Tendency von DieJESSYcA ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- In einer Stadt wie New York spielt es keine Rolle, ob du betrunken zwischen schwitzenden Leibern durch die Nacht tanzt, oder ob du am Ende der Straße in die falsche Gasse abbiegst. Wenn ich dich begehre, entkommst du mir nicht, egal wie flehend deine Blicke sein mögen und wie verzweifelt deine Schreie den lauten Klang der Stadt zu übertönen bemüht sind. Keiner wird dich hören, keiner wird dich retten und keiner wird mich verdächtigen, wenn du die Sonne am Morgen nicht mehr erblicken kannst und deine Augen für immer geschlossen bleiben. Denn keiner weiß, dass es mich gibt. Den Vampir. Ich weiß wo die funkelnden Leuchtreklamen enden und wo kein Licht mehr den Boden berührt. Ich kann hier leben wie Gott in Frankreich, kann mir nehmen was er will und wen er will, solange ich nur die oberste aller Regeln befolge: Unter keinen Umständen die Existenz unserer Rasse an die Öffentlichkeit dringen lassen. Daran halte ich mich. Denn wer dagegen verstößt wird gejagt und eliminiert. Ohne Anhörung, ohne Verteidiger. Dann kannst du nur noch rennen und hoffen, dass du schneller bist als der Rest der Stadt. Die meisten sind es nicht... 001 --- Cathlyn. "Schluss für heute!", verkündete Tyler und setzte sein leeres Glas dabei geräuschvoll auf dem Tresen ab, "Ich verschwinde." Die Musik dröhnte laut durch den Club und die Tanzfläche war noch immer brechend voll. Dennoch, es war schon spät – oder früh, wie man das nennen wollte – und Tyler hatte noch etwas vor: "Ich geh mir was zu essen organisieren." Seine letzte anständige Mahlzeit war bereits einige Tage her und so langsam wurde es Zeit etwas gegen diese quälende Leere im Magen zu unternehmen. Alkohol alleine half auf Dauer schließlich auch nicht. Er blickte in die kleine Runde: "Was macht ihr? Noch ein paar Takte feiern?" Aaron setzte gerade seine Bierflasche ab. "Nein, ich denke es reicht", er schien nicht sonderlich scharf darauf zu sein, sich noch länger hier aufzuhalten. Das war er grundsätzlich nicht. Er war ohnehin nur wegen seiner Freunde hier und das auch nur aus dem einfachen Grund, dass man ihm keine andere Wahl gelassen hatte. Tyler nickte. Ihm war klar, dass Aaron nur darauf gewartet hatte, von hier verschwinden zu können. Cathlyn dagegen schien ganz und gar nicht begeistert davon, dass ihre Jungs sich verziehen wollten: "Ihr wollt schon gehen?!", sie sah die beiden enttäuscht an, "Schadeee..." Tyler lachte. Cathlyns schmollendes Gesicht war ohne Zweifel recht erheiternd. Er glitt gemütlich von seinem Barhocker und nahm ihre Hand: "Als ob du uns bräuchtest, um dich zu amüsieren. Das glaube ich wohl kaum", er drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Handrücken, "Viel Spaß noch Mylady." "Alter Charmeur", antwortete sie mit einem Lächeln, "Dir auch noch viel Spaß." Dann wandte Tyler sich an Aaron: "Wir sehen uns morgen, mein Lieber!", er grinste seinen Kumpel triumphierend an, "Glaub nicht, dass ich das vergessen würde." Aaron schüttelte leicht den Kopf: "Schon klar. Hätte mich auch gewundert wenn du das vergessen hättest." Er schuldete Tyler noch zwei Mädels. Nicht, dass Tyler es nötig gehabt hätte, dass sein Kumpel ihm die Frauen klarmachen musste, nein, er wettete einfach gerne um solche Dinge und er freute sich schon mächtig darauf, dass Aaron seine Wettschulden einlösen würde. Doch das hatte Zeit bis morgen. "Schönen Abend noch", verabschiedete sich Tyler und verschwand in der tanzenden Menschenmenge. "Und du? Willst du noch länger bleiben?", Aaron sah Cathlyn fragend an. "Weiß ich noch nicht so genau. Kommt darauf an, ob ich jemanden finde, der sich mit mir amüsieren will", sie zuckte leicht mit den Schultern. Es war wohl offensichtlich, dass dies nicht der ausschlaggebende Punkt war. Vielmehr würde es wohl davon abhängen, ob Cathlyn jemanden finden würde mit dem SIE sich amüsieren wollte. Man könnte sie auch glatt ohne Fotoretusche auf das Cover eines Modemagazins drucken und sie würde fabelhaft aussehen, aber sie war bescheiden. Manchmal. "Naja, ich verzieh mich jetzt", wiederholte Aaron seine Absichten, "Weißt ja wo du mich findest, wenn du einen Platz zum Schlafen brauchst." Sie lächelte: "Das weiß ich. Ich melde mich bei dir, wenn ich es schaffe und nicht irgendwo anders lande." Und schon verschwand sie auf der Tanzfläche, während Aaron sich ebenfalls auf den Nachhauseweg machte. Wie erwartet, blieb Cathlyn im Getümmel nicht lange alleine. Schließlich sah sie nicht einfach nur hinreißend aus, sie tanzte zudem auch noch bezaubernd, was den meisten Männern, die sich in diesem Club aufhielten, nicht entgangen war. Und da ihre beiden männlichen Begleiter nun verschwunden waren, schien die Bahn frei zu sein. Zumindest fast, denn Cathlyn war wählerisch, ließ sich nicht mit jedem dahergelaufenen Kerl ein, und heute war die Auswahl doch eher mangelhaft. So beschloss sie nach einiger Zeit, sich aus dem Schussfeld dieser liebeshungrigen Rosenkavaliere davonzustehlen und ging nach draußen an die frische Luft. Sie strich sich die langen, dunklen Haare aus dem Nacken und atmete tief durch. Draußen war nicht mehr viel los, eigentlich gar nichts, nur der Türsteher stand ruhig an seinem Platz vor dem Eingang. "Na, wieder arbeiten angesagt?", fragte sie ihn. Cathlyn kannte den Mann, Jamal arbeitete schon seit Jahren hier und Cathlyn ging hier schon seit Jahren ein und aus. Er sah nicht direkt wie ein typischer Türsteher aus, nicht so bärig, dennoch muskulös und groß gewachsen. Er lächelte freundlich. "Guten Abend", begrüßte er sie, "Sieht sehr danach aus, oder?", er sah kurz an seiner Arbeitskleidung herunter, "Es kann ja nicht jeder immer nur feiern gehen, so wie du und deine Freunde." Sie seufzte leise und verschränkte die Arme. "Hey... ich habe auch Jobs. Aber wenn ich frei habe, dann gehe ich eben feiern!", antwortete sie. "Du musst dich nicht rechtfertigen", fuhr Jamal fort, "Aber sag mal, wo stecken eigentlich deine Jungs?" "Die beiden hatten keine Lust mehr" "Keine Lust? Und dann lassen sie dich einfach alleine?", er schüttelte den Kopf. Eher amüsiert, als dass er sich ernsthaft Sorgen machen würde. Cathlyn war immerhin nicht die Art Frau, die sich von irgendjemandem auf der Straße schnappen ließ. Vielmehr sollte man sich vor ihr in Acht nehmen. "Schade, dass du arbeiten musst", sagte sie ruhig und strich sich durchs Haar, "Kann ich dir trotzdem etwas zu Trinken bringen? Und dir etwas Gesellschaft leisten?" Er lächelte auf ihr Angebot hin: "Gerne. Hier ist es sonst sowieso ziemlich langweilig. Da kann ich etwas Gesellschaft gut gebrauchen." "Was möchtest du?" "Nur ein Bier, danke", antwortete Jamal und sah ihr hinterher, während sie wieder nach drinnen verschwand, um die Getränke zu holen. Es dauerte ein paar Minuten, bis Cathlyn wieder zurück kam und ihm sein Bier übergab: "Bitte sehr." Dankend nahm er die Flasche und stieß kurz mit ihr an, bevor er einen Schluck nahm, "Sind Tyler und Aaron noch auf die Piste?" Cathlyn sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, bevor sie antwortete: "Aaron ist wohl nach Hause. Was Tyler macht... keine Ahnung. Wollte noch etwas essen." Jamal nickte. "Verstehe", gab er knapp zurück. Er kannte Tyler schon länger als er Cathlyn oder Aaron kannte und er wusste auch, womit der Junge sich am liebsten die Zeit vertrieb. Der Club, in dem Jamal arbeitete, gehörte Alexander – Tylers Ziehvater – und so bekam Jamal doch einiges mit. "Und du? Hast du heute auch noch etwas vor? Oder wirst du wieder bis Sonnenaufgang die Hüften schwingen?", fuhr er fort, "Ein bisschen Zeit bleibt dir noch." Cathlyn schüttelte den Kopf: "Ich habe nichts mehr vor. Und nein, ich werde heute wohl etwas früher gehen. Alleine zu tanzen ist Mist." "Dann gibt es heute wohl nichts Ansprechendes da drinnen, was?", schmunzelte er amüsiert, "Gut, so habe ich wenigstens Unterhaltung." Cathlyn seufzte kurz: "Nein, wirklich nichts Brauchbares...", sie grinste, "Aber freut mich, wenn ich dir den Arbeitstag versüßen kann." Versüßen traf es gut, bei diesem Lächeln konnte man ja kaum anders, als ihr den Gefallen zu tun. "Vielleicht kann ich mit dir eine kurze Runde über die Tanzfläche ziehen. Hier ist schließlich nichts los. Ich muss nur eben eine Vertretung organisieren", erklärte Jamal und zog sein Handy aus der Hosentasche, um seinen Kollegen anzurufen. "Du kannst tanzen?", fragte sie erstaunt und ihre Miene erhellte sich schlagartig, als das Gespräch, das Jamal am Telefon führte, sich zu ihren Gunsten entwickelte. Er steckte das Handy weg und sah sie müde an. "Komm schon, sehe ich so ungelenk aus?", er schnaubte amüsiert, "Natürlich kann ich tanzen. Ich meine... ich bin schwarz, mir liegt das praktisch in den Genen", er musste selbst kurz lachen, wurde dann aber gleich wieder etwas ernster, "Sobald meine