meine Familie beschützen kann.“ Lächelnd schüttelte Kyo den Kopf. Das war so typisch für den Älteren. Aber er nahm sich fest vor dafür zu sorgen, dass zumindest er selbst dem Anderen keine Kopfschmerzen mehr bereiten würde. Die restlichen zehn Minuten Autofahrt schwiegen sie. Kaoru konzentrierte sich auf die Straße, während Kyo seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung gelenkt hatte. Fast fünf Monate war er schon wieder draußen, aber die Stadt kam ihm teilweise immer noch fremd vor. Und sie steckte voller Überraschungen. An nahezu jeder Ecke entdeckte er etwas Überraschendes. „Bei dir in der Nähe war ein Parkplatz, nicht wahr?“ „Hai.“ „Dann suchen wir uns doch mal ein Plätzchen.“ Kaoru parkte den Wagen rückwärts in die Lücke, sodass sie gleich bequem an die Ladefläche kamen und die Sachen nicht auf der Straße entladen mussten. Shinya parkte ein Stück weiter entfernt, machte es aber genauso. Alle fünf stiegen aus und mit den ersten, etwas leichteren, Kisten bewaffnet, ging es hinauf zu der Wohnung, in dem kleineren Wolkenkratzer. Mit dem Aufzug ging das auch recht schnell und nachdem Kyo die Wohnungstür aufgeschlossen und alle herein gelassen hatte, sah er sich noch einmal kurz um, um sich zu vergewissern, dass wirklich alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Im zukünftigen Wohnzimmer versammelt besprachen sie kurz den weiteren Ablauf. „Am besten wird es wohl sein, wenn wir den Mietwagen zuerst ausräumen, oder?“, schlug Die vor. „Dann kann der eher wieder weg.“ Die anderen Vier nickten. „Kyo.“ „Ja, Toshiya?“ „Du bleibst am Besten hier. Dann kannst du die Kisten, die wir bringen, in die Zimmer räumen, in die du die haben willst.“ „Kommt nicht in Frage. Ich kann euch doch nicht alles alleine schleppen lassen. Gerade bei den schweren Sachen werde ich euch auf jeden Fall helfen. Außerdem schaffen fünf Leute mehr als vier.“ „Sollte nicht lieber einer in der Wohnung bleiben? Damit die Tür nicht zugeht und auch keiner rein kommt in der Zeit, wo wir alle unten sind. Und das dauert dann ja doch ein bisschen bis wir unten und wieder oben sind.“ Skeptisch ließ Kyo seinen Blick von einem Freund zum Anderen wandern. „Euch ist schon klar, dass ihr gerade allen anderen Bewohnern vorwerft diebische Langfinger zu sein, oder? Habt ein bisschen mehr Vertrauen in die Menschen.“ „Ich bin eigentlich auch kein Mensch von Vorurteilen“, murmelte Shinya, „aber man weiß ja nie...“ „Wenn einer meiner Nachbarn wirklich so drauf wäre, meint ihr nicht, dass es alleine ebenfalls gefährlich sein könnte? Vielleicht kommt die Person mit irgendwas an, das sie mir über den Schädel zieht, um dann die Kartons zu durchsuchen.“ „Da ist was dran.“ Nachdenklich zog Kaoru die Stirn kraus. „Machen wir es uns doch einfach. Wir bringen alles, was irgendwie wertvoll, sprich, jegliche Elektronik, hierhin“, begann Kyo mit seinem Vorschlag, „dann bleibt wer von uns hier und die anderen holen dann den ganzen üblichen Krempel. Klingt das gut?“ Einstimmiges Nicken. „So machen wirs.“ Einige Stunden später ließen sich Die, Kaoru, Shinya und Toshiya erschöpft auf den aufgestellten Sitzmöbeln nieder, während Kyo kurz in die Küche verschwand, nur um mit einer Flasche kalten Bieres für jeden der Freunde und einer Flasche Wasser für sich zurück zu kommen. „Hier Jungs. Habt ihr euch verdient.“ Mit Freuden wurden die Flaschen entgegen genommen, flink mit den Feuerzeugen geöffnet. Das von Shinya erledigte Toshiya, aber den Flaschenöffner konnte Kyo jetzt beim besten Willen nicht finden. Denn ausgepackt werden musste ein Großteil noch. „Was zu Essen wäre jetzt nicht schlecht.“ Leicht genervt, aber scherzhaft schmiss Kyo ein Kissen in Dies Richtung. „Dir kann man es auch nie recht machen.“ „Aber wenn du es schon geschafft hast Bier zu besorgen, dann hätte was zu futtern auch drin sein können.“ „Ja, klar, wo es auch so einfach ist mit einer Kiste Bier UND Einkaufstüten in der U-Bahn und dem Bus zu sitzen und unbeschadet voran zu kommen. Also, die Kiste allein war schon anstrengend. Wenn du wüsstest, gegen wie viele Leute ich die verteidigen musste.“ Toshiya brüllte los vor lachen. „Das stelle ich mir so lustig vor.“ „Nicht nur du“, grinste Kaoru, nippte aber lieber an seinem Bier, bevor er allzu sehr lachen musste. Bestimmt hatte ihr Warumono mehr Spaß an der Sache gehabt, als es zugeben wollte. Während Shinya und Daisuke sich beide kläglich darum bemühten ernst zu bleiben, fing Kyo das Schmollen an. Immer amüsierte man sich auf seine Kosten Das melodiöse Klingeln der Tür ließ jedoch alle erstaunt inne halten und vergessen war die heitere Stimmung. „Wer kann das denn sein?“, murmelte Kyo, während er seine Wasserflasche auf dem Couchtisch abstellte und zur Tür ging. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr meinte Die: „Das könnte Nobu sein. Seit einer halben Stunde ist Feierabend.“ Mit einem glücklichen Seufzen lehnte sich Toshiya weit auf dem Sofa zurück. „Es ist schön zu wissen, dass unsere Mitarbeiter den Laden auch alleine geschmissen bekommen. Kein Anruf wegen irgendeines Notfalls oder so.“ „Ja, gut zu wissen.“ Derweil war Kyo an der Tür angekommen. Noch immer ein wenig skeptisch öffnete er. Anhand des Tons hatte er nämlich erkannt, dass die Person bereits davor stehen musste und nicht erst die Tür ganz unten geöffnet bekommen musste. Seine Skepsis wich purer Überraschung, als er nicht Nobu, dem er ja noch zugetraut hatte sich irgendwie Zutritt zu verschaffen, sondern eine jung wirkende Frau vorfand, die er nicht kannte. „Konbanwa, was kann ich für sie tun?“ Die Frau machte eine leichte Verbeugung und antwortete dann schüchtern: „Konbanwa. Mein Name ist Iizuka Tomoko und ich wohne ebenfalls auf dieser Etage. Sind sie der neue Mieter?“ „Mein Name ist Niimura Tooru“, stellte er sich vor und war ein klein wenig überfordert mit der Situation. „Und ich bin nicht der Mieter, sondern der Eigentümer.“ „Oh, dann stimmt also das Gerücht. Wie dem auch sei, ich habe gedacht, dass sie nach so viel Arbeit vielleicht hungrig wären und gerne etwas Warmes hätten. Also habe ich Ihnen und ihren Helfern eine Kleinigkeit zu essen gemacht.“ Erst jetzt fiel Kyos Blick auf das Tablett in den Händen der Frau. Er war zu fasziniert gewesen von ihren hübschen Augen. „Das... Das ist sehr freundlich von Ihnen, Iizuka-san.“ Für einen Moment sahen sich die beiden schüchtern an, wussten nicht wirklich, was sie jetzt sagen sollten. „Soll ich Ihnen das Tablett abnehmen? Es sieht doch reichlich schwer aus.“ „Oh ja, bitte.“ Sie reichte das Essen an Kyo weiter. „Wenn Sie so freundlich wären und mir alles zurück bringen würden in den nächsten Tagen? Ich wohne gleich da vorne, um die Ecke. Da, wo das kleine Mädchen steht.“ Sie kicherte. „Meine Tochter Sae. Sie ist eigentlich nicht so schüchtern.“ „Kann ich verstehen. Ich sehe schon reichlich zum Fürchten aus.“ Die Frau wollte ihm widersprechen, aber Kyo schüttelte den Kopf. „Sagen Sie nichts. Ich kenne das schon. Außerdem ist so ein gesundes Maß an Misstrauen doch auch gut. Sie wird auf jeden Fall nicht mit jedem Fremden mitgehen.“ Er sah nochmal zu dem Kind, welches in etwa dasselbe Alter wie Nanami hatte, lächelte ein wenig, aber es zog sich nur weiter zurück. Gerade so weit, dass sie noch einen Blick auf den Fremden werfen und ihn mit misstrauischen und zugleich neugierigen Blicken beobachten kannte. Kyo seufzte, riss sich aber zusammen. So allmählich wurde das Tablett nämlich schwer. „Danke jedenfalls nochmal hierfür. Ich verspreche, dass ich Ihnen morgen alles sauber zurück bringe.“ „Vielen Dank. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen und Ihren Freunden.“ „Ich denke, das wird es.“ Sie verbeugten sich noch einmal voreinander, dann ging Frau Iizuka zu ihrer Tochter und führte sie zurück zur Wohnung. Kurz bevor die Tür zuging sah das kleine Mädchen noch einmal zurück und sah, wie Kyo noch immer in der Tür stand, den Blick auf das Tablett gerichtet, und lächelte. Einen Moment später ging er zurück in seine Wohnung, schloss die Tür mit Hilfe eines Fußes, dann ging er zu dem Tisch, der den Bereich des Esszimmers darstellte. „Abendessen“, rief er und ging durch den Durchgang in die Küche, suchte nach dem Karton mit der Aufschrift: Besteck und Geschirr. „Hey, Kyo. Wo kommt denn das Essen her? Und wer war da eben an der Tür?“, fragte Die, der sich, mit der halb leeren Flasche in der Hand, an den Rahmen des Durchgangs lehnte. „Das an der Tür war meine neue Nachbarin“, erklärte Kyo, während er den eben noch gesuchten Karton öffnete und das benötigte heraus nahm. „Und das Essen kommt von ihr.“ Mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht drehte er sich zu dem Gitarristen um. „Doch nicht alle Menschen so schlecht, wie ihr mir weiß machen wolltet.“ „Wie? Deine Nachbarin, die dich gar nicht kennt, bringt dir einfach so etwas zu essen?“ „Ganz offensichtlich.“ „Da musst du dir aber noch was nettes als Danke schön ausdenken“, meinte Shinya mit einem Lächeln, während er Kyo das Geschirr aus den Händen nahm und auf dem Tisch verteilte. „Das gehört sich schließlich so.“ „Das weiß ich doch.“ Alle nahmen am Tisch Platz und Kyo tat, als Gastgeber, jedem etwas von der geschenkten Suppe auf den Teller. „Also, riechen tut es schon mal gut. Dann sollte es auch gut schmecken.“ „Ach Die. Erzähl mal. Bist du nervös wegen übermorgen?“ „Wieso Kaoru? Was ist denn übermorgen?“, erwiderte Die mit einem scheinheiligen Grinsen. „Deine Hochzeit, du Trottel. Deine Hochzeit.“ Seufzend schüttelte Kaoru den Kopf und nahm einen ersten Löffel von der Suppe. „Hm, lecker. Sie ist eine gute Köchin.“ „Nein, wegen der Hochzeit bin ich noch nicht wirklich aufgeregt. Dafür flattert mein Süße wie ein ganzer Hühnerstall durch die Wohnung. Bin schon ganz froh, dass ich heute hier bin.“ „Aber du freust dich schon drauf, nicht wahr?“ Ein glückliches Lächeln erschien auf Daisukes Lippen. Das reichte den anderen Anwesenden als Antwort. Kapitel 35: Am Liebsten für immer --------------------------------- Eifrig schmissen die Gäste mit Reis, bejubelten das Brautpaar. Lachend schritten Die und seine Aimi durch den Gang, den ihre Freunde, Bekannte und Familien bildeten. Sie strahlten von innen heraus und die weißen Stoffe an ihren Körpern unterstrichen das Ganze noch. Am Ende des Ganges wartete bereits ein festlich geschmückter Wagen, jedoch nicht ohne den Strauß zu werfen. Mit dem Rücken zu den Gästen nahm die Braut vor der geöffneten Wagentür Stellung, linste noch ein letztes Mal über ihre Schulter, wo sie mit einem Schmunzeln dabei zusah, wie sich alle Single-Damen aneinander drängten. Lachend drehte sie sich wieder um, atmete noch einmal tief durch, dann warf sie den schönen Strauß aus weißen Blumen nach hinten. Ein großes Gedränge und Geschreie entstand, während die Damen darum kämpften sich an den Platz zu stellen, an dem der Strauß landen würde. Sie hatten von dem alten Glauben gehört, dass diejenige, die die Blumen fing, die nächste sein würde, die den Bund fürs Leben schloss. Und auch, wenn es nur ein Brauch und ein Aberglaube war, so konnte es ja nicht schaden, wenn man seinem Glück oder seinem Lebensgefährten ein wenig auf die Sprünge half. Scherzhaft hatte sich auch Toshiya in die Menge gestürzt. Einfach nur des Spaßes wegen. Dass er den Gegenstand der allgemeinen Begierde auch wirklich fing, damit hatte er dann allerdings doch nicht gerechnet. Ein wenig bedröppelt sah er den Strauß in seinen Händen an, bevor er die neidischen Blicke der Frauen um ihn herum bemerkte. „Eto... Gomen nasai?“ Kaoru, Kyo und Shinya standen daneben und versuchten angestrengt nicht allzu sehr zu lachen. Die hingegen grinste übers ganze Gesicht und lachte seine Frau an, die ebenso amüsiert war, wie er selbst. Überglücklich und verliebt sahen sie sich in die Augen, dann küssten sie sich, begleitet von Jubelschreien der Anwesenden. Im Anschluss half Die seiner Auserwählten und seiner kleinen Tochter in die festlich geschmückte, schwarze Limousine. Mit der ging es dann auch gleich weiter zum Festsaal, wo die Feier stattfand. Danach stiegen nach und nach die anderen Gäste in ihren Wagen und folgten dem Brautpaar auf ihrem Weg durch die Stadt. Toshiya schlich sich eher zu seinem Wagen, während Kyo schmunzelnd hinter ihm her ging, dabei Akios Hand gut festhielt, damit er den Kleinen in dem Getümmel nicht verlor. „Hast du gut gemacht Toshiya“, kommentierte Kyo das eben geschehene, als der Andere die Blumen missmutig auf den Rücksitz warf. „Ja ja, mach du dich ruhig lustig. Ich hab mich da auch mehr zum Spaß zu gestellt, als dass ich die Absicht hatte, das Ding auch wirklich zu fangen.“ Immer noch verärgert startete Toshiya den Wagen und reihte sich in den Konvoi hinter der Limousine ein. „Du Papa?“, kam von der Rückbank. „Ja, Akio?“ „Warum wollten die ganzen Frauen denn den Blumenstrauß fangen?“ Neugierig nahm er die Blumen von dem Sitzplatz neben sich und schaute sie sich näher an. Aber wirklich besonders fand er sie nicht. Doch statt einer Antwort kam vom Fahrersitz nur unverständliches Gemurmel, was von Kyo mit einem Lachen kommentiert wurde. „Weißt du Akio“, begann er an Toshiyas statt mit der Erklärung. „In Europa und Amerika glaubt man, dass diejenige, die den Strauß fängt, die nächste Person ist, die heiratet. Deswegen wollten die Frauen alle den Strauß fangen.“ „Ach so?“ Nachdenklich sah der Junge wieder auf den Strauß. „Heißt das dann, dass Mama und du wieder heiraten werdet, Papa?“ Das brachte Toshiya doch ein wenig aus dem Konzept. Allerdings auch genug, um kurz mit dem Wagen ins Schlingern zu kommen. „Also... weißt du mein Kleiner...“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Einerseits wollte er seinem Sohn gerne eine positive Antwort geben, andererseits wollte er ihm auch nicht mehr Hoffnung machen, als er selbst hatte. „Das weiß ich noch nicht. Deine Mama und ich verstehen uns zwar wieder, aber heiraten... Das wird wohl noch ein bisschen dauern“, sagte er stattdessen und sah im Rückspiegel, dass dies seinen Sohn nicht völlig zufrieden stellte, ihn aber auch davon abhielt weitere Fragen zu stellen. Mitfühlend betrachtete Kyo den Freund von der Seite. Natürlich träumte Toshiya von einer heilen Familie mit Akemi und Akio. Natürlich wollte er sie erneut heiraten. Wollte ihr all die Liebe zeigen und schenken, die er für sie in sich trug. Aber die Entstehung eines guten Verhältnisses zueinander stand jetzt im Mittelpunkt. Ohne eine Basis auf der man aufbauen konnte, waren alle anderen Dinge undenkbar. Der Saal für die Feier war groß, um nicht zu sagen riesig und in verschiedenen Weißtönen in Form von Blumen und Stoffen, sowie dem Geschirr für das kommende Festmahl, dekoriert. Überall standen die Gäste herum und unterhielten sich noch ein wenig oder beglückwünschten das Brautpaar. Nachdem alle eingetroffen waren, baten Die und Aimi alle Anwesenden Platz zu nehmen, woraufhin das Suchen anfing, da es eine Sitzordnung gab. Immerhin wussten die beiden Gastgeber, das man einiges an Unannehmlichkeiten vermeiden konnte, wenn man die richtigen Personen zueinander setzte. Nach dem Essen wäre diese Anordnung zwar wieder aufgehoben, aber zumindest in der Zwischenzeit wollte man doch in Ruhe das Menü zu sich nehmen. Kaum hatten alle Gäste ihr Plätze eingenommen und sich mit ihren Tischnachbarn vertraut gemacht, kamen Kellner herein, die jeweils ein Tablett mit mehreren Gläsern Sekt und Orangensaft trugen, abgestimmt auf die Personen, die an den einzelnen Tischen zu stehen kamen und denen sie zugeteilt waren. Sobald jeder versorgt war, erklang das Klirren von Gläsern, als einige Anwesenden sacht mit einem Löffel dagegen schlugen. Schüchtern und auch ein wenig rot werdend sahen sich Die und Aimi an. Sie wussten, was gefordert wurde, aber mit 'Zwang' war es ja immer ein wenig peinlicher. Langsam beugten sie sich zueinander, ehe sie ihre Lippen zu einem langen Kuss verschmolzen, die Mundwinkel zu einem glücklichen Lächeln verzogen. Ja, dies war einer der schönsten Tage in ihrem gemeinsamen Leben. Kapitel 36: Glück und Unglück ----------------------------- Alle fanden das ausgesuchte Essen hervorragend und überaus köstlich. Überall hörte man munteres Gerede und hin und wieder ein fröhliches Lachen. Nach und nach füllte sich die Tanzfläche, angeführt von dem Brautpaar, welches seit der Zeremonie die Augen nicht mehr voneinander nehmen konnte. Warum sich auch um alle Anderen kümmern, wenn doch die wichtigste Person im eigenen Leben vor einem stand. Die einzige Person, die es noch schaffte, dass die beiden ihre Blicke voneinander abwandten, war ihre kleine Tochter. Allerdings lag die Aufmerksamkeit der Kleinen auf vielen Dingen. Und nach ihren Eltern war das in erster Linie ihr Lieblingsonkel, den sie immer wieder auf die Tanzfläche zog. Kyo schaffte es aber auch nicht sich dagegen zu wehren und einfach mal 'Nein' zu sagen. Zu seinem Glück wurde auch Nanami irgendwann einmal müde, als der Abend weiter voran schritt. Viele Gäste, die mit Kindern gekommen waren, waren bereits gegangen, damit die Kleinen ins Bett kamen. Auch Kaoru und Shinya waren mitsamt ihren Familien bereits nach Hause gefahren. Toshiya hatte Akio schlafend auf seinem Schoß sitzen und strich ihm sanft über den Rücken. Seinem Tischnachbarn ging es allerdings nicht wirklich anders. Schmunzelnd betrachtete er Kyo, der die schlafende Nanami in seinen Armen hatte und selbst so aussah, als würde er selbst jeden Moment ins Traumland entschwinden. Nicht weiter verwunderlich, da es schon weit nach zwei Uhr morgens war. „Kyo? Hey.“ Müde rieb sich der Angesprochene über die Augen. „Hm?“ „Wollen wir?“ Kyo hatte schon Lust nach Hause und ins Bett zu gehen, aber was sollte er mit dem kleinen Mädchen auf seinem Schoß machen? Einfach auf dem Stuhl hier sitzen zu lassen fand er nicht gut, da sie auch mühelos davon runter fallen konnte. Sich nach einer besseren Möglichkeit umsehend ließ er seinen Blick durch den großen Saal schweifen. Dabei sah er, wie Daisuke und Akemi auf sie zu kamen. „Du siehst müde aus, Kyo.“ „Unsere Kleine hat dich aber auch ganz schön auf Trab gehalten“, kicherte die Braut und strich ihrem schlafenden Wirbelwind über den Kopf. „Mein süßer Fratz.“ Vorsichtig hob Daisuke seine Tochter hoch und drückte sie an sich, während er ihr schlafendes Gesicht mit einem Lächeln betrachtete. Er war so stolz, wie ein Vater es nur sein konnte. „Wenn du einverstanden bist, dann würden Daisuke und ich dich hin und wieder darum bitten ein wenig auf unseren kleinen Schatz aufzupassen.“ „Babysitten? Ich?“ Ein wenig ungläubig sah er zwischen dem Ehepaar hin und her. Noch nie hatte er irgendetwas in der Art gemacht. Zumal man bei Nanami auch schon lange nicht mehr von einem Baby reden konnte. „Ich hab aber keinerlei Erfahrung darin.“ „Ach was“, funkte Toshiya dazwischen. „Wenn Akio bei mir war hast du dich doch auch immer ganz gut um ihn mitgekümmert. Das wird mit Nanami nicht viel anders sein. Und ihr wird auch mit Sicherheit vieles einfallen, damit ihr nicht langweilig wird.“ „Nun, ich kann es ja fürs Erste mal einen Nachmittag lang probieren“, willigte Kyo ein. Wobei er sich wirklich nicht sicher war, ob es sich um eine sonderlich kluge Idee handelte. Doch probieren ging ja bekanntlich über studieren. Und er hatte Kinder genau genommen sehr gerne. Das wussten die wenigen von ihm. Kyo stand auf und streichelte dem kleinen Mädchen zärtlich über den Kopf. Was würde er dafür geben auch so ein Kind zu haben? „Sagt mir einfach Bescheid, wenn ihr mich braucht.“ Damit wandte er sich an Toshiya, dem er kurzerhand Akio abnahm. Doch entweder war der Junge während der Feier bedeutend schwerer oder er selbst zunehmend schwächer geworden. „Ich sollte wieder anfangen zu trainieren“, scherzte er. Die beiden Männer verabschiedeten sich von ihren Gastgebern und verließen den Saal, nach einem kurzen Abstecher in einen Nebenraum um den Blumenstrauß zu holen, zum Parkplatz, wo Kyo das Kind auf die Rückbank setzte und anschnallte, ehe er sich selbst auf den Beifahrersitz setzte. „Du schläfst aber nicht ein beim Fahren, oder?“ „Nein, nein. So müde bin ich nicht. Bis zu dir und im Anschluss zu mir schaffe ich es noch. Mach dir keine Sorgen.“ „Gut. Aber wenn du zu Hause bist, legst du dich besser gleich ins Bett.“ „Ja, Mutti“, antwortete Toshiya lächelnd, startete den Wagen und fuhr vom Parkplatz. „Was machst du dir eigentlich so viele Sorgen heute?“ „Hey, es steht auch mein Leben auf dem Spiel, wenn du irgendwo gegen fährst. Und du siehst halt wirklich schon sehr müde aus.“ „Ich schaffe das schon. So viel Verkehr ist doch auch nicht mehr und ich fahre, wie du vielleicht merkst, langsamer als sonst, damit ich alles unter Kontrolle habe.“ Und es stimmte. Der Bassist fuhr viel bedachter, viel ruhiger als sonst. Dafür drehte er das Radio ein wenig lauter. Dummerweise meinten die Sender ausgerechnet jetzt ruhigere Musik spielen zu müssen. „So ein Pech aber auch“, grummelte Toshiya. „Du, sag mal.“ „Hm?“ „Was machst du eigentlich mit dem Blumenstrauß?“ „Was werde ich mit dem Ding schon machen, Kyo? In eine Vase stellen, damit das Grünzeug noch eine Weile frisch bleibt.“ „Wirklich? Ich hätte fast gedacht, dass du ihn weg schmeißt.“ „Warum sollte ich?“ „Wegen dieses dummen Aberglaubens. Die werden doch jetzt alle denken, dass du dich nur deswegen dazwischen gestellt hast.“ „Und wenn es so war? Was dann?“ Skeptisch sah er kurz zu seinem Beifahrer. „Nein, in erster Linie war das nur, weil ich es amüsant fand. Aber... Jetzt lass mir doch dieses kleine bisschen Hoffnung.“ Traurig lächelnd bog Toshiya in die Straße zu Kyos Hochhaus ein. „Du weißt, wie sehr ich an Akemi hänge. Wie sehr ich sie an meiner Seite haben will. Wenn es mir auch nur ein bisschen hilft, dann will ich mir diesen Glücksbringer bewahren.“ Der Größere hielt vor dem Hochhaus, damit der andere endlich nach Hause konnte. „Ich liebe sie. Und auch wenn es schon gut läuft, finde ich ein bisschen Hilfe immer gut.“ „Ich würde mich für dich freuen, das weißt du. Und es würde mich auch für Akio freuen.“ Kyo löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Wagentür. „Gute Nacht, Toshiya.“ „Gute Nacht, Kyo.“ Der Sänger sah dem Wagen noch einen Moment nach, dann machte er sich auf den Weg hinein in das mehrstöckige Gebäude und hoch zu seiner Wohnung. Dabei dachte er an den Abend und an Nanami und wie sie den Wunsch in ihm geweckt oder besser gesagt, verstärkt hatte, selbst ein Vater zu sein. Nur war es mit Vaterfreuden bekanntlich schwer ohne eine zweite, weibliche Person. Aber eine Frau finden? Er war in diesen Beziehungen völlig aus der Übung. Seine letzte Beziehung war wie lange her? So weit wollte er gar nicht zurück rechnen. Das deprimierte nur. Seufzend stieg er aus dem Fahrstuhl, ging um die Ecke und erstarrte, als er ein Schluchzen hörte. Neugierig drehte er sich um und folgte dem Geräusch, welches ihn zu der Wohnung seiner freundlichen Nachbarin führte. Diese fand er dann auch weinend vor ihrer Haustür hockend, das Gesicht in den Händen vergraben. „Iizuka-san? Was ist denn passiert?“ Besorgt hockte er sich neben die zierliche Frau, deren Körper vom Weinen geschüttelt wurde. Erst als er ihr eine Hand auf die Schulter legte, sah sie erschrocken auf, so als hätte sie ihn erst jetzt bemerkt. „Niimura-san?“ In Kyo kochte indes die Wut hoch. Kein Wunder, dass sie geweint hatte. Ihr rechtes Auge war angeschwollen und lila-blau gefärbt und eine getrocknete Platzwunde prangte über der Augenbraue. Kapitel 37: Trauma ------------------ „Was ist passiert?“, wiederholte Kyo seine Frage, widerstand der Versuchung die Wunde zu betasten. Jedoch bekam seine Nachbarin nicht ein komplettes Wort heraus. Stammelte nur einige Wortfetzen. „Beruhigen Sie sich. Kommen Sie. Lassen Sie uns rein gehen. Dann schaue ich mir Ihre Verletzungen an und koche uns einen Tee.“ Sie nickte, immer noch unfähig auch nur ein ganzes Wort hervor zu bringen. Kyo half ihr auf und brachte sie in seine Wohnung, wo er sie aufs Sofa im Wohnzimmer setzte und eine Decke um die Schulter legte, war es doch ein wenig kühl hier drinnen. Aus seinem Schrank kramte er noch eine Packung Taschentücher hervor und reichte diese dann an Iizuka-san weiter. „Was für einen Tee hätten Sie denn gerne?“ Schließlich wollte er ihr nichts anbieten, was sie nicht trinken wollte. Sie wickelte sich noch ein wenig enger in die Decke und wischte sich ihr Gesicht trocken. „Einen einfachen grünen Tee, wenn Sie welchen da haben.“ „Natürlich. Einen Moment.“ Er ließ seinen Gast nur ungern alleine zurück, aber für den Tee musste er nun mal in einen anderen Raum. Gähnend ließ er Wasser in den Kocher fließen. Kein Wunder, denn es war fast vier Uhr morgens und er ja auch schon seit einer geraumen Weile wach. Dementsprechend auch erschöpft. Aber er hatte Iizuka-san einfach nicht dort sitzen lassen können. Allein und weinend. Aus dem Wohnzimmer hörte er, wie sie wieder in Tränen ausgebrochen war. Kyo beeilte sich damit den Tee zu kochen und kam mit einer kleinen Kanne und 2 Tassen zurück und stellte alles auf den Couchtisch. Dann nahm er die zierliche Frau nach einem kurzen zögern in den Arm. „Bitte weinen Sie doch nicht mehr, Frau Iizuka“, flüsterte er ganz sanft und strich ihr sacht über den Rücken. „Nen-Nennen Sie mich doch bitte Tomoko“, brachte sie schluchzend hervor. Kyo reichte ihr ein weiteres Taschentuch. „Dann sag du bitte Kyo.“ „Kyo? Aber ich dachte-“ Für einen Moment war sie verwirrt, bis ihr wieder einfiel, dass dies sein Spitzname war. „Stimmt, so hast du dich früher auch genannt.