Vertretung da ist, zeig ich dir das." "Ich bin gespannt!", gab Cathlyn darauf zurück und trank ihr Glas leer, während sie darauf warteten, dass Jamal abgelöst wurde. Als sein Kollege endlich aufkreuzte, verzogen die beiden sich nach drinnen. "Nach dir", er ließ ihr den Vortritt und sie bedankte sich höflich. "Sag mal...", begann sie, während sie sich dem Getümmel näherten, "findest du eigentlich, dass Weiße nicht tanzen können?" Die Frage schwirrte ihr schon seit einigen Minuten im Kopf, seit er gesagt hatte, dass es ihm in den Genen läge. "Hm... also ich habe schon genug Weiße beim Tanzen beobachtet, um sagen zu können, dass ca. 85 % von ihnen nicht dazu in der Lage sind", beantwortete er ihre Frage, "Aber keine Sorge, du gehörst zu den anderen 15 %" Sie schien erleichtert: "Gut. Dann zeig mir mal was du so drauf hast." Das ließ er sich nicht zweimal sagen und so brauchte er keine drei Takte, um sich dem Rhythmus des Songs anzupassen, der gerade lief. "Und worauf wartest du?", fragte er sie, als sie noch immer recht still auf der Stelle stand, während er schon mitten im Beat war. Sie hatte ihn kurz beobachtet und darüber hinaus ganz vergessen, dass auch sie sich wohl bewegen sollte. "Auf nichts", antwortete sie schmunzelnd und stieg mit ein. "Warum hast du dir eigentlich den Job da draußen ausgesucht?", eröffnete Cathlyn die Unterhaltung ein paar Lieder später wieder, "Hier drinnen ist es doch viel interessanter." "Weil ich es kann", war seine erste Antwort, die er ihr grinsend verkündete, "Ich kann wohl auch andere Dinge, aber es macht mir einfach Spaß, wenn ich für Ordnung sorgen kann. Du fändest das wahrscheinlich langweilig, oder?" Sie sah ihn ernst an und ließ ein unbegeistertes "Haha" hören, nachdem sein erster Satz nicht gerade dem entsprach, was sie hatte hören wollen. Seine weiteren Erklärungen waren da schon brauchbarer und sie ließ sich wieder zu einem Lächeln hinreißen. "Also für Ordnung sorgen kannst du wirklich gut. Aber für mich wäre das wohl echt nichts. Ist nicht meine Art so etwas. Aber dafür kann ich tanzen und kellnern. Oh und austeilen kann ich eigentlich auch ganz gut", fügte sie noch lachend hinzu, obwohl das ihr voller Ernst war. "Und dabei siehst du so harmlos aus", entgegnete er ihr daraufhin, wenngleich er wusste, dass ihre Optik da doch über so einiges hinwegtäuschte. "Ich sehe zwar harmlos aus, aber ich kann auch unheimlich sein. Und für einen, der hier den Rausschmeißer spielt, siehst du auch nicht gerade gefährlich aus", entgegnete sie ihm amüsiert. "Findest du?", jetzt wirkte er doch irgendwie nachdenklich, "Na gut. Aber sag nicht, dass ich den Rausschmeißer nur spiele. Ich nehme meinen Job schon ziemlich ernst. Ich habe nur dich noch nie rausgeschmissen, deswegen weißt du es nicht, aber ich bin nicht immer so nett." Beschwichtigend hob sie die Hände und lächelte sanft: "Tut mir Leid, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich kann mich wohl glücklich schätzen, dass ich noch nie von dir rausgeschmissen wurde, was?" Diesem süßen Lächeln konnte man einfach nicht böse sein, und auch in Jamals Gesicht machte sich wieder eine freundlichere Miene breit. "Da kannst du dich tatsächlich glücklich schätzen", erklärte er, jedoch war das weniger ernst gemeint, als es klang, "Aber solange du keinen Ärger machst, brauchst du dir auch keine Sorgen machen. Du kennst ja die Regeln." Sie nickte. Sicher kannte sie die Regeln. Alexander – der Eigentümer dieses Clubs – hatte es strengstens verboten von hier irgendwelche Menschen zum Essen mit nach Hause zu nehmen, oder sie womöglich sogar gleich vor Ort zu "vernaschen". Alle wussten das, und alle hielten sich daran, denn immerhin war Alexander nicht ohne Grund ein sehr angesehener und respektierter Mann in dieser Stadt. "Oh...", Jamals Handy vibrierte in seiner Tasche. Er sah auf das Display, dann zu Cathlyn, "Tut mir Leid... Die Arbeit ruft. Kaum bin ich weg, schon gibt's Ärger. Ich muss los." "Schon okay", sie winkte ab, "Danke, für den Tanz." "Sehr gerne. Man sieht sich!", verabschiedete er sich noch und verschwand in Richtung Hinterausgang, wo sich wohl eine Schlägerei zusammengebraut hatte. Cathlyn seufzte leise. Sie sah sich kurz um und verdrehte genervt die Augen. Es war wohl einfach nicht ihr Abend. In all den Augenpaaren, die sie ansahen, erkannte man nichts als hirnlose, sabbernde Schweine, und das brauchte sie sich nun wirklich nicht geben. Nachdem nun auch Jamal sie im Stich gelassen hatte, entschied sie einen Haken hinter diese Nacht zu setzen und zu verschwinden. Aaron würde wohl noch wach sein, also machte sie sich auf den Weg zu ihm. 002 --- Eine Offenbarung. Ein stechender Schmerz bohrte sich durch ihren Kopf. Die Geräusche ihrer Umgebung waren unerträglich laut. Es machte sie bald wahnsinnig. June spürte den kalten, nassen Boden unter ihren Fingern. Sie öffnete die Augen und stützte sich vorsichtig auf ihre Hände. Central Park? Die Erinnerung daran, wie sie hierher gekommen war, ließ sich nicht mehr abrufen. Es war eindeutig zu viel Alkohol für eine Nacht gewesen. Die junge Frau zog sich an einem Baumstamm auf die Beine und sah sich um. Es musste mitten in der Nacht sein und June hatte unheimlichen Durst. Nur war hier weit und breit nichts außer Gras, Bäumen und Sträuchern... und Schritte. Sie lauschte in die Dunkelheit. Ein gleichmäßiges Schlagen, wie von Trommeln, hallte durch die Nacht. Es rauschte. Ist das..? Sie leckte sich unbewusst über die Lippen, als jemand sich näherte und sie dessen Blut immer deutlicher durch seine Adern rauschen hörte. Junes Atem wurde ganz flach, kaum hörbar, und in ihr stieg das Adrenalin. Sie hatte ihre Fingernägel in die Rinde des Baumes gegraben und beobachtete die beiden Gestalten, die sich zu ihrem eigenen Unglück hierher verirrt hatten. Das Holz zerbrach unter ihren Fingern und ein Ruck ging durch Junes Körper. Wie besessen sie stürzte sich auf das Paar. Kein klarer Gedanke war mehr übrig, nur noch das unbändige Verlangen nach Blut. Keine ganze Minute verging, bis der Mann, der seine Freundin heldenhaft vor diesem Monster zu verteidigen versucht hatte, bewusstlos in den Dreck fiel und June sich genüsslich der pochenden Halsschlagader der kläglich wimmernden Frau widmen konnte. Sie handelte instinktiv, wie ein Tier das Hunger hatte und verschwendete keinen Moment, darüber nachzudenken. Erst Minuten später, als der Durst sich legte, meldete sich ihr Kopf wieder zu Wort und sie realisierte allmählich, wo sie saß und was gerade geschehen war. "Oh Scheiße...", wie erstickt kamen die Worte über ihre Lippen. Ihre Hände, ihre Kleidung, alles war voller Blut.. "Scheiße, Scheiße... was hab ich getan?!", die Panik stieg in ihr auf, "Verdammt, was ist los?!" Der Anblick ihres Verbrechens schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte weg. So schnell sie ihre zitternden Beine tragen konnten, verschwand die junge Frau. Die Bilder in ihrem Kopf jedoch blieben. Sie wusste, dass sie Schreckliches getan hatte. Sie wusste wie sie aussehen musste, mit all dem Blut. Sie wusste, dass sie auf keinen Fall irgendjemand sehen durfte. Sie wollte auch überhaupt nicht gesehen oder gefunden werden, sie wollte niemanden sehen und sich am liebsten einfach nur noch auflösen und ins Nichts verschwinden. Ein paar Kilometer später wurde sie langsamer, sie hörte etwas. Oh nein, nein... nicht schon wieder. Es waren eindeutig Schritte. Sie kamen in ihre Richtung. Junes Blicke flogen eilig über den Boden und hoch zu den Bäumen. Sie brauchte ein Versteck und viel Zeit blieb ihr nicht, also flüchtete sie sich in eines der dichten Gebüsche. Auch wenn es nicht gerade das komfortabelste Versteck war, so war es doch immerhin ein sicherer Zufluchtsort im Dunkel der Nacht. Sie verharrte regungslos und hielt den Atem an, als  diese Person sichnäherte. Offenbar suchte er etwas. June beobachtete ihn. Er sah sich gründlich um, schloss immer wieder kurz die Augen und schien sich zu konzentrieren. Irgendetwas beschäftigen ihn und so wie es aussah, war das June. Er drehte sich augenblicklich in ihre Richtung, als sie sich nur einen Zentimeter bewegt hatte, und kam herüber. "Wovor versteckst du dich?", fragte er schließlich, als er direkt neben dem Gesträuch stand, in dem June sich versteckt hielt. Alle Muskeln in ihrem Körper waren zum Zerreißen gespannt, irgendwie musste sie sich aus diesem Schlammassel herausziehen. Wäre sie noch sie selbst gewesen, hätte sie wohl sofort die Flucht ergriffen. Doch sie war nicht mehr sie selbst und jetzt erschien es ihr aus irgendeinem Grund angebrachter, diesen Störenfried anzugreifen und auszuschalten. Knurrend sprang sie aus ihrem Versteck, dem Fremden entgegen und bereit ihn mit einem festen Schlag von den Beinen zu reißen. Sie hatte ausgeholt und wollte zuschlagen, doch ihr vermeintliches Opfer wich mit Leichtigkeit einen Schritt zur Seite und entging ihrem Angriff als wäre es nichts gewesen. "Wou, sachte Liebes", der Kerl schien verblüfft. Er hatte wohl nicht erwartet, so unverhofft angegriffen zu werden, doch machte er auch nicht den Eindruck, davon eingeschüchtert zu sein. June merkte, dass er ihre blutigen Hände musterte, als sie perplex vor ihm stand. Sie fluchte innerlich, dass sie ihn nicht erwischt hatte. "Ich muss weg!", verkündete sie dann und stürmte ziellos davon. Ihr Finder beobachtete ihren Fluchtversuch einen Augenblick lang, bevor er eingriff. "Ey! Bleib stehen!", rief er ihr hinterher und setzte sich in Bewegung, als er feststellen musste, dass seine Worte alleine nicht halfen. June rannte so schnell es ihr möglich war, wurde jedoch nur wenig später abrupt gebremst, als sie recht unsanft am Arm gepackt wurde. "Erst angreifen, dann wegrennen?", auch er knurrte leicht, als er mit ihr sprach, "Was bist du denn für eine?", doch sein Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war. Er schnaubte amüsiert, "Na, jedenfalls nicht mein Abendessen, schätze ich." "Verzieh dich besser, wenn du am Leben bleiben willst!", June fauchte und versuchte sich loszureißen, doch es hatte keinen Zweck. Sie hörte das Blut des Mannes und es klang wunderbar. Nur sollte es das nicht. "Verdammt, warum hört das nicht auf?!", Verzweiflung klang in ihrer Stimme mit, "Geh! Ich weiß nicht was mit mir los ist!" Doch der Kerl lachte: "Na klar." Ganz offensichtlich war dem Mädchen nicht klar, mit wem sie gerade sprach, aber woher auch? June hatte Panik. Sie wollte nicht noch jemanden auf dem Gewissen haben, auch wenn es diesem Mann wohl völlig egal zu sein schien, was sie sagte. "Verschwinde einfach!", schrie sie ihn an. "Du bist vielleicht hysterisch", antwortete ihr Gegenüber ganz ruhig, "Ich würde dir glatt den Hals umdrehen, wenn ich dann nicht Gefahr laufen würde, dass dein Meister mir den Kopf einschlägt." "Wovon zum Teufel redest du?!", June sah ihn mit einer Mischung aus Wut und Verwirrung an, "Meister? Ich bin niemandes Diener!" Langsam aber sicher trieb dieser Kerl sie in den Wahnsinn, wenn sie nicht schon längst wahnsinnig war. Sie hielt ihm ihre freie Hand vors Gesicht. "Das hier! Und das", sie zeigte auf ihre schmutzigen Klamotten, "das ist nicht normal! Irgendwas stimmt nicht mit mir! Vorhin ist irgendwas schief gelaufen und hat die Kontrolle übernommen. Ich konnte nichts dagegen tun!", ein klein wenig war es erleichternd, das loszuwerden, "Ich war nicht mehr ich selbst... Und du?", sie richtete ihren Finger auf ihn, "Entweder tickst du nicht mehr ganz richtig, oder du weißt was läuft! Klär mich auf!" June sah dem Mann fest in die Augen. Er schien ganz und gar nicht beunruhigt, eher etwas verwundert. Ihre Worte mussten sich wohl erst noch setzen, denn dann fing er plötzlich ohne jeden Grund an zu lachen, zumindest war der Grund für June nicht ersichtlich. "Ou Süße, du bist ja niedlich!", fing er an, "Aber du hast das ganz scharf beobachtet. Ich weiß ziemlich genau was los ist", er zog sein Handy aus der Tasche, "Warte kurz, ich muss eben etwas klären." June beobachtete ihn fassungslos, als er sich wohl köstlich über ihre Situation zu amüsieren schien. "Toll...", sagte sie leise, während der Fremde wohl darauf wartete, dass jemand seinen Anruf entgegennahm. Er sah June eine Weile nicht an, hielt sie aber immer noch am Arm fest und einige Sekunden später meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung. "Alexander!", begann der Mann, "Schönen guten Abend", dann schwieg er kurz und lauschte auf Alexanders Worte, "Bin noch unterwegs. Und du wirst nicht glauben, was ich eben im Central Park gefunden habe", er warf June einen kurzen Blick zu, dann fuhr er fort, "Eine Kleine ohne Meister. Was soll ich mit ihr machen? Umlegen? Oder denkst du, ihr Meister ist noch irgendwo und sie weiß es nur nicht?" "WAS?!", es klang nicht sehr erbaulich, was da am Telefon gesprochen wurde. Sie wollte sich losreißen. Vergeblich. Der Kerl hielt sie eisern fest, auch wenn er sich dabei wohl überhaupt nicht anzustrengen schien. Sie wurde erst wieder etwas ruhiger, als die Option, sie umzulegen, scheinbar gestrichen worden war. June versank in Gedanken. Sie konnte ohnehin nicht weg von hier, also versuchte sie sich die letzte Nacht wieder ins Gedächtnis zu rufen. Irgendetwas musste vorgefallen sein, doch ihr Hirn wollte das nicht preisgeben. Ganz plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als der Typ, der sie festhielt etwas lauter wurde: "Halt Stopp!", er wirkte ziemlich überrumpelt, "Ich hab sie doch nicht gewandelt! Das ist nicht meine Aufgabe!", er beschwerte sich lautstark, "Alexander, ich...", er blickte ungläubig auf sein Handy, von dem nur noch das leise Tuten zu hören war, das ihm sagte, dass Alexander aufgelegt hatte, "Scheiße...", er wandte sich an June und sah sie müde an, "Herzlichen Glückwunsch, du hast soeben mein Leben ruiniert." Er hätte sie einfach gleich umlegen sollen, er hätte Alexander nicht anrufen dürfen, doch jetzt war es zu spät, er würde sie mitnehmen müssen. "Ja, Scheiße!", schnauzte June ihn an, sie hatte die letzten Worte der Unterhaltung unfreiwillig mit angehört, "Was soll ich denn sagen? Mein Leben ist ruiniert und es wird nicht besser!" "Klappe halten und mitkommen", entgegnete er ihr ziemlich gereizt. Sie knurrte: "Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich kenne dich nicht mal und ich will nach Hause!", sie versuchte sich loszureißen, vergeblich, "Ich gehe bestimmt nicht mit dir mit!" "Und ob du das wirst!", entgegnete er ihr barsch. Er war wohl mit seinen Gedanken für einen Augenblick nicht anwesend, denn June entkam seinem festen Griff und rannte davon. Sie musste zurück nach Hause und sich in Sicherheit bringen. Das stand fest. Jedenfalls stand es einige Meter lang fest, bis ihr bewusst wurde, dass sie so nicht nach Hause gehen konnte. Sie wurde langsamer und hielt an. "Ich kann nicht mehr zurück...", wurde es ihr schlagartig klar. Es war zu gefährlich. Hinter sich hörte sie den Kerl langsam näher kommen, er beeilte sich nicht sonderlich. "Ey, Mädchen", begann er, als er wieder näher bei ihr war, "ich hab auch keinen Bock drauf, aber du wirst mich jetzt begleiten", er blieb neben ihr stehen, "Entweder freiwillig, oder ich knock dich einfach aus und zerr dich an den Haaren hinter mir her. Du hast die Wahl", daraufhin verschränkte er die Arme, "Und glaub bloß nicht, du könntest vor mir davonlaufen. Ich bin schneller als du." Sie dreht sich wütend zu ihm um. "Mein Name ist June! Nicht Mädchen", giftete sie ihn an, "Und du kannst mich mal! Wieso sollte ich mit dir mitgehen? Wo willst du überhaupt hin?" "Okay. June", er musterte sie nachdenklich, dann lächelte er, "Siehst aber eher wie Dezember aus. So bleich wie du bist... Ich will auch nach Hause. Zu mir" Er wartete einige Augenblicke, ob sie ihre Meinung noch ändern würde. Sie tat es nicht: "Und du siehst aus, als würden dir gleich ein paar Zähne fehlen. Arschloch!" "Wenn du nicht mitkommen willst, dann lässt du mir keine andere Wahl." Darauf folgte ein schneller, präziser Schlag gegen ihren Hals und sie fiel vor seinen Füßen zu Boden. Vor Junes Augen wurde augenblicklich alles schwarz. Sie bekam nichts mehr davon mit, wie sie hochgehoben und mitgenommen wurde, geschweige denn, wie sie in die Wohnung dieses Fremden kam. Als sie die Augen wieder öffnete, erkannte sie über sich eine weiße Decke. Sie sah sich um. Dunkle, moderne Möbel standen in diesem Zimmer herum, das Sofa, auf dem sie lag, war weich und gemütlich. Trotzdem: Das war nicht ihre Wohnung und sie hatte überhaupt kein gutes Gefühl. Na toll June, erst bringst du einen Menschen um und jetzt will dir ein Perverser an die Wäsche... kann es denn noch beschissener werden? Sie hörte aus der oberen Etage der erstaunlich aufgeräumten Maisonette Wohnung das Plätschern von Wasser, wohl eine Dusche. June musste sich kurz orientieren. Sie blickte in die offene Küche, hinter welcher eine gewundene Treppe nach oben führte. Daneben: eine Türe. Das musste der Ausgang sein, denn sonst waren hier keine anderen Türen zu sehen, außer einer gläsernen Balkontüre, die allerdings von Rollos versperrt wurde. Oben wurde das Wasser abgestellt. Sie sprang vom Sofa und wollte zur Türe, doch so weit kam sie nicht. "Na, aufgewacht Dornröschen?", ertönte eine wohlbekannte, männliche Stimme. June zuckte kurz zusammen, dann richtete sie ihre Blicke nach oben. Dort lehnte der Typ entspannt auf dem Mauersims, der den oberen Bereich abgrenzte, und sah zu ihr hinunter. "Keine Sorge, ich hab abgeschlossen", erklärte er ihr ruhig, "Du brauchst also gar nicht erst versuchen von hier abzuhauen." "Wenn es sein muss, trete ich die Türe ein!", entgegnete sie ihm stur. Er schüttelte genervt den Kopf. Dann löste er sich aus seiner