“ Früher? Dieses Wort irritierte den Sänger. „Als ich noch jung war, da habe ich eure Musik gehört. Bei deinem Einzug hatte ich gleich das Gefühl, dass ich dich und deine Freunde von irgendwo her kannte.“ „Ach so.“ Das erleichterte ihn dann doch ein bisschen. Für einen Augenblick hatte er Angst, dass sie eine alte Freundin war und er sie vergessen hatte. „Dann weißt du auch, weshalb wir uns... Warum wir pausieren?“ Denn offiziell hatte sich Dir en grey ja nie aufgelöst. Nervös zupfte Tomoko an dem Taschentuch herum, nickte aber. Wischte sich hin und wieder die Augenwinkel trocken. „Hast du jetzt Angst?“, fragte Kyo und löste die Umarmung, da er begann sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Wie er es immer tat, wenn er erwartete, dass man ihn hassen würde. Dass sich eine Person von ihm deswegen abwandte. Noch so ein Punkt, der den Wunsch nach einer eigenen Familie erschwerte. Wenn er doch nur die Zeit zurück drehen könnte. Verlegen sah sie auf den Teppich zu ihren Füßen. „Ein bisschen schon, wenn ich ehrlich sein soll.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, ließ ihren Blick zögerlich wieder nach oben wandern. „Aber ich habe dich als einen sehr netten Menschen kennen gelernt. Darum auch nur ein bisschen.“ Mit einem zaghaften Lächeln versuchte sie Kyo deutlich zu machen, dass sie sich wohl fühlte und dass es ihr gut ging. Er indes freute sich über ihre Ehrlichkeit. Ihre Angst konnte er verstehen, war sie doch begründet. Schließlich hatte es Momente in der Vergangenheit gegeben, da hatte er Angst vor sich selbst gehabt. Wieder fing er an, ihr Gesicht zu betrachten. Sie hatte ein hübsches Lächeln und warme, freundliche Augen. Aber das Blut und dieser große blaue Fleck, dieses Veilchen, dass ihr irgendjemand ins Gesicht geschlagen haben musste -und darin war er sich sehr sicher- verunstaltete die feinen Züge, die sie so attraktiv erscheinen ließen. „Ich hole schnell etwas zum Kühlen“, meinte er und ging erneut in die Küche, wo er ein Kühlpad, wie man es bei Verstauchung und dergleichen nutzte, aus dem Kühlschrank holte. Er wickelte es in ein Handtuch und ging wieder ins Wohnzimmer. Denn die Schwellung zu lindern erschien ihm jetzt wichtiger, als das getrocknete Blut zu entfernen. „Bitte sehr.“ „Danke.“ Sie legte sich das kühlende Pad auf ihr geschwollenes Auge. „Gut so?“ Tomoko nickte dankbar lächelnd. Schweigend saßen sie da, was bei Kyo dafür sorgte, dass er sich allmählich wieder bewusst wurde, wie spät und wie müde er doch eigentlich war. Aber er konnte die Frau neben sich auch schlecht einfach wegschicken. Nicht, wenn ihr etwas zugestoßen war. „Magst du mir erzählen was passiert ist? Ich weiß, dass dir das unangenehm ist. Aber du sitzt immerhin nicht ohne Grund weinend und mit einem angeschwollenen Gesicht im Flur vor deiner Haustür.“ „Erzählst du mir dann auch, warum du so schick angezogen bist?“ „Einverstanden.“ Kyo holte einmal tief Luft und fuhr sich müde über die Augen. „Ich war gestern auf einer Hochzeit und bin vorhin von der anschließenden Feier zurück gekehrt.“ „Wer hat denn geheiratet?“ „Einer meiner besten Freunde“, erklärte Kyo und lächelte, als er sich wieder die Szenen aus der Kirche ins Gedächtnis rief. „Es war eine schöne Hochzeit im westlichen Stil. Also mit Kirche, einem weißen Kleid und all dem. Das Kind der beiden hat Blumen gestreut. Und die Kleine sah so hübsch aus in ihrem Kleidchen. Ich glaube, sie hat sich wie eine Prinzessin gefühlt.“ So aufgedreht wie Nanami war, hatte man diesen Eindruck ganz gut gewinnen können. Und sie hatte mit ihren Eltern ja auch um die Wette gestrahlt. Die junge Frau seufzte. „Das hört sich schön an.“ Sie stellte sich das alles sehr romantisch vor. Allerdings machte sie es auch ein wenig wehmütig. Vor einigen Jahren hätte sie das auch gerne gehabt. Sie nahm das kühlende Päckchen von ihrem Auge, zupfte an den Ecken des Handtuchs herum. „Das war mein Ex. Der Vater von Sae. Er war schon immer leicht reizbar. Er war gekommen, um sie zu sehen. Aber da es schon reichlich spät war, wollte ich sie nicht wecken. Das hat er nicht verstehen können. Dann fing er an mir Vorwürfe zu machen. Dass ich sie ihm vorenthalte, sie von ihm entfremde. Aber er war nie ein guter Vater. Sie hat Angst vor ihm.“ „Ein Kind sollte nie Angst vor den eigenen Eltern haben“, pflichtete Kyo ihr bei. Sie seufzte erneut. „Jedenfalls hat eines zum anderen geführt und dann... hat...er-“ Erneut liefen ihr Tränen über das Gesicht, woraufhin Kyo sie zur Beruhigung erneut in die Arme nahm. Eine Viertelstunde später hatte sich Tomoko wieder gefasst und sie löste sich von Kyo. „Danke, dass du mir zugehört hast.“ „Du musst dich nicht bedanken. Das war... selbstverständlich. Zumal ich weiß wie schlecht man sich fühlt, wenn man alles in sich hinein frisst. Eine Person, die zuhört und für einen da ist... das kann man mit keinem Geld der Welt wieder aufwiegen.“ „So selbstverständlich ist das in unserer Zeit nicht“, entgegnete sie und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich sollte wieder rüber gehen. Nicht, dass Sae aufwacht und ich bin nicht da.“ „Gut.“ Beide erhoben sich vom Sofa und Kyo führte seinen Gast zur Haustür. „Danke, Kyo-san. Und tut mir Leid, dass ich dich so spät nachts noch belästigt habe.“ „Du hast mich nicht belästigt. Ich habe dich angesprochen und dich mit hierher genommen. Also habe ich eher dich belästigt“, widersprach er mit einem schiefen Lächeln. „Gute Nacht, Kyo-san.“ „Gute Nacht, Tomoko-san.“ Kyo sah ihr noch nach, wie sie den Flur hinunter ging und beobachtete mit einem Lächeln, wie sie sich vor der Ecke noch einmal zu ihm umdrehte und ihm schüchtern zu winkte. Halb seufzend und halb gähnend drehte er sich um, schloss die Haustür und ging ins Wohnzimmer, wo er sich noch eine Tasse Tee gönnte. Tomoko tat ihm Leid. Alleine mit einem Kind war nicht einfach. Sich dann aber mit einer derartigen Person noch herumärgern zu müssen erschwerte das Ganze dann noch. Nachdem er seine Tasse geleert hatte brachte er das schmutzige Geschirr zurück in die Küche, wo er alles in die Spüle stellte und den restlichen Tee entsorgte. Dann schlurfte er in sein Schlafzimmer, wo er sich aus seinen Klamotten schälte. Er schaffte es gerade noch so, diese über einen Stuhl zu hängen, damit sein feiner, weißer Anzug keine Knitterfalten bekam. Doch so verlockend sein Bett auch aussah, führte ihn sein Weg ins Badezimmer, wo er sich die Zähne putzte, sich noch mal die Haare kämmte und das Gesicht wusch. Duschen würde er erst wieder nach dem Aufstehen. Völlig entkräftet, sowohl körperlich, als auch seelisch, kletterte er unter seine Bettdecke und fand sehr schnell den Schlaf, den er brauchte. Kapitel 38: Musik ist unsere Luft --------------------------------- Einen Monat nach der Hochzeit saßen die fünf Musiker mal wieder in ihrem Proberaum und stimmten Kyos Texten mit den fertigen Stücken ab. In den letzten Wochen war der Sänger sehr kreativ gewesen und hatte einiges niedergeschrieben und auch fertig ausgearbeitet. Sie waren zwar auch nicht wirklich das, was man fröhlich nennen konnte, aber nach seiner Begegnung mit Tomoko und ihrer anschließenden Beichte bekam er keine anderen hin. Nichtsdestotrotz waren es schöne Texte, in die er viel Gefühl hinein gelegt hatte. „Du hast es wirklich nicht verlernt“, schmunzelte Kaoru, als sie gerade das erste Mal einen der neuen Songs komplett durchgespielt hatten. Die Melodie hatte ihm persönlich schon immer am Besten gefallen, aber ergänzt, nein vervollständigt mit Kyos Gesang, mauserte es sich gerade zu einem seiner absoluten Lieblinge. Wenn sie so weitermachten, dann konnten sie bald mit ersten Aufnahmen beginnen. Vielleicht auch mal ein Album herausbringen. Aber da dachte er wohl noch zu weit in die Zukunft. Sie mussten langsam machen. Schritt für Schritt. Nur nicht zu viele Gedanken auf ein Mal. Jetzt stand der Spaß an der Musik im Vordergrund. Und der sollte niemals zu kurz kommen. Daisuke stellte seine Gitarre zur Seite und lockerte einmal seine Handgelenke. „Ohne allzu selbstverliebt zu klingen, aber wir sind gut, sind wir?“ „Sind wir“, grinsten Toshiya und Shinya und kamen nach vorne. „Ach, ihr spinnt doch. Meine Stimme ist immer noch nicht wieder voll da.“ Zumindest er fand, dass sie sich nicht mehr so anhörte wie damals. „Sei nicht so bescheiden, Kyo. Du hast immer noch eine fantastische, fesselnde Stimme. Eine, die immer noch verzaubert“, munterte Shinya den Älteren auf. Auch Kaoru stellte seine Gitarre zur Seite. „Lasst uns eine kleine Pause machen. Die haben wir uns verdient.“ Damit kletterten die Fünf von der kleinen Bühne. Die und Toshiya gingen nach draußen zum Rauchen, während Kaoru in die Küche an den Kühlschrank ging, um für sich und die anderen Beiden, die es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten, etwas zu trinken zu holen. „Hey, Kyo. Erzähl mal, wie bist du auf den Text gekommen?“, fragte Shinya und schien ein wenig nervös zu sein. „Warum fragst du?“ „Nun, er ist ja doch ein wenig... düster. Traurig.“ „Was willst du damit sagen?“ „Ich würde nur gerne wissen: Ist alles in Ordnung bei dir?“ Zwar wirkte Kyo nicht so, als würde er sich jeden Moment etwas antun. Doch man sollte besser auf Nummer sicher gehen. „Ist irgendwas passiert?“ So allmählich wurde auch Kaoru neugierig. Schließlich wusste er erfahrungsgemäß, dass man Shinyas Intuition trauen konnte. Er reichte die Getränke an die anderen Beiden weiter und nahm Platz, seine Ohren gespitzt, damit ihm auch nicht entging, was Kyo sagen würde. Kyo nahm einige Schlucke aus der Flasche, merkte deutlich, wie die kühle Flüssigkeit wohltuend durch seinen Hals floss. Und wie beantwortete er jetzt die Frage ihres Drummers, ohne zu viel zu verraten? Immerhin konnte er sich denken, dass es Tomoko-san unangenehm war, wenn er jedem von ihrem Problem erzählen würde. Aber mit „Es ist nichts“ konnte er sie auch nicht abwimmeln. Am besten sagte er die Wahrheit, behielt nur genauere Details für sich. Er setzte die Flasche ab und fing an: „Als ich von Daisukes Hochzeitsfeier wieder kam, da fand ich meine Nachbarin weinend vor ihrer Haustür sitzen.“ Ein wenig geschockt sahen sich Kaoru und Shinya an und fragten sich, was das passiert war. Man saß ja nicht alle Tage im Flur eines Hochhauses und weinte. Nicht einmal mitten in der Nacht. „Sie hatte eine Auseinandersetzung mit ihrem Ex. Eine der etwas übleren Sorte.“ Das war schon ein Detail zu viel, fürchtete er. „Ich hab sie dann mit in meine Wohnung genommen und ihr ein wenig Trost gespendet“, nuschelte er und sah Richtung Boden. Seine beiden Freunde konnten sich trotz allem ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Jedenfalls“, fuhr Kyo fort und sah zu dem Jüngeren, „hat mich das, was ihr passiert ist zu dem Text inspiriert. Ihr seht also, kein Grund sich um mich Sorgen zu machen.“ „Gut“, meinte Shinya. „Entschuldige, dass ich gefragt habe. Ich wollte nur sicher gehen, dass es dir gut geht.“ „Mach dir keine Vorwürfe. Ich weiß doch, dass ihr Angst habt, dass sich das Drama von damals wiederholt. Ich habe schon mit solchen Fragen gerechnet. Immerhin ist der Text wirklich ein wenig depressiv.“ Aber wann waren sie das nicht gewesen? All seine Texte bestanden in erster Linie aus Schmerzen und Tränen. Aber vielleicht schaffte er es auch mal einen positiven Text zu verfassen. Nur schrieb es sich meistens leichter, wenn man sich schlecht fühlte. Weil man sich dann alles einfach von der Seele schreiben wollte. Die und Toshiya kamen wieder in den Raum und ließen sich auf die freien Plätze fallen, nachdem sie sich etwas zu trinken besorgt hatten. „So sehr ich unsere Proben in den letzten Jahren auch vermisst habe, so schön finde ich es, wenn wir eine Pause machen“, grinste Die und öffnete seine Getränkeflasche. „Aber die Proben würde ich für nichts in der Welt wieder hergeben wollen.“ „Ich denke, das würde keiner von uns, Toshiya“, pflichtete ihm Shinya bei. „Keiner von uns.“ „Irgendwelche Vorschläge, welche Songs wir heute noch spielen wollen?“, erkundigte sich Kaoru, nachdem er einen weiteren Schluck aus seiner Flasche genommen hatte. „Ich würde gerne den Song von gerade noch einmal durchgehen“, sagte Kyo und sah in die Runde. „Der ist zwar schon wirklich gut, aber ich hab das Gefühl, dass da noch eine Kleinigkeit fehlt. Etwas, dass diesen hervorragenden Song zu einem atemberaubenden Song macht.“ „Dann möchte ich aber, dass wir einmal Myaku spielen.“ „Wie kommst du denn jetzt auf Myaku, Die?“ Da konnte sich Shinya keinen Reim drauf machen. Immerhin war dieses Lied doch schon sehr alt. Doch der Gitarrist zuckte einfach nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. War mir gerade so in den Sinn gekommen.“ „Wird aber schwer ohne die zusätzlichen Einspielungen. Dann hört es sich nicht mehr so an, wie es sollte“, warf Toshiya ein, woraufhin er von den anderen drei ein zustimmendes Nicken erhielt. „Ich habe nie verlangt, dass wir es so spielen müssen, wie wir es damals veröffentlicht haben. Nur, dass wir es mal wieder spielen. Einfach so. Wir haben schon so lange nicht mehr.“ „Gut, merken wir uns das. Sonst noch wünsche?“ Fragend sah Kaoru zu Shinya und Toshiya. Schließlich hatten die beiden noch keinen Wunsch geäußert. Toshiya grinste: „Mir ist herzlich egal, was wir noch spielen. Von mir aus können wir auch alles noch mal durchgehen, was wir je veröffentlicht haben.“ Shinya dagegen überlegte, tippte dabei mit seinem Zeigefinger immer wieder gegen sein Kinn. „Kannst du dich nicht entscheiden?“, wurde er von Daisuke geneckt. Mit einem wissenden Lächeln sah der Drummer zu dem Älteren herüber: „Doch, kann ich.“ „Und?“, erkundigte sich Kyo, „Welches ist es geworden?“ „Yokan.“ Kaoru lachte laut auf: „Ihr kramt heute aber auch tief in der Songkiste.“ Neugierig sah er zu Kyo: „Das Wichtigste wäre jetzt nur: Kannst du die Texte noch? Oder willst du sie dir noch mal gerade durchlesen?“ Doch ihr Sänger schüttelte den Kopf und meinte zuversichtlich: „Ich denke, es wird so sein, wie bei 'The Final' damals. Sobald ich die Melodien höre, werden die Texte von alleine kommen.“ Sollte er wieder erwarten doch stocken hatte er ja immer noch sein Buch. Doch er vertraute sich in diesem Punkt. Sich streckend erhob sich Shinya von seinem Platz. „Und womit fangen wir an?“, fragte er voller Tatendrang und sah in die Runde, was Kyo dazu bewegte ebenfalls aufzustehen und zu der kleinen Bühne zu gehen. „Ich bestimme, dass wir jetzt mit 'Drain Away' anfangen.“ Mit einem verschmitzten Lächeln sah er die Anderen an. „Ich habe nämlich Lust den Song zu singen.“ „Dann los.“ Und kaum hatte Kaoru diesen Startschuss gegeben, stürmten alle auf ihre Plätze. Einige Zeit später verabschiedeten sich die Jungs von einander und Kaoru brachte Kyo nach Hause. Er setzte den Jüngeren vorm Gebäude ab, wünschte ihm noch einen schönen Abend und fuhr dann selbst nach Hause zu seinen beiden Prinzessinnen. Der Nachmittag war toll und die Proben machten ihm auch unheimlich viel Spaß, aber er liebte auch die Zeit mit seiner Familie. Dass diese ihn ebenso liebten und vermisst hatten, bewies ihm seine Tochter wieder einmal aufs neue, als sie ihm entgegen gestürmt kam, sobald er die Wohnung betrat. „Hallo, meine Süße.“ Freudestrahlend hob er sie hoch und drückte sie fest an sich. „Ich hab dich auch vermisst.“ Ihre kleinen Ärmchen schlangen sich um seinen Hals. „Ich hab dich lieb, Papa.“ „Ich habe dich auch lieb, Moe.“ Stolz drückte er der Kleinen einen Kuss auf die Wange. „Werde ich schon wieder ausgelassen?“ „Aber nein, Schatz.“ Schmunzelnd ging Kaoru auf seine Frau zu, um welche er seinen freien Arm legte. „Da bin ich wieder.“ „Sehr schön.“ Mit einem Lächeln schmiegte sich Itoe an ihren Mann und zog ihn in einen liebevollen Kuss. „Hattet ihr denn Spaß bei eurer Probe?“ „Ja, den hatten wir.“ „Papa, spielst du was mit mir? Bitte, bitte.“ Mit vorgeschobener Unterlippe sah das kleine Mädchen zu ihrem Vater. Sie wollte Zeit mit ihm verbringen. Dass er heute Nachmittag lieber bei den anderen Erwachsenen und vor allem diesem komischen Onkel sein wollte, ging ihr sowieso nicht in den Kopf. Da musste sie ihn doch jetzt erst recht für sich beanspruchen. „Aber erst nach dem Abendessen. Ich stehe mir doch nicht umsonst die Beine in den Bauch und koche, nur damit ihr zwei nichts esst.“ Itoe löste sich von ihrem Mann und ging schon mal vor, um das gekochte Essen aufzutischen. „Kommt ihr?“ „Sind unterwegs“, rief Kaoru. „Na komm, Prinzesschen“, lachte er und hob seiner Tochter von seiner Schulter, klemmte sie sich unter den Arm. Lachend ging er mit ihr zu Esszimmer, wo er sie wieder absetzte. „Setzt euch“, ordnete Itoe an und brachte die letzte Schüssel auf den Tisch. „Lasst es euch schmecken, ihr Tiger.“ Ein zweistimmiges „Raaawwwr“ war die Antwort. Etwa zwei Stunden später saßen Kaoru und seine Angetraute aneinander gekuschelt auf dem Sofa und genossen ihre Zweisamkeit. „Es war schön, Kyo heute wieder zu sehen. Er scheint richtig aufzublühen seit er wieder zurück ist. Das ist ein beruhigendes Gefühl.“ „Das freut mich.“ „Er flirtet sogar schon wieder.“ „Wirklich?“ Wie hellhörig Frauen doch immer wurden, wenn es Tratsch ging... „Mit seiner Nachbarin. Nur merkt er es selbst noch nicht einmal“, merkte Kaoru schmunzelnd an. „Ich wünsche mir, dass er ein bisschen Glück findet.“ „Den Wunsch musst du dir aber bis Weihnachten aufheben.“ „Wieso denn das?“ Jetzt war er aber doch verwundert und neugierig zugleich. „Naja“, fing Itoe an und richtete sich ein wenig auf, um ihrem Mann einen kleinen, unschuldigen Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Zum Geburtstag hast du dir gewünscht, dass er wieder bei euch sein kann. Wenn du dir jetzt wieder was für ihn wünschen willst, dann musst du bis Weihnachten warten.“ „Und wenn ich nicht so lange warten will?“ „Tja, dann musst du wohl Kyo-kun vertrauen, dass er das auch alleine hinkriegt.“ „Muss ich wohl“, erwiderte er grinsend und zog seinen Schatz ganz nah an sich ran, küsste sie innig. „Weißt du, worauf dein Tiger jetzt Lust hätte?“, fragte der Schwarzhaarige mit einem zweideutigen Grinsen. „Oh, ich kann es mir denken“, antwortete sie mit einem ebenso zweideutigen Lächeln. „Komm her, du Tiger.“ Kapitel 39: Déjà-vu ------------------- „Hey, Kyo. Was machst du gleich nach Feierabend?“ Mit einem neugierigen Blick stellte sich Die neben die Leiter, auf der Kyo stand und sah zu ihm nach oben, weil jener damit beschäftigt war in den Regalen Staub zu wischen. „Wieso fragst du?“, antwortete der Sänger stattdessen mit einer Gegenfrage, ließ sich aber nicht von seiner Tätigkeit abbringen. „Reine Neugier. Es ist immerhin Samstag. Könnte ja sein, dass du irgendwas geplant hast.“ „Ich hatte eigentlich vor, die Briefe, die mir Kaoru vor drei Tagen vorbeigebracht hatte zu lesen.“ Und Kaoru brachte regelmäßig einen bis zwei Säcke an neuen vorbei. „Warte, ich kann dir vorhersagen, was da überall drin steht.“ Grinsend sah Die nach oben zu seinem Freund. „Kann ich dir auch. Aber ich kann die unmöglich ungeöffnet in den Säcken lassen. Das wäre nicht fair.“ Zugeben, dass er bereits Briefe mit weitaus weniger netten Worten erhalten hatte, würde er aber nicht. Schließlich lief es zur Zeit so gut. Seine Freunde machten sich nicht so viele Sorgen, er selbst fand sein Leben auch wieder ganz okay und solche Vorfälle, wie den Einbruch hatte es auch nicht mehr gegeben. Was machten da schon ein paar Briefe? War doch normal, dass nicht jeder begeistert von ihm war. „Was machst du denn heute Abend?“, stellte er stattdessen die Gegenfrage. „Och, ich wollte mit Rika, Kensuke, Nobu und Toshiya zum Karaoke. Nobus Freund kommt auch, soweit ich weiß. Der lässt sein Kätzchen ja so ungern alleine. Ich hab gedacht, ich frag dich einfach, ob du nicht Lust hast mit zu kommen.“ „Zum Karaoke?“ Skeptisch hob Kyo eine Augenbraue. „DU willst singen? Und die Anderen wollen sich das freiwillig antun?“ „Pass auf, dass ich dich nicht von der Leiter hole, Giftzwerg.“ Schmollend und schmunzelnd zugleich sah Daisuke zu seinem Freund. „Und? Kommst du jetzt mit?“ Nachdenklich wischte Kyo über das oberste Regalbrett, stellte anschließend alles wieder an seinen Platz. „Jetzt antworte doch.“ Auf Antworten warten hasste er. So lange brauchte man doch nicht, um festzustellen, ob man mit wollte oder nicht. Doch Kyo ließ sich jetzt erst recht Zeit. Gemütlich stieg er die Leiter zwei Sprossen tiefer und machte sich an dem nächsten Brett zu schaffen, schwieg dabei beharrlich. „Du ignorierst mich jetzt absichtlich, hab ich recht?“ „Nein, ich denke einfach nur nach.“ „Kommst du denn zumindest zu einer Antwort?“ „Ja.“ „Verrätst du mir die Antwort auch?“ „Ähm... Nein“, kam es neutral von dem kleineren Schwarzhaarigen, der sich augenscheinlich voll und ganz auf seine Tätigkeit konzentrierte. In Wahrheit versuchte er einfach nur nicht jeden Moment los zu lachen. Unterdessen war Daisuke es Leid weiter zu warten. Ganz offensichtlich hatte Kyo kein Interesse daran etwas mit seinen Freunden zu unternehmen. „Gut, wenn du nicht willst. Es zwingt dich keiner.“ Kyo seufzte. „Du bist ganz schön empfindlich geworden, weißt du das?“ Er stieg noch zwei Sprossen hinunter, damit er mit dem Anderen auf Augenhöhe war. „Ich würde gerne mit euch zum Karaoke gehen. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr lustig wird.“ Jetzt konnte Die wieder Lachen. „Und für diese Antwort musst du mich so ärgern? Du hast zu lange mit Toshiya zusammengelebt. Aber dann ist ja alles geklärt. Du kannst bei mir mitfahren. Da ist noch ein Platz frei. Geht gleich nach der Arbeit los.“ „Dann sollte ich mich beeilen mit dem Regal, was?“ „Ja, solltest du.“ Das Mikro wanderte fleißig durch die feucht-fröhliche Runde. Gesungen wurden Klassiker, aber auch viele Songs, die Kyo noch nie gehört hatte. Nicht einmal vom Namen her. Wen wunderte es. Irgendwann bestand Dai dann aber auch darauf, dass Kyo einen alten 'Dir en grey'-Song zum Besten gab. Mit tatkräftiger Unterstützung der Anderen stellte sich der Sänger dann endlich auf die Bühne. „Und welchen muss ich singen?“ „Was heißt denn muss? Sei doch froh, dass du jetzt einen Song hast, den du kennst und kannst“, erklärte Nobu, wandte sich dann jedoch gleich seinem Liebsten zu, dessen Lippen er fleißig in Beschlag nahm. Ihr Kätzchen hatte morgen früh bestimmt einen Kater. „Ich hätte trotzdem gerne eine Antwort auf meine Frage.“ „Es geht doch gleich los. Und da wir ja in der letzten Zeit nahezu unsere ganze Diskografie durchgespielt haben, solltest du ja auch textsicher sein.“ „Wo Textsicherheit beim Karaoke ja auch so wichtig ist.“ Spöttisch rollte Kyo mit den Augen, da erklangen auch schon die ersten Töne von 'THE IIID EMPIRE'. Wie kam Daisuke denn auf diesen Song? Jetzt musste er zu so später Stunde auch noch so herumbrüllen. Gut, dass sie es bei einer ihrer letzten Proben schon mal wieder durchgegangen waren. Dann mal los. Stunden später: Gemeinsam mit Maboroshi und Nobu, der vom vielen Feiern so müde war, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte, nahm Kyo die U-Bahn, um nach Hause zu kommen, da sie ja in etwa den gleichen Weg hatten. Allerdings bekam der Jüngste unter ihnen schon gar nichts mehr mit, da er irgendwann in der Bahn eingeschlafen war. Man hatte ihn auch gar nicht mehr wach bekommen, weshalb sein Freund ihn jetzt den Rest des Weges trug. Aber bei einer derart süßen, anschmiegsamen Fracht hatte er da natürlich nichts gegen. Außerdem bekam man den Anderen einfach nicht mehr wach. Sie schwiegen, doch es gab für keinen der beiden einen Grund etwas zu sagen. Maboroshi musste sich darauf konzentrieren seinen Freund nicht fallen zu lassen - denn nüchtern war er auch nicht mehr - und Kyo fluchte innerlich, dass er doch ein kleines Schälchen Sake getrunken hatte. Dieses eine hatte gereicht, um ihm einen Schwips zu verpassen. Dabei hatte er doch auf der Hochzeit fleißig durchgehalten und es geschafft einen großen Bogen um jeden Tropfen Alkohol zu machen. In Gedanken versunken trottete er neben dem Größeren her, wich instinktiv den wenigen entgegen kommenden Passanten aus. Weshalb er umso geschockter war, als er plötzlich niedergerissen wurde und sich auf dem Gehweg wieder fand. Im ersten Moment zu verwirrt, um Schmerz zu empfinden beobachtete er wie in Trance, wie die Person, die ihn umgerannt hatte, ein kräftiger Mann mit breiten Schultern, einfach aufstand und sich davon machte ohne ein Wort der Entschuldigung, wobei er das Gefühl nicht los wurde, dass ihm die Szenerie bekannt vor kam. „Alles in Ordnung, Kyo-san?“ Besorgt sah Maboroshi zu dem Kleineren. Gerne wollte er ihm aufhelfen, aber mit seinem Liebling auf den Armen ging das schlecht. Kyo nickte. Ächzend rappelte er sich wieder auf. So allmählich setzte der Schmerz ein. Gerade war er dabei, seine Klamotten ein wenig sauber zu klopfen, da erregte eine junge Frau seine Aufmerksamkeit. Sie rannte in ihre Richtung und schien völlig verzweifelt. „Meine Handtasche!“ Kyo sackte in sich zusammen. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Das dumpfe Gefühl von vorhin hatte ihn nun mit solcher Wucht getroffen, dass ihm die Beine weg geknickt waren. Natürlich war ihm das alles bekannt vorgekommen. Genau so hatte es das ganze Dilemma doch angefangen. „Ja, auf offener Straße. Und ansprechbar ist er seitdem auch nicht“, seufzte der Blonde ins Telefon und sah zum Sofa, wo Kyo saß, die Beine an den Körper gezogen und die Arme darum geschlungen, den Blick ins Leere gerichtet. Daneben Nobu, der den Versuch, den Älteren zu einer Tasse Tee zu bewegen, aufgegeben hatte. Seit dem kleinen Zwischenfall vor einer halben Stunde stand der kleinere Japaner völlig neben sich. Weil er allein völlig überfordert gewesen war, hatte der Geschäftsmann seinen Liebling wecken müssen, in der Hoffnung, dass dieser wusste, was los sein könnte. Aber auch er war völlig ratlos. Gemeinsam beschlossen sie deshalb Kyo in seine Wohnung zu bringen, damit er eine vertraute Umgebung hatte. Doch sie schafften es nicht, auch nur ein Wort aus ihm heraus zu holen. Ihn alleine zu lassen kam erst recht nicht in Frage. Nicht in diesem Zustand. Deswegen hatte Maboroshi bei Daisuke angerufen. Vielleicht hatte der eine Idee, was los war und was man dagegen machen konnte. „Hey, Kyo! Was machst du denn da?“ Erschrocken stürzte sich Nobu auf seinen 'großen Bruder' der anfing seine Fingernägel tief in das Fleisch seiner Unterarme zu rammen. So, als wolle er es sich in Streifen vom Körper reißen. „Was passiert da bei euch?“, fragte Daisuke nervös, während er sich zum Aufbruch bereit machte. „Du solltest dich besser beeilen.“ Damit legte er auf und stürmte zu seinem Freund, der völlig damit beschäftigt war den Älteren in seinem Tun aufzuhalten. Kapitel 40: Es ist niemals vorbei --------------------------------- Seufzend fuhr sich Die mit beiden Händen durch die Haare. Er hatte so gehofft, dass er nie wieder Angst um seinen besten Freund haben müsste, doch diese Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Kyo fing schon wieder an seinen Panzer aufzubauen. Seine Frau fuhr ihn gerade zur Wohnung des Kleineren, da er von der Feier, die ja erst seit etwa einer Dreiviertelstunde zu Ende war, noch reichlich benebelt war. Obwohl der Schock des Anrufs seine Gedanken doch weitaus klarer hatte werden lassen. Und nach dem, was er von Maboroshi erfahren hatte, hatte er auch eine Ahnung, wie dieser Anfall ausgelöst worden war. Besorgt sah seine Frau zu ihm. Sie wusste, wie froh ihr Mann über die Rückkehr des guten Freundes und dessen Freude am Leben war. Das jetzt... Das würde wie damals werden, wo Kyo im Krankenhaus gelegen hatte. Eine anstrengende Zeit. Für ihr ganze Familie. „Ich bleibe den Rest der Nacht hier. Fahr du wieder nach Hause, Schatz.“ Daisuke beugte sich zu seiner Frau herüber, küsste sie auf die Wange, nachdem sie bei dem Hochhaus angekommen waren. „Gut. Rufst du dann morgen früh an und gibst mir einen Überblick? Damit ich weiß, wie ich den Rest des Tages planen kann?“ „Aber natürlich.“ Seufzend stieg der Gitarrist aus dem Wagen, winkte seiner Aimi zu und machte sich dann auf in das Gebäude und nach oben. Jedes Stockwerk, das der Fahrstuhl bewältigte ließ ihn schwerer seufzen, machte ihn noch nervöser. Es gab so viele Zufälle auf dieser Welt. Warum musste dieser eine dumme Zufall ausgerechnet Kyo über den Weg laufen? So stark ihr fünfter Mann auch immer wirkte, so war er doch eigentlich zerbrechlich wie Glas, sobald etwas gegen ihn stieß. Wo sollte das alles denn noch hinführen? Oben an der Wohnung angelangt, klopfte er an der Wohnungstür. Klingeln fand er zu so später Stunde unpassend. Und wer wusste schon, wie viel in den umliegenden Wohnungen zu hören war. Der große Blonde öffnete ihm, sah allerdings reichlich müde und angeschlagen aus. Als Die die Wohnung des Freundes betrat, fiel ihm auf, dass sich im Wohnzimmer sonst niemand aufhielt. „Wo sind Kyo und Nobu?“ „Als Kyo-kun bei unserem Telefonat vorhin so ausgerastet ist, haben wir versucht ihn ruhig zu stellen. Ergebnislos. Auf die herkömmlichen Wege.“ „Wie habt ihr ihn dann beruhigen können?“ In der Wohnung war es schließlich still. Folglich mussten sie es irgendwie geschafft haben. „Ich stelle von vorne herein eines klar: Es war leider notwendig. Sonst hätte er sich oder uns noch ernsthaft verletzt.“ Der Geschäftsmann zog die Lippen kraus, kämpfte mit sich, weil er seine Tat bereute. „Wie habt ihr es geschafft?“ „Mit einem gezielten und kräftigen Schlag in die Magengrube meinerseits.“ Eine Hand an den Kopf gelegt ging der große Blonde zu dem Sofa, wo er sich seufzend niederließ. „Seitdem schläft er. Wir haben ihn in sein Bett gebracht, wo Nobu-chan jetzt darauf achtet, dass es auch so bleibt. Der Ärmste ist völlig fertig mit der Welt.“ Und er konnte es überhaupt nicht leiden, wenn sein Schatz unglücklich war. „Hast du eine Ahnung, was hier los ist?“ Langsamen Schrittes ging Daisuke ebenfalls zu dem Sofa, ließ sich mit einem Seufzer neben dem Jüngeren nieder und fing an zu erzählen: „Das mit Kyo damals... Es hatte genau so angefangen. Er war einkaufen. Spät abends nach einer Probe. Auf dem Rückweg zu seinem Auto wurde er dann von einem Typen überrannt. Verfolgt von einer jungen Frau, deren Handtasche er geklaut hatte. Kyo hat sich den Kerl dann geschnappt und ihm die Tasche wieder abnehmen können. Sie war ihm natürlich unendlich dankbar.“ Seine Stimmung verdüsterte sich. Man sollte nicht schlecht über Tote reden und alles. Aber in Momenten wie diesen wünschte er dieser Frau die Pest an den Hals. „Zum Dank hat sie -um es freundlich zu formulieren- sein Leben komplett verändert.“ „Diese 'sie' war Takeno-san, habe ich recht? Die Frau, die er-“ „Genau die“, unterbrach Daisuke den anderen. Sie wussten schließlich alle, was passiert war. Hören wollte er das nicht noch einmal. Geschehen war geschehen. Es immer wieder zu hören machte es da auch nicht besser. „Ich gehe mal nach den beiden sehen.“ Ächzend stand er wieder auf und schlurfte Richtung Schlafzimmer. Er merkte, wie müde er eigentlich war. Erst die Feier und nun die späte Uhrzeit. Beides zerrte an seinen Kräften. Nicht zu vergessen all die Sorgen die gerade an ihm nagten. Im Schlafzimmer fand er die beiden Gesuchten schlafend vor. Kyo, zusammengerollt zu einer Kugel, die Decke halb über den Kopf gezogen und einem schmerzverzerrten Ausdruck im Gesicht. Daneben Nobu, auf dem Boden sitzend und die Arme auf der Matratze, auf die er den Kopf abgelegt hatte. Auch ihm stand die Sorge ins Gesicht geschrieben. Leise näherte er sich dem Jüngeren, rüttelte ihn bestimmt, aber vorsichtig an der Schulter, damit er wieder wach wurde. Es dauerte einige Momente, bis er die Augen öffnete, was aber verständlich war. „Oi, Nobu.“ „Daisuke-kun? Was machst du denn hier?“ „Ich bin hier, um aufzupassen. Geh du ruhig mit deinem Freund nach Hause. Ich habt für heute schon genug geleistet.“ „Meinst du?“ „Ja, meine ich. Und jetzt ab mit dir.“ Nobu wandte seinen Blick von Dai ab und zu Kyo hin, haderte mit sich selbst. „Geh nach Hause. Ich bin ja jetzt hier“, redete der Gitarrist beruhigend auf ihr Maskottchen ein, legte diesem eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Er ist doch jetzt nicht alleine.“ „Ich weiß, aber...“ „Nobu Kawagishi, als dein Chef befehle ich dir nach Hause zu gehen und dich schlafen zu legen. Es ist ja nun wirklich nicht nötig, dass wir alle uns hier verrückt machen.“ Er gab sich geschlagen. Gerade auch, weil er an seinen Freund denken musste, der seinetwegen jetzt ebenfalls wach blieb. Resignierend stand er auf, löste seinen Blick allerdings nicht vor dem Älteren, der offensichtlich keine Ruhe in seinem Schlaf finden konnte. „Na gut. Dann gehe ich. Aber wenn du irgendwen brauchst, rufst du mich an. Ich hab es ja nicht weit.“ „Mache ich.“ Zum Abschied umarmte Nobu den Älteren einmal kurz, wie er es gerne und häufig machte, dann schlenderte er nach einer kurzen Verabschiedung Richtung Wohnzimmer, damit er und sein Lebensgefährte sich auf in die eigenen vier Wände machen konnten. Daisuke wartete noch, bis er die Wohnungstür zufallen hörte, dann holte er sich aus dem Wohnzimmer eine Decke und aus dem Esszimmer einen Stuhl, platzierte beides neben dem Bett des Jüngeren. „Und ich hatte so gehofft, dass du endlich deinen Platz in dieser Welt gefunden hast.“ Seufzend strich er seinem schlafenden Freund über den Kopf, ehe er sich die Decke nahm und sich darin einkuschelnd auf den Stuhl setzte. Er brauchte jetzt Schlaf. Ganz dringend. Nur wachte er hoffentlich wieder auf, wenn Kyo Hilfe brauchte. Da waren sie wieder. Die Hände, die ihn zerreißen, ihn zerfetzen wollten. Dabei hatte er diesen Teil des Traumes so gut es ging verdrängt in all den Jahren, die seit dem vergangen waren. Dieser Zusammenstoß hatte so viele Erinnerungen in ihm geweckt und unzählige Narben auf seiner Seele aufgerissen. Lange hatten diese Narben gebraucht, um zu entstehen. Wie lange würde es jetzt wohl dauern, damit sie sich wieder verschlossen? Wieder flüchtete er vor den Händen, lief immer weiter ins Dunkel hinein. Immer auf der Suche nach dem Licht, das ihn beschützte. Auf der Suche nach den Händen, die ihn schützten. Aber er fand sie nicht. Er fand sie einfach nicht. Er fand sie einfach nicht... Kapitel 41: Die Zufälligkeit des Zufalls ---------------------------------------- Kein Schrei, sondern das Schrillen einer Türklingel holte Daisuke aus seinem Schlaf. Er konnte sich gerade noch fangen, ehe er vom Stuhl gefallen wäre. Benötigte dann einen Moment, um heraus zu finden, wo er denn gerade aufgewacht war. „Kyo?“, murmelte er, als er selbigen schlafend in dem Bett vor sich vorfand. Es verging noch ein weiterer Moment, bis sich in seinem Kopf alles zusammen gesetzt hatte, was er wissen musste. Ein weiteres Mal schellte es. „Boah, ist das ein nerviger Ton“, grummelte der Gitarrist und hielt sich den Kopf, während er sich aus der Decke schälte und Richtung Haustür eilte. Ein Kater zu der unpassendsten Zeit überhaupt. Wieder ertönte die Klingel. „Ich komme ja schon. Ich komme ja schon.“ Wer auch immer das war, er hatte sich definitiv den falschen Zeitpunkt ausgesucht. Wehe Kyo wachte davon auf. „Ja?“, kam es dementsprechend genervt von ihm, als er die Tür öffnete. Obwohl er sich nicht sicher war, ob es sich bei der Klingel nicht um die von unten gehandelt hatte und irgendwer vorm Haus stand und läutete, da er niemanden sah. „Das soll wohl ein Witz sein... Und das am frühen Morgen.“ „Es ist elf Uhr. Das ist nicht früh.“ „Wie?“ Verwundert wanderte Dies Blick nach unten, traf dort auf den skeptischen Blick eines kleinen Mädchens. „Wer bist du denn?“ „Das gleiche könnte ich dich fragen. Du bist nicht der Onkel, der hier wohnt.“ „Stimmt, der bin ich nicht. Aber jetzt sag mir doch endlich mal, wer du bist.“ Ächzend ging Dai in die Hocke. Die Nacht auf dem Stuhl zeigte ihren Tribut. Ein Gefühl sagte ihm gleichzeitig auch, dass er die junge Dame schon einmal gesehen hatte. „Mama sagt, ich darf nicht mit Fremden reden. Also sage ich dir meinen Namen nicht.“ Die Kleine schaffte es ihm den letzten Nerv zu rauben. Als ob sein schmerzender Kopf nicht schon Strafe genug gewesen wäre. „Sae-chan? Was machst du denn hier?“ Kyo war im Flur aufgetaucht. Auch er war von der Klingel geweckt worden, hatte jedoch nicht im Geringsten mitbekommen, dass Daisuke anwesend und schneller gewesen war, als er selbst. Dann hatte er die Stimmen von der Tür aus gehört und war ihnen verwundert nachgegangen. „Wo ist deine Mutter?“ War schon reichlich merkwürdig, dass sie ganz alleine hier stand, wo er doch wusste, dass die Kleine ihn nicht wirklich leiden konnte. „Die ist zu Hause. Aber sie braucht noch ein bisschen Zucker für den Nachtisch und hat mich hergeschickt, damit ich dich frage, ob du welchen da hast und uns leihen kannst.“ Betrübt sah das Mädchen zu Boden, ließ sich die Haare ins Gesicht fallen. „Dabei will sie nur nicht, dass ich mitbekomme, wie sie und Papa wieder streiten.“ „Dein Vater ist da?“, fragte Kyo leise nach. Ihm kam das Gesicht von Tomoko in den Sinn, wie sie verweint und mit geschundenem Gesicht im Flur gesessen hatte. Er wollte nur ungern eine Wiederholung des Ganzen sehen. Vorsichtig schob er Daisuke ein wenig zur Seite, ging selbst in die Hocke. Liebevoll strich er dem kleinen Mädchen mit dem langen schwarzen Haar über den Kopf. Da versuchte ihre Mutter schon zu verstecken, dass es zwischen ihr und dem Vater ihres Kindes nicht gut lief, dabei hatte dieses bereits längst verstanden, was vor sich ging. Sie zuckte zwar erst zusammen, warf sich dann aber gegen seine Brust, wo sie bitterlich anfing zu weinen. Behutsam legte Kyo seine Arme um das kleine Ding, strich ihr über den Kopf und den Rücken. Noch so jung und wurde schon mit so einer Situation konfrontiert. „Ist gut. Das wird schon wieder.“ Solange es nur bei einem Wortgefecht blieb. „Ich hab Mama lieb“, schluchzte Sae, krallte sich ganz fest in das Shirt, dass Kyo noch vom gestrigen Abend trug. „Papa hab ich auch lieb. Aber warum hat Papa die Mama denn nicht lieb? Warum hat er mich nicht lieb?“ „Das weiß ich nicht.“ Was sollte er auch sonst sagen? Er kannte den Vater der Kleinen nicht und wusste daher nicht, warum er tat, was er tat. In der Zwischenzeit kam Dai aus dem Wohnzimmer zurück, in das er sich während des Gesprächs zwischen den Beiden verzogen hatte, und reichte Kyo eine Packung Taschentücher. „Danke“, flüsterte er und nahm das Päckchen entgegen. Die seufzte. So wie der Jüngere dort hockte und versuchte dem Mädchen Trost zu spenden, wurde ganz deutlich, dass er ein guter Mensch mit einem guten Herzen war. Warum also wollte die Welt ihn nicht? „Du wärst ein guter Vater“, sagte er, nachdem er ihn noch für einige weitere Augenblicke beobachtet hatte. „Tja, dafür ist es ein bisschen zu spät, findest du nicht? Nein, die Möglichkeit hab ich mir vor vielen Jahren gründlich verbaut.“ Der Gitarrist schüttelte den Kopf. Wie konnte Kyo nur etwas derartiges sagen, wenn er doch so offensichtlich das Gegenteil bewies? Manchmal verstand er den anderen nicht. „Sae?! Wo steckst du?“, brüllte eine tiefe Männerstimme, die das kleine Mädchen dazu brachte zusammen zu zucken und sich zu versteifen. „Das ist Papa“, flüsterte sie ängstlich. „Und er ist wütend.“ „Keine Angst, Sae-chan. Wir sind ja auch noch da.“ Einen Moment später stampfte ein ziemlich bulliger, vor Wut wie ein Stier schnaubender, Mann um die Ecke, scheinbar auf der Suche nach etwas. „Sae!“ Oder jemandem. Sein Blick verfinsterte sich noch um einiges, als er seine Tochter erblickte, die sich ganz nah an Kyo drückte. Ihre Augen sahen ängstlich zu dem herannahenden Typen. Verständlich, denn wer wusste schon, ob ihm nicht gegenüber seiner Tochter auch mal die Hand ausrutschen würde. Oder war das bereits einmal passiert? In Kyo erwachte der Beschützerinstinkt. Andere zu verletzen war ein Unding. Vor allem, wenn ein Kind involviert war. „Finger weg von meiner Tochter!“ Der Typ hatte eine ziemlich feuchte Aussprache, wie der Sänger feststellen musste. „Na los doch!“ „Erst, wenn Sie sich beruhigt haben“, entgegnete Kyo kühl, behielt seine Arme schützend um die Kleine gelegt. Er setzte ein Kind auf keinen Fall einer derartigen Bedrohung aus. Vor allem nicht, wenn es schon so offensichtlich verängstigt war. „Da haben Sie sich nicht einzumischen! Sae ist meine Tochter. Und überhaupt, was hast du hier eigentlich zu suchen? Sich einfach aus dem Haus zu schleichen. Das gehört sich einfach nicht.“ Mit erhobenem Arm und Wut verzerrtem Gesicht machte Saes Vater einen Schritt nach vorne, doch ihm stellte sich Die entschlossen in den Weg. Er ergriff die erhobene Hand, wehrte den Angriff, als den er das hier gesehen hatte, ab. „Einem Kind weh tun zu wollen ist das Letzte.“ In Daisukes Augen war der Typ ein Untier. „Lass mich los.“ „Ich erlaube nicht, dass ein Kind in meiner Gegenwart verletzt wird.“ Hasserfüllt starrten sich die beiden Männer an. „Sae?“, Tomoko erschien. Ihre Stimme war zittrig und als Kyo sich so weit zur Seite beugte, dass er an den beiden Männern vorbei sehen konnte, konnte er die Angst in ihren Augen sehen. Genauso wie ihr geschwollenes Gesicht. Hatte dieser Dreckskerl seine Aggressionen also bei ihr schon abgelassen. Das Mädchen auf den Arm nehmend, stand er auf, ging an dem Gitarristen vorbei, der eifrig damit beschäftigt war, seinen Gegner in Schach zu halten. Er brachte Sae zu ihrer Mutter, versicherte ihr noch schnell, dass es ihrer Tochter gut ging, dann stampfte er wieder zurück. Zielstrebig auf den Fahrstuhl zu, wo er den Knopf betätigte. „Was erlaubt ihr Beiden euch eigentlich? Unverschämtes Pack.“ „Klappe“, knurrte Kyo in bester Monstermanier. „Wir haben wenigstens die Courage einzugreifen, wenn etwas nicht richtig läuft. Und das, was Sie da mit Tomoko-san machen ist wirklich unbeschreiblich. Sie haben sie nicht verdient.“ Die grinste ein wenig in sich hinein. Der Blick des Jüngeren war einsame Spitze und genauso Funken sprühend wie früher. Ein zartes 'Ping' ertönte und kündigte an, dass der Fahrstuhl angekommen war. Die Türen öffneten sich und der Raum dahinter wartete darauf, dass jemand einstieg. Gekonnt verdrehte Die dem Mistkerl den Arm auf den Rücken und schob ihn in den Fahrstuhl hinein. Kyo drückte noch auf den Knopf fürs Erdgeschoss und brummte grimmig: „Und wehe, ich sehe Sie noch einmal wieder.“ „Wehe, WIR sehen Sie noch einmal wieder.“ Bedrohlich standen die beiden Musiker vor dem Aufzug. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Blicke tödliche Funken sprühend, ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie es mit ihrer Aussage ernst meinten. Nach einem Moment der Verwirrung, hatte es doch noch nie jemand gewagt ihm so gegenüber zu treten, wollte er auf diese unverschämten Kerle stürzen, da schlossen sich die Türen. Es dauerte einige Stockwerke auf der Anzeige bis sich die Anspannung auf dem Flur legte. Tomoko-san brach in Tränen aus. Tränen der Erleichterung. Jetzt waren sie und ihre Tochter in Sicherheit. Zumindest fürs Erste. Doch das genügte ihr schon. Hauptsache ihrer Kleinen war nichts passiert. „Danke. Vielen Dank euch beiden.“ „Gern geschehen“, grinste Dai, musste gleich darauf aber ein Gähnen unterdrücken. Da wurde man nach einer kurzen Nacht auf einem unbequemen Stuhl geweckt und kam direkt in derartige Turbulenzen. Und jetzt, wo der Adrenalinspiegel sich wieder senkte, meldete sich auch noch sein Kater. „Ich brauche jetzt Kaffee. Und eine Aspirin. Wo hast du die?“ „Im Badzimmer. Im Spiegelschrank“, antwortete Kyo gelassen. „Aber bring mir was gegen Magenschmerzen mit.“ Die, die er hatte machten ihn fertig. Dabei konnte er sich gar nicht erklären, wo er die her hatte. Grummelnd fasste er sich an den Bauch, rieb ein wenig darüber. Gestern Abend hatte er nichts getrunken oder gegessen, was diese Schmerzen hätte verursachen können. Und auch nach dem Zwischenfall... Okay, da hatte er Erinnerungslücken. War vielleicht auch besser so. Aber es würde auf jeden Fall erklären, warum Dai hier war. Er konnte ihn ja gleich vorsichtig drauf ansprechen. Doch das musste alles warten. Er wandte sich Tomoko zu, ging vor ihr in die Hocke, da sie sich vor Erleichterung nicht mehr hatte auf den Beinen halten können. Lächelnd strich er Sae noch einmal über den Kopf. Dann betrachtete er das Gesicht der Frau vor ihm. „Da hat er aber richtig gut zugelangt. Das solltest du so schnell wie möglich kühlen, ja?“ Sie nickte nur als Antwort, traute ihr verweinten Stimme nicht. „Und du solltest auch dringend zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Und zwar solange du noch diesen Beweis mit dir trägst. Das sollte überzeugen.“ Minimum müsste der Kerl einen bestimmten Abstand einhalten. „Werde ich“, flüsterte sie, drückte ihre Tochter erneut fest an sich. „Alles wird gut. Jetzt wird alles gut“, murmelte sie wie ein Mantra. „Ja, alles wird wieder gut.“ Kyo reichte ihr die Taschentücher, die er vorhin von seinem Freund bekommen hatte, damit sie sich das Gesicht trocknen konnte. „Wollt ihr noch kurz mit herein kommen? Nur, bis ihr beide euch ein wenig beruhigt habt.“ „Danke, aber ich habe noch das Essen auf dem Herd stehen. Das wird mittlerweile bestimmt auch schon angebrannt sein.“ Sie holte eines der Taschentücher aus der Verpackung und wischte damit die Tränen auf dem Gesicht von Sae weg. „Alles in Ordnung, mein Schatz?“ „Ja, Okaa-san.“ „Gut“, lächelte Tomoko sie an, strich eine Strähne des Mädchens hinter ihr Ohr. „Wir schaffen das schon, mein Schatz.“ Sie stand auf und nahm die Hand der Kleinen. „Vielen Dank nochmal, Kyo-kun.“ „Gern geschehen.“ Kyo blieb so lange an Ort und Stelle, wie die beiden hinter der Ecke verschwunden waren, erst dann drehte er sich um, um in seine eigene Wohnung zu gelangen. Gerade als er die Tür erreichte, ließ ihn Tomokos Stimme innehalten. „Kyo-kun?“ „Hai?“ „Es gibt da noch etwas, was ich dir schon seit einiger Zeit sagen möchte.“ Verwundert blinzelte der Sänger ein paar Mal. Etwas sagen? Jetzt war er neugierig. „Ich kannte sie.“ „Wen?“ Sie sprach in Rätseln. „Ayaka-san. Ich kannte sie. Wir waren... in der gleichen Branche.“ Kapitel 42: Zueinander ---------------------- „Wie-Wie meinst du das?“ 'Gleiche Branche.' das hörte sich in Kyos Ohren irgendwie... unheilvoll an. „Ich musste das früher auch machen. Leuten... dieses Zeug verkaufen. Oder unterjubeln, um neue Kundschaft zu gewinnen. Wir haben immer die gleiche Masche verwendet: Den vorgetäuschten Handtaschenklau.“ Beschämt sah sie zu Boden. Ihre Vergangenheit war ihr peinlich. Ein Fleck, den sie gerne ungeschehen machen würde. „Selbst genommen habe ich es nie.“ Sie fuhr sich übers Gesicht, wischte die neuen Tränen wieder weg. „Mama?“ Sae sah erst nach oben, dann schmiegte sie sich an ihre Mutter. „Nicht mehr weinen Mama.“ „Schon gut, mein Schatz. Es geht gleich wieder.“ Beruhigend legte sie eine Hand auf den Rücken ihrer Kleinen. „Wollt ihr wirklich nicht zu mir kommen? Ich setze uns allen Tee auf. Und dann kannst du in aller Ruhe erzählen. Ich bin mir sich, dass Daisuke in der Zeit ein wenig auf Sae aufpasst.“ Er beugte sich zu dem Mädchen herab. „Was hältst du davon? Du holst ein paar Spiele aus deinem Zimmer und wir spielen ein bisschen was bei mir zu Hause.“ Als Antwort nickte sie, löste sich auch wieder ein wenig von ihrer Mutter. „Dann bin ich wohl überstimmt. Gut, wir kommen rüber. Gebt uns ein paar Minuten.“ Lächelnd strich sie sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Komm, Sae.“ Damit gingen sie endgültig zurück in ihre Wohnung. Kyo drehte um und ging wieder in seine eigenen vier Wände, ließ die Haustür angelehnt, damit seine beiden Gäste gleich einfach hereinkommen konnten. Er selbst wanderte Richtung Küche, wo Daisuke auf die Kaffeemaschine wartete. „Hast du die Tabletten gefunden?“, fragte er, während er im Schrank nach einer Kanne suchte. „Hab ich. Hab auch etwas gegen deine Bauchschmerzen.“ Der Gitarrist hielt ihm eine einzelne, verpackte Tablette entgegen. „Domo. Wüsste zu gerne, wo ich die her habe.“ „Die Tablette vermutlich aus der Apotheke.“ „Scherzkeks“, grummelte Kyo, während er ein Glas Wasser füllte, damit er die Medizin besser einnehmen konnte. „Ich meinte eigentlich die Schmerzen.“ Er schmiss die Tablette ein und leerte das Glas. Jetzt musste das nur noch wirken. Daisuke stieß sich von der Arbeitsfläche ab, drehte den Jüngeren zu sich, der zwar erst protestieren wollte, jedoch verstummte, als der Andere ihm plötzlich ungefragt unter das Shirt guckte. „Da hat Maboroshi ganze Arbeit geleistet. Der Mann hat wirklich Kraft in den Armen.“ „Was meinst du?“ „Sieh doch selbst.“ Damit ließ er den Stoff los. Skeptisch hob Kyo selbst sein Shirt an, riss schockiert die Augen auf. Da prangte ein dicker Bluterguss in der Mitte seines Bauches. „Ach du Scheiße. Was ist gestern Abend passiert?“ Er starrte Die an, hoffte irgendwelche Antworten von ihm zu bekommen. „Erinnerst du dich nicht mehr? An gestern Abend? An das, was gestern auf deinem Heimweg passiert ist?“ Eindringlich sah er dem Kleineren in die Augen. Wie viel wusste er noch? „Wie viel weißt du?“, stellte Kyo die Gegenfrage. Der Andere stützte sich auf der Arbeitsfläche ab, den Körper dieser zugewandt. „Ich weiß, dass ihr gestern auf dem Weg nach Hause mit jemandem kollidiert seid. Und dass dich dieses Ereignis völlig aus der Bahn geworfen hat“, erzählte Die, den Blick konzentriert auf die Kaffeemaschine gerichtet, bis er seufzen musste und sein Gesicht Kyo zu wandte. „Was meinst du eigentlich warum ich hier bin? Laut Maboroshi-kun warst du so fertig, dass du versucht hast dir das Fleisch von deinen Armen zu kratzen, kaum dass ihr hier wart. Und weil er und Nobu dich einfach nicht wieder beruhigen konnten, hat er keine andere Möglichkeit gesehen, als dich mit einem Schlag in die Magengrube außer Gefecht zu setzen. Daher der blaue Fleck.“ „Oh.“ „Oh?“ Die glaubte sich verhört zu haben. Fassungslos starrte er den Sänger an. „Oh?! Alles was du dazu sagen kannst ist 'Oh'? Verdammt, Kyo, du hast versucht dir die Arme mit bloßen Händen aufzuschlitzen, hattest dich wieder vollkommen in dich selbst zurück gezogen. Du bist so ausgetickt, dass man keine andere Möglichkeit hatte dich ruhig zu stellen, als dich k.O. zu schlagen!“ Zuerst war Kyo einen Schritt zurück gewichen, als Daisuke mit seiner Strafpredigt angefangen hatte, aber dann fasste er sich wieder, ging mit blitzenden Augen auf den Größeren zu. „Meinst du, ich finde toll, dass das passiert ist?“, fuhr er ihn lautstark an. „Ich hatte doch auch gehofft, dass ich endlich einigermaßen abgeschlossen hatte. Verdammt! Ihr glaubt alle, dass es so einfach ist zu vergessen, aber mit der Scheiße hat es angefangen. Deswegen habe ich mehr als fünfzehn Jahre meines Lebens verloren! Und der Rest von dem, was mir noch bleibt, ist auf ewig verkorkst! Ich finde es doch auch beschissen, dass ihr das immer mitbekommt.“ Seine Stimme wurde wieder leiser, ruhiger, verletzter. „Seit so vielen Jahren sorgt ihr euch um mich, tut ihr alles, damit ich mich besser fühle. Damit ich mein Leben auch wieder genießen kann. Und es hilft. Dafür bin euch unendlich dankbar. Doch dann gibt es eben wieder diese Momente in denen alles wieder hoch kommt. Wo all die Erinnerungen und schlechten Gefühle auf mich einstürzen. Ich will ja auch nicht, dass das passiert. Schon gar nicht, wenn ihr dabei seid. Aber es lässt sich nur so schwer kontrollieren. Eigentlich gar nicht. Das ist immerhin meine Vergangenheit. Die los zu lassen... das geht nicht.“ Mit einem resignierenden Seufzer schüttelte er den Kopf. „Es ist einfach ein Teil von mir.“ Er schnappte sich den Wasserkocher und befüllte ihn, setzte ihn im Anschluss auf die Station zurück und ließ das Gerät machen. „Tomoko-san und ihre Tochter kommen gleich noch rüber. Sie will noch etwas mit mir besprechen. Könntest du dich in der Zeit ein bisschen um Sae kümmern?“, fragte er, während er ein Kanne aus dem Schrank holte und mit grünem Tee befüllte. „Kann ich machen“, erklärte sich der Gitarrist einverstanden. Er nahm sich seine Tasse und goss sich von dem Kaffee ein, der soeben fertig geworden war. „Darf man fragen, worüber sie mit dir sprechen will?“ „Sie kannte Ayaka-san.“ Wie vom Blitz getroffen hielt Daisuke inne und starrte Kyo an. Den Namen hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgesprochen gehört. Immer hatten sie alle einfach 'sie' gesagt. Das hatte es irgendwie einfacher gemacht. „Woher?“ „Das werde ich gleich erfahren.“ „Hallo?“, erklang es aus dem Flur. „Da ist sie schon.“ Kyo ging aus der Küche, um seine beiden Gäste in Empfang zu nehmen. Was ganz gut war, denn Tomoko hatte ein sehr schwer aussehendes Tablett dabei. Schnellen Schrittes ging er auf sie zu, nahm es ihr ab. Sie sollte sich jetzt ein wenig erholen. „Das Essen war noch zu retten“, erklärte sie ihr Mitbringsel. „Da dachte ich, dass ich es ja mitbringen kann. Wäre doch zu schade, um es weg zu schmeißen.“ „Eine gute Idee. Wir hatten hier nämlich noch kein Frühstück“, entgegnete Kyo mit einem schiefen Lächeln. Er führte seine Gäste ins Wohnzimmer, wo er sich noch einmal zu Tomoko umdrehte: „Wenn du möchtest, da vorne links ist das Badezimmer, dann kannst du dir das Gesicht waschen.“ Ein berechtigter Vorschlag, wo ihres doch immer noch mit getrocknetem Blut verschmiert war. „In dem Spiegelschrank ist auch noch ein bisschen Salbe, wenn du die Wunde behandeln möchtest.“ „Vielen Dank. Aber soll ich nicht erst-?“ „Um das Essen kümmere ich mich. Keine Angst. Ich muss ja nur noch Geschirr auf den Tisch stellen.“ Mit einem Lächeln sah er zu der kleinen Sae. „Möchtest du vielleicht schon mal mit mir kommen?“ Eng an ihren großen Panda gedrückt, nickte sie und schniefte. Man merkte, dass sie immer noch an dem Geschehenen eben knabberte. Hoffentlich konnte sie das Spielen gleich wieder ein wenig aufmuntern. „Dann los.“ Kyo wandte sich ab zum gehen, war aber noch keinen Schritt weit gekommen, da merkte er ein Gewicht am Bund seiner Jeans. Verwundert sah er noch unten, musste im nächsten Moment ein wenig schmunzeln, als er Sae erblickte. Langsamen Schrittes, damit die Kleine mit kam und er gleichzeitig nicht über sie stolperte, ging es zuerst zu dem Esstisch, wo er das Tablett abstellte, sich dann seinem Anhängsel zuwandte, indem er ihr ihren kleinen, bunten Rucksack abnahm und auf einem der Stühle platzierte. „Bleib schön hier sitzen, ich gehe nur gerade das Geschirr holen, ja?“ Doch statt zu nicken, schüttelte das Mädchen den Kopf, griff nach dem Shirt des Sängers und krallte die Finger der einen Hand hinein. „Ich will nicht alleine bleiben“, nuschelte sie und drückte ihr Plüschtier fest an sich. „In Ordnung.“ Kyo konnte sie verstehen, weswegen er ihr über den Kopf strich und ihr so etwas von der Nähe gab, die sie haben wollte. „Die?“, rief er nicht allzu laut. Doch dieser stand bereits in der Tür zur Küche und hatte sie die ganze Zeit beobachtet. „Ich decke den Tisch“, erklärte er sich bereit und dreht sich wieder um, damit er dieses Vorhaben auch in die Tat umsetzen konnte. Kyo war dankbar, dass sein Freund da war. Alleine wäre er doch ein wenig überfordert. Aber alleine hätte er auch nicht viel gegen den widerlichen Typen eben ausrichten können. Was ihn zu dem Gedanken brachte: Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er damals nicht alleine unterwegs gewesen wäre? Wäre das alles dann gar nicht erst passiert? Oder hätte er noch wen mit in diesen Abgrund gezogen? Die Wahrscheinlichkeit, dass alles gar nicht erst geschehen wäre, war eindeutig größer, sagte ihm sein Verstand. Aber was hätte er denn machen sollen? Damals war keiner der anderen mehr da gewesen. Außer Kaoru, aber das hatte er ja auch erst gewusst, als er wieder zu dem Parkplatz gekommen war. Da die Probe als beendet erklärt gewesen war, hatte er eben angenommen, dass die anderen Vier nach Hause gehen würden und dementsprechend keinen von ihnen gefragt. Zudem war er auch schon damals alt genug gewesen, um auch mal allein durch die Gegend gehen konnte. Es hatte niemand wissen können, dass das passieren würde. Wirklich niemand. Wieder einmal seufzte Kyo. Was passiert war, war passiert, nicht? Jetzt musste er damit leben. Er nahm die Kleine auf den Arm, drehte sich um sich selbst und nahm am Ende auf dem Stuhl platz, auf dem sie vorher gesessen hatte, sodass sie jetzt auf seinem Schoß sitzen konnte. Sanft legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich. Langsam strich er ihr über den Unterarm. „Ich hatte solche Angst“, flüsterte Sae, krallte sich in das Fell ihres Stofftieres. „Ich weiß“, antwortete Kyo. „Aber das brauchst du jetzt nicht mehr. Hier bei mir kann dir nichts passieren.“ Er begann eine Melodie zu summen, um sie weiter zu beruhigen. Aber auch, um sich selbst ein wenig Spannung zu nehmen. Es war keine bestimmte Melodie, sondern eine, die sich erst mit jeder Note entwickelte. Daisuke kam zu ihnen, stellte ein paar Teller auf den Tisch, verteilte diese darauf, als er sein Handy aus der Küche vernahm. „Das wird meine Frau sein“, grinste er schief. „Hatte ihr Versprochen heute morgen anzurufen.“ Damit entschuldigte sich der Gitarrist und eilte in die Küche zurück, um das Gespräch entgegen zu nehmen. Derweil war Kyo immer noch mit summen und streicheln beschäftigt. Selbst als Tomoko wieder zu ihnen stieß. Um nicht untätig da zu sitzen verteilte sie das Geschirr auf dem Tisch, damit sie bald mit dem Essen beginnen konnten. Daisuke kehrte aus der Küche zurück und half ihr, lud im Anschluss jedem eine Portion auf den Teller. Ein bisschen Reis mit gebratenem Fleisch in Sauce, dazu Wok-Gemüse, das zwar ein wenig sehr braun war, aber immer noch essbar. „Sae? Möchtest du nicht von Kyo-kuns Schoß runter? So kann er doch gar nichts essen.“ Doch sie schüttelte sacht den Kopf, machte sich etwas kleiner und schien fast in ihn hinein zu kriechen. „Ich denke, ich werde Beides hin kriegen“, sagte Kyo lächelnd und schob sich mit seiner Fracht näher an den Tisch heran. Er hörte mit dem Streicheln auf, um sich die Stäbchen nehmen zu können. „Guten Appetit“, wünschte er noch, dann fing er an zu essen, was ihm die anderen gleich taten. Nach einigen Bissen reichte er etwas an Sae weiter, die aber keine Anstalten machte diesen auch zu sich zu nehmen. „Du musst doch etwas essen. Und sei es nur ein bisschen.“ Wenn man traurig war, dann war einem nicht nach essen, dass wusste er aus Erfahrung, aber nichts zu sich zu nehmen machte es auch nicht besser. „Na komm schon. Deine Mama hat sich so viel Mühe gegeben.“ Was Kyo nicht sah, waren die Blicke von Daisuke und Tomoko, welche bei der letzten Aussage ein wenig rot vor Verlegenheit wurde. Was den Gitarristen wiederum schmunzeln ließ. Kyo wäre ein guter Vater. Sogar ein fast perfekter. Und die Nachbarin schien ähnliche Gedanken zu haben. Sie würde auch viel besser zu ihm passen, als die kleine Sachiko. Die brauchte jemanden, der nicht so in sich gekehrt war, wie sein Freund. Jemanden, der das Leben in vollen Zügen genoss und unternehmungslustig war. Vielleicht auch ein wenig draufgängerischer. „Du musst etwas zu dir nehmen, Schätzchen.“ Mitfühlend legte sie ihre Hand auf einen Oberschenkel ihr Tochter, drückte Trost spendend zu, um ihr zu zeigen, dass sie für sie da war. „Mit knurrendem Magen lässt es sich nicht so gut spielen“, versuchte es Die, aber selbst das funktionierte nicht so gut. Das Mädchen wollte einfach nichts zu sich nehmen. Bevor der Bissen ganz kalt wurde, aß Kyo ihn selbst und auch normal weiter. Man durfte Sae jetzt nicht drängen, denn das würde zu nichts führen. Nach einigen Momenten fanden auch die anderen Beiden ihren Appetit wieder und aßen weiter. „Weißt du Sae“, sagte Kyo zwischen zwei Bissen, „die Traurigkeit wird nicht von alleine weg gehen. Ich weiß das, weil ich das selbst schon erlebt habe. Du kannst immer noch traurig sein nachdem du was gegessen hast. Denn das hilft dir ein wenig mit der Trauer fertig zu werden. Und mit dem hungrigen Magen kannst du dich wirklich nicht so gut aufs Spielen gleich konzentrieren. Außerdem hat sich deinen Mutter wirklich viel Mühe gegeben, als sie dieses leckere Essen gekocht hat.“ Wieder wurde Tomoko ob dieses Kompliments ein wenig rot, was dem Sänger dieses Mal nicht entging und auch ihm ein wenig Farbe ins Gesicht zauberte. Aber es brachte ihn auf eine andere Idee. „Wenn du jetzt nichts isst, dann machst du deine Mutter noch trauriger.“ Erneut hielt er dem Mädchen einen Bissen vor die Nase. Hin und her gerissen sah sie zu dem von den Stäbchen gehaltenen Reis und ihrer Mutter. Ihre Augen wanderten über ihr geschundenes Gesicht und die traurigen Augen. Dann öffnete sie den Mund und nahm den Bissen zu sich, was allen Anwesenden ein Lächeln entlockte. „So ist es gut.“ Und so wechselte er ab bei jedem Happen, ließ sich auch noch eine weitere Portion auf den Teller tun, damit sie beide satt wurden. Es half auch dabei, dass sich die Kleine entspannte und nicht mehr versuchte in Kyo hinein zu krabbeln. Eine halbe Stunde später standen Kyo und Tomoko in der Küche und machten gemeinsam den Abwasch, während Daisuke es sich mit Sae am Tisch gemütlich gemacht hatte und nun mit ihr ein paar der Spiele ausprobierte, die sie in ihrem Rucksack mitgebracht hatte. So konnten beide Parteien ein wenig ungestört sein. Tomoko stand an der Spüle, während Kyo alles abtrocknete und anschließend da hin stellte, wo es hin gehörte. Sie schwiegen, wusste doch keiner, wie das Thema angeschnitten werden sollte, das sie eigentlich bereden wollten. Bis sich Kyo ein Herz fasste. „Wie lange kanntest du sie?“ „Wen?“ „A-“, der Name wollte ihm nicht mehr über die Lippen. Es bestand ein geringes Risiko, dass sie dann wieder kam. Und das war ihm dann zur Zeit doch nicht recht. „Du weißt schon“, wich er dann aus und stellte den getrockneten Teller zur Seite. „Ach so.“ Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Immerhin hatte sie vorhin mit diesem Thema angefangen. „Ich kannte sie etwa zwei Jahre.“ Gewissenhaft kümmerte sie sich um das dreckige Geschirr. „Sie ist, ebenso wie ich, in dieses Milieu hinein gerutscht. Ohne Abschluss. Ohne Arbeit. Ohne Zukunft. Genauso, wie viele andere Menschen. Wir haben... Drogen durch die halbe Stadt geschleppt. Waren Kuriere. Manchmal mussten wir dann auch neue Kunden...'werben'... indem wir...“ Ihr war das Ganze so peinlich. So unangenehm. Noch nie hatte sie so offen mit jemandem über diese Vergangenheit geredet. Seit dem sie sich da raus gekämpft hatte, hatte sie kaum noch soziale Kontakte. Eigentlich gar keine, wenn sie nicht einen kleinen Job als Teilzeit-Verkäuferin in einem Supermarkt um die Ecke gefunden hätte. „Indem ihr die Nummer mit dem Handtaschen-Diebstahl abgezogen habt“, ergänzte Kyo. So viel hatte sie ihm vorhin ja schon erzählt. Und wie der funktionierte brauchte sie auch nicht weiter erklären. Das hatte er am eigenen Leib erfahren. „Es... Es hört sich vielleicht komisch an, aber... sie war irgendwie stolz auf dich. Weil du doch eine Berühmtheit warst... ähm, bist.“ „'War' ist schon die passendere Bezeichnung.“ Denn was war er jetzt schon? Ein gefallener Soldat im Krieg um einen Platz in dem strahlenden, verheißungsvollen Licht, an dem sich schon viele Menschen verbrannt hatten. Weil sie wie Motten unbedingt ganz nah heran fliegen wollten an die Lampe, die Quelle des Leuchtens. Hatte er sich auch verbrannt? Nein, er war einem anderen Gift zum Opfer gefallen, welches ihn schlussendlich zurück auf den Boden geworfen hatte, wo ihn kein Licht mehr erreichen konnte, weil es von all den anderen eifrigen Faltern verdeckt wurde. „Wie...Wie bist du denn da hinein gerutscht?“ „Durch Sae's Vater. Weil ich unsterblich in ihn verliebt war. Ich hab das alles für ihn gemacht.“ Geschockt rutschte Kyo die Schüssel aus der Hand, die er gerade trocknete. Es gab aber nur ein dumpfes Klappern, weil der Gegenstand aus Plastik war. „Dann war der Kerl da eben...? Und er ist im Grunde dafür verantwortlich, dass ich...?“ „Er macht das auch immer noch“, gestand Tomoko und knetete den Spülschwamm erbarmungslos durch. „Es gibt immer noch so viele Menschen, die für ihn arbeiten. Das ist auch der Grund, weshalb ich keinen Unterhalt von ihm will. Ich will dieses dreckige Geld nicht.“ Ein Schluchzer schüttelte ihren Körper. Ja, es war schwer ohne dieses zusätzliche Geld aus zu kommen, doch wurden so viele ins Unglück gestürzt in den Bemühungen es zu bekommen, dass sie es einfach nicht haben wollte. Wegen diesem Geld hatten Menschen wie Ayaka und einigen anderen ihr Leben gelassen. Auch, wenn viele dieser Leben nur noch Scherbenhaufen gewesen waren, so waren sie immer noch wertvoll. Zu wertvoll, um sie wegen etwas wie Geld weg zu werfen. Kyo schlang seine Arme um sie, wollte ihr Trost spenden, halt geben. Er war ihr dankbar dafür, dass sie sich ihm anvertraute. Obwohl das Schicksal wirklich einen makaberen Humor hatte, dass es ihn auf diese Frau treffen ließ. Er murmelte ihr beruhigende Worte ins Ohr, strich ihr über den schmalen Rücken. Nie. Nie durfte er vergessen, wie viele andere Menschen es auf dieser Welt gab, die ebenfalls so viel Schmerz in sich trugen, wie er selbst, wenn nicht sogar mehr. Sein Blick huschte zur geschlossenen Küchentür, hinter der sich Daisuke und Sae befanden. Er durfte nie vergessen, wie vielen Menschen er bereits weh getan hatte. „Darf ich dich noch etwas fragen?“ Seine Stimme war leise, aber kein Flüstern. Er wollte sie zwar nicht stören, aber da waren noch ein paar Sachen, die er wissen wollte. Tomoko nickte und strich sich die Tränen vom Gesicht, während sie sich ein wenig aus der Umarmung löste. „Wie hast du es geschafft von dort weg zu kommen? Das muss doch schwer gewesen sein.“ Immerhin machte sie den Eindruck, als würde sie solche arbeiten nicht mehr machen. Außerdem hatte sie ja von 'früher' geredet. „Ja, das war es. Ich habe ziemlich kämpfen müssen. Im Grunde warst du der Auslöser, weshalb ich mir ernsthafte Gedanken über einen Ausstieg gemacht habe. Nachdem Ayaka-kun tot war, habe ich erkannt, dass das, was ich da tue, nicht das ist, was ich will. Und das mein Geliebter nicht der ist, für den ich ihn immer gehalten hatte. Kein Traumprinz. Kein Fels in der Brandung. Ich bin in ein Amt gegangen und habe mir Hilfe geholt. Habe jahrelang gekämpft, um von all dem weg zu kommen. Bis ich eine kleine Wohnung hatte und mir mein Geld auch mit einem ehrlichen Job verdienen konnte. Ich wollte sogar noch eine Abendschule besuchen, um mir noch einen besseren Schulabschluss zu verdienen. Aber dann bin ich wieder auf ihn getroffen. Reumütig stand er plötzlich vor mir. Erzählte mir all den romantischen Kram, den ich immer von ihm hatte hören wollen.“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Ich dumme Kuh bin auf ihn herein gefallen. Dann bin ich ganz schnell wieder in mein altes Leben abgerutscht. Irgendwann fand ich mich dann an einer Straßenecke wieder. Ein Paket mit Marihuana in der Hand und umgeben von Polizisten.“ Sie warf einen scheuen Blick in Kyos Augen. „Ich hab also eine Vorstrafe wegen Drogenbesitzes. Von einem Richter wurde ich zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilt, obwohl ich ihnen alles gesagt hatte, was ich wusste. Gesungen wie ein Vögelchen, wie man so schön sagt. Während der Zeit hatte ich dann gemerkt, dass ich schwanger bin. Und da war für mich klar: Du musst diesem Kind eine sichere Umgebung schenken. Sae gab mir die Kraft, erneut zu kämpfen. Nur ist es nicht mehr ganz so sicher, seitdem ihr Vater vor etwa anderthalb Jahren wieder entlassen wurde. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber-“ Hier übermannten sie erneut ihre Gefühle, suchte sie die Nähe des Älteren, indem sie sich in seine Arme flüchtete. Auch eine Kämpfernatur hatte Momente, in denen sie Schwäche zeigte und die Stärke eines Anderen benötigte. „Geht es wieder“, erkundigte sich Kyo nach einigen weiteren Minuten, in der er ihr über den Rücken und das lange schwarze, zusammengebundene Haar gestrichen hatte. „Ja“, flüstere sie gegen seine Schulter. Ihre Tränen waren fürs Erste wieder versiegt. Alle in das Shirt des liebevollen Mannes vor ihr geflossen. Sie löste sich wieder ein wenig von ihm, damit sie ihn ansehen konnte. „Arigatou“, hauchte sie, ihre Stimme noch immer gebeutelt von den ganzen Emotionen und den Erinnerungen. „Keine Ursache.“ Kyo lächelte sie an und half ihr dabei, die feuchten Spuren von ihren Wangen zu wischen, wobei ihm wieder einmal auffiel, wie schön sie doch eigentlich war. „Ich bin ab sofort für dich und Sae da, wenn ihr Hilfe braucht.“ Behutsam strich er ihr ein paar Haarsträhnen hinters Ohr, sah ihr dabei tief in die Augen. Plötzlich war alles vergessen, was an diesem Morgen passiert war. Beide waren zu gefangen von ihrem Gegenüber. Langsam und zögerlich näherten sie sich, schlossen mit jedem Stückchen ihre Augen ein bisschen mehr und neigten ihren Kopf ein wenig. Sie wussten, was jetzt kommen würde, aber wehren wollte sich keiner der beiden dagegen. Sie konnten bereits den Atem des anderen spüren und erste kleine Blitze zuckten durch ihren Körper, als sie schon die Lippen des anderen an ihren eigenen erahnen konnten. 'Jetzt oder nie', schoss es Kyo durch den Kopf und er überbrückte den letzten, winzigen Abstand zwischen ihnen. Schüchtern bewegten sie ihre Lippen gegeneinander. Genossen diesen Austausch an Zärtlichkeit. Kapitel 43: Jahrestag --------------------- „Was machen Sie denn hier?“ Erschrocken drehte sich Kyo um. Er war so versunken gewesen da zu stehen und ein Gebet zum Wohle ihrer Seele abzuhalten, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich jemand genähert hatte. Und jetzt stand er diesem Hiroaki wieder gegenüber. Alleine. Dabei hatte er gehofft, dass er ihn und seine Familie verpasste. Aber warum sollte er auch ein Mal Glück haben? „Was machen Sie hier?“, fragte der jüngere Japaner erneut, zischte dabei wie eine Schlange. Sein Gift mindestens so giftig wie eine, weshalb Kyo schon ein wenig Angst hatte, dass er gleich gebissen wurde. Solche Blicke hatte er früher auch gekonnt. Vielleicht nicht ganz so Furcht einflößend -wobei ihre Fans das eh nie als solches empfunden hatten- doch er hatte es gekonnt. Noch letzte Woche hatte er das hier für eine gute Idee gehalten. Sich extra frei genommen, weil er geahnt hatte, dass es an seinen Nerven nagen würde. Nur nicht auf diese Art und Weise. „Nun...“ fing er an, wollte sich rechtfertigen dafür, dass er hier stand und ein Räucherstäbchen an Ayakas Grab entzündet hatte. „Heute ist der -“ „Der Jahrestag. Ganz recht. Und glauben Sie wirklich, dass meine Schwester ausgerechnet Sie heute sehen will?“, schnauzte der Bruder weiter und stampfte immer weiter auf Kyo zu. Dieser Mann machte ihm Angst. Und dieser stechende Blick... 'Eiskalte Augen.' Da war er wieder. Dieser Vergleich, der ihm schon bei seinem letzten Besuch hier aufgefallen war. Zusammen mit diesem kalten Schauer, der seinen Rücken rauf und runter jagte. „Sie haben uns nicht einmal gefragt, ob Sie hier sein dürfen.“ „Ich wollte eigentlich auch schon längst wieder weg sein“, verteidigte sich Kyo kleinlaut. „Vielleicht sollte ich mal einen kleinen Anruf bei der Polizei machen? Und Sie wegen Störung der Totenruhe anzeigen.“ Kyo war geschockt. „Das- Das meinen Sie nicht ernst?“ Er konnte sich keinen Ärger mit der Polizei leisten. Nicht einmal, wenn es falsche Vorwürfe waren. Denn wer sollte ihm auch schon glauben, dass er nichts getan hatte? Das würde seine Bewährung gefährden. Was, wenn er wieder gehen musste? Wieder herausgerissen wurde aus dem Leben, das er jetzt lebte und so lieb gewonnen hatte? Am besten verschwand er von hier. Augenblicklich. „Ogenki de“, verabschiedete er sich und eilte zum Ausgang. Diese Augen... Aus ihnen sprach der Wahnsinn und man hatte das Gefühl, als würde einem das Blut in den Adern gefrieren. Ängstlich warf er einen Blick über die Schulter, traf dabei auf den des anderen Mannes. Und er hatte ein Handy in der Hand. Schnell wandte sich Kyo wieder um und fing an zu rennen. Runter vom Friedhof. Bloß runter von diesem Platz. Erst an der Haltestelle der Straßenbahn hielt er an. Was sollte er jetzt nur tun? Hatte Takeno-kun vielleicht schon die Polizei verständigt? „Bitte nicht“, keuchte er, vom Rennen und der Angst so völlig außer sich. Gab es noch eine Möglichkeit das alles abzuwenden? Den Schaden einzugrenzen? Vielleicht sollte er...? So schnell wie möglich holte er sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke und wählte die Nummer seines Bewährungshelfers. Hoffentlich hatte Kibo-san auch gerade Zeit für ihn. Das Tuten hörte sich unheilvoll an. „Gehen Sie ran. Gehen Sie doch bitte ran.“ Als er die Stimme seines Bewährungshelfers hörte knickten ihm vor Erleichterung die Knie ein. „Kibo-san, hier ist Niimura Tooru.“ „Nii- Ah, natürlich Niimura-san.“ Der Beamte hatte einen Moment gebraucht, bis er den Namen einem Gesicht zuordnen konnte, da er sich gerade mit einem anderen Klienten beschäftigte, den er ab der nächsten Woche betreuen sollte. „Was kann ich für Sie tun?“ Es kam immerhin selten genug vor, dass sich die Menschen, um die er sich kümmerte, freiwillig bei ihm meldeten. „Ich brauche ihre Hilfe“, kam Kyo auch gleich auf den Punkt. „Ich war gerade auf dem Friedhof. Bei dem Grab von Takeno-san.“ Völlig aufgewühlt und zittrig lehnte sich der Schwarzhaarige gegen den Unterstand, suchte mit einer Hand nach Halt, rutschte an der dünnen Plexiglaswand nach unten, als er keinen fand. „Heute jährt sich nämlich ihr Todestag. Da wollte ich einfach nur ein Räucherstäbchen entzünden und-“ „Ich verstehe.“ Dennoch konnte sich Kibo-san keinen Reim darauf machen, weshalb der Ältere anrief. „Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich nichts weiter gemacht habe, als ein Räucherstäbchen zu entzünden und dazustehen.“ Er musste ihm glauben. Und wenn nur er es war. „Das ist ja alles schön und gut, aber warum erzählen Sie mir das?“ Schließlich war das noch lange kein Grund für einen Anruf. Kyo seufzte. „Ihr Bruder ist aufgetaucht. Und... Er hat mir gedroht, bei der Polizei anzurufen und mich anzuzeigen. Wegen Störung der Totenruhe und sowas.“ Es kostete ihn viel Kraft zu erzählen, das Gespräch aufrecht zu erhalten und nicht einfach wieder aufzulegen und nach Hause zu eilen, um sich dort zu verbarrikadieren. „Ich habe die Befürchtung, dass er das auch tun wird. Dieser Mann hasst mich. Was ich verstehen kann, aber-“ Das andere konnte er nicht verstehen. Tat er denn nicht genug, um zu büßen? Reue zu zeigen? Hatte er sich bisher nicht genug Schmerz zugefügt? Ihre Eltern hatten ihm bereits verzeihen können, warum war ihr Bruder also so dermaßen wütend auf ihn? „Ich habe wirklich nichts gemacht. Nur gebetet. Nur gebetet.“ Beteuerte er immer wieder. Er bemerkte bereits, wie seine Sicht schlechter wurde. Doch er wollte jetzt nicht weinen, wenngleich die Angst, die von ihm Besitz ergriffen hatte, ihn dazu verführte. Was, wenn ihm niemand glauben würde? Wenn ein Richter ihn wegen seiner Vorgeschichte abstempelte und seine Bewährung aufhob? Ihm sogar noch eine weitere Haftstrafe aufbrummte deswegen? Das würde alles zerstören. Nicht nur ihn, sondern auch seine Freunde. Sowohl seine Alten, wie auch seine Neuen. Was sich wiederum auf deren Umfeld auswirken würde. All die zarten Bande, die er aufgebaut hatte, würden wieder zerreißen. Denn sie waren wie Spinnenfäden. Sie hielten Wind und Wetter stand, aber wenn man sie mit den Fingern berührte zerfiel das ganze Netz. Und die Verbindung, die er mit seinen engsten Freunden hatte? Mit Daisuke, Kaoru, Toshimasa und Shinya? Sie waren stark, wie Schiffsseile. Über Jahre hinweg hatten sie ihn fest gehalten. Selbst als er weggesperrt gewesen war. Aber auch sie waren nicht immun gegen all die Strapazen. In letzter Zeit hatten sie so viel an Belastung aushalten müssen. Wenn er ein weiteres Mal fort gehen musste, wäre dieser Sturm dann so stark, dass sie ihn nicht mehr am sicheren Steg des Lebens halten, sondern zerreißen würden? Wenn das passierte und er wie ein unbemanntes Schiff hinaus auf die tosende, windgepeitschte See getragen wurde, dann war er dem Untergang geweiht. „Nur gebetet“, flüsterte Kyo jetzt nur noch. Kibo-san wusste nicht, was er sagen sollte. Er glaubte dem, was ihm gerade erzählt worden war, konnte aber nicht fassen, warum ein Mensch etwas derartiges tun sollte. Gut, es gab viele Menschen, denen er einige Dinge nicht zutrauen würde, aber die Ordner, die sich hier in seinem Büro sammelten, die Strafgefangenen, mit denen er tagtäglich zu tun hatten, belehrten ihn immer wieder eines Besseren. Doch das hier war wirklich jenseits von dem, was er sich hätte ausmalen können. Warum sollte man seinem Klienten etwas derartiges zur Last legen, obwohl er doch nichts getan hatte? Er glaubte an den guten Kern in diesem Mann. Nach all den Gesprächen mit ihm und dem was er über ihn gelesen hatte, da war es einfach nicht möglich, dass er ein Grab schänden würde. Nein, er schätzte den älteren Mann als jemanden ein, der sich eher beide Hände abhacken würde, ehe er etwas tat, was er später bereuen könnte. „Ich glaube Ihnen, Niimura-san“, sagte er schließlich, hörte er doch die Verzweiflung in der Stimme des Anrufers. „Und wenn mir eine Beschwerde dieser Art vorgelegt werden sollte, dann werde ich gleich dagegen vorgehen. Das verspreche ich Ihnen.“ Dass sein Bewährungshelfer ihm glaubte, schwächte seine Verzweiflung bereits ein wenig. „Domo Arigatô“, war alles, was er darauf sagen konnte. Damit beendete er das Telefonat und hob seinen Blick. Eine Straßenbahn näherte sich. Kyo las die Anzeige vorne an der Lok. Sie fuhr in den Bereich Tokyos, in dem Kaoru sein Büro hatte. Sollte er ihn besuchen und hiervon erzählen? Er konnte aber auch auf die nächste Bahn warten, die ihn nach Hause brachte. Aber was sollte er da? Sich wieder einschließen und seinen Freunden erst Recht Sorgen bereiten? Also erhob er sich und löste noch schnell ein Ticket am Automaten, als der Zug auch schon hielt. Wie üblich fand sich kein freier Platz, weshalb er sich in den Eingangsbereich stellte. Seine Augen richteten sich auf die vorbeihuschende Umgebung außerhalb der Bahn, aber gedanklich war er ganz woanders. Wie brachte er Kaoru und den Anderen bei, dass seine Freiheit auf dem Spiel stand? Wo er doch selbst nicht einmal wirklich verstand, warum. War es denn so verwerflich gewesen, dass er ohne Ankündigung zum Friedhof gegangen war? Hätte er vorher vielleicht wirklich wieder anfragen sollen? Er hatte doch gar nicht lange bleiben wollen. Nur eben ein kleines Gebet und ihrer Gedenken wollen. Dann wäre er auch schon wieder verschwunden gewesen. Gerade jetzt, wo er ein weiteres Stück Glück -er hatte immer die berühmten Schmetterlinge im Bauch, wenn er seiner Nachbarin begegnete- gefunden hatte, musste ihm irgendwer oder was dazwischen pfuschen. Was kam denn noch? Dass jeder Mensch mal Höhen und dann wieder Tiefen hatte, war ihm bewusst. Und dass sich auch jeder von ihnen in einem Tief fragte: Warum eigentlich immer ich? Aber es war genau diese Frage, die er sich selbst gerade stellte. Er liebte den Gedanken wieder ein Mensch zu sein. Leben, Lachen und auch ein bisschen Lieben zu können. Zeit mit den Jungs zu verbringen. In ihrem Proberaum zu sitzen und ihrer gemeinsamen Leidenschaft nachgehen zu können. Im Laden von Daisuke und Toshiya zu arbeiten und sich über völlig belanglose Dinge mit seinen Kollegen zu unterhalten. In seinem Wohnzimmer vor der Fensterfront zu stehen und die letzten Strahlen der Sonne auf der Haut zu genießen. Das wollte er nicht wieder verlieren. Etwa zehn Minuten später war er an seiner Haltestelle angekommen. Er verließ die Bahn und ging zu Fuß weiter. Das sparte Geld, zögerte das Treffen aber auch hinaus, das ihn erwartete. Und die ganze Zeit saß ihm die Angst im Nacken. Hatte Takeno-san wirklich die Polizei angerufen? Waren sie bereits auf der Suche nach ihm? Panisch sah er sich nach allen Seiten um, um sicherzugehen, dass dem nicht so war. Sie sollten warten, bis er mit Kaoru gesprochen hatte. Mit einem mulmigen Gefühl betrat er den Gebäudekomplex, in dem ihr Lead-Gitarrist arbeitete. Einigermaßen zielsicher ging er zur Rezeption. „Guten Tag“, begrüßte er die junge Dame hinter dem Tresen. „Schönen guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie mit einem strahlenden Lächeln, dass einen fast blenden konnte. „Ich würde gerne zu Niikura Kaoru-san“, antwortete er, fing an von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Haben Sie einen Termin?“ „Nein, habe ich nicht. Wenn Sie so freundlich wären und ihn dennoch anrufen könnten? Sagen Sie einfach Kyo wäre hier.“ Da musste Kaoru ihn doch schon fast persönlich holen. „Einen Moment bitte“, vertröstete sie ihn und rief Kaorus Sekretärin an, teilte ihr mit, dass jemand ihren Chef sprechen wollte. Sie erzählte ihr noch, wer hier unten wartete. Etwa eine Minute später hatte sie ihre Antwort legte auf und wandte sich wieder an Kyo. „Niikura-san erwartet Sie.“ „Domô“, murmelte er der Frau zu, eilte dann zu den Fahrstühlen. Vor wenigen Minuten hätte er sich zwar noch am Liebsten in seine eigenen vier Wände zurück gezogen, aber nun brauchte er nichts mehr, als einen Freund um sich. Angespannt und nervös sprang er in den nächsten Aufzug und betätigte die Taste für das gewünschte Stockwerk. Und während der Fahrstuhl sich von einem Stockwerk ins nächste schleppte, überlegte Kyo sich schon einmal, wie er Kaoru am besten erzählen sollte, was ihn so sehr beschäftigte. Warum er unangemeldet hier erschien. Doch es fielen ihm keine passenden Worte ein. Hoffentlich taten sie das, wenn er gleich im Büro seines Freundes saß. Seine Augen klebten an der Anzeige mit den Stockwerken. Hin und wieder stiegen Leute ein und auch wieder aus, aber das bemerkte er nur am Rande. Er war ein nervöses Wrack. Was ihn wieder zu seinem Vergleich von vorhin mit den Stricken führte. Ja, er war ein Wrack. Ein rostiges, altes Wrack, das kurz davor war zu sinken. Aber er klammerte sich an die Seile, die ihn noch an diese Welt banden. Auf Kaorus Etage angelangt flüchtete er regelrecht aus dem Aufzug. Jetzt musste er nur noch... dort entlang. Einige Meter vor sich erkannte er auch schon Kaorus Sekretärin. Eine Frau, er schätzte sie auf Ende zwanzig, der die rotbraunen, großen Locken weit über den Rücken fielen. Die funkelnden, blauen Augen der Europäerin richteten sich auf ihn, als er an ihren Tisch trat. „Kyo-san, nicht wahr?“ „Hai, watashi wa Kyo desu.“ „Einen Moment, ich kündige Sie an“, erklärte sie ihm mit einem Lächeln, betätigte einen Knopf, der sie telefonisch mit Kaoru verband. „Niikura-san, ihr angekündigter Besuch ist hier. Ja, ich schicke ihn sofort hinein.“ Sie nahm den Finger wieder von dem Knopf, dann wandte sie sich wieder lächelnd an Kyo. „Sie können jetzt reingehen.“ „Danke.“ Sofort ging er auf die Bürotür zu, ließ das Klopfen aus, trat direkt ein. Kaoru zu sehen, wie er da hinter seinem hochmodernen Schreibtisch in seinem schicken, schwarzen Bürostuhl saß, eine schwarz umrandete Brille trug und ein Jackett, der etwas feineren Sorte, war für den Sänger immer noch ein sehr ungewohnter Anblick, aber einer, der in ihm gerade alle Mauern nieder riss. Was nicht zuletzt daran lag, dass der Gitarrist ihm ein erfreutes Grinsen schenkte, immerhin kam es ja nur selten vor, dass ihn einer seiner Freunde hier aufsuchte und er es immer schön fand einen von ihnen zu sehen. Er schloss die Tür, lehnte sich daran und sah den langjährigen Freund mit einem Blick an, der so traurig, so entschuldigend war, dass der Ältere gar nicht anders konnte, als besorgt aufzuspringen und auf ihn zu zu eilen. „Was ist passiert?“ „Es tut mir Leid, Kaoru. Ich weiß nicht wie, aber ich habe es verbockt. Sie werden mich holen kommen und dann ist es vorbei.“ „Kyo, was redest du da? Was hast du verbockt? Wer kommt dich holen und warum?“ Völlig verwirrt ergriff Kaoru den Freund an den Oberarmen. So zittrig wie dieser war, hatte er Angst, dass er ihm jeden Augenblick zusammen brechen würde. „Was ist passiert?“, fragte er erneut, in der Hoffnung dieses Mal eine vernünftige Antworte zu erhalten. Doch nachdem Kyo es lediglich schaffte einige Male nach Luft zu schnappen, sich aber kein Wort über seine Lippen traute, lockerte er seinen Griff wieder, legte seine Hände nun auf die Schultern seines Gegenübers und dirigierte ihn zu dem größten der Sofas in seinem Büro. In seinem Kopf ratterte es eifrig. So aufgelöst und fertig hatte er den Kleineren schon eine sehr lange Zeit nicht mehr gesehen. Es musste also etwas schreckliches passiert sein. Und so, wie er Kyos Leben derzeit einschätzte, hatte es etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. „Möchtest du etwas trinken?“ Manchmal bewirkte so ein Schluck Wasser wahre Wunder. Aber Kyo schüttelte den Kopf, stützte diesen gleich darauf in seinen Händen ab. „Ich will nicht wieder zurück ins Gefängnis. Ich will da nicht wieder hin“, schluchzte er, kämpfte immer noch gegen die Tränen an. „Das musst du doch auch gar nicht. Du erfüllst doch alle Auflagen deiner Bewährung. Da gibt es doch gar keinen Grund dafür, dass man dich wieder in eines steckt.“ „Aber wenn ihnen jemand einen Grund gibt?“ Kyo sah auf und in das Gesicht des Älteren. Mittlerweile war bereits die ein oder andere Träne über seine Wangen geflossen. Für einen langen Moment herrschte völlige Regungslosigkeit in der Mimik des Gitarristen und Produzenten, dann blinzelte er einige Male und Verwirrung, gemischt mit Angst war zu erkennen. „Was ist geschehen?“ Kaoru wollte sich kein Urteil bilden, ehe er die Geschichte kannte, die hinter all dem steckte. Natürlich hielt er Kyo nicht für so blöd etwas zu tun, was seine Freiheit gefährden würde, aber man hatte ihm das Andere auch nicht zugetraut. „Ich schwöre dir, dass ich nichts getan habe, aber... aber...“ Wo sollte er nur anfangen? Wie sollte er anfangen? Wo er doch selbst noch immer nicht verstand, was da eigentlich ab ging. „Ich war bei ihrem Grab“, begann er schließlich, bemühte sich um kurze, einfache Sätze, damit er seine Stimme in den Pausen dazwischen immer wieder unter Kontrolle bekommen konnte. „Es ist der Jahrestag. Da wollte ich ihr die Ehre erweisen. Du weißt schon. Ein Gebet sprechen und so. Dann ist ihr Bruder plötzlich da gewesen. Er hat mich angeschrien. Mich beschimpft. Und am Ende damit gedroht, die Polizei zu rufen. Ihnen zu erzählen, dass ich... dass ich-“ Dahin war die Kontrolle. Die Angst war zu groß. „Ich habe nichts getan. Ich bin unschuldig.“ Immer wieder sagte er diese beiden Sätze. Er wusste, dass sie wahr waren, aber wer noch? Würde die Welt da draußen ihm glauben? Würde Kaoru ihm glauben? „Womit hat er dir gedroht?“ Kaoru wurde wütend. Dieser Kerl entwickelte sich wirklich zu einem Problem. Er hätte es ahnen müssen, nachdem was damals im Krankenhaus war. Ganz zu schweigen von der Nummer im Gerichtssaal. Er musste jedoch von Kyo wissen, womit ihm gedroht worden war. Sonst war er machtlos. „Mir kannst du es sagen“, versicherte er und strich dem Anderen über den Rücken. „Ich glaube dir, wenn du mir sagst, dass du nichts getan hast.“ Hoffnungsvoll sah Kyo wieder auf. „Wirklich?“ „Wirklich. Und jetzt sag mir, womit er dir gedroht hat.“ Kyo holte tief Luft: „Dass ich ihr Grab geschändet hätte.“ Er ließ diese Nachricht einen Moment wirken, dann fuhr er fort: „Ich bin dann so schnell wie möglich gegangen, aber als ich mich noch ein Mal umdrehte, da hatte er sein Handy in der Hand und es sah aus, als würde er wählen.“ Das brachte Kaoru erst Mal zum Schlucken. Bis jetzt war das ganze nur eine Drohung gewesen, aber das hörte sich gerade an, als wäre es auch in die Tat umgesetzt worden. Jedenfalls würde es erklären, warum der Jüngere so aufgelöst war. „Aber du weißt nicht, ob er das auch wirklich getan hat, oder?“ Denn da bestand immer noch ein himmelweiter Unterschied, zwischen er hat und er hat nicht. „Nein, das weiß ich nicht. Doch irgendetwas in mir drin sagt mir, dass er es tun würde oder bereits getan hat. Und wenn er das hat, dann ist alles wieder vorbei. Alles wieder zunichte, was ich gerade wiedererlangt hatte. Aber ich will dieses Leben nicht wieder her geben. Nicht jetzt, wo ich doch anfange es wieder zu genießen. Mir ein normales Leben zuzugestehen.“ „Vielleicht solltest du deinen Bewährungshelfer anrufen und ihn darauf vorbereiten. Wenn du ihm versicherst, dass du-?“ „Das habe ich schon. Gleich, nachdem ich vom Friedhof runter war, habe ich Kibo-san angerufen.“ „Und?“ „Er hat gesagt, dass er mir glaubt und dass er mir helfen wird, diese Vorwürfe zunichte zu machen, sollte es so weit kommen.“ „Das ist doch gut, oder nicht?“ „Schon. Aber diese Angst in mir...Ich weiß, dass das, was ich getan habe, nicht richtig war. Dass ich ihm und seiner Familie etwas sehr grausames angetan habe. Aber warum will er mir das antun?“ „Das weiß ich nicht, Kyo.“ Beruhigend strich der Gitarrist dem anderen auch weiterhin über den Rücken. Er verstand dessen Angst. Konnte aber auch nicht verstehen, warum man seinem Freund so etwas vorwerfen wollte. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch in ihrer Freundschaft und seinen Glauben an ihren Sänger bestätigt. Dass Kyo sich nicht wieder verkrochen, sondern den Kontakt zu einem von ihnen gesucht hatte, war ein gutes Zeichen. Dass Kyo nur deshalb bei ihm saß, weil sein Büro nicht allzu weit vom Friedhof entfernt war, war ihm zwar auch bewusst, aber es störte ihn nicht. „Mach dich nicht so verrückt, Kyo. So lange du noch nichts gehört hast, ist das ein gutes Zeichen. Findest du nicht?“ In dem Moment klingelte Kyos Handy. Der Schwarzhaarige musste schlucken, holte dann das Gerät aus seiner Jackentasche. Der Name auf dem Display ließ jegliche Farbe aus seinem Gesicht weichen: Kibo-san. Kapitel 44: Die Realität ist ein Komplex aus Wahrheiten ------------------------------------------------------- Kyos Hände zitterten so sehr, dass ihm sein Telefon aus der Hand rutschte. Kurz bevor es auf dem Boden landete, hatte Kaoru jedoch reagiert und es ergriffen. Während das kleine Ding weiter vor sich hin dudelte, warf er einen Blick zu seinem Freund, aber der schien unfähig überhaupt irgendetwas zu tun. Da dies jedoch ein wichtiger Anruf war, sollte ihn jemand entgegen nehmen. Was wohl an ihm hängen blieb. „Ganz ruhig, Kyo“, flüsterte er dem Mann neben sich zu. „Es wird alles wieder gut.“ Zumindest hoffte er das. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann hob er ab. „Niikura Kaoru am Apparat.“ „Niikura? Oh, dann werde ich mich verwählt haben.“ „Nein, haben sie nicht. Niimura-san sitzt neben mir. Er ist nur... gerade nicht in der Lage selbst ans Telefon zu gehen.“ Der Blick des Gitarristen wurde immer besorgter, während er den Jüngeren betrachtete. Kalkweiß, apathisches, ängstliches Starren und kalter Schweiß auf der Stirn. Die Hände krallten sich fest in den Stoff der Hose, die Knöchel fast ebenso weiß wie das Gesicht. Es würde ihn nicht wundern, wenn Kyo gleich ohnmächtig werden würde. Gut, dass sie schon saßen. „Ich bin auch soweit im Bilde.“ „Dann wissen Sie also von dem Vorfall“, murmelte Kibo-san. Der Fall ging ihm ein wenig an seine, normalerweise sehr starken Nerven. „Nun, dann kann ich es auch Ihnen erzählen. Also. Ich habe vor einigen Minuten einen Anruf von der Polizei bekommen. Es liegt tatsächlich eine Beschwerde vor.“ Kaoru musste sich zusammen reißen, damit er nicht anfing zu fluchen. Außerdem bekam er es auch langsam mit der Angst zu tun. Der Jüngere durfte nicht wieder fort gehen. Er musste und sollte bei ihnen bleiben. „Es soll auch Beweise geben, die diese Beschwerde untermauern. Wenn die echt sind, dann wird es zur Anzeige kommen.“ „Wie bitte? Beweise?“ „Genaueres ist mir auch noch nicht bekannt. Aber ich bin auf dem Weg zum... nun, Tatort, um mir selbst einen Eindruck von allem zu verschaffen. Vielleicht kann man das alles noch abwenden. Ich melde mich dann wieder, sobald ich was neues weiß.“ „Danke.“ Das Gespräch wurde beendet und Kaoru legte das Handy auf den Tisch. Kyo steckte bis zum Hals in der sprichwörtlichen Scheiße. Wie sollte er dem Anderen erklären, was er gerade erfahren hatte? „Er hat es getan, oder?“, hörte er seinen Freund flüstern. Traurig sah er zu ihm, bemerkte, dass diesem Tränen in den Augen standen. „Hai.“ Mehr brauchte es nicht, damit die ersten Tropfen über Kyos Wangen flossen. „Ich will nicht wieder ins Gefängnis.“ „Das musst du auch nicht.“ Tröstend legte der Gitarrist seine Arme um den Kleineren, drückte ihn an sich. „Wir werden deine Unschuld beweisen und dann musst du nicht weg von hier.“ Kurz nach dem Telefonat erreichte Kibo-san den Parkplatz des Friedhofes, wo sich schon etliche Streifenwagen tummelten. Die Angelegenheit schien ernster als ernst zu sein. Er fragte sich zum leitenden Ermittler durch, der ihn bereits erwartete. „Sind Sie Kibo-san?“ Der Bewährungshelfer nickte und trat näher heran, bereute es aber sogleich wieder. Der Grabstein von Takeno-san war richtig verunstaltet. Farbe, die aussah als wäre sie direkt aus ihrem Behälter gekommen und gegen das massive Element geklatscht. Auf dem Boden verstreut einige Brocken Stein, die farblich mit dem Denkmal überein stimmten und nach einem weiteren Blick seinerseits war dem auch so, denn er sah die zerfurchte Stelle von der sie stammten. „Was ist hier nur passiert?“ Die Frage war nicht laut, wurde aber von Mori Hibari, dem leitenden Ermittler, gehört. „Ich finde, es ist mehr als offensichtlich. Wobei mich neben dem 'Wer' eigentlich mehr das 'Warum' interessiert.“ Nachdem sich Kibo-san wieder gesammelt hatte, das plötzliche auftauchen hatte ihn ziemlich erschreckt, konzentrierte er sich wieder auf das hier und jetzt. „Dann ist für sie die Frage nach dem Täter auch noch nicht geklärt?“ Das gab ihm Hoffnung. Denn er sträubte sich immer noch dagegen, dass sein Schützling dies getan haben sollte. „Nun, bis jetzt haben wir lediglich das, was wir hier vor uns sehen und die Aussage von Takeno-san. Wir fanden zwar eine Farbdose und einen Hammer, die offensichtlich für die Tat verwendet wurden, aber ich werde erst das Ergebnis der Spurensuche abwarten.“ Der Bewährungshelfer war erleichtert, dass ein Mann wie Herr Mori die Ermittlungen leitete. Er hatte sich noch kein Urteil gebildet und betrachtete den Fall objektiv. Wenn die Beweise allerdings zeigten, dass es wirklich Niimura-san gewesen war, dann nützte auch alle Objektivität der Welt nichts mehr. Gleichzeitig würde er dann aber auch das Vertrauen in seine Menschenkenntnis verlieren. „Haben Sie mit dem Verdächtigen irgendwie Kontakt aufgenommen?“, wurde er gefragt. „Um genau zu sein, hatte er mich kontaktiert.“ „Erklärung bitte.“ Interessiert holte der Kommissar einen Notizblock samt Stift aus der Innentasche seines langen, schwarzen Mantels, sah dann abwartend mit seinen grau-braunen Augen zu dem Bewährungshelfer. Bereit alles niederzuschreiben, was er jetzt hören würde. Kibo-san seufzte erneut, dann fing er an, das Geschehene zu schildern: „Das war vor etwa einer halben Stunde. Ich saß in meinem Büro, als ich einen Anruf von Niimura-san erhielt. Völlig aufgeregt und aufgelöst erzählte er mir, dass er hier auf dem Friedhof war. Anlässlich des sich jährenden Todestages von Fräulein Takeno hier.“ Er machte eine Kopfbewegung Richtung Grab. „Er beteuerte mir, dass er lediglich davor gestanden hatte, als der Bruder der Verstorbenen aufgetaucht sei.“ Seinem Gesicht war anzusehen, dass auch er allmählich eine Abneigung gegen jenen entwickelte, dabei kannte er den Mann nur flüchtig. „Aus heiterem Himmel soll er dann mit dieser Anzeige gedroht haben. Mir gegenüber hat Niimura-san mehrfach beteuert, dass er unschuldig sei. Das er nichts getan hätte. Und ich glaube ihm. Sie hätten ihn hören müssen. Dieser Mann war so völlig verzweifelt wegen des Gedankens, dass man ihn für schuldig halten könnte. Und ich glaube ihm. In all den Gesprächen, die wir hatten, hatte ich das Gefühl, dass es für ihn ein unglaubliches Glück ist wieder am normalen Leben teil zu haben.“ Fleißig hatte der Polizeibeamte alles mitgeschrieben, was für ihn relevant erschien. „Wenn ich das also mal zusammen fassen darf: Er hat Sie angerufen, noch bevor Sie von der Beschwerde erfuhren, um Ihnen seine Sicht der Dinge zu erzählen?“ „Ganz recht.“ „Hm“, machte Mori-san und überflog erneut das von ihm Aufgeschriebene. „Die Geschichte würde ich selbst gerne noch einmal von dem Verdächtigen erfahren. Wissen Sie zufällig wo er sich derzeit aufhält?“ „Bei einem Freund seinerseits. Ich kann ihn ja anrufen und-“ „Damit er gewarnt ist und fliehen kann?“ „So einer ist er nicht“, verteidigte der Hellbraune seinen Klienten lautstark. „Mit Sicherheit wird er sogar freiwillig zum Revier fahren, um seine Sicht der Dinge zu schildern.“ Dessen war er überzeugt, weshalb er auch ein bisschen stolz wurde und sich ein wenig aufplusterte. Mit einem herausfordernden Grinsen sah der Ermittler zu dem etwas jüngeren Mann. „Ich würde gerne sehen, ob sich diese Aussage bewahrheitet.“ Der Schwarzhaarige konnte es sich nicht erklären, aber irgendwie bereitete es ihm schon ein wenig Vergnügen den Anderen dezent zu ärgern. „Ich bin telefonieren“, knurrte Kibo-san und entfernte sich einige Schritte vom Tatort. Dem Kommissar entfloh derweil ein leises Seufzen. Bis jetzt war der Tathergang sehr offensichtlich gewesen. Aber für seinen Geschmack zu offensichtlich. Vor allem, nachdem er sich angehört hatte, was Takeno-san gesehen haben wollte. Das, was ihm der Hellbraune eben erzählt hatte, verstärkte dieses Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte nur noch. Und obwohl er ein sehr rationaler Mensch war, hatte er im Laufe seiner Karriere doch gelernt auf diese Signale zu hören, die ihn noch nie im Stich gelassen hatten. „Kommissar Mori“, holte ihn ein Kollege aus der Grübelei. „Wir haben eine weitere Zeugin gefunden.“ „Wie?“ Kurz schilderte der etwas jüngere Beamte, was die Zeugin gesehen haben wollte. „So so. Na, dass will ich mir doch noch mal genauer von ihr anhören.“ Derweil wählte Kibo-san erneut die Nummer seines Klienten, um ihn dazu zu bringen zum Revier zu kommen. Wenn er nämlich freiwillig kam, würde das ein gutes Licht auf ihn werfen. Doch es meldete sich wieder nicht der von ihm gewünschte Gesprächspartner. Stattdessen hatte erneut Kaoru abgehoben. „Tut mir Leid“, beteuerte er auch gleich, nachdem er den Anruf entgegen genommen hatte. „Ich versuche nur gerade ihn wieder zu beruhigen.“ War schon ein kleineres Wunder, dass Kyo die Tasse Tee halten konnte, ohne dass er die Hälfte davon durch zittern verschüttete. „Ich will es jetzt nicht wieder schlimmer machen.“ „Natürlich. Das kann ich nur zu gut verstehen. Wie dem auch sei, ich bin gerade hier auf dem Friedhof und hatte ein Gespräch mit dem leitenden Ermittler. Er würde gerne mit Niimura-san persönlich reden.“ „Das sollte gehen“, murmelte der Gitarrist und sah wieder einmal besorgt zu dem etwas jüngeren Freund. „Wie schlimm sieht es aus?“, wechselte er das Thema, wollte auf dem Laufenden sein, damit er Kyo unterstützen konnte. „Ich will ehrlich sein: Rosig ist anders. Jedoch kann sich auch noch alles zum Guten wenden, sofern Niimura-san wirklich unschuldig ist. Und daran habe ich keine Zweifel.“ Sagte er, aber nach dem, was er gesehen hatte, waren da doch welche. Nur kleine, aber da waren welche. „Verstanden.“ Ein leichtes Lächeln schaffte es auf Kaorus Lippen. Sie würden der Welt schon klar machen, dass Kyo nichts getan hatte. Denn er war fest davon überzeugt, dass sich der Andere nichts hatte zu Schulden kommen lassen. „Für dieses Gespräch... Kann ich mit Kyo zum Revier kommen?“ Es war nicht so, dass er das unbedingt wollte, schließlich würde sich der Sänger bestimmt wohler fühlen, wenn er in einer etwas vertrauteren Umgebung saß. Aber er wollte auch nicht, dass irgendwelche Gerüchte aufkamen, weil die Polizei in sein Büro kam. Außerdem: Er würde, so lange es ging, nicht von Kyos Seite weichen, damit dieser merkte, dass er Hilfe hatte und nicht allein war. Ein wenig verlegen kratzte sich Nobu-san am Hinterkopf. „Eigentlich hatte ich genau deswegen angerufen.“ Sie vereinbarten sich innerhalb der nächsten 20 Minuten vor dem Präsidium zu treffen, dann beendeten sie das Telefonat. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Und ne kleine Kommentarantworte-Minute hier unten :) : Willkommen bei den Kommentatoren^^ Schön mal ein neues Gesicht zu sehen. Ich weiß, dass die Stelle fies war. Aber so sind Autoren nun einmal... Außerdem brauchte ich noch Material für dieses Kapitel hier.. Deswegen die Unterbrechung. Ich hoffe doch, dass mit den Tränen geht inzwischen wieder Ó.Ò nicht mehr weinen, ja? Auch wenn ich mich freue, dass ich mit meiner Schreiberei solch starke Emotionen bei einem Leser hervorrufen konnte. : Danke für das Feedback. Dein verbaler Arschtritt letztens scheint also gewirkt zu haben ^^ Es kommt jetzt in den weiteren Kapiteln auch noch ein bisschen was an Überraschungen. Muss mir das nur zurecht legen und sinnvoll anordnen im Kopf und dann dafür sorgen, dass meine Figuren sich nicht so selbstständig machen, dass sie dem ganzen entgegen arbeiten :P Bin immer dankbar, wenn ich noch mehr Eindrücke darüber bekomme, was euch gefällt, warum ihr weiterhin mitlest und wie es euch beim Lesen ergangen ist ;) Und nun: Weil es mal wieder ein bisschen wärmer ist: Ich hab euch Wasser in den Pool eingelassen und Getränke kalt gestellt. Schönen Sonntag noch. Cookie Kapitel 45: Wenn sich die Dinge überschlagen -------------------------------------------- Wie Kaoru die Stille doch hasste. Gerade, wenn sie von Kyo ausging. Zum Glück hatte er seine Mimik nicht mehr so unter Kontrolle wie früher, sodass man leichter aus ihr lesen konnte. Und das, was er sah, ließ ihn laut aufseufzen. Aber es war nachvollziehbar. „Wir sind gleich da. Dann erzählst du ihnen einfach, was passiert ist. Und die angeblichen Beweise können dir bestimmt nichts anhaben. Alles wird sich klären und du brauchst nichts zu befürchten“, redete er auf den Kleineren ein, erhielt aber keine Reaktion. „Alles wird wieder gut.“ Manchmal wurden Dinge wahr, nur weil man sie sich lange genug einredete. „Wir -und vor allem du- haben doch schon mehr als genug durchgemacht. Das hier überstehen wir auch noch. Im Vergleich zu all dem anderen Mist ist das hier doch eine Kleinigkeit.“ Das rief dann doch eine Reaktion in Form eines ironischen Auflachens hervor. „Für dich ist es vielleicht eine Kleinigkeit, aber diese Kleinigkeit ist dabei mein Leben zu ruinieren!“ Unkontrolliert begann sein ganzer Körper zu zittern, seine Hände krallten sich wieder in seine Hose und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Fratze. „Mein Leben. Meine Freiheit steht auf dem Spiel. Du bist nur so unbekümmert, weil du keine Ahnung davon hast, was ich schon hinter mir habe! Weil du keine Ahnung hast, was da auf mich zukommen kann! Weil du keine Ahnung hast, wie es ist auf einen Schlag alles, aber auch wirklich alles zu verlieren!“ Verzweifelt presste Kyo die Hände vors Gesicht, verdeckte so die tränenfeuchten Augen. „Du weißt nicht, wie es ist plötzlich nichts mehr zu haben, niemand mehr zu sein. Und auch keine Chancen mehr zu haben wieder ein Jemand zu werden.“ Schluchzen erfüllte das Wageninnere. „Du weißt nichts von dem Gefühl ein 'Nichts' zu sein. Du weißt nicht, wie es ist sich wertlos zu fühlen. Gar nichts weißt du.“ Sie würden ihm nicht glauben. Würden ihn von vornherein als 'schuldig' abstempeln. Da würde er sagen und beteuern können, so viel er wollte. Und die Beweise? Ja, er wusste, dass sie ihn nicht belasten konnte, aber man würde es so auslegen, nur um ihn wieder weg zu sperren. Damit er niemanden mehr belästigen konnte mit seiner Anwesenheit. Wegen ihm war in den Laden seiner Freunde eingebrochen worden. Man hatte sie alle schief angesehen, nachdem bekannt wurde, dass sie sich mit einem Mörder abgaben. Nobu hatte er solch einen Kummer bereitet, dass dieser geweint hatte. Er war kein Freund, er war eine Last für alle anderen. Schuldbewusst biss sich Kaoru auf die Unterlippe. Er hatte von diesen Gefühlen wirklich keine Ahnung. Sie hatten sich damals darauf vorbereiten können, dass sich ihr bisheriges Leben ändern und sie dementsprechend nach Alternativen suchen mussten. Auch keine einfache Aufgabe gewesen, etwas Geliebtes beiseite zu legen und etwas anderes zu tun, aber jeder von ihnen hatte seinen Wert gekannt. Sie hatten alle gewusst, dass sie gut in ihrem Bereich waren und in einer anderen Band spielen konnten, wenn sie wollten und alles andere nicht wollte. Und ganz hatten sie das Geliebte, hatten sie Dir en Grey, ja nie sterben lassen. Er wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen, aber der Gitarrist wusste, dass es das auch nicht besser machen würde. Sie parkten auf der dafür vorgesehenen Fläche vor dem Präsidium, konnten bereits von hier aus Kibo-san erspähen, der vor der Tür auf sie wartete. Aus dem Handschuhfach kramte Kaoru eine Packung Taschentücher hervor und hielt sie Kyo entgegen. „Wir können auch noch einen Moment warten, wenn du das möchtest.“ Dann hatte der Jüngere die Möglichkeit sich zu beruhigen und ein wenig die Spuren der Tränen zu vertuschen. „Nein“, widersprach dieser jedoch und schüttelte leicht den Kopf. „Warum warten? Warum weglaufen vor dem Unvermeidlichen? Das macht keinen Sinn.“ Die Beifahrertür öffnete sich und schon war Kyo weg. Schnell sprang Kaoru auf, eilte hinter dem Sänger her, ließ noch im Laufen per Knopfdruck den Wagen verriegeln. „Warte doch auf mich. Wie soll ich dir denn zur Seite stehen, wenn du mir davon läufst?“ „Gewöhn dich besser an den Gedanken, dass ich bald wieder weg bin. Denn das wird schneller wieder so sein, als du willst.“ „Ach Quatsch. Du hast doch selbst gesagt, dass du nichts getan hast. Also ist dem auch so. Du wirst nicht wieder fortgerissen.“ „In was für einer Traumwelt lebst du eigentlich?“ Kyo war stehen geblieben und sah Kaoru an, der innerlich zusammenzuckte. Da war sie wieder. Die kalte Maske, die so frei von jeglichen Emotionen war, dass man nicht verhindern konnte, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Wie meinst du das?“ „Ich bin ein verurteilter Schwerverbrecher. Sowas will niemand in seiner Stadt frei rumlaufend haben. Sie haben Beweise? Pah, fingiertes Zeug mit dem Zweck mich wieder da hin zu bringen, wo ich hin gehöre: In den Knast.“ Seine Stimme hatte sich der Maske angepasst: Kalt, emotionslos, sachlich. Nur die geröteten Augen zeugten noch von der Trauer, der Verzweiflung und dem Schmerz über den möglichen Verlust, den der Kleinere vorhin noch gespürt haben musste. Kyo hatte sich in sich selbst zurück gezogen, um diesen Gefühlen zu entkommen. Um all die wirren Gedanken erträglicher zu machen. Aber es schmerzte den Gitarristen den anderen so zu sehen. Und es machte ihn wütend. Unsagbar wütend. „Ich lebe also in einer Traumwelt, ja? Und dass du dir hier schon das Ende, in allen apokalyptischen Facetten ausmalst, ist keine Träumerei?“, brüllte er seinen Freund an. „Es steht doch noch gar nicht fest, dass du gehen musst und du setzt in Gedanken schon ein Kündigungsschreiben an dein Leben auf! Wer von uns beiden ist also der Fantast? Sei doch einmal ein Realist und warte ab, was auf dich zu kommt, anstatt ein Pessimist zu sein und von Anfang an zu sagen: Das hat keinen Sinn.“ Energisch trat er an den Jüngeren heran, der an seiner Haltung allerdings nichts änderte. Nicht einmal, als ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Und das mit den gefälschten Beweisen glaubst du doch wohl selbst nicht“, zischte er. „Du hast gesagt, du bist unschuldig. Hast mir unter Tränen beteuert, dass du nichts getan hast. Und nun? Glaubst du etwa selbst nicht mehr daran? Wenn sie dir etwas zur Last legen, werden die mich kennen lernen. Dann werde ich dafür sorgen, dass sich das jemand ansieht, der Objektiv ist.“ „Auch du bist nicht allmächtig, Kaoru. Wenn die mich loswerden wollen, dann werden die einen Weg finden.“ Noch immer war Kyos Stimme frei von jeder Emotion, sein Gesicht neutral und seine Augen ohne Hoffnung. „Aber nur, wenn du sie lässt“, knurrte der Ältere. Wenn Kyo mit der Haltung und der Ausstrahlung da rein ging, dann würde ihm doch niemand glauben. Einem Impuls nachgebend griff er nach dem linken Ohr des Anderen und zog ihn hinter sich her, ignorierte die Blicke der Menschen um sie herum und das schmerzverzerrte Jammern neben sich und ging geradewegs auf Kibo-san zu, der seinen Augen kaum traute. „Da sind wir. Wo muss er“, ein weiterer Zug am Ohr, „hin?“ „Eto.. e-er muss...“ Mehrmals blinzelte der Hellbraune, musste gerade sein Gedankenchaos sortieren. „Folgen Sie mir bitte.“ Er drehte sich um und ging, gefolgt von seinem Klienten und dessen Begleitung hoch in den zweiten Stock, wo sie bereits von Kommissar Mori erwartet wurden. Bei dem die gleiche Reaktion auftrat, wir kurz zuvor bei dem Bewährungshelfer. Sah man aber auch nicht jeden Tag, wie ein erwachsener Mann an seinem Ohr durch die Gegend geschleift wurde. „Wer von Ihnen ist Niimura-san?“ „Er hier“, knurrte Kaoru und zog den Gesuchten vor sich. Skeptisch sah der Beamte von einem zum Anderen. Was ging hier vor? Konnte er ja gleich erfragen, wenn er mit dem Verdächtigen alleine sprach. „Nun, Niimura-san. Wenn Sie mir dann bitte folgen würden. Ich möchte nur gerne von Ihnen hören, was da vorhin auf dem Friedhof geschehen ist und Ihnen ein paar Fragen dazu stellen.“ „Ano...“ „Ja?“ „Kann Niikura-san mitkommen? Ich-“ Kyo haderte mit sich selbst. Sollte er vor diesem Fremden zugeben, dass er in der letzten Stunde psychisch ein wenig labil war? Dass er gerade jemanden brauchte, der dafür sorgte, dass er nicht wieder in ein tiefes, schwarzes Loch sank? „Tut mir Leid, aber ich würde das Gespräch wirklich lieber unter vier Augen führen wollen.“ Ein Seufzen verließ Kaorus Kehle, dann legte er dem Freund vor sich beruhigend eine Hand auf die Schulter, als er merkte, wie dieser wieder deprimiert in sich selbst zusammen fiel. „Ich bin immer in der Nähe.“ „Kommen Sie“, forderte der Kommissar erneut auf. Kyo nickte, folgte dann dem Beamten. Dabei brauchte er den Gitarristen wirklich an seiner Seite, denn wenn dieser ihm nicht gerade ins Gewissen redete, entglitt ihm sein Blick für die Realität, dann wurde er gefressen von seiner Angst. Nach einem scheuen Blick in den Raum, in den er gebracht wurde, musste er seufzen. Ein typischer Verhörraum, wie man ihn aus unzähligen Krimis kannte. Karg, grau, mit sterilen Möbeln aus Metall und Plastik, die alles andere als einladend wirkten. Nicht zu vergessen den großen Spiegel an der einen Wand. Als ob es noch jemanden in dieser Welt gab, der nicht wüsste, wozu der gedacht war. „Setzen Sie sich bitte“, wurde Kyo gebeten, worauf er auf dem Stuhl gegenüber des Spiegels Platz nahm. Einen kurzen Blick warf er hinein, aber sein eigenes Abbild widerte ihn gerade zu sehr an. „Nun“, sagte der Jüngere im Raum und setzte sich Kyo gegenüber, stellte ein Diktiergerät zwischen sie, welches er auch gleich aktivierte. Kurz überprüfte er die Personalien seines Verdächtigen, dann forderte er ihn auf zu erzählen, was seine Ansicht der Geschichte war. Kyo musste sich zusammenreißen, um seinen Blick von den auf dem Tisch liegenden Händen zu lösen und dem Beamten zuzuwenden. Es kam immer besser, wenn man den direkten Blickkontakt zu seinem Gesprächspartner suchte. Das machte einen Glaubwürdiger. Hatte er irgendwann mal gehört. So erzählte er in den nächsten Minuten, was geschehen war und vor allem: Dass mit der Grabstelle noch alles in Ordnung war, als er ging. „Ich schwöre Ihnen: Ich habe nichts Unrechtes getan an Takeno Ayakas Grabstelle.“ „Warum hat uns dann der Bruder der Verstorbenen angerufen? Warum haben wir dann dieses“, er legte Kyo ein Foto vor die Nase, „Chaos vorgefunden? Und was soll das mit der Drohung von der Sie erzählt haben?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht, wer das hier getan hat. Ich weiß nur, dass mich der Bruder hasst, weil ich seine Schwester getötet habe.“ „Wollen Sie damit sagen, dass er es war? Dass er das Grab seiner eigenen Schwester so verunstaltet hat?“ „Nein!“, protestierte Kyo sofort. Natürlich hatte er diesen Gedanken schon ganz leise im Hinterkopf selbst gehabt, aber ihn als schwachsinnig verworfen. Wer wäre denn schon so gefühlskalt die Gedenkstätte eines Familienmitgliedes zu schänden? „Nein, dass will ich nicht sagen. Ohne Begründung würde ich niemandem eine Straftat vorwerfen.“ Das kleine Aufnahmegerät wurde ausgeschaltet, eher der Ermittler die nächste Frage stellte. „Würden Sie es ihm zutrauen?“ „Nani?“ Was war denn das für eine Frage? „Die Frage meinte ich ernst. Und wir sind doch unter uns. Da können Sie ruhig ehrlich antworten.“ Kyo warf dem Spiegel hinter dem Polizisten ein misstrauischen Blick zu: „Ja klar. Unter uns.“ Mori-san erhob sich und verließ den Raum, dann wurde der Spiegel plötzlich durchsichtig und Kyo hatte die Möglichkeit in den kleinen Raum dahinter zu schauen. Da war wirklich niemand. Nur der Beamte selbst. Wenige Augenblicke später war dieser auch schon wieder bei seinem Verdächtigen, setzte sich auf den Platz von eben. „Wie gesagt: Unter uns. Also? Trauen Sie Takeno-san zu, das Grab seiner eigenen Schwester geschändet zu haben, nur um Ihnen etwas anzuhängen?“ Wie gerne würde Kyo seine Antwort hinaus brüllen? Dem Jungspund vor sich entgegen schreien, dass er das tat. Dass er dem Hass, den der Bruder empfand zutraute, diesen zu solchen Taten zu bringen. „Nun sagen Sie schon. Ich versichere Ihnen auch, dass ich es niemandem sagen werde.“ Noch immer haderte der Sänger mit sich selbst. Würde er es zugeben, dann käme das einem Vorwurf gleich. Und er wollte niemanden anklagen. Mehrere Minuten des Schweigens vergingen, bis sich Kyo zu einer Antwort durchgerungen hatte. Zwar kaute er sich immer noch auf der Unterlippe herum, aber er sah dem jüngeren Mann fest in die Augen. „Ja. Ja, ich traue ihm das zu.“ Der Beamte sammelte seine Sachen zusammen. „Danke für Ihre Ehrlichkeit.“ Er erhob sich und ging zur Tür. „Wenn Sie bitte noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen würden. Ich habe noch einige Telefonate zu führen.“ Verstehend nickte Kyo, stand auf und folgte dem Polizisten bis zur Tür, wo ihn ein anderer Beamter in Empfang nahm und ihn zu einer Art Wartebereich führte. Aber er konnte weder Kaoru, noch seinen Bewährungshelfer entdecken. Dafür allerdings den Bruder. Und der einzige freie Platz war auch noch genau neben diesem. Mit stechendem Blick wurde er verfolgt. Kalte Augen. Über seinen ganzen Körper lief eine Gänsehaut. Gab es nicht noch irgendwo einen anderen Ort, an dem er warten konnte? Er nahm auch gerne wieder im Verhörraum Platz. Nur widerwillig ließ er sich auf dem Stuhl nieder, hatte das Gefühl immer weiter in sich zusammen zu sinken, unter dem grausamen Blick des jüngeren Mannes. Wo war denn nur Kaoru? Hatte er ihm vorhin nicht versprochen, da zu sein, wenn er ihn brauchte? „Ich kriege Sie schon wieder hinter Gittern“, flüsterte ihm eine hasserfüllte Stimme plötzlich ins Ohr. „Egal, was ich dafür tun muss.“ „Hören Sie auf.“ Das wollte er nicht hören. Nicht von diesem Mann. „Nein. Erst wenn Sie wieder da sind, wo ich Sie hin haben will. Aber Sie können sich auch wahlweise gerne selbst töten.“ „Warum? Warum wollen Sie mich los werden?“ Noch immer wagte Kyo es nicht aufzusehen, starrte stattdessen ängstlich auf den Boden zu seinen Füßen. „Dadurch, dass Sie meine Schwester getötet haben, haben Sie mir mein Leben zerstört.“ Hatte er nicht das ihrer ganzen Familie zerstört? Warum nahm er das dann so persönlich? Das geringschätzende, tonlose, eisige Auflachen des Anderen so nahe an seinem Ohr ließ ihn zusammenzucken und sich versteifen. „Wissen Sie eigentlich was die größte Ironie an dem Mord an meiner Schwester ist?“ Zaghaft schüttelte Kyo den Kopf. Was für eine Ironie denn schon? Dass er immer über Gewalt und Tod gesungen hatte, weil ihn diese Dinge an der Welt störten? Und letztendlich nicht besser war? „Sie haben sie mit der Buddhastatue erschlagen zu der Ayaka jeden Tag für ein besseres Leben gebetet hat.“ Kapitel 46: Wendungen --------------------- Buddhastatue? Was für eine Buddhastatue? Völlig verwirrt sah Kyo endlich auf und richtete seine Augen auf seinen Sitznachbarn, der ihn nur höhnisch angrinste. „Was... für eine Statue?“ „Die Bronzefigur, mit der sie meine Schwester getötet haben. Sie hat die Figur aus dem Haus unserer Eltern mitgenommen, als sie zu Besuch kam. Das war etwa ein Jahr vor ihrem Tod. Sie wollte meine Eltern um Hilfe bitten. Sie sollten sie da raus holen.“ Sein Grinsen wurde zu dem eines Wahnsinnigen, seine Augen ebenfalls und machte dem Sänger noch mehr Angst, als er ohnehin schon hatte. „Zu dumm, dass nur ich da war. Und ich ihr nicht helfen wollte.“ Kyo fühlte, wie sich seine Gedanken allmählich in einen Strudel aus wirren Fragen verwandelten, auf die er keine Antworten hatte. Zudem war ihm, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegreißen und ihn in diesen Strudel hinein werfen, wo all die Fragen auf ihn einschlugen und danach lechzten und verlangten von ihrer Existenz befreit zu werden. Wenn er Ayaka-san damals nicht hatte helfen wollen, warum spielte er hier dann den rachsüchtigen Bruder, der seine geliebte Schwester verloren hatte? „Oh, diese Verwirrung auf ihrem Gesicht ist wirklich eine Wohltat“, flüsterte Takeno-kun hämisch. „Aber ich werde mich hüten, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Das würde mir nämlich den ganzen Spaß verderben.“ „Sie sind doch krank“, brachte der Älter mit zittriger Stimme hervor. Es kostete viel Kraft sich nicht auf den anderen Mann zu stürzen und ihm einen ordentlichen Schlag ins Gesicht zu verpassen. War wurde denn noch von ihm verlangt? Er bereute doch. Hatte gesessen für seine Tat. Das hieß aber noch lange nicht, dass er sich solche Psychospiele gefallen lassen musste. Kyo sprang auf. Er musste jetzt Kaoru finden. Damit dieser wieder sagen konnte, dass alles gut werden würde. Damit er ihn aus diesem Strudel, der ihn zu ertränken versuchte, retten konnte. Nochmals sah er den Bruder an. Verständnislos und abgestoßen. „Sie sind krank“, wiederholte er, ehe er sich abwandte und sich aufmachte den Wartebereich zu verlassen. Irgendwo in diesem Gebäude musste Kaoru doch sein. Aber er kam nicht weit. Nach zwei Schritten stand eine junge Beamtin vor ihm, die sowohl ihn, als auch Takeno-san darum bat ihr zu folgen. Sie führte die beiden Männer zu Kommissar Moris Büro, wo dieser bereits zusammen mit Kibo-san und Kaoru auf sie wartete. „Setzen sie sich doch bitte.“ Während der Bruder der Aufforderung nachkam, lehnte Kyo ab. Im Moment wollte er lieber stehen, als ein weiteres Mal neben dieser kranken Person zu sitzen. Sein Kopf schwirrte noch immer von all den Fragen, die der Andere mit dem Gesagten aufgeworfen hatte. „Nun gut“,meinte Mori-san, der zwar ein wenig erstaunt darüber war, sich aber auch nicht weiter daran störte. „Kommen wir nun zu der Anzeige.“ Er öffnete eine Akte, die er zu diesem Fall angelegt hatte und nahm einen Zettel daraus an sich, den er seinen beiden Verdächtigen zugewandt auf den Tisch legte. „Dies hier ist die schriftliche Aussage einer Zeugin, die Sie, Niimura-san, völlig entlastet. Daher werde ich die Anzeige als nichtig erklären.“ Ein Glück, dass Kaoru noch immer so gute Reflexe hatte, denn sonst hätte Kyo Bekanntschaft mit dem Fußboden gemacht, so erleichtert war er über diese Neuigkeit. Jemand hatte sie gesehen. Und hatte sich die Mühe gemacht dies der Polizei zu erzählen. Er musste also nicht wieder gehen. Konnte hier bleiben. Hier, bei den Menschen, die ihn liebten. „Was Sie angeht, Takeno-san“, wandte sich der Ermittler an der eben diesen, „so habe ich mir erlaubt eine Anzeige gegen Sie zu stellen. Wegen Schändung eines Grabes, Irreführung der Polizei und wie es mir scheint, haben Sie noch ein paar interessante Details zu einem anderen Fall.“ Er tätigte ein paar Klicks mit seiner Computermaus und drehte dann den Monitor zu den anderen Anwesenden herum. Zu sehen war der Wartebereich von vor wenigen Minuten und dazu wurde eine Tondatei abgespielt, die das Gespräch wiedergab, welches sie eben noch geführt hatten. „Sehen Sie den Mann, der da hinter ihnen sitzt und betont gelangweilt durch die Gegend schaut?“, fragte er die beiden Neuankömmlinge. „Das ist einer unserer Beamten, den wir mit einem Mikrofon ausgestattet haben. Nachdem ich die Zeugenaussage gehört und diese sich mit dem widersprochen hatte, was Sie ausgesagt haben, Takeno-san, hatte ich instinktiv das Bedürfnis mir ein Gespräch zwischen ihnen beiden anzuhören. Außerdem habe ich das Ergebnis der Spurensicherung erhalten. Man fand einen Teilabdruck. Von ihnen, Takeno-san.“ „Unmöglich“, brauste dieser auf. „Ich habe doch Handschuhe-“ Siegessicher stand Mori-san auf und ging um den Tisch herum. „Anscheinend haben Sie die Dose aber mal berührt, als sie keine getragen haben. Hiermit verhafte ich Sie, Takeno Hiroaki, wegen der eben genannten Vergehen. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.“ Und während er noch den Rest des Textes herunter ratterte, fing Kyo erst richtig an zu begreifen, was hier gerade geschah. Dieser Mann hatte wirklich die Ruhestätte seiner eigenen Schwester mutwillig zerstört, nur um ihn in Bedrängnis zu bringen. „Das ist alles Ihre Schuld“, schrie der Bruder mittlerweile und wehrte sich gegen den eisernen Griff des Beamten. „Warum sind Sie auch nicht wieder in den Knast gegangen, nachdem ich diese kleinen Mistbälger dazu angestiftet habe, dem Laden Ihrer Freunde einen Besuch abzustatten? Eigentlich hätten Sie förmlich darum betteln müssen, wieder zurück gehen zu dürfen. So labil, wie Sie sind, hätte das doch reichen müssen!“ Derweil hatte es Mori-san geschafft, den Verhafteten aus seinem Büro zu zerren und an ein paar Kollegen zu überreichen, die diesen fürs Erste in eine Zelle brachten. „Dann war er das also doch“, murmelte Kyo, der kalkweiß in Kaorus Armen hing und auf einen willkürlichen Punkt im Raum starrte. Seine Finger bohrten sich tief in das Fleisch seines Freundes. „Der Laden... der Spruch... er hat...“ Wie hatten Die und Toshiya ihm nur jemals verzeihen können? Wie hatten sie ihm verzeihen können, dass ihnen nur wegen seiner Anwesenheit so viel Schaden zugefügt worden war? „Ganz ruhig, Kyo. Ganz ruhig. Es ist doch schon wieder alles in Ordnung. Das ist Monate her. Man sieht doch gar nichts mehr davon.“ Kaoru konnte ein Seufzen nicht verhindern. Das heute war wirklich ein Tag, der mehr an seinen Nerven zerrte, als andere. Wie das bei Kyo war mochte er sich gar nicht vorstellen. „Ganz ruhig. Denk lieber daran, dass du auch weiterhin bei uns bleiben darfst. Dass du nicht alles aufgeben musst. Ist das nicht ein schöner Gedanke? Hm? Sag schon.“ In der Zwischenzeit hatte sich Kommissar Mori zu Kibo-san gestellt, dabei die beiden Männer vor sich nicht aus den Augen gelassen. „Können Sie mir vielleicht sagen“, flüsterte er, „worum es da gerade geht?“ Der Hellbraune seufzte und erklärte in einigen Sätzen, das Wenige, was er wusste. „Für Details werden Sie wohl einen Blick in die dazu gehörige Akte werfen müssen.“ „Ja, das werde ich wohl.“ Mit ein wenig Erleichterung stellte er fest, dass Kyo ein wenig mehr Farbe ins Gesicht bekommen hatte. Dieser Mann erregte schon so etwas wie Mitleid in ihm. Zwar kannte er dessen Geschichte nur im Groben, hatte sich auf dem Weg zum Tatort und durch Kibo-san über ihn informiert, aber eines merkte er nur zu deutlich: Das war kein skrupelloser Mörder. Kein Mensch ohne Sinn für Anstand und Moral. Noch nie war ihm jemand untergekommen, der sich nach all den Ereignissen so dermaßen selbst zu hassen schien, wie er sich ans Leben klammerte. „Ich will nach Hause, Kaoru.“ Kyo wollte seine Ruhe, um über alles nachdenken zu können. Damit er seine Gedanken ordnen, eventuell sogar aufschreiben konnte. Das half. Das hatte es immer. „Bitte. Bring mich nach Hause.“ Denn alleine würde er es gerade nicht einmal schaffen aufzustehen. Geschweige denn, den Weg Heim finden. „Natürlich, Kyo“, versicherte ihm der Ältere, sah aber vorsorglich zu dem Kommissar. „Wir werden hier doch nicht mehr gebraucht, oder?“ „Nein, fürs Erste nicht. Aber ich werde natürlich auf Sie zurück kommen, wenn ich noch Fragen habe.“ „Versteht sich von selbst.“ Mit Kyo, der sich immer noch an seine Arme klammerte, stand der Gitarrist wieder auf, verabschiedete sich von den beiden anderen Männern, bei denen er sich auch noch wegen ihr Hilfe bedankte. „Hatte ich es dir nicht gesagt? Alles wird wieder gut.“ Aber der Jüngere sprang nicht auf die Versuche ein Gespräch in Gang zu setzen an. Zum Glück kannte Kaoru derartiges Verhalten bereits von ihm. Die Frage war nur: Konnte er ihn in diesem Zustand alleine lassen? Denn so ungern er es auch tat, aber er musste ins Büro zurück, Termine einhalten. Ob sich Daisuke oder Toshiya von ihrem Laden trennen konnten? Würde er telefonisch anfragen, sobald er ihren Sänger sicher in dessen vier Wänden abgesetzt hatte. Es wäre ja schon ausreichend, wenn sie sich in eine Ecke setzten, eine Tasse Tee trinken und hin und wieder ein Auge auf ihr Sorgenkind warfen. Nach einer kurzen Fahrt standen sie auch schon vor dem Wolkenkratzer, in dem der Sänger wohnte. „Na komm. Wir sind bei dir“, sagte Kaoru, als der andere keine Anstalten machte sich von seinem Platz zu erheben, als er selbst schon lange ausgestiegen und um den Wagen herum gegangen war. „Na los, Kyo. Steig aus.“ Zu viele Gedanken, die in seinem Kopf kreisten und ihn alles andere ausblenden ließen. Seufzend löste der Gitarrist den Gurt und zog den Freund aus seinem Gefährt heraus, um ihn anschließend nach oben zu bringen. „Du kannst einem wirklich Kopfschmerzen bereiten weißt du das?“ Doch noch immer schien er keinen Drang zu sprechen zu haben. „Kannst du denn wenigstens schon mal deinen Wohnungsschlüssel hervorholen?“, fragte er dann noch, als sie im Fahrstuhl auf dem Weg nach oben waren. Ewig lange wollte er dann auch nicht vor einer verschlossenen Tür stehen. Geschweige denn selbst nach den Schlüsseln in den Taschen seines Freundes suchen. Jedoch schien diese Frage es durch das Gedankenchaos hindurch geschafft zu haben. Immerhin griff jener in seine Jackentasche, aus der er seinen Schlüsselbund zog und dem Größeren hin hielt, welcher ihn sogleich entgegen nahm. Auf der entsprechenden Etage angelangt ging Kaoru voraus, um die Tür aufzuschließen. Doch kaum war die Tür geöffnet kam ein kleines Mädchen auf ihn zu gerannt, stoppte aber mit großen Augen zwei Meter vor ihm. „Du bist nicht Onkel Kyo“, kam es skeptisch von ihr. Sie richtete ihren Blick auf den zweiten Mann, der eintrat. „Du bist Onkel Kyo.“ Stürmisch rannte sie auf genau diesen zu und klammerte sich an dessen Bein. „Sae?“ Kyo kämpfte sichtlich mit seiner Verwirrung, aber die Erkenntnis, dass hier wirklich die Tochter seiner Nachbarin an ihm hing, schob all die anderen konfusen Gedanken bei Seite. „Stimmt ja. Du und deine Mutter haben hier auf mich gewartet.“ Nach dem Ereignis hatte er das völlig verdrängt. Tomoko hatte heute ebenfalls einen freien Tag und hatte ihm vorgeschlagen diesen soweit gemeinsam zu verbringen. Diese stieß in diesem Moment zu ihnen. „Wo warst du denn Kyo-kun? Oh.“ Sie begrüßte Kaoru und stellte sich ihm vor, da sie ihm noch nicht persönlich begegnet war. „Wir haben mit dem Essen auf dich gewartet“, wandte sie sich wieder an den Sänger. „Und ich hab großen Hunger“, meldete sich das kleine Anhängsel. „Du wolltest doch nur ganz kurz weg sein.“ „Tut mir Leid, Sae. Da ist etwas... dazwischen gekommen. Darum war ich so lange weg.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu der Frau vor ihm. Einen, der ihr zeigte, dass dieses Etwas negativ war. „Ich bring dann mal das Essen auf den Tisch. Möchten Sie mit uns Essen Niikura-san?“ „Ich würde sehr gerne, aber ich muss leider wieder zurück ins Büro. Aber vielen Dank für das Angebot“, lehnte er ab und wandte sich wieder zum Gehen um, übergab dabei seinem jüngeren Freund dessen Schlüssel. „Ich melde mich nachher bei dir, okay?“ „Okay.“ Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, entledigte sich Kyo seiner Jacken und seinen Schuhen. „Wollen wir beide den Tisch decken, Sae?“ Eifrig nickte die Kleine. „Gut, dann geh doch schon mal vor, ich komme gleich nach.“ Kyo sah ihr hinterher, wie sie Richtung Küche flitzte, dann wandte er sich an Tomoko, die er erst mal fest in die Arme schloss. „Das war ein grauenvoller Tag.“ Mitfühlend erwiderte sie die Umarmung, hauchte einen schüchternen Kuss auf Kyos Wange, strich ihm beruhigend über den Rücken. „Lass uns erst mal Essen, dann erzählst du mir, was passiert ist, ja?“ „Ja.“ Vielleicht konnte sie ihm ja helfen das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Zu ihr hatte er einfach diese besondere Beziehung. Diese besondere Vertrautheit. Das gab ihm ein gutes Gefühl. „Danke.“ „Wofür?“ „Dafür, dass hier bist.“ Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, ehe er die Frau in seinen Armen küsste. In dem Moment kam Sae wieder. „Iiih. Was macht ihr denn da?“ Sofort stoben die beiden auseinander und sahen verlegen in jede Richtung, nur nicht in die, in der der Andere war. „Habt ihr euch geküsst?“, fragte sie und sah mit ihren großen, neugierigen Augen von einem Erwachsenen zum anderen. Dann ging sie auf Kyo zu, verlangte, von ihm auf den Arm genommen zu werden. Er tat ihr den Gefallen und bekam von ihr ebenfalls einen kleinen Kuss auf die Lippen. „Ich hab dich lieb, Onkel Kyo.“ „Danke Kleines.“ „Wirst du denn jetzt mein neuer Papa?“ Eine Frage, die sehr überraschend kam und die beiden Erwachsenen völlig überrumpelte. „Eto... das... Wir wollten den Tisch decken, richtig?“ Damit brauste er, Sae immer noch auf dem Arm tragen Richtung Küche davon, warf Tomoko einen entschuldigenden Blick zu. Er wollte, nein, konnte ihr die Frage nicht beantworten. Nicht eindeutig. Dabei konnte er nicht leugnen, dass er es gerne wäre. Doch wollte Tomoko das auch? Sie küssten sich zwar und ihnen war die Anwesenheit des Anderen nicht unangenehm, im Gegenteil, aber bis jetzt hatten sie nie darüber gesprochen, was für eine Art von Beziehung das zwischen ihnen war. Das würde er aber so bald wie möglich nachholen. Kapitel 47: Gewinn und Verlust ------------------------------ Auf dem Weg zur Arbeit hatte Kyo darüber nachgedacht, ob er Die und Toshiya von dem gestrigen Tag erzählen sollte oder nicht? Würde er es tun, würden sie sich nur noch nachträglich Sorgen machen. Vermutlich würden sie ihm dann demnächst nur noch frei geben, wenn er ihnen wirklich einen detaillierten Plan darüber gab, wann er was machen wollte und wo er sich entsprechend aufhalten würde. Aber vielleicht hatte Kaoru die beiden gestern bereits angerufen und ihnen alles gesagt, was es über den gestrigen Tag zu wissen gab. Argh, diese konfusen Gedanken zogen ihn schon wieder runter. Er würde ja gleich an der Stimmung sehen, was der Fall war. Beim Mitarbeitereingang angekommen steckte er seine Chipkarte in den Schlitz der Sicherheitsanlage und tippte seine dazugehörige Nummer ein, woraufhin ihm geöffnet wurde. „Tag, Kyo-kun. Auch eine Tasse?“, wurde er von Haraide gefragt, der sich gerade einen Kaffee eingoss. „Guten Morgen“, erwiderte er den Gruß. „Gerne. Wenn du schon so fragst.“ So weit, so gut. Stillschweigend hängte er seine Jacke über eine Stuhllehne, legte dann all seine Wertsachen in eines der kleinen Schließfächer, die sie seit dem Einbruch hatten, und nahm dankend die dampfende Tasse Kaffee entgegen. „Erzähl. Wie war dein freier Tag?“ „Anders als geplant.“ Und damit bezog er sich nicht nur auf diesen dämlichen Zwischenfall auf dem Friedhof, sondern auf den, der geschehen war, weil Tomoko und Sae über Nacht geblieben war. Sae hatte natürlich im Gästezimmer geschlafen. Ihre Mutter... sagen wir mal, es war ein schönes Ende, für einen schrecklichen Tag. „Was war denn geplant?“ Allmählich wurde sein Kollege neugierig. Zumal der Ältere plötzlich sehr durstig war und die Kaffeetasse nicht wieder vorm Gesicht wegnehmen wollte. „Komm, du kannst mich nicht erst neugierig machen und dann einfach nichts mehr sagen. Ich kann auch Nobu herholen, wenn dir das lieber ist.“ „Nein!“ Ihr Flummi wurde ihn für den Rest des Tages verfolgen und nicht locker lassen. Zwar war heute Mittwoch und der Jüngste unter seinen Kollegen musste heute gar nicht arbeiten, aber für Tratsch würde er es glatt bringen her zu kommen. „Ach komm. Mir kannst du es erzählen.“ „Was erzählen?“ Mit neugierigen Augen sah Die, der gerade zur Tür hereinkam von Einem zum Anderen. Nachdem er die beiden Männer begrüßt und sich ebenfalls seiner Sachen entledigt hatte, gesellte er sich zu seinen Angestellten und blickte noch einmal fragend in die Runde. Aber die Art, wie sein Blick an Kyo hängen blieb, wie er ihm einen sorgenvollen Blick zuwarf, verriet ihm, dass er gleich noch mehr zu erzählen hatte, als jetzt. Aber da er keine Lust hatte Haraide mit seinem grausamen Leben zu belasten beließ er es bei: „Dass ich gestern Nacht mit meiner Nachbarin geschlafen habe.“ Eigentlich war das ein Thema über das er, Seltsamerweise und im Vergleich zu anderen Männer, nie gerne geredet hatte. Es ging nur ihn etwas an und basta. Jedoch funktionierte es gerade wunderbar als Ablenkung vom Wesentlichen. Breit grinsend schlug Haraide ihm freundschaftlich auf die Schulter: „Gratuliere.“ Daisuke dagegen sah ein wenig skeptisch drein. Nicht, dass er was dagegen gehabt hätte, dass ihr Sänger seiner Nachbarin näher kam, fand er doch, dass sie ihm gut tat. Allerdings war er sich nicht sicher, ob das gerade nicht eine Lüge gewesen war, um von etwas Anderem abzulenken. „Haraide? Schließt du schon mal auf? Ich brauche jetzt erst noch einen Kaffee, bevor ich hier auch nur einen Handschlag mache“, grinste Die in bester Manier, damit der Jüngere nicht merkte, dass es sich dabei nur um einen Vorwand handelte, um mit Kyo einen Moment alleine zu sprechen. „Geht klar.“ Und keine fünf Sekunden später waren die beiden Männer allein. Missmutig seufzend ließ sich Kyo auf dem ihm am nächsten stehenden Stuhl nieder, sah vorwurfsvoll zu dem Gitarristen. „Darf ich Kaoru in Zukunft Tratschtante nennen?“ „Wenn du meinst, dass dir das bekommt, wenn du es in seiner Gegenwart sagst“, erwidert der Größe schulterzuckend, setzte sich ebenfalls. Mit ernster Miene studierte er die seines Gegenübers. Dann erschien ein trauriges Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich bin froh, dass du dich gestern gleich an jemanden gewandt und dich nicht wieder abgekapselt hast.“ „Ich ebenso. Nicht auszudenken, wie das ausgegangen wäre, wenn ich es nicht getan hätte.“ „Aber warum bist du denn wieder alleine los gezogen?“ „Ich wollte da eben kein großes Ding draus machen. Nur kurz hin, ihr die Ehre erweisen und dann wieder gehen. Das ist doch eine Sache von höchstens fünf Minuten, hatte ich gedacht. Und ganz im Ernst: Wer rechnet denn auch schon mit sowas.“ Das brachte den Älteren dazu den Kopf zu schütteln und einmal trocken aufzulachen. „Dass du nach allem, was dir passiert ist, immer noch so denken kannst.“ Mit einem Seufzen und einem schief gelegtem Kopf sah er Kyo an. „Wäre ich an deiner Stelle, dann wäre ich wohl schon längst Pessimist geworden. Und zwar einer von der übelsten Sorte.“ „Deswegen die Songtexte. Damit mir genau das nicht passiert. Um den ganzen Pessimismus aus mir heraus zu holen, damit er mein Leben nicht beeinflusst. Damit ich mir auch morgen noch etwas vornehmen und sagen kann: Was soll mir schon passieren? Außerdem hatte ich doch auch schon ein paar schöne Tage, seit ich wieder aus dem Gefängnis bin. Und ich glaube fest daran, dass das Leben noch mehr solcher Tage für mich hat.“ Ja, diese Art zu denken half ihm wirklich dabei morgens die Decke beiseite zu schieben und den Tag zu beginnen. „Und das wegen gestern: Hey, ist gut ausgegangen. Kein Grund sich da noch weiter Gedanken drüber zu machen.“ Was aber nicht für ihn galt. Er fragte sich immer noch, warum Takeno-kun diese Figur erwähnt hatte. Dafür musste es doch einen Grund geben. Der Jüngere wusste etwas, dass sonst niemand wusste und verschwieg es. Das hatte er im Gefühl. Vielleicht machte er sich aber auch nur selbst verrückt. Niemand konnte ihm sagen, wie viel da wirklich noch hinter steckte. Doch, das was da noch sein könnte... Was sollte es schon bringen, es zu erfahren? Egal was es war. Geschehenes konnte nicht ungeschehen gemacht werden und es würde sein Leben nicht nachträglich ändern. Er sollte sich wohl doch an seinen eigenen Rat halten und sich ebenfalls keine Gedanken mehr über das Vergangene machen. Daisuke, der gemerkt hatte, dass der andere in seine Gedankengänge vertieft war, war aufgestanden, um sich ebenfalls etwas von dem frisch aufgebrühten Kaffee einzugießen. In den nächsten Minuten trafen dann auch noch Toshiya, Rika und Keisuke auftauchten, war die Truppe für den heutigen Tag komplett. Es war ein ruhiger Tag, wie so oft. Am Vormittag trieben sich Mitglieder von Bands herum. Von den bekannteren dieser Zeit, bis hin zu denen, die sich erst noch einen Namen machen wollten, aber schon eine kleinere Fanbase auf ihrer Seite hatten. Und seien wir doch mal ehrlich: Die meisten Anhänger der jeweiligen Musiker waren noch schulpflichtig und deshalb unter der Woche eher selten morgens um 10 in einem Geschäft anzutreffen. So konnten in aller Ruhe Instrumente ausgetestet werden, die einem ins Auge gefallen waren. Dazu auch noch in aller Ruhe fachsimpeln mit einem der Angestellten. Wobei Kyo sich da meistens von fern hielt. Er hatte nur Ahnung vom Singen. Von seiner Art zu singen. Zudem hatte er sich das Schreiben von Texten selbst beigebracht. Da gab es auch nicht so etwas wie eine Anleitung. Das konnte man nicht unterrichten. Er konnte den Leuten eigentlich nur zeigen, wo sie was fanden. Bei den Instrumenten verwies er immer noch lieber an einen der Anderen, einfach, weil sie über das tiefere Wachwissen verfügten. So ein bisschen was hatte er zwar von ihnen gelernt, gerade damals zu den aktiven Zeiten von Dir en Grey von seinen Freunden und Bandmitgliedern einiges mitbekommen. Aber ein Fachmann war er garantiert nicht. So gesehen nicht wirklich geeignet für den Beruf, aber dennoch froh ihn zu haben. Vermutlich würde er immer noch nach einer Beschäftigung suchen, wenn er das hier nicht hätte. Wenn er Die und Toshiya nicht hätte. Kurz vor der Mittagspause betrat jedoch jemand den Laden, den sogar Kyo noch kannte. Wenngleich auch nicht sofort erkannte. Aber diese gute Laune, die von diesem Mann ausging war einfach unverwechselbar. Das war so ein Moment, wo Kyo froh war, dass Nobu nicht hier war. Zwei Personen mit einer derartigen Energie in sich hätte nur zu einer Explosion geführt. Wobei ihm auffiel, dass Nobu auch schon immer ein wenig wie eine verjüngte Version von dem Gitarristen und Sänger gewirkt hatte. „Oi, Kyo-kun. Bist du das wirklich?“ „Hallo Miyavi.“ „Schön dich zu sehen. Alles klar bei dir?“ „Schön auch dich mal wieder zu treffen. Ja, bei mir ist alles 'klar'.“ Man musste ja nicht allen Leuten alles erzählen. Zudem wollte Miyavi mit Sicherheit nicht seine komplette Leidensgeschichte hören. „Bei dir alles in Ordnung? „Mit der Familie schon, aber mir ist etwas von meinem Equipment kaputt gegangen und demnächst fängt meine Tour an. Und wo kriege ich besser Ersatz her, als hier? Ist auch nur eine Kleinigkeit. Ich brauche...“ Miyavi blieb die Mittagspause über, bekam auch etwas von dem Essen ab, welches sie sich hatten liefern lassen und beteiligte sich mit Vergnügen an den Gesprächen am Tisch. Irgendwann, während alle anderen sich auf Miyavi konzentrierten, lehnte sich Toshiya zu Kyo rüber. „Hey, Kyo.“ „Hm?“ „Haraide meinte, dass du mit Tomoko-san geschlafen hast. Stimmt das?“ „Ja.“ Schlagartig wurden die Augen des Bassisten verdammt groß, ehe er sich wieder von diesem überraschenden Geständnis erholte und ein breites Grinsen ins Gesicht bekam, sowie ein neckisches Funkeln in den Augen. „Was sagt man dazu. Heißt das, ihr zwei seid jetzt zusammen oder war das nur so?“ „Was? Nein.“ Nur so war das auf keinen Fall gewesen. Aber zusammen... Er wusste es nicht. Aber er konnte ja auch schlecht einfach so behaupten, dass sie es wären. Gestern war er aber auch gar nicht dazu gekommen mit ihr zu klären, in welcher Beziehung sie zueinander standen, weil erst Sae die ganze Zeit anwesend gewesen war und weil sie im Anschluss noch über das Ereignis auf dem Friedhof hatten führen müssen. Wie sie es da geschafft hatten im Bett zu landen, konnte er sich auch nicht wirklich erklären. Dass er sich dann anfangs auch noch aufgeführt hatte wie ein dämlicher Teenager bei seinem allerersten Mal, war ihm zwar peinlich gewesen, aber sie hatte zum Glück nicht gleich die Flucht ergriffen. Aufbauend stupste Toshiya den Älteren an. „Wäre doch toll, wenn du auch noch zu einer Familie kommen würdest. Ich drück dir die Daumen. Sie ist wirklich hübsch.“ „Das ist sie wirklich.“ „Magst du sie denn?“ „Mögen... Schon. Auch ein bisschen mehr. Nur reicht es noch nicht ganz für das Wort 'Liebe', befürchte ich.“ „Aber es ist ausreichend genug, um sie in deiner Nähe haben zu wollen, habe ich Recht?“ Für einen Moment überlegte Kyo, dann nickte er lächelnd und sah dankbar zu dem jüngeren Freund. Ja, dafür reichte es vollkommen. Vielleicht reichte Tomoko sie ja auch, diese 'halbe Liebe'. Denn wer wäre so verrückt, nach allem, was ihm zugestoßen war, noch nach der 'ganzen Liebe' zu suchen? Nach Feierabend war Daisuke so freundlich gewesen, ihn nach Hause zu bringen. Kyo vermutete ja eher, dass der Ältere Angst gehabt hatte, dass er, wenn er alleine unterwegs war, wieder in irgendetwas hinein geriet. In seiner Wohnung angelangt ging er zuallererst ins Badezimmer, um eine wohltuende Dusche zu nehmen. Als Abendessen musste heute eines der wenigen Fertiggerichte her, die er in seinem Gefrierschrank hatte. Seit der Mittagspause war er zu sehr beschäftigt mit seinen Gedanken, über sich und Tomoko, da hatte er keine wirkliche Lust sich jetzt mit Kochen zu beschäftigen. Sie müsste zu Hause sein. Da könnte er nach dem Essen ja rüber gehen und sich ein wenig mit ihr unterhalten. Aber wenn er sie jetzt besuchte, bekam sie Sae nachher nicht zum schlafen, weil diese dann so aufgedreht war. Ging er aber noch später rüber, dann würde er die Kleine im schlimmsten Falle nur wach machen. Es wäre allerdings wirklich von Vorteil, wenn Sae nicht mehr um sie herum wuseln würde. Dann war es einfacher sich über solch ernste Themen zu sprechen. Gelangweilt beobachtete er das Essen in der Mikrowelle. „Jetzt werd schon fertig“, grummelte er. Plötzlich klingelte es an der Tür. „Wer ist denn das?“ Neugierig ging er zum Flur, öffnete und fand eine weinende Tomoko vor. „Was ist passiert?“ Sofort zog er sie in seine Wohnung hinein und sah sich ein Mal kurz auf dem Hausflur um, ob da nicht jemand war, ehe er seine Tür wieder schloss. Besorgt wandte er sich an die Frau, die er so lieb gewonnen hatte. Für seinen Geschmack sah er sie viel zu häufig weinen. „Tomoko-chan, was ist passiert?“ „Er hat mir Sae weg genommen“, erzählte sie schluchzend. „Er?“ „Mein Ex.“ Kapitel 48: Sadness ------------------- „Shinya, du musst mir helfen.“ „Was ist denn passiert, Kyo?“ Besorgt ließ sich der Drummer in dem großen Sessel in seinem Wohnzimmer nieder. Was war nur wieder geschehen? Schließlich telefonierten sie nicht gerade häufig. Haben sie noch nie. „Es ist viel passiert. Zu viel. Ich kann jetzt gut etwas von deiner inneren Ruhe gebrauchen.“ „Wegen dem, was gestern war?“ Kaoru, dieses Klatschweib. Mit dem musste Kyo mal ein Wörtchen reden. Er selbst musste das seinen Freunden erzählen. Wenn etwas Großes in seinem Leben passierte, sei es positiv oder negativ, dann sollten die Personen, die ihm etwas bedeuteten, dieses auch von ihm erfahren. „Auch“, gestand er. „Auch? Das hört sich aber nicht gut an. Dann erzähl mir mal was dich bedrückt.“ „Wo soll ich da nur anfangen?“ „Wo immer du auch willst.“ Kyo warf einen Blick durch seine Schlafzimmertür, um sicher zu gehen, dass Tomoko noch schlief. Nachdem sie sich ausgeweint hatte, fand er es besser sie hier zu behalten. „Weißt du, im Moment habe ich eher das Gefühl, als würde alles wieder den Bach runter geht. Wegen gestern natürlich, aber...“ Er entfernte sich von der Tür und ließ sich im Wohnzimmer auf einem der Sofas nieder. „Heute war auch wieder so ein Moment. Ich komme von der Arbeit, bin keine zehn Minuten daheim, da klingelt meine Nachbarin bei mir.“ Seufzend wechselte er von einer sitzenden in eine liegende Position, wischte sich über seine Augen. Es machte ihn traurig. Der Grund für ihre Tränen. „Entschuldige, ich...“ „Ganz ruhig Kyo. Lass dir Zeit.“ Kyo musste lächeln. Das war eine Eigenschaft, die er sehr mochte. Dass Shinya einfach nur zuhörte. Ohne Bedingungen zu stellen. Und genau deswegen hatte er ja ihn angerufen. „Ich hab dir doch mal von ihr erzählt, oder? Von meiner Nachbarin.“ „Ein wenig, ja.“ „Hab ich dir auch von ihrer Tochter erzählt?“ „Das hast du. Sae, nicht wahr?“ „Richtig.“ „Und was ist mit Sae-chan?“ „Sie ist weg. Ihr Vater hat sie mitgenommen. Tomoko-san hat mir vorhin erzählt, dass er einfach in die Wohnung gestürmt kam und die Kleine mit sich genommen hat. Und sie konnte nichts dagegen tun, weil...“ Sein Blick wanderte zu der Schlafzimmertür. Ihm tat es schon weh, dass die Kleine einfach weg war. Wie musste es dann erst ihr gehen? „Und das nur wegen mir.“ Shinya runzelte die Stirn. Das war ja mal ein sehr gewagter Gedankensprung. Einer, den er nicht nachvollziehen konnte. Gleichzeitig war es typisch für den Sänger. Jedoch lag es zum Großteil daran, dass der Ältere nicht alles von seinen Gedanken preis gab. „Warum sagst du das denn?“ „Weil er ihr das gesagt hat, Shinya. Er hat ihr gesagt, dass er nicht will, dass seine Tochter in der Nähe eines Mörders aufwächst.“ Ohne etwas dagegen ausrichten zu können, rannen die ersten Tränen über sein Gesicht. Dass die Frau, für die er etwas empfand, durch etwas so grausames durch musste, weil er in ihr Leben getreten war. Dafür hasste er sich gerade schon wieder. „Machst du dir schon wieder Vorwürfe, Kyo?“ Shinyas Stimme war ganz sanft. Ihm war natürlich nicht entgangen, wie sich die Atmung des Anderen verändert hatte. Ganz zu schweigen davon, dass auch dessen Stimme einen anderen Klang angenommen hatte. „Sie ist trotz allem zu dir gekommen, nicht wahr? Hat dir gesagt, was sie belastet.“ Mit einem Lächeln sah er zu seiner Frau, die ihm, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, eine Tasse mit Tee brachte. Liebevoll griff er nach der Hand, mit der sie die Tasse auf den Tisch vor ihm abgestellt hatte und hauchte einen Kuss darauf. Wie dankbar er doch war sie zu haben. Sie deutete ihm an, dass sie in die Küche gehen würde, damit er ungestört weiter telefonieren konnte. „Kyo, wenn sie dich verantwortlich machen würde, dann wäre sie nicht zu dir gekommen, sondern hätte sich von dir fern gehalten. Meinst du nicht auch?“ Nachdenklich sah Kyo derweil an die Decke, verinnerlichte die Worte seines Freundes. Wie so oft hatte der Drummer recht. Warum hätte Tomoko zu ihm kommen sollen, wenn sie ihn dafür verantwortlich machen würde? „Offensichtlich vertraut sie dir. Sie sieht keine Gefahr in dir. Weder für sich, noch für ihr Kind. Und sie vertraut dir sogar so weit, dass sie dich um Hilfe bittet. Dass sie seelischen Beistand bei dir sucht. Gib ihr diese Hilfe, dann wirst auch du nicht mehr das Gefühl haben, dass es deine Schuld ist, sondern stolz darauf sein, ihr geholfen zu haben.“ Da er keine Antwort bekam, nahm der Jüngere an, dass seine Worte gewirkt haben. „Dômo Shinya.“ Dem Sänger war bereits leichter ums Herz. „Du warst mir wirklich eine große Hilfe.“ „Dafür sind Freunde doch da.“ Vor allem, wenn es darum ging, Kyo davor zu bewahren sich wieder zurück zu ziehen. „Ich danke dir für deinen Anruf. Ich bin froh, wenn ich helfen kann.“ Kurz nach dem Telefonat führte Kyos Weg ihn wieder zum Schlafzimmer, wo er sich zu Tomoko ans Bett setzte und ihr vorsichtig übers Gesicht strich. Shinya hatte wieder einmal vollkommen recht gehabt. Dabei hatte er doch gar nicht so viel erzählt. Manchmal war ihr Drummer wie einer dieser weisen Lehrmeister aus Geschichten. Nur eben nicht so alt. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, wie er ihr am Besten helfen konnte sobald sie wieder aufgewacht war. Jetzt ließ er sie noch schlafen. Obwohl es vielleicht besser wäre die Polizei jetzt zu verständigen, wo es doch noch nicht so lange zurück lag. Dabei hatte er kein Interesse daran schon wieder mit diesen Leuten konfrontiert zu werden. Aber zum Wohle von Sae musste er da durch. Er wollte das kleine Mädchen nicht mehr bei diesem unsympathischen Drecksack wissen. Sie musste wahnsinnige Angst haben. Genau deswegen mussten sie jetzt etwas tun. Bestimmend, aber nicht übertrieben fest, rüttelte er an der Schulter der jüngeren Frau, versuchte sie wach zu bekommen. Bereits nach wenigen Momenten öffnete sie ihre Augen und blinzelte sie verwirrt an. „Entschuldige, dass ich dich wecke. Geht es dir jetzt besser?“ Er erhielt ein verschlafenes Nicken als Antwort. Sanft strich er ihr durchs Haar. „Wir sollten zur Polizei gehen. Du solltest sie um Hilfe bitten.“ Seine Arme legten sich um sie. „Damit Sae bald nach Hause kommt.“ Still saß Kyo auf dem Revier neben Tomoko, hielt ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken, während sie der Polizistin schilderte, was wenige Stunden zuvor geschehen war. „Bitte. Sie müssen sie dort raus holen. Sie ist nicht sicher beim ihm“, flehte sie. Sie konnte das beurteilen. „Ich will meine Tochter zurück.“ Erneut in Tränen ausbrechend, bekam sie ein weiteres Taschentuch von dem Sänger gereicht. „Ich will mein kleines Mädchen zurück.“ „Dafür werde ich sorgen“, versprach die Beamtin und erhob sich. „Ich werde mich sofort darum kümmern, dass sie ihre Tochter bald wieder in den Armen halten können, Iizuka-san.“ Mit einem Handzeichen bat sie einen Kollegen heran und beauftragte diesen damit, sich ein wenig um die Beiden zu kümmern, während sie alles in die Wege leitete. Gemeinsam ging es durch die Flure des Präsidiums zu einem kleinen Raum und man brachte ihnen Tee zur Beruhigung. „Haben sie Vertrauen in uns. Wir werden schon dafür sorgen, dass alles gut wird.“ Tomoko lehnte sich gegen Kyo, suchte Trost und Halt bei ihm, was er ihr gewährte und nur allzu gerne gab. Immerhin war er ja nicht ganz unschuldig an der jetzigen Situation. Wie gerne würde er mehr für sie tun. Aber das hier sollten sie die Polizei machen lassen. Die wussten, wie man das regelte. Ohne Unterlass strich er über ihren Arm, murmelte ihr hin und wieder ins Ohr, dass alles wieder gut werden würde. „Niimura-san?“ Erschrocken sah der Angesprochene auf. Er hatte sich so auf die Frau neben ihm konzentriert, dass er alles andere ausgeblendet und dementsprechend nicht mitbekommen hatte, wie jemand in den Raum getreten war. „Mori-san.“ Was wollte denn der Kommissar hier? „Was führt Sie denn hierher?“, fragte der Beamte und ließ sich auf einem Stuhl unweit der Beiden nieder, nachdem er sich kurz vor ihnen verbeugt hatte. Fragend wandte er sich an den anderen Mann. „Ist Ihnen etwas passiert?“ „Nein, mir ist nichts passiert. Ich bin nur wegen Iizuka-san hier“, erklärte Kyo sich und bekam ein zustimmendes Nicken von der Frau neben sich. „Ich verstehe.“ Interessiert wanderte der Blick des Jüngeren analytisch über das Paar vor ihm, um einschätzen zu können, ob der richtige Zeitpunkt wäre, um mit dem Sänger etwas wichtiges zu bereden. „Ich habe mir ihre Akte durchgelesen.“ Kyo zuckte zusammen, festigte seinen Griff um ihren Arm und ballte die andere Hand zu einer Faust. Er bemerkte nicht einmal das leise, schmerzvolle aufzischen von Tomoko. Sie ergriff die Faust mit beiden Händen und streichelte beruhigend darüber. Aber als auch das keine Wirkung zeigte, legte sie eine Hand an seine Wange, was ihn augenblicklich ins Hier und Jetzt zurück holte. „Ganz ruhig, Kyo-kun.“ Derweil konnte sich der Kommissar ansatzweise denken, worin diese Reaktion begründet war. Die Akte war sehr detailliert gewesen. Und nach dem, was er aus den Protokollen der Gerichtsverhandlung wusste, fühlte er sich in seiner Menschenkenntnis wieder einmal bestätigt. Für ihn war Niimura-san nie und nimmer ein einfacher Mörder. Das damals musste eine Handlung im Affekt gewesen sein. Eine Kurzschlussreaktion, wie er sie schon häufig gesehen hatte. Nur dass es viele gab, die nach ihrer Tat weitaus weniger reumütig gewesen waren. Sich zum Großteil danach noch drüber gefreut haben, dass sie so gehandelt und gleichzeitig das Gefühl gehabt hatten, der Welt noch einen Gefallen getan zu haben. Für ihn musste es ein Graus sein darauf angesprochen, daran erinnert zu werden. „Mir ist jedenfalls noch eine kleine Unstimmigkeit aufgefallen, während ich die Unterlagen zu Ihrem Fall und der Verhandlung durchgesehen habe.“ „Eine Unstimmigkeit?“ Verwundert sah Kyo zu dem Jüngeren, schluckte hart. Was kam denn jetzt? Horrorszenarien schwirrten mit einem Mal durch seinen Kopf und er wurde blass. Erinnerungen aus der Zeit im Gefängnis kamen hoch. Er hörte Schreie von Mithäftlingen, die in der Nacht von einigen Anderen aufgesucht wurden. Wieder spürte er sein Herz bis zum Hals schlagen. Fühlte erneut die Angst, dass sie ihn als nächstes aufsuchen würden. „Ganz ruhig. Es ist nur eine Frage, die mir durch den Kopf schoss.“ „Welche Frage?“ Noch immer zitterte der Älteste unter ihnen, umklammerte Tomoko ganz fest. Sie war gerade die einzige Vertraute hier. „Woher wusste Takeno-san von der Statue? Er erzählte zwar, dass dies die Mordwaffe gewesen ist, aber woher wusste er das, wo sie doch nie gefunden wurde. Seine Schwester hatte sie ein Jahr zuvor mitgenommen. Doch was machte ihn da so sicher, dass sie sich noch in ihrem Besitz befand? Für jemanden, der mit Drogen zu tun hatte, wäre es doch nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn sie versucht hätte diesen Gegenstand zu Geld zu machen.“ Selbstbewusst lehnte sich Mori-san in dem Stuhl zurück, legte ein Bein über das andere. „Nach Aussage der Familie wussten sie nicht, wo Takeno Ayaka wohnte. Die Eltern beteuerten, dass sie seit etwa zwei Jahren nahezu keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hatten. Woher wusste der Bruder des Opfers also, dass diese Figur fehlte? Und warum hatte er nicht erwähnt, dass er noch in Verbindung steht mit ihr? All diese Fragen schwirren mir seit der vergangenen Nacht durch den Kopf. Heute Vormittag habe ich Takeno-san mit einigen dieser Fragen konfrontiert, doch sehr gesprächig war er nicht.“ „Und das erzählen sie mir, weil...?“ „Ich möchte Ihnen ein kleines Experiment vorschlagen. Eines, das so ähnlich ist, wie gestern, im Wartebereich. Nur dieses Mal würden Sie mit ihm allein sein. Nur sie beide, in einem der Verhörräume. Den Spiegel auf Durchsicht, sodass er das Gefühl bekommt, dass nur sie beide anwesend sind. Allerdings werden wir Sie mit einer versteckten Kamera und einem Mikrofon ausstatten. Mein Gefühl sagt mir, dass er Ihnen, in seinem Hass ihnen gegenüber, viel mehr erzählen wird, als gut für ihn ist. Eigentlich wollte ich mir die ganze Planung noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und Sie dann kontaktieren, aber wenn Sie bereits ihr sind, würde ich es jetzt gerne in Angriff nehmen. Zumal es besser ist, wenn nicht allzu viel Zeit verstreicht. Was meinen Sie?“ Gute Frage. Was meinte er dazu? Es klang plausibel. Es würde auch ihm helfen das Chaos in seinem Kopf zu beruhigen, zu sortieren. Rat suchend sah er Tomoko in die Augen. Wollte wissen, was sie davon hielt. Sie strich ihm noch mal über die Wange, nickte dann einmal kurz. „Mach das doch. Ayaka-san hat es verdient, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Und die ganze Zeit werdet ihr beobachtet. Da kann dir nichts passieren.“ „Versprich mir, dass du auch in der Nähe bist.“ „Versprochen.“ „Danke“, flüsterte Kyo und küsste ihre Stirn. Dass sie so gerne bei ihm blieb machte ihn glücklich. Ließ es ganz warm werden in seinem Inneren. „Also gut. Ich mach es.“ Kapitel 49: Truth hurts ----------------------- Grimmig sah sich Takeno-san in dem Verhörraum um. So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann würde jetzt jemand ganz Anderes hier sitzen und flehen, dass man ihm endlich ein Ende bereiten würde. Nur wegen eines Zeugen saß er jetzt hier. Wenn er hier raus kam und heraus fand, wer das war, dann würde er sich dafür noch bedanken. Zuerst wüsste er allerdings zu gerne, weswegen er schon wieder in diesem Raum saß. Glaubte dieser dämliche Bulle wirklich, dass er jetzt gesprächiger war? Umso verwunderter war er, als die Tür aufging und kein Beamter den Raum betrat. „Was machen Sie denn hier?“ „Ich wollte mit Ihnen reden. Darum bin ich hier.“ Es kostete den Sänger einiges an Mühe ruhig zu bleiben, damit man ihm seine Nervosität nicht ansah. Das mit dem Schauspielern war schließlich noch nie wirklich sein Ding gewesen. Wie gut, dass er sich bei den Musikvideos damals in erster Linie aufs Singen konzentrieren konnte. Gegenüber von Takeno-san nahm er Platz, atmete erneut tief durch. „Was? Mach ich Sie etwa nervös?“, fragte der Inhaftierte spöttisch. „Ein wenig“, gestand Kyo und war dankbar darüber, dass der andere die Nervosität auf sich bezog. „Was wollen Sie von mir?“ „Ich will nur mit Ihnen reden.“ „Pah“, machte der Jüngere skeptisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Reden. Klar.“ Seine Augen funkelten bösartig zu dem Spiegel. Erst jetzt fiel ihm auf, dass dieser durchsichtig war und niemand dahinter stand. Misstrauisch sah er zurück zu Kyo. „Was hat der Bulle vor?“ „Der hat nichts vor. Es war mein Wunsch Sie zu sehen.“ „Wer's glaubt“, polterte Takeno-san los und war von seinem Stuhl aufgesprungen. „Ich soll Ihnen glauben, dass sie einfach so hier rein dürfen? Einfach so mit einem reden dürfen, der verhaftet wurde? Machen Sie mir nichts vor.“ „Aber es ist so. Ich will nur ein paar Antworten. Das sind Sie mir schuldig.“ Einige Momente starrten sie sich an und schwiegen. Mal sehen, wer sich als hartnäckiger erwies. „Ich bin Ihnen also etwas schuldig, ja?“ Mit einem höhnischen Lachen, ließ sich der Bruder wieder auf den Stuhl fallen. „Wie kommen Sie denn auf den Mist? Wenn hier irgendwer irgendwem etwas schuldig ist, dann doch wohl Sie mir. Wegen Ihnen sitze ich doch hier. Mit diesen schicken Armbändern.“ Trotzig streckte er die Arme nach vorne, klapperte mit den Handschellen. „Das haben Sie sich selbst eingebrockt. Sie wollten mir eine Straftat anhängen und haben dabei nicht damit gerechnet, dass man Ihnen auf die Schliche kommen könnte.“ „Dennoch. Warum sollte ich Ihnen etwas schuldig sein?“ „Ich will nun mal die Wahrheit wissen. Sie können mir nicht erst etwas von dieser Bronzefigur erzählen ohne weiter darauf einzugehen. Außerdem: Wenn Ihnen ihre Schwester wirklich so am Herzen lag, warum reden Sie dann so abfällig über Sie? Ich weiß, dass es schwer ist ein Familienmitglied zu verlieren, doch was bringt es Ihnen nach all der Zeit, mich noch so fertig zu machen?“ Abschätzend wurde Kyo gemustert. Innerlich flehte dieser darum, dass der Typ reden würde. Ihm war der Kommissar egal. Er wollte doch nur wissen, weshalb er weiterhin so leiden musste. Weshalb die Menschen aus seinem Umfeld so leiden mussten. „Warum haben sie das mit dem Laden meiner Freunde arrangiert? Warum ziehen Sie sie damit hinein? Die haben doch nichts gemacht. Ganz zu schweigen von meinen Kollegen. Die kenne ich alle erst, seit dem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde und dort angefangen habe.“ „Das müssen Sie allen Ernstes noch fragen?“ Lautes, hämisches Gelächter erfüllte den Raum. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie so blöd sind.“ Kyo musste schlucken. Der Kerl machte sich ganz offensichtlich lustig über ihn. „Weil ich nicht wahrhaben will, was ich mir denke. Dass Sie das aus purer Boshaftigkeit getan haben.“ „Und was, wenn doch?“ Gehässig lehnte sich der Bruder nach vorne sah Kyo starr in die Augen. „Was, wenn ich all diesen Leuten nur deswegen geschadet habe, weil ich wusste, dass es Sie am Ende am meisten verletzen würde? Weil ich gedacht habe: Dadurch kriege ich ihn kaputt. Aber Sie sind zäher als ich dachte.“ „Haben Sie darum diese Show gestern abgezogen?“ „Natürlich. Weswegen sonst. Aus Spaß dann auch wieder nicht.“ Sein Blick verfinsterte sich, seine Miene wurde grimmiger, während er Kyo weiterhin anstarrte. „Doch aus irgendeinem Grund scheinen Sie mehr Glück als Verstand zu haben. Es hat schon ganz schön gefrustet, dass es schief gegangen war. Und darum habe ich meinen freien Anruf gestern auch noch sinnvoll genutzt.“ „Für einen Anwalt nehme ich an? Den werden Sie nämlich noch brauchen.“ Und wieder Gelächter. „Nein. Nicht für einen Anwalt. Ich habe einen alten Freund angerufen. Jemanden, den ich schon vor zwanzig Jahren kannte. Wollen Sie wissen, wer das ist?“ Unsicher biss Kyo sich auf der Unterlippe herum. Der Kommissar, der über die Kamera, die an seinem Jackenkragen versteckt war, alles mit ansah wollte es bestimmt wissen. Man sollte auch ausnutzen, dass der Jüngere gerade so redselig war. „Na?“ Der andere schien ja förmlich darauf zu brennen ihm die Information unter die Nase zu reiben. „Sagen Sie es mir.“ Ein dreckiges Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht seines Gegenübers. „Sie kennen ihn. Sie sind ihm vor nicht allzu langer Zeit begegnet.“ Verwirrt zog Kyo die Stirn kraus. Durch die Arbeit traf er jeden Tag neue Menschen. „Er war einst mit meiner Schwester liiert. Er hat sie zur Drogendealerin gemacht. Und er war damals nicht erfreut, dass Sie ihm eines seiner besten Mädchen genommen haben. Aber mittlerweile ist er darüber hinweg. Er hatte Ersatz. Welcher im Laufe der Jahre aber auch schon wieder ersetzt wurde. Mehrfach.“ „Kommen Sie zum Punkt.“ Dafür, dass dieser grausame Mann so gesprächig war, schien er es toll zu finden in Rätseln zu sprechen. „Was ihm aber gar nicht passt, ist dass Sie sich in seine Privatangelegenheiten einmischen. Was zwischen ihm, seiner Tochter und dessen Frau vor sich geht ist nichts, in dass Sie ihre Nase hineinstellen sollten.“ Wieder einmal wurde Kyo blass. Aber auch unheimlich wütend. So wütend, dass er aufsprang und den verhassten Bruder am Kragen packte und zu sich heran zog. „Dann sind Sie dafür verantwortlich, dass Sae weg ist?“ „Habe ich damit etwa einen wunden Punkt getroffen?“ Siegessicher und völlig von sich eingenommen grinste der Bruder. „Nachdem er mir gesagt hatte, dass zwei komische Typen bei seiner Ex aufgetaucht wären und ihm Vorschriften machen wollten, habe ich ihm den Gefallen getan und herausgefunden, wer das denn war. Und als ich festgestellt habe, dass Sie das sind... Das war wie ein Gewinn in der Lotterie.“ Kyos Hände zitterten. Dann war es also wirklich seine Schuld gewesen, dass man das kleine Mädchen von seiner Mutter weggeholt hatte. Hoffentlich schaffte es die Polizei sie da wieder weg zu holen. Er wollte sie in den Arm nehmen und sie um Verzeihung bitten. „Sie ist noch ein Kind. Ein unschuldiges, kleines Kind. Wie können Sie es mit sich vereinbaren sie damit hinein zu ziehen?“ „Das ist ganz einfach.“ „Ach ja?“ „Ja. Ich kenne die Kleine ja nicht. Und deswegen braucht es mich auch nicht zu kümmern.“ Kyos Atmung war nur noch ein reines Schnauben. Unter Zwang löste er seine Finger von dem Kragen, ballte seine Hände zu Fäusten. Gerne würde er diesem Mann, der ihn so anwiderte, genau diese in seine grinsende Visage schlagen. Immer und immer wieder. Die arme Tomoko starb eh schon tausend Tode. Jetzt musste es ihr noch viel schlechter gehen. „Sie sind... sind... Ich finde nicht einmal Worte für die Abscheu, die ich Ihnen gegenüber empfinde.“ Um die Fassung zu wahren, wandte er sich ab, machte ein paar Schritte auf die Wand zu, wo er seinen Kopf an die kalte Verkleidung lehnte. Sein Gemüt musste ganz dringend gedämpft werden. Er durfte die Fassung nicht verlieren. Das hätte er damals nicht und das durfte er auch nie wieder. „Die Statue.“ Kyo drehte sich wieder herum. „Woher wussten Sie, dass es diese Buddhastatue war, die ich benutzt habe? Woher wussten Sie, dass das die Mordwaffe war? Nicht einmal ich kann mich daran erinnern.“ „Das beschäftigt Sie nicht wahr? Das beschäftigt Sie wirklich?“ Mit einem hämischen Glitzern in den Augen stand Takeno-san auf und ging auf Kyo zu. Ein manisches Grinsen in seinem Gesicht. „Ich habe meine Schwester benutzt. Sie hat auch an mich geliefert. Ich habe das Zeug dann auf dem Campus weiterverkauft. Ich hatte einen Status damals. Manchmal habe ich es mir sogar persönlich bei ihr abgeholt. Die Statue stand in ihrem Wohnzimmer auf dem Tisch. Damit sie sie immer sehen, immer betrachten konnte. Immer um Hilfe bitten konnte. Ich hab mit dem Stoff ein sehr komfortables Leben an der Uni führen können. Die Leute waren abhängig von mir. Ich hatte Macht über sie. Das gefiel mir. Hin und wieder habe ich Ayaka dann auch noch an spezielle Kunden vermittelt. Mit dem Einverständnis von meinem guten Freund natürlich. Ihr hab ich immer gesagt, dass wir nur so an das Geld kommen würden, mit dem ich sie frei kaufen könnte. Aber mit den anderen Weibern ging das nicht.“ Das Grinsen wich. „Und schon gar nicht, nachdem Sie meine Schwester getötet haben. Da wurde mein Bekannter vorsichtig. Mein Status ging verloren. Plötzlich war ich die Lachnummer auf dem Campus.“ Ganz nah war er an den etwas kleineren Mann herangetreten, sah auf ihn hinab. „An dem Tag, wo sie meinten sie niederschlagen zu müssen, bin ich zu ihr gegangen. Sie hatte noch ein Päckchen für mich. Blutend lag sie da. Noch während ich meine Lieferung gesucht habe ist mir das mit der Figur aufgefallen. Ich habe sogar noch gelacht, als mir die Ironie bewusst wurde. Für einen Moment hatte ich befürchtet, dass jemand sie um meinen Stoff erleichtert hatte.“ Mit einem Mal schlossen sich seine gefesselten Hände um Kyos Hals, drückten zu. „Ich verrate Ihnen ein letztes Geheimnis. Eines, dass sie sicher brennend interessieren dürfte.“ „Was- Was für ein Geheimnis?“, keuchte Kyo und kämpfte gegen harten Griff. „Sie ist wieder aufgestanden.“ Augenblicklich hielt der Ältere inne. Vergessen waren die todbringenden Finger an seinem Hals, die ihm das Atmen erschwerten. „Nun, aufgestanden ist vielleicht das falsche Wort. Sie kam wieder zu sich, setzte sich auf. Nachdem sie mich gesehen hatte, flehte sie mich natürlich um Hilfe an. Aber als sie mein Päckchen sah wurde sie hysterisch. Hilfe. Pah. Sie war doch schon wieder wach. Warum also dann noch helfen? Ich nannte sie zwar Schwester, aber das war dieser Frau schon lange nicht mehr für mich. Das Leben, dass sie geführt hatte, war ein wertloses Leben. Gerade noch gut genug, um meines noch ein wenig zu verbessern, aber zu mehr auch nicht. Als sie mir allerdings meine Drogen wegnehmen wollte, platzte mir der Geduldsfaden. Ich stieß sie von mir und sie landete mit voller Wucht auf dem Boden. Noch zu benommen, als dass ihre Reflexe hatten verhindern können, dass ihr Kopf aufschlug.“ Kyo konnte seinen Ohren nicht trauen. Nur wusste er nicht, ob es daran lag, was er hörte oder daran, dass der würgende Griff um seinen Hals ihn allmählich bewusstlos machte. „Danach habe ich die Wohnung verlassen. Ich habe erst aus den Nachrichten erfahren, dass sie es nicht überlebt hat. Zu dem Zeitpunkt habe ich aber auch noch gedacht, dass sie ganz leicht zu ersetzen wäre. Aber das war sie nicht.“ „Sie haben sie also einfach sterben lassen?“, fasste Kyo alles zusammen, wenngleich ihm das Sprechen sehr schwer fiel. Warum kam Mori-san denn nicht? Warum half man ihm nicht? Er musste das doch über die Kamera mitbekommen haben. „Nach ihrem Tod“, fuhr sein Angreifer fort, „ist wie gesagt alles den Bach runter gegangen. Hätten Sie sie nicht niedergeschlagen, dann hätte ich ihr nicht den finalen Schlag verpassen können. Dann hätte ich sie noch für eine lange Zeit für meine Zwecke nutzen können. Und genau das ist der eigentliche Grund, weshalb ich sie so gerne fertig gemacht habe. Aber das hier wird der ultimative Höhepunkt.“ Sein Griff verstärkte sich ein letztes Mal, sodass Kyo nun wirklich schwarz vor Augen wurde. Das Letzte, was er noch mitbekam, war das Aufschlagen der Tür und ein lautes Stimmengewirr. Beim Aufprall auf dem Boden hatte sich sein Bewusstsein allerdings bereits verabschiedet. Kapitel 50: All bad things come to an end ----------------------------------------- „Ich glaube, ich muss mich übergeben“, murmelte Toshiya und war wirklich ein wenig grün um die Nase. Mit einem Lächeln bekam er von Shinya eine Flasche Wasser gereicht. „Trink einen Schluck, dann sollte es wieder gehen.“ „Besser wäre es“, lachte Kaoru. „Nicht dass er gleich die ganzen Reporter ankotzt. Wäre ein reichlich schlechter Start unseres Comebacks.“ „Stimmt. Das wäre es wirklich.“ Die Fünf grinsten sich an. Selbst Kyo zeigte eines seiner seltenen, strahlenden Lächeln. In wenigen Minuten würden sie sich der Schar an Reportern stellen, die sie zu einer kleinen Pressekonferenz eingeladen hatten. Vor etwa zwei Wochen hatten sie einige der neuen Songs aufgenommen und beschlossen diese auch zu veröffentlichen. Mit dieser Konferenz wollten sie sich zurück melden im Showbusiness und das genaue Datum der Veröffentlichung ihres neuen Albums bekannt geben. Insgeheim waren sie alle nervös. Der letzte gemeinsame öffentliche Auftritt lag immerhin schon viele Jahre zurück. Kyo wappnete sich innerlich bereits gegen die Fragen, die gestellt werden würden. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit würden sich nicht alle auf die Musik und auf ihr Comeback beziehen. Doch so schnell sollte man ihn nicht mehr verunsichern können. Seit einem halben Jahr ging es in seinem Leben wieder bergauf. Und nur bergauf. Nach seiner Ohnmacht damals auf dem Polizeipräsidium war ihm so viel Gutes widerfahren. In den wenigen Minuten, in denen er absolut nichts wahrgenommen hatte, war es der Polizei gelungen Sae wieder zurück zu holen. Ihren Vater hatte man einige Wochen später wegen Kindesentführung, häuslicher Gewalt, Körperverletzung, Zuhälterei, sowie Besitzes und Handelns mit Drogen, zum Teil in mehreren Fällen, verurteilt. Er durfte sich Tomoko und Sae nie wieder nähern oder irgendwie Kontakt zu ihnen aufnehmen. Auch Takeno-san war nicht ungeschoren davon gekommen. Durch die Aufnahmen hatte auch er für eine lange Zeit nichts mehr zu lachen. Kyo seufzte. Und ihn hatte man mal für verrückt gehalten. Dabei war dieser Kerl mit seiner verletzten Eitelkeit mit einer wesentlich gefährlicheren Form von Verrücktheit ausgestattet. Zu seinem großen, persönlichen Glück hatte sich Tomoko nicht von ihm abgewandt. Sie war ihm sogar dankbar gewesen. Dafür, dass er bei ihr gewesen war. Dafür, dass er sie dazu gebracht hatte, um Hilfe zu bitten. Damals hatten sie dann auch beide gemerkt, dass sie den Anderen nicht wieder aus ihrem Leben lassen wollten. Und so waren sie, sehr zur Freude der kleinen Sae, zusammen gekommen. So ein Ereignis schweißte eben zusammen. So sehr, dass die beiden vor vier Monaten bei ihm eingezogen waren. Wo sie doch eh jeden Abend gemeinsam verbrachten oder an Wochenenden auch gemeinsam etwas unternahmen, wenn keine Proben anstanden, hatten sie es einfach für die einfachste Variante gehalten. Für Kyo bereitete es jeden Morgen ein absolutes Glücksgefühl die beiden Frauen um sich zu haben. Dann war es immer so, als hätte auch er eine Familie gefunden. Befreit von der schweren Last der Ketten, die seine Seele so eingeengt hatten, war ihm auch das Singen wieder leichter gefallen. Es hatte ihn so weit von allem gelöst, dass er sich sogar wieder bereit erklärt hatte, sich wieder auf die Bühne zu stellen und sich dem Publikum auszusetzen. Aber er wusste ja, dass dort draußen immer noch Menschen waren, die sich auf sie freuten. So schlimm konnte es also nicht werden, wenn er es wagte sich ins Scheinwerferlicht zu stellen. Das hier würde nur die Feuerprobe werden. Mit Sicherheit würden etliche Fernsehauftritte und ausführlichere Interviews folgen. Doch für einen Musiker war es einfach wichtig sich zu zeigen, zu präsentieren. Gerade dann, wenn man zurückkehren wollte. Jemand vom Organisationsteam kam auf sie zu und teilte ihnen mit, dass sie nun anfangen konnten. Kaoru drehte sich zu seinen Freunden und Kollegen um, lächelte und fragte: „Bereit?“ „Bereit“, erwiderte Shinya, während Die sich noch einmal durch ein leichtes auf und ab springen lockerte, ehe er sagte: „Lasst es uns angehen.“ Fast zwei Stunden hatten die Reporter sie mit allen möglichen Fragen bombardiert. Und nachdem die ganzen oberflächlichen, dem Anlass entsprechenden Themen abgehakt waren, waren sie aufdringlicher geworden. Am meisten hatte sie natürlich der Sänger interessiert, sich dementsprechend häufig an ihn gerichtet. Irgendwann hatten sie dann die Konferenz für beendet erklärt. Es wurde dann doch ein wenig zu viel. Sie warteten noch, bis alles Reporter wieder gegangen waren, dann machten auch sie sich wieder auf den Weg. Shinya fuhr zurück zu seinem Hotel, um seiner Vertretung noch ein wenig unter die Arme zu greifen. Ebenso Kaoru, der für die Bands, für die er bisher verantwortlich gewesen war, einen zuverlässigen Ersatz finden musste. Das gleiche galt für Toshiya und Die, die immerhin drei neue Leute einstellen mussten, sollte das mit der Musik wieder klappen. Nur Kyo konnte gleich wieder nach Hause. Mit einem kleinen Abstecher bei der Grundschule, in die Sae ging. Er hatte ihr versprochen, dass er sie abholen kommen würde, wenn seine Arbeit ihm das erlaubt. Ein kleines bisschen spät dran war er schon, aber er hoffte, dass er sie noch nicht verpasst hatte. Doch er sollte Glück haben, denn sie schien auf ihn zu warten, so wie sie dort neben dem Schultor stand. „Hey, Kleines“, rief er ihr zu, woraufhin sie mit strahlenden Augen und einem fröhlichen Grinsen auf ihn zu gerannt kam. „Du bist wirklich gekommen.“ „Ich hab es dir doch versprochen.“ Liebevoll hockte er sich hin, damit er sie in seine Arme schließen konnte, wofür er einen kleinen Schmatzer von ihr auf die Wange bekam. „Wir war denn die Schule, Sae-chan?“ „Ganz toll. Wir haben viel gelernt. Nächste Woche schreiben wir einen Test.“ „In welchem Fach denn?“, erkundigte sich der Sänger, während er sich wieder erhob und die kleine Hand ergriff, die sich ihm entgegen streckte. Fröhlich plappernd erzählte sie ihm auf dem Heimweg von dem, was sie heute so alles erlebt hatte. Geduldig hörte er ihr zu, mäßigte sie ihn und wieder, weil sie so herum hüpfte und einige Male sehr nah an den Straßenrand kam. „Was möchtest du denn heute essen?“ Mittlerweile waren sie in der Wohnung angekommen und es war höchste Zeit für eine Mahlzeit. „Mir egal. Ich esse alles, was du kochst“, antwortet sie ihm grinsend, während sie sich ihre Schuhe auszog und artig an ihren Platz stellte. „Dann werde ich mal in die Küche gehen und mir etwas einfallen lassen. Kannst ja noch ein bisschen spielen gehen in der Zwischenzeit, wenn du magst.“ „Okay.“ Es erfreute Kyo zu sehen, dass dieses kleine Ding so unbeschwert lachen konnte. Obwohl sie damals sehr verängstigt gewesen war. Ein Zustand, der zur Freude aller aber nicht lange angehalten hatte. Dieser Mistkerl hatte es nämlich nicht für nötig befunden, die Kleine einfach nur in seine Wohnung zu bringen, nein er hatte sie mit in sein Stammlokal geschleppt. Ein Lokal, wo leicht bekleidete Damen auf dem Tresen tanzten und schmierige Typen ihr Unwesen trieben. Und so einer wollte sich Vater nennen. Seufzend warf er einen Blick in den Kühlschrank und in die Vorratsschränke. Besser, er dachte nicht mehr an diesen Mann. Sonst wurde er nur wieder wütend. Da konnte er seine Energie auch für etwas sinnvolleres einsetzen. So langsam hatte er auch eine Idee, was er kochen wollte. Tomoko müsste auch bald wieder nach Hause kommen. So weit er wusste, hatte sie heute nur den halben Tag zu arbeiten. Noch während er damit beschäftigt war Gemüse zu zerkleinern, hörte er wie jemand die Haustür aufschloss. „Jemand da?“, rief sie. „In der Küche“, antwortete er, hörte aber nicht auf sich, um das Essen zu kümmern. Appetit kam bekanntlich beim Essen und seiner wurde immer größer. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht“, lächelte er sie an, als sie neben ihm stand. „Was hast du?“ Irgendwie wirkte sie nervös. Sie spielte mit ihren Fingern herum und sah ihm auch nicht in die Augen, stattdessen wanderte ihr Blick quer durch den Raum. „Tomoko, Liebling. Erzähl mir doch, was dich bedrückt.“ Neugierig, aber ebenfalls nervös werdend legte er das Messer zur Seite und nahm sie in den Arm, um sie nah an sich heran zu ziehen. „Wo ist Sae?“ „In ihrem Zimmer. Ich habe ihr erlaubt noch ein bisschen zu spielen, während ich das Essen mache. Und jetzt sag schon.“ Tomoko atmete tief durch, nahm all ihren Mut zusammen, wie es schien. Endlich traute sie sich ihrem Freund in die Augen zu sehen. „Ich war vorhin noch beim Arzt.“ „Beim Arzt? Wirst du krank?“ Besorgt legte er ihr eine Hand auf die Stirn. Nun, Fieber schien sie nicht zu haben. Mit einem leichten Lachen nahm sie seine Hand in ihre, strich liebevoll über die tätowierte Haut. Sie liebte diesen Mann. Liebte ihn für seine Liebe ihr gegenüber, für die Geborgenheit, die er ihr gab, für das Lächeln und das Glück, dass er ihr schenkte. Wie würde er jetzt allerdings reagieren? „Nein, ich werde nicht krank. Ich hatte da nur seit einiger Zeit eine Vermutung, die ich jetzt bestätigt oder verneint bekommen wollte. Das war nämlich ein spezieller Arzt.“ Und wieder wich sie seinem Blick aus. Doch sie merkte auch, dass er fast nervöser wurde als sie selbst. „Was für ein Arzt?“ Allmählich wurde Kyo misstrauisch. Erst sagte sie ihm, dass sie sich nicht krank fühlte, ging dann aber zu einem Arzt, der dann auch noch ein ganz spezieller war. Das widersprach sich doch. „Ich war beim Frauenarzt, Kyo.“ Gestand sie schlussendlich und biss sich auf die Unterlippe. Würde er verstehen? „Beim-?“ Kyos Augen wurden größer und immer größer. „Tomoko, heißt es das, was ich denke?“ Freudig legte er beide Hände an ihre Wangen, sodass sie ihn ansehen musste. Erste Freudentränen glitzerten in ihren Augen und sie schaffte es gerade so ein Nicken zustande zu bringen, da wurde sie auch schon an ihren Liebsten heran gezogen, der sie stürmisch und überglücklich küsste. Atemlos vor Freude löste er sich wieder von ihr, strahlte übers ganze Gesicht. „Und du und der Arzt seid euch völlig sicher? Du bist wirklich-?“ „Ja, Kyo“, lächelte sie und strich mit einer Hand durch seine Haare. „Ich bin schwanger.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)