bequemen Position und kam ganz gemütlich zu ihr herunter. "Wenn du meine Türe in Stücke schlägst, dann schlag ich dich in Stücke", meinte er ruhig, ging an ihr vorbei und blieb am Kühlschrank stehen. Er kramte kurz darin herum, dann nahm er einen Beutel mit roter Flüssigkeit heraus und warf ihn ihr entgegen. "Keine Ahnung, ob die noch gut ist... ich benutze sowas eigentlich nicht", war alles, was er dazu sagte. Es war sein kleiner Vorrat, für Notfälle, "Mahlzeit." June musterte den Beutel in ihrer Hand. Eine Blutkonserve? "Und jetzt?", sie sah ihn etwas unbeholfen an. "Trinken", war seine knappe Antwort. Der Kerl hatte ganz offensichtlich keine Lust sich mit ihr länger als nötig abzugeben und June war das bewusst. "Weißt du was?", begann sie mit genervtem Unterton, "Warum tun wir uns nicht beide einen Gefallen und du sagst mir was ich wissen will? Danach bist du mich los. Der junge Mann hatte sich inzwischen auf einen der Küchenstühle gesetzt und lehnte mit den Ellenbogen auf der Tischplatte, während er mit seinem Handy spielte. "Wäre schön, wenn es so einfach wäre", gab er zur Antwort, ohne dabei seinen Blick vom Display zu lösen. Er schien auch nicht wirklich bei der Sache zu sein, was June gerade überhaupt nicht passte. Sie packte die Blutkonserve mit Wucht vor ihm auf den Tisch und sah ihn wütend an. "Was soll daran schwierig sein?", knurrte sie, "Du hast keinen Bock auf mich und ich habe keinen Bock auf einen reichen, verwöhnten Schnösel wie dich! Mit solchen Typen wie dir komme ich nicht klar!" Er hob den Blick. "Schnösel?", schnaubte er amüsiert, "Sorry, dass ich nicht deinen Vorstellungen von adäquater Gesellschaft entspreche. Und jetzt entspann dich", er blickte wieder auf sein Smartphone, "Ich habe mir das genauso wenig ausgesucht wie du." Tatsächlich deutete einiges darauf hin, dass dieser Mann Geld besaß. Er war inzwischen in ein schlichtes T-Shirt und eine gemütliche Jogginghose geschlüpft, doch war June nicht entgangen, dass er im Park noch ziemlich aufgebrezelt ausgesehen hatte. Nicht nur das, auch seine Wohnung machte einen recht exklusiven und hochpreisigen Eindruck. June gefiel das alles allerdings überhaupt nicht, und dieser Typ gefiel ihr noch viel weniger. "Wenn du was wissen willst, dann hör auf dich wie eine Teenagerzicke zu benehmen", ergänzte er seine Worte schließlich, nachdem June ihn eine Weile finster angesehen hatte. "Tzz, Teenagerzicke", sie war schon ziemlich angefressen, doch es half wohl nichts, sich mit diesem Vollpfosten zu streiten. June verschränkte die Arme vor der Brust, wandte sich ab und ging ins Wohnzimmer. "Also?", fragte sie, nachdem sie artig auf dem Sofa Platz genommen hatte, " Schieß los." "Keinen Hunger?", entgegnete er ihr auf ihre Aufforderung hin und nahm die Blutkonserve vom Küchentisch, "Von mir aus." Er erhob sich vom Stuhl, steckte das Handy ein und brachte den Beutel zurück in den Kühlschrank. Dann – und es kam June wie eine Ewigkeit vor – kam er gemütlich zu ihr ins Wohnzimmer, setzte sich auf einen Hocker ihr gegenüber und schien bereit zu sein, ihr etwas darüber zu erzählen, was überhaupt los war. "Also, wo soll ich anfangen?", fragte er, während er sich mit den Unterarmen auf seine Oberschenkel lehnte und June ziemlich teilnahmslos ansah. "Ich will wissen was mit mir passiert ist!", schoss es aus ihr heraus. Als ob er das nicht wüsste! Ihr kurzer Ausbruch brachte ihn nicht aus der Ruhe, er überlegte eine Weile. "Gut, pass auf: Du hörst meinen Herzschlag und das Rauschen meines Blutes", er schwieg einige Sekunden, bedeutete ihr aber, dass sie nicht antworten sollte, "Du hattest ziemlichen Hunger und hast irgendjemandes Blut getrunken", er zeigte auf ihr schmutziges Shirt, "Und wenn du willst, dann bewegst du dich ungewöhnlich schnell", damit beendete er seine Aufzählung von Fakten, "Du, Liebes, bist ein Vampir." 003 --- Ciao bella. June musste unweigerlich lachen. "Ganz schlechter Scherz, mein Freund. Ganz schlecht", sie schüttelte ungläubig den Kopf. Der junge Mann schien allerdings nicht den Eindruck zu machen, als würde er sie gerade verarschen. Er sah sie einfach nur ruhig an. "Nicht dein Ernst, oder?", fragte sie jetzt doch etwas verunsichert. Die Fakten sprachen zwar eine andere Sprache, nur war das schlichtweg völlig absurd, "Es gibt überhaupt keine Vampire. Das hat sich mal irgendjemand ausgedacht, um die Leute verrückt zu machen!" "Nope", gab er ihr knapp zur Antwort und stand auf, "Ich zeig's dir." Er ging zurück in die Küche und holte die Blutkonserve aus dem Kühlschrank. June war nicht ganz klar, was er ihr damit zeigen wollte, bis er sie aufriss und der Geruch ihr schlagartig die Sinne vernebelte. Ihre Augen waren eisern auf den Beutel gerichtet und ihre Finger krallten sich immer fester in ihre Arme. Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, riss sie dem Kerl die Blutkonserve aus der Hand, nachdem der sie ihr hingehalten hatte und trank sie leer, bevor ihr Gegenüber wieder Platz genommen hatte. "Ach ja, nochwas", fing er an, nachdem June sich wieder etwas beruhigt hatte. Er zeigte auf die abgedunkelten Fenster, "die Sonne wird bald aufgehen. Wenn du nicht geröstet werden willst, dann solltest du drinnen bleiben. Wir sind hier schließlich nicht bei Twillight." Dabei verzog er keine Miene. June sah ihn nur mit großen Augen an. Weniger der Hinweis, dass sie nicht rausgehen sollte, vielmehr die Tatsache, dass er wohl Recht hatte, machte ihr Angst. Und dass sie so gierig auf dieses Blut gewesen war, das war das eigentlich Beängstigende an der ganzen Sache. "Ist das immer so intensiv? Dieses Verlangen?", fragte sie vorsichtig. "Siehst du mich den Verstand verlieren, weil du mir blutbekleckert gegenübersitzt?", er deutete dabei auf die frischen Blutspritzer, die wohl aus der Konserve stammten, "Also nein", dann beugte er sich kurz zu ihr rüber und nahm den leeren Beutel, "Trotzdem solltest du duschen gehen. Sonst saust du mir am Ende noch alles ein", er richtete den Finger auf das obere Stockwerk, "Dusche ist oben." "Hier duschen? Und was ist mit meiner Kleidung?", der Kerl war ihr definitiv nicht geheuer, "Den Gefallen hier nackt rumzulaufen, werde ich dir sicher nicht tun!" Er schmunzelte. Scheinbar erheiterte ihn dieser Gedanke. Perverser... "Nimm dich mal nicht zu wichtig", antwortete er ihr schließlich, "Das habe ich überhaupt nicht nötig." "Schön!", gab June knapp zurück und stand auf. Es war wohl zugegebenermaßen nicht die aller schlechteste Idee, sich endlich von all dem eingetrockneten Blut zu befreien und da sie wohl nicht das Haus verlassen konnte, blieb ihr nur diese eine Möglichkeit. Irgendwelche alten Klamotten würde er ihr schon geben können, also ging sie nach oben. Sie sah sich kurz um, als sie dort vor seinem Bett stand. Irgendwie hatte sie jetzt etwas anderes erwartet. Einen Sarg vielleicht, oder zumindest irgendwelche unheimlichen, schwarzen Vorhänge. Nichts dergleichen, einfach ein ganz normales, großes Bett. Recht gemütlich, wie es schien. Auf der anderen Seite des Raums war eine Türe, eine von vielleicht 3 Türen in dieser Wohnung. June steuerte geradewegs darauf zu, doch dahinter lag kein Badezimmer. Was zur Hölle... Dieser Kerl – und damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet – besaß einen riesigen, begehbaren Kleiderschrank. Auch gut. Sie schloss seufzend die Türe. Irgendwie war sie erleichtert. "Oh... na ganz toll!", schimpfte sie leise vor sich hin, als ihr klar wurde, dass das Badezimmer sich ohne nennenswerte Abgrenzung zum Schlafzimmer, direkt gegenüber des Bettes befand. Der Türbogen, der wohl noch nie eine Türe gesehen hatte, ließ den Blick ungeniert auf die gläserne Duschwand fallen. Ein Paradies der Freizügigkeit. June gefiel das ganz und gar nicht. Sie war zwar nicht gerade der verklemmte Typ, aber das ging ihr dann doch etwas zu weit. "Wieso hast du keine Badtüre?", rief sie ihm von oben zu. "Wozu?", entgegnete er, während er mit der Fernbedienung hantierte. "Privatsphäre?!", antwortete sie ihm leicht angekratzt. Er wandte seinen Blick nach oben und sah sie gelangweilt an. "Zum Kacken kannst du Privatsphäre haben. Das Klo ist hier unten", er zeigte hinter sich auf eine unscheinbare Türe neben der Treppe, "Und jetzt geh endlich duschen, ich will ins Bett!" June verdrehte die Augen. Aber offenbar würde er wohl unten bleiben, bis sie fertig war, immerhin. Sie verschwand im Bad und verdeckte die Dusche notdürftig mit einem großen Handtuch, bevor sie einstieg. Das warme Wasser tat ihr gut. Doch in ihrem Kopf kreisten die Gedanken umher, wie kleine Fischerboote auf offener See, die in einen Strudel geraten waren. Hilfeschreie in ihrem Kopf und zu ihren Füßen versickerte das rot verfärbte Wasser im Abfluss. Aufhören... Sie wollte an etwas Anderes denken. Es soll aufhören! Sie drehte das Wasser ab und atmete tief durch. Der laufende Fernseher unten im Wohnzimmer fing ihre Aufmerksamkeit ein, nachdem das Rauschen des Wassers verstummt war. Eine willkommene Ablenkung. June wickelte sich in das Handtuch und ging zurück ins Schlafzimmer. "Ich brauche was zum Anziehen!", rief sie nach unten. "Ich habe aber nichts!", war die recht unfreundliche Antwort. Der Junge war ätzend, soviel stand fest. "Hast du nicht irgendetwas, was du mir borgen könntest, bis ich mir selbst neue Kleidung besorgen kann?", fragte sie weiter, "Bitte?" Er seufzte nur genervt, stand dann aber dennoch auf, schaltete den Fernseher aus und ging nach oben. "Muss ich dir jetzt Klamotten raussuchen, oder was?", er sah sie müde an. Wohl zum Teil, weil er es tatsächlich war, aber in erster Linie, weil June ihm auf die Nerven ging. "Wäre es dir lieber, wenn ich in deinen Sachen wühle?", entgegnete sie ihm grummelnd, "Das gehört sich außerdem nicht." "Aha. Ein paar Manieren hast du also doch", dann ging er mit ihr in sein Ankleidezimmer und suchte ihr ein älteres, weites T-Shirt heraus , welches er wohl ohnehin nicht mehr anziehen würde, "Hier." Er drückte es ihr ziemlich schroff in die Hand und verließ das Zimmer. "Danke. Sehr nett!", brummte sie ihm noch hinterher. Wenigstens konnte sie sich nun in Ruhe in seinem Kleiderschrank umziehen, ohne sich beobachtet zu fühlen. Das Shirt war riesig, zumindest hätte es auch gut und gerne als kurzes Nachthemd durchgehen können. Um so besser. Als June wieder zurück ins Schlafzimmer kam, saß der Kerl gemütlich auf seinem Bett und tippte schnell auf seinem Handy herum. Er sah nicht aus, als wollte er angesprochen werden. Dennoch, June hielt diese Tatsache nicht davon ab: "Hast du sowas wie eine Waschmaschine? Ich würde gerne meine Sachen waschen." Er nickte, ohne sie anzusehen. "Unten hinter der Küche", sagte er trocken. Immerhin. "Okay. Und... Was passiert jetzt? Was kannst du mir noch über Vampire sagen?", es war wohl nicht verkehrt, ein paar Infos einzuholen. Er hob den Blick von seinem Display, musterte sie kurz in seinem Shirt und hob leicht die Augenbrauen. "Steht mir besser", gab er ihr zur Antwort und sah wieder auf das Smartphone. "Ey, hast du kein anderes Problem?!", sie verdrehte genervt die Augen, "Erzählst du mir jetzt noch was, oder nicht?" "Nicht", wieder sah er sie an, "Ich kann dir auch gar nicht alles erzählen, was ich weiß. Dann wären wir nächste Woche noch beschäftigt. Außerdem will ich jetzt schlafen, also verzieh dich nach unten aufs Sofa" "Was soll das denn bitteschön?! Ich soll hier bleiben, aber erzählen willst du mir auch nichts?", June wurde nicht schlau aus diesem Kerl, "Du kannst mich mal!" Frustriert wandte sie sich ab, holte ihre schmutzigen Klamotten aus dem Badezimmer und steuerte die Treppe an, bevor das Ganze noch in einem Streit eskalierte. "Ach June", begann er, als sie schon die ersten paar Stufen genommen hatte. "Was?!" "Ich würde dir empfehlen keine Fluchtversuche zu unternehmen." "Wieso? Schlägst du mich dann wieder k.o. und verschleppst mich?", ihr war die Wut deutlich anzuhören. "Nein. Aber Jungvampire ohne Meister werden für gewöhnlich als Freiwild betrachtet", klärte er sie auf, "Du stehst praktisch auf der Abschussliste ganz oben, also bleib besser hier, wenn du noch eine Weile leben willst." Sie schnaubte genervt: "Schon klar. Glaub bloß nicht, dass ich dich Meister nenne. Penner." Darauf kam kein Kommentar mehr zurück, sie war die Aufregung wohl nicht wert, zumindest hatte sie den Eindruck, als sie wieder nach unten ging und ihre Sachen in die Waschmaschine steckte. Ganz sicher hatte sie nicht vor, hier zu versauern. Kann er sich abschminken... June ging zurück ins Wohnzimmer und wartete einige Minuten. Oben war alles still, sie hörte nur das leise Atmen aus der oberen Etage. Klang, als würde er schon schlafen. Das war ihre Gelegenheit. Sie sah kurz auf die Uhr. "Von wegen Sonnenaufgang...", murmelte sie leise. Es war gerade mal halb 5 und es war März, also konnte es noch eine Weile dauern, bis die Sonne aufging. Nur musste sie sich wohl zu allererst noch eine Hose 'borgen'. So leise sie konnte, schlich sie wieder nach oben. Der Kerl zeigte keine Regung, als sie durch sein Zimmer ging und in seinem Kleiderschrank verschwand. Er war wohl wirklich müde gewesen. Um so besser für June. Sie suchte sich eine dreiviertellange Hose aus seinem üppigen Sortiment, schlüpfte schnell hinein und schlich sich wieder nach unten. Die Eingangstüre unten war abgeschlossen – das hatte er ihr ja gesagt – doch davon ließ sie sich nicht aufhalten. Sie zog eine Haarspange aus ihren zusammengebundenen Haaren und öffnete damit in wenigen Sekunden die Türe. Bingo! — Es klingelte. Aaron schlug das Buch zu, das er gerade noch gelesen hatte. "Ha, wusste ich es doch!", er lachte, als er Cathlyn die Türe öffnete, "Komm rein." "Kennst mich doch", meinte sie und trat mit einem Grinsen in seine Wohnung. "Also? Wie war's? Hast du noch Spaß gehabt?", fragte er, während er ihr das Sofa freiräumte. "Hm...", kam es recht unbegeistert von ihr, "Es ging. Ich habe eine Weile mit Jamal getanzt", sie lächelte dabei, setzte aber in der nächsten Sekunde einen müden Gesichtsausdruck auf, "Ansonsten war es total öde... Ehrlich, die meisten schubsen einen nur rum, oder wollen dir an den Arsch grabschen und man muss sich zügeln, um nicht irgendjemandem den Kopf abzureißen", sie ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen und zog ihre High Heels aus, "Meine Füße bringen mich um." "Und deswegen halte ich mich nicht gerne in Menschenmassen auf. Man hat dort keine Luft zum Atmen", jedenfalls kam es Aaron so vor, "Aber jetzt entspann dich. Willst du was trinken?" Cathlyn sah ihn groß an. "Entspannen?", wiederholte sie seine Worte ungläubig, "Aaron, hast du jemals gesehen, dass ich mich entspanne?" Sie lachte und Aaron wusste genau wieso. So lange er sie kannte, konnte sie kaum länger als zehn Minuten still sitzen. Cathlyn war ständig unter Strom, als hätte sie permanent Hummeln im Arsch. "Aber etwas trinken würde ich schon. Gib mir einfach was du gerade da hast", bat sie ihn freundlich und sah ihm hinterher, während er aus der Küche zwei gefüllte Gläser holte. "Es würde dir jedenfalls nicht schaden, wenn du dich ab und zu mal entspannen würdest", sagte er ganz ruhig und stellte sich hinter sie, damit er ihre Schultern ein wenig durchkneten konnte, "siehst du, und jetzt bleib einfach ganz ruhig." "Ich entspanne mich mehr, wenn ich tanze...", entgegnete sie ihm und blickte dabei in seine Richtung. Aaron ließ sich davon jedoch nicht behelligen und massierte einfach weiter. Cathlyn ergab sich also ihrem Schicksal und seufzte wohlig. Sie musste zugeben, dass das ziemlich angenehm war. "Hat Jamal irgendwas gesagt?", fragte er nach einigen Minuten der Stille. "Was soll er gesagt haben?", fragte sie zurück. "Keine Ahnung, irgendwas Interessantes?" "Nein. Nur Smalltalk", beantwortete sie seine Frage, "Was hast du so getrieben? Wieder gelesen?" Aaron schnaubte leicht amüsiert: "Dass du mich das überhaupt noch fragst. Die Antwort kennst du doch." Er war ohne Zweifel der König der Bücherwürmer. In seiner Wohnung konnte man die Farbe seiner Wände eigentlich nur noch oberhalb der Türen und Fenster erkennen, da ansonsten überall Regale mit Büchern standen, die er – wie er sagte – auch schon alle mindestens einmal gelesen hatte. Aaron war ein ruhiger Zeitgenosse, keinesfalls schüchtern, aber eben eher schweigsam, zumindest im Vergleich zu Tyler und besonders wenn man ihn mit Cathlyn verglich. Sein Handy klingelte kurz. "Sorry", entschuldigte er sich, dass er die Massage an dieser Stelle so abrupt beendete und kam wieder um das Sofa herum, um sein Handy vom Wohnzimmertisch zu nehmen. "Schon okay", meinte Cathlyn nur und lächelte zufrieden, "Danke." Aaron musterte die Zeilen auf seinem Display. "Tyler hat gerade unsere Verabredung für morgen gecancelt...", fasste er die Nachricht kurz für Cathlyn zusammen, "Klingt so, als würde Alexander ihm Stress machen." – "Komisch. Er lässt sich sowas doch sonst nicht entgehen", wunderte sie sich. Das war schon ziemlich ungewöhnlich. Man konnte ja viel über Tyler sagen, aber Verabredungen ließ er sonst nie platzen. "Er schreibt auch, dass ich lieber nicht nachfragen soll", Aaron sah seine Freundin planlos an, "Sollte ich wohl nicht, oder?" Sie schüttelte den Kopf und damit war das Thema auch gegessen. "Dein Angebot steht doch noch, dass ich hier schlafen kann, oder?", fragte sie vorsichtshalber mal nach, obwohl sie die Antwort eigentlich kannte. "Klar, ich hab doch genügend Platz. Mach's dir bequem. Du weißt ja, wo alles ist" "Habe ich letztes Mal eigentlich Sachen dagelassen?", sie sah ihn fragend an, während sie sich das Glas vom Tisch angelte. Aaron zuckte mit den Schultern: "Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn du was brauchst: Meinen Schrank weißt du ja zu finden." "Ich sollte wohl mal einen kleinen Vorrat an Klamotten bei dir anlegen... so oft wie ich hier schlafe", sie lachte und leerte dann das Glas. Aaron hatte nichts dagegen, schließlich war seine Wohnung groß genug und irgendwo zwischen all den Bücherregalen würde man bestimmt auch noch eine Kommode finden, in die sie ihre Sachen stecken konnte: "Klar, mach ruhig." "Danke. Du bist ein Schatz", freute sie sich und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Wange, "Ich bin dann mal im Bad." Er nickte nur knapp, als sie sich bedankte. Für ihn war das mehr als selbstverständlich, schließlich war sie eine gute Freundin, und abschlagen konnte man ihr ohnehin nichts. Wobei es ihn eigentlich auch nicht störte, wenn sie sich seine Klamotten borgte, aber diese Entscheidung lag alleine bei ihr. Er setzte sich also gemütlich auf sein Sofa, schaltete die Glotze ein und wartete, bis Cathlyn wieder aus dem Bad kam. Um diese Uhrzeit lief allerdings nichts besonders reizvolles. Trash TV eben. Glücklicherweise brauchte sein Gast nicht all zu lange. Aaron folgte ihr mit seinen Blicken, während sie im Handtuch an ihm vorbei in sein Schlafzimmer eilte, um sich an seinem Schrank zu bedienen. Kein ungewohnter Anblick, dennoch immer wieder schön anzusehen und niemals langweilig. Cathlyn hatte sich wie üblich eines seiner Hemden geborgt. Sie brachte das Handtuch zurück ins Bad und ließ sich anschließend neben Aaron aufs Sofa fallen. "Ich hab nachgedacht", eröffnete sie das Gespräch erneut, "Ich kann meine Sachen nicht hier lassen! Wie sieht das denn aus, wenn du Besuch bekommst?" Dabei grinste sie ihn schelmisch an. Sie wusste, dass die meiste Zeit sie selbst der Besuch war.  Aaron zuckte mit den Schultern. "Glaube kaum, dass mein Besuch einen Blick in meine Schränke werfen wird", entgegnete er recht gleichgültig, "Und wenn? Ist doch nicht mein Problem." "Auch wieder wahr", sie sinnierte kurz vor sich hin, "Du amüsierst dich und dann schickst du sie in die Wüste...", sie sah ihn schmunzelnd an. "Was soll ich auch sonst mit ihnen machen? Ich bin kein Beziehungstyp. Und die wissen das auch", entgegnete er und Cathlyn fuhr fort: "Erstaunlich, dass ich so lange bleiben darf. So oft wie ich schon hier gepennt habe..." Aaron sah sie amüsiert an. "Du bist ja auch eine gute Freundin und kein One-Night-Stand. Du darfst das", erklärte er ihr die Umstände nun schon zum gefühlt 100sten Mal und obwohl es so selbstverständlich schien, war es doch ein Privileg. "Weiß ich doch", antwortete Cathlyn, "Ich nehme übrigens wieder das Sofa." Er nickte. Sie schlief immer auf dem Sofa, obwohl Aaron ihr schon duzende Male angeboten hatte, dass sie in seinem Bett schlafen könnte, was deutlich bequemer war. Doch sie wollte nicht. "Was hast du da überhaupt gelesen?", sie schnappte sich das Buch vom Wohnzimmertisch und betrachtete es skeptisch. Es sah ziemlich alt aus. "Das habe ich mal von meinem Meister bekommen. Ist sehr interessant. Schau rein", erklärte er. Cathlyn schlug die ersten Seiten auf und wunderte sich nun doch etwas: "Was ist das?" "Oh Mann, dein Gesicht. Das sind Runen. Ist nicht jedermanns Sache." "Ah... okay", sie lächelte leicht irritiert, "Ich wusste gar nicht, dass du Runen lesen kannst." "Jetzt weißt du's", antwortete er nur kurz, fuhr dann aber fort, "Ist ganz praktisch, schließlich sind einige wichtige Teile unserer Geschichte so geschrieben." Sie nickte. Auch ihre Meisterin hatte ihr einst das Lesen alter Schriften beigebracht, allerdings Hebräisch – was wohl mit ihrer Herkunft zu tun hatte – und das konnte man kein bisschen vergleichen. "Ja, wenn einen das interessiert", dann klappte sie das Buch zu und legte es zurück auf den Tisch, "Themawechsel", sie hob die Füße an und platzierte sie auf Aarons Schoß, "Da du so gut massieren kannst: jetzt bitte die Füße." Sie beobachtete ihn schmunzelnd. "Sonst noch einen Wunsch?", entgegnete er ihr recht unbegeistert. "Was ist denn los?", sie piekste ihm in die Seite, "Ich will dich doch nur aufziehen. Seit wann verstehst du keinen Spaß mehr?" "Nahh...", er rieb sich kurz die Augen, "Ich hab nicht gut geschlafen. Könnte daran liegen. Sorry." "Ich hol mir noch was zu trinken", sie stand auf und schnappte ihr leeres Glas vom Tisch, "Willst du auch noch was?" Aaron nickte und Cathlyn nahm auch sein leeres Glas mit in die Küche. "Du Aaron, hast du eigentlich eine Creme, die ich benutzen könnte?", fragte sie, als sie ihm sein Glas in die Hand drückte. "Creme?", er sah sie ahnungslos an, "Im Ernst?", er schüttelte den Kopf, "Tut mir echt Leid, aber damit kann ich nicht dienen. Das musst du schon selbst von zu Hause mitbringen... Du hast doch sonst immer was dabei." "Naja ich hatte nicht geplant heute hier zu übernachten...", erklärte sie sich, "Aber du hast echt nichts da? Nicht einmal eine normale Creme?" Wieder schüttelte er den Kopf: "Sowas benutze ich nicht. Ich brauche nur meinen Schlaf." "Ja, du alte Schlafmütze. Deinen Schönheitsschlaf", lachte Cathlyn. Aaron dachte kurz darüber nach, dann antwortete er: "Ich denke das ist die passende Bezeichnung, obwohl das bei meinem Aussehen ja nicht mehr wirklich nötig ist." Er grinste schelmisch. Solche Kommentare waren bei ihm nicht all zu häufig, dennoch musste er es ab und an loswerden. "Ah, da hast du natürlich auch wieder Recht!", bestätigte sie seine Aussage, "Aber Eigenlob stinkt, das weißt du hoffentlich." "Ich weiß. Wollte es nur mal wieder gesagt haben." "Okay, dann habe ich nichts gesagt", sie grinste ihn breit an, "Aber wie auch immer: ich bräuchte etwas Creme für meine Beine. Ich bin ja sonst nicht kleinlich, aber nach dem Duschen muss ich meine Beine eincremen." Aarons Blicke fielen auf ihre langen Beine. "Wieso? Sehen doch auch so gut aus." "Findest du?" "Klar. Oder habe ich dich jemals angelogen?", er sah sie fragend an. "Ich hoffe nicht!", kam es dann mit leichter Entrüstung von ihr. "Habe ich nicht", sagte er darauf. "Gut", jetzt war Cathlyn wieder ganz ruhig, "Ich habe auch nichts anderes erwartet. Es ist schön einen ehrlichen Freund zu haben", sie überlegte kurz, "Tyler ist ein elender Schleimer." "Als ob dir das nicht gefallen würde", er lachte, weil er wusste, dass Cathlyn Tylers überschwängliche Komplimente bei Weitem nicht so schlimm fand, wie sie behauptete. "Was?!", sie warf ihm einen entsetzten Blick zu, Aaron wich aber nicht von seinem Standpunkt ab, "Okay okay, ein bisschen vielleicht", gab Cathlyn schließlich zu und grinste verlegen, als hätte man sie beim Naschen erwischt. Sie gähnte kurz und stütze ihren Kopf auf ihre Hand, "Ich bin sowieso zu müde, um mir jetzt noch eine Creme zu organisieren... Danke Aaron." "Wofür?", er konnte sich nicht erinnern irgendwas gemacht zu haben, weswegen sie ihm dankbar sein könnte. "Weil du ehrlich zu mir bist", klärte sie die Sache auf. "Dafür sind Freunde doch da", er lächelte, "Aber wenn du wirklich unbedingt Creme brauchst, dann solltest du vielleicht mal eine hier lassen. Am besten aber außer Sichtweite, sonst kannst du dir jedes Mal eine neue mitbringen..." Cathlyn nickte kurz, sagte aber nichts mehr dazu. Die Müdigkeit schien sie gerade zu überrollen, was Aaron nicht entgangen war. "Ich denke es wird Zeit, dass du schläfst", fing er wieder an, "Steh auf." Er wartete bis seine Freundin sich vom Sofa gehievt hatte und zog dieses mit wenigen Griffen zu einer großen Schlafstätte aus, in die Cathlyn sich auch umgehend wieder fallen ließ. "Was für ein Service", murmelte sie noch leise, als er ihr Decke und Kissen brachte. "So bin ich eben", meinte er schmunzelnd und nahm sein Buch vom Tisch, "Dann lass ich dich mal in Ruhe schlafen." "Du kannst auch hier sitzen bleiben. Du musst dich nicht unbedingt verkrümeln." "Nicht? Na, auch gut, dann lese ich hier noch ein wenig", sagte er und nahm neben ihr Platz. Cathlyn hatte sich die Decke inzwischen fast komplett über den Kopf gezogen, nur noch ihre dunkelbraunen Haare spitzten hervor. Aaron betrachtete sie eine Weile und musste innerlich lachen. "Du weißt schon, dass du ein ziemlich lustiges Bild abgibst?", er schmunzelte, "Man sieht nur deine Haare und der Rest ist unter der Decke versteckt." "So sollte es auch sein. Oder willst du mehr sehen?", fragte sie frech zurück. Aaron zog ihr die Decke ein Stück herunter, bevor er antwortete: "Süße, ich habe schon mehr gesehen." Süße?! "Ich bin nicht süß. Und ich weiß, dass du schon mehr gesehen hast", entgegnete sie ihm. Es stört sie auch nicht weiter, wenn sie sich ab und zu vor ihm umzog, schließlich kannten die beiden sich schon ewig und so hatte man kaum noch Geheimnisse voreinander. "Oh entschuldige", grinste er sie an, und klappte die Decke wieder hoch, sodass Cathlyn – bis auf ein paar Haarsträhnen – wieder verschwunden war, "Schlaf jetzt lieber." "Bin schon dabei..." "Ich hau mich jetzt wohl auch aufs Ohr. Schlaf schön", sagte er und stand auf. Ganz allmählich hatte auch ihn die Müdigkeit eingeholt und er würde wohl keine zwei Seiten mehr schaffen, bevor ihm die Augen zufielen. "Du auch...", erwiderte Cathlyn noch leise, bevor sie friedlich unter ihrer Decke ins Land der Träume verschwand. 004 --- Zurück auf Anfang. Ein nervtötendes Piepen riss Tyler unsanft aus dem Schlaf. Die Waschmaschine war fertig. "Stell das ab!", maulte er laut und zog sich die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, dass dieser Ton dadurch leiser werden würde. Er seufzte genervt, als nichts passierte. Es konnte ja wohl nicht sein, dass dieses Mädchen so tief schlief, dass sie das nicht hörte. Tyler schlug die Decke zurück und stand auf, irgendetwas musste er schließlich unternehmen. "Sag mal, bist du...?!", fluchte er los, wurde dann aber leiser, "June?" Das Sofa war leer. Es sah auch nicht so aus, als hätte dort jemand geschlafen. Er ging nach unten. Shit... Die Türe war offen. Wie auch immer sie das gemacht hatte, er hatte es nicht mitbekommen. "Das kann ja wohl nicht wahr sein...", schimpfte er mit sich selbst und ging durch die Küche, um in einer kleinen Kammer dahinter die Waschmaschine abzuschalten. Er hatte eigentlich auch überhaupt keine Lust sich jetzt damit abzugeben, dass er dieses Gör zurückholen sollte. Vielleicht würde er heute Abend darüber nachdenken, aber wahrscheinlich war sie ohnehin längst tot, oder jemand hatte sie entdeckt, oder... Tylers Blick fiel auf eine dunkelblaue Geldbörse, die nicht seine eigene war. June musste sie wohl aus ihrer Hose genommen haben, bevor sie diese in die Maschine gesteckt hatte. Sowas Dummes... Er grinste schelmisch. "June Garcia", las er sich den Namen vor, der auf sämtlichen Mitglieds- und Bonuskarten geschrieben stand. Er zog auch ihren Ausweis hervor und schmunzelte über ihr junges Alter. Die Adresse, die darauf stand, war nicht all zu weit weg. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Das wäre noch machbar. Sollte sie tatsächlich dort sein, dann würde er sie noch rechtzeitig zurückbringen können. Andererseits war sie den ganzen Stress überhaupt nicht wert und wenn sie nicht dort war, dann hätte er sowieso keine Zeit mehr, um noch irgendwo anders nach ihr zu suchen. Er hatte das Ganze gedanklich schon auf später verschoben, als ihm noch etwas auffiel. "Oha...", mit leicht angehobenen Brauen las er eine ihrer Visitenkarten durch. Journalistin in Ausbildung... Nicht unbedingt die optimale Berufswahl, um ein Geheimnis zu bewahren. Tyler steckte das Kärtchen ein, ging sich schnell eine andere Hose anziehen und verschwand mit dem Autoschlüssel zur Tür hinaus. Zwar wäre er zu Fuß wohl schneller gewesen, nur bot der Wagen ihm immerhin ein wenig Schutz vor der Sonne, für den Fall, dass er nicht rechtzeitig wieder zu Hause sein sollte. Glücklicherweise war der Verkehr um diese Uhrzeit noch halbwegs überschaubar und Tyler kam zügig in einer recht übersichtlichen Wohnsiedlung an, wo er mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit bis zu Junes Haus fuhr. Er hatte nicht viel Zeit, sich die Gegend hier genauer anzusehen, aber dass er hier nicht wohnen wollen würde, war ihm auf den ersten Blick klar. Viel zu dicht besiedelt. Er bevorzugte da doch eher die Weitläufigkeit seines Grundstücks weiter außerhalb. Das Haus war nicht allzu groß, drei Stockwerke, inklusive Dachbodenwohnung vielleicht. Tyler klingelte an der Haustüre. Auf dem Klingelschild standen vier Namen. Manuel, Evelyn, June und Dave Garcia. Noch zu Hause also. Von drinnen kam keine Reaktion. Er nahm die Visitenkarte und wählte Junes Handynummer. Wenige Sekunden später fing er an zu grinsen. Drinnen hörte er ein Handy klingeln. Volltreffer. Es dauerte einen Augenblick, bis tatsächlich jemand am anderen Ende antwortete: "Garcia." Tyler antwortete nicht. "Hallo?", fragte die Frauenstimme nochmal. Jetzt war Tyler sich sicher: Es war June. "Rate mal, wer gerade vor deiner Haustüre steht", fing er an und konnte deutlich hören, dass sie scharf die Luft einzog, "Also ich weiß ja nicht wie's dir geht, aber ich habe eigentlich keine große Lust auf Streitereien", er betrachtete die Türe, während er mit ihr sprach, "Ich könnte jetzt einfach deine Türe eintreten und dich holen, allerdings muss ich dir sagen, dass ich dann nicht mehr so freundlich sein werde", June antwortete nicht, "Oder – und diese Variante wäre mir deutlich lieber – du kommst einfach freiwillig raus und wir gehen ganz entspannt zurück zu meiner Wohnung... Was sagst du?" Er wartete, doch June blieb still. Heilige Scheiße! June stand oben in ihrem Zimmer. Sie war im Moment unfähig sich zu rühren. Überlegte eilig hin und her, doch ihr kam gerade keine zündende Idee, die die Situation hätte retten können. Sie legte auf. Tyler musterte skeptisch sein Handy, als June das Gespräch wortlos beendet hatte. Er hob den Blick zur Türe. Sah so aus, als müsste er sie nun doch holen. Er seufzte innerlich. Doch dann öffnete sich die Tür von ganz allein. Zumindest fast. June stand dahinter und sah ihn nicht gerade begeistert an. "Komm rein und halt die Klappe", sagte sie leise und ließ ihn eintreten, "Damit das klar ist: Ich bleibe hier. Ich komme nicht mit." "Du bleibst ganz sicher nicht hier", sein anfängliches Erstaunen, als sie die Türe geöffnet hatte, war verschwunden. Er hatte die Arme verschränkt und sah sie streng an, "Glaub mir, du willst gar nicht hier bleiben." June wich allerdings nicht von ihrer Meinung ab: "Von wegen!", entgegnete sie ihm stur, "Was soll ich denn bei dir? Ich habe einen Job. Freunde und Familie. Das lasse ich nicht einfach so zurück." Tyler schnaubte: "Sobald du Hunger bekommst, wirst du deiner geliebten Familie an die Gurgel springen", er hob abwehrend die Hände, "Nicht, dass mich das interessieren würde. Ich will damit nur sagen, dass du ohne meine Hilfe nicht klarkommen wirst." June schluckte schwer, bei dem Gedanken daran, ihrer Familie etwas anzutun. Tyler fuhr fort: "Und deinen Job wirst du kündigen können. Du kannst tagsüber nicht raus." "Meinen Job werde ich ganz bestimmt nicht kündigen! Ich MUSS Geld verdienen!", entgegnete sie ihm wütend, "Ich wohne nicht ohne Grund hier über meinen Eltern!", sie atmete tief durch, "Außerdem kann ich nicht einfach so verschwinden. Sie würden mich suchen." Er musterte sie nachdenklich. "Gut", sagte er schließlich, "dann schreib ihnen einen Abschiedsbrief." "Was?!" "Damit sie dich nicht suchen. Schreib ihnen, dass du von mir aus spontan beschlossen hast eine Weltreise zu unternehmen", dieses Zugeständnis musste er ihr wohl machen, "Und ansonsten kannst du all deine Argumente in die Tonne klopfen. Es gibt keinen Grund warum du hier bleiben solltest." Sie funkelte ihn sauer an. Er ließ sich einfach nicht umstimmen, und sie wusste, dass er sie im Notfall auch einfach so wieder mitnehmen konnte. "Okay. Ich komme mit. Aber nur, wenn wir gemeinsam einen akzeptablen Kompromiss finden. Ansonsten bewege ich mich keinen Millimeter vom Fleck", erklärte sie. Vielleicht konnte sie so noch irgendwas dabei für sich rausschlagen. Tyler sah sie zunächst nur ruhig an, dann lachte er: "Ach was? Du willst einen Kompromiss?", er grinste sie an, als wäre sie gerade kläglich daran gescheitert einen Witz zu erzählen, "Pass auf, ich schlage dir einen vor", sein Gesicht wurde plötzlich ganz kühl, "In Anbetracht der Tatsache, dass du mich um mein Abendessen gebracht hast, könnte ich mich ja mal in der Wohnung deiner Eltern nach was Essbarem umsehen", er ließ das einen Augenblick lang so im Raum stehen und June sah alles andere als begeistert aus. "Sieh sie auch nur einmal schief an und ich schwöre dir, ich reiße dich in Stücke!", sie knurrte finster und hatte ihn blitzschnell am Kragen gepackt. Zwar war ihre Mutter um diese Uhrzeit schon längst zur Arbeit gegangen und auch ihr Vater war nicht zu Hause, doch oben lag Dave in seinem Zimmer und schlief seelenruhig. Tyler räusperte sich kurz und ignorierte ihre Hand an seinem Shirt. "Entgegenkommenderweise würde ich aber davon absehen, deine Eltern zu überfallen, wenn du im Gegenzug mit mir mitkommst", er sah sie emotionslos an, "Du solltest dich schnell entscheiden", er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, "Ich werde nämlich langsam unruhig." "Dieser Kompromiss ist scheiße!", fluchte sie, ließ ihn aber los und gab sich geschlagen. Sie wollte ihren Bruder nicht unnötig in Gefahr bringen und sie konnte nicht einschätzen, wie stark dieser Kerl war. "Also ich finde den Kompromiss klasse", entgegnete er ihr und wieder zeichnete sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen ab. Er wusste, dass er sie damit geknackt hatte. "Ich will einige meiner Sachen mitnehmen... Kleidung und so", sagte sie resigniert und Tyler nickte. "Klar, mach nur. Aber beeil dich", meinte er ruhig und lehnte sich entspannt gegen die Wand im Flur. Er sah ihr hinterher, als sie die Treppen wieder hinaufstieg. Sie würde nicht abhauen. Zumindest ging Tyler schwer davon aus, denn sie würde ihn wohl kaum alleine im Haus ihrer Eltern zurücklassen. Also musste er lediglich die Uhr im Auge behalten. Er wartete einige Minuten, bis er der Meinung war, dass sie nun lange genug gebraucht hatte. Es war nicht schwer die richtige Zimmertüre zu finden, da man dahinter deutlich hören konnte, dass jemand Schubladen öffnete und wieder schloss. Tyler klopfte nicht, er trat in ihr Zimmer. "Hast du's bald?", fragte er ungeduldig und tippte leicht auf seine Armbanduhr, "Wird Zeit, dass wir loskommen." June hatte ihn schon kommen hören, daher war sie auch nicht groß überrascht, als er plötzlich bei ihr im Zimmer stand. "Ja doch!", brummte sie genervt und zog den Reißverschluss ihres Reisekoffers zu, "Gib mir noch 10 Minuten, damit ich einen Brief schreiben kann." Er verdrehte kurz die Augen. "Schön. 10 Minuten", wiederholte er. "Alleine!", fügte June noch hinzu, als Tyler keine Anstalten machte sich wieder zu verziehen. Er sah nicht wirklich begeistert aus, doch er gewährte ihr diesen Wunsch, ging zurück ins Treppenhaus und schloss die Türe hinter sich. June wartete bis sie wieder allein war, bevor sie sich daran machte, ein paar letzte Zeilen an ihre Familie niederzuschreiben. Die Worte brannten wie Zwiebeln in ihren Augen. Je länger sie schrieb, desto schlimmer wurde es. Nie hätte sie gedacht, dass sie ihren Eltern jemals solche Zeilen schreiben müsste. Alles voller Lügen, bis auf die Tatsache, dass sie sie liebte. Aber welche andere Wahl hatte sie? June wollte nicht, dass ihre Familie sich all zu große Sorgen machen musste, auch wenn sie das sicher trotzdem tun würden. Also schrieb sie nicht, dass sie verzweifelt oder traurig war. Das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Sie atmete tief durch, als sie den Stift beiseite legte. Das aller Wichtigste war, dass sie die Nerven behielt. Sie würde Miranda kontaktieren. Jemand musste ihrer Mutter unter die Arme greifen und da June das im Moment nicht selbst tun konnte, musste Miranda das übernehmen, schließlich war sie ihre beste Freundin. Dieser Gedanke erleichterte sie irgendwie. Es war nicht viel, aber zumindest würde sie sich so nicht ständig um ihre Eltern sorgen müssen. Sie schrieb ihrer Freundin eine Nachricht, dann stand sie auf und blickte kurz durch ihr Zimmer. Sie hörte ihren Bruder nebenan, wie er sich in seinem Bett umdrehte. Verrückt eigentlich, dass sie das durch die Wand hörte, nur konnte sie das gerade nicht unbedingt aufmuntern. June griff ihren Koffer und verließ das Zimmer. Sie verharrte einen Augenblick am oberen Ende der Treppe. Nur zwei Meter weiter den Flur entlang, Tyler würde das gar nicht merken, war Daves Zimmer. Sie ging die paar Schritte, legte ihre Hand auf die Klinke und drückte sie leise hinunter. Durch den Türspalt konnte sie ihn sehen. Friedlich lag er in seinem Bett und schlief. Sein bombensicherer Schlaf war beeindruckend. Dennoch wollte sie es nicht wagen, das Zimmer zu betreten. Tyler war ungeduldig und wahrscheinlich würde sie es nicht übers Herz bringen, sich von ihrem Bruder zu lösen, wenn sie erst neben ihm stand. Ihr kleiner Bruder, der im Grunde eigentlich gar nicht mehr so klein war, immerhin größer als sie selbst, und trotzdem hatte sie noch immer das schwesterliche Bedürfnis, ihn zu schützen. Doch gerade im Moment war sie es wohl selbst, vor der man ihn schützen musste. Einen flüchtigen Moment hatte sie ihre Blicke noch auf Daves schlafendes Gesicht gerichtet, dann schloss sie die Türe, rieb sich die Augen und ging die Stufen hinunter. "Fertig...", sagte sie leise, als sie unten im Flur auf Tyler traf. "Wurde ja Zeit", war seine Antwort und er setzte sich in Bewegung. Er war zügig unterwegs, nicht übermenschlich, eben einfach nur schneller als sonst und June trottete ihm gemütlich hinterher. "Beeil dich gefälligst ein bisschen!", trieb er sie an, während er schon am Wagen stand und die Fahrertüre geöffnet hatte. Eine schwarz glänzende Türe, passend zum Rest des Zweisitzers. "Mecker nicht!", entgegnete sie ihm und hob den Blick, "... Du willst mich doch jetzt verarschen, oder? Ich muss in diese Proletenschaukel einsteigen?" "Ich kann dich auch auf die Motorhaube binden", erwiderte er trocken und nahm kopfschüttelnd hinter dem Lenkrad Platz. Zugegebenermaßen war ein nagelneuer Porsche 911 Turbo nicht gerade unauffällig, allerdings auch kein Grund sich aufzuregen. Immerhin war er schwarz. Sportlich und edel. June packte ihre Sachen in den Kofferraum und setzte sich schließlich auf den Beifahrersitz. "Ich kann auch mit dem Teil über dich drüber fahren, wenn du noch mehr solche Scheiße redest!", knurrte sie ihn an, während er den Motor startete und aufs Gaspedal trat. "Glaub ich kaum. Und wenn du nicht gleich die Klappe hältst, dann sag ich Alexander, dass es ein Unfall war", entgegnete er inzwischen doch etwas angespannt. June haderte einige Zeit mit sich, ob sie noch weiter mit ihm diskutieren sollte. Es würde sowieso zu nichts führen, doch sie konnte nicht anders. "Das glaubt er dir sowieso nicht!", schnaubte June verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ach, meinst du?", entgegnete er, "Wir können das gerne testen." Dann hielt er per Vollbremsung am Straßenrand und beugte sich kurz über sie, als der Wagen stand, um die Beifahrertüre zu öffnen. Er löste ihren Gurt. "Ich will sehen wie du nach Hause kommst, ohne meine 'Proletenschaukel'", sagte er mit todernster Miene. June musste sich noch einen Augenblick von seiner unerwarteten Vollbremsung erholen, bevor sie antworten konnte: "Kein Problem!" Sie erwiderte seinen finstern Blick einen Moment lang und dreht sich dann zum Aussteigen um. June hatte bereits beide Füße auf den Asphalt gestellt und wollte aufstehen, als Tyler sie grob am Arm packte und zurück zog. "Du bist auch total bescheuert, oder?", lachte er dreckig und zeigte mit dem Finger auf den Rückspiegel, "Augen auf im Straßenverkehr." Leicht perplex wandte June sich dem Spiegel zu. Nichts Verdächtiges zu erkennen. "Ich glaube, dass du der Einzige bist, der hier bescheuert ist!", schimpfte sie, "Soll ich nun aussteigen, oder nicht?" Tyler sah sie gelangweilt an. "Ist das jetzt dein Ernst?", fragte er trocken und verstellte den Rückspiegel, sodass man nichts mehr sehen konnte, "Mach die Türe zu, dann wirst du schon sehen was ich meine." June fixierte ihn mit ihren Augen, in der Hoffnung, dass sie so verstehen würde, was dieser Kerl wollte, nur half das nicht. Sie drehte sich zur Türe und wollte diese schließen, als es ihr auffiel. Die ersten Strahlen der Morgensonne breiteten sich langsam über New York aus und auch Tylers Wagen hatten sie bereits erreicht. "... Ich kann nicht", erkannte June nun die Problematik. Tyler schmunzelte leicht: "Doch. Aber du musst schnell sein." June war unsicher. Sie wusste nicht was passieren würde und vor allem traute sie diesem Typen nicht. Sie nahm die Türe fest ins Visier, versuchte sich darauf zu konzentrieren möglichst schnell den Griff zu erreichen und packte schließlich zu. Die Tür schloss mit einem lauten Knall. "Ey", beschwerte sich Tyler, "Du sollst es ganz lassen." "Ja doch", gab sie ihm genervt zur Antwort. Sie atmete tief durch und musterte dann ihren Arm. Fühlte sich ganz normal an. Tyler hatte sie nicht angelogen. "Sind wir hier drinnen sicher?", fragte sie dann ganz ruhig, als Tyler weiterfuhr. "Geht so", antwortete er, "Es ist besser als nichts, aber für längere Spritztouren am Tag absolut ungeeignet. Also komm nicht auf dumme Gedanken", fügte er noch hinzu. Die Scheiben seines Wagens waren komplett abgedunkelt und ließen nicht viel Licht herein, trotzdem konnte die dunkle Tönung die Sonnenstrahlen nicht ganz aussperren, schließlich musste Tyler noch hinaussehen können. June sagte nichts mehr dazu. Sie sah den Rest der Fahrt schweigend aus dem Fenster und auch Tyler blieb still. Zu Hause angekommen, parkte er den Porsche in der Garage. Er atmete erleichtert aus und verließ den Wagen. June folgte ihm nach oben und stellte ihre Tasche im Wohnzimmer ab. "Und wo soll ich schlafen? Auf dem Sofa?", fragte sie und dabei hatte sich wieder ein leicht gereizter Unterton eingeschlichen. "Du bist so scharfsinnig, ich bin begeistert", gab Tyler überschwänglich von sich und ging, ohne weitere Worte zu verlieren, hoch in sein Schlafzimmer. "Eine Decke wäre aber nicht schlecht!", rief June ihm hinterher. "Nerv nicht!", war seine Antwort, "Schau bei der Waschmaschine nach!" "Zick hier nicht rum!", June konnte es sich einfach nicht verkneifen. Sie war genervt und wütend auf diesen Kerl. Blödes Arschloch! Sie ging in die kleine Kammer hinter der Küche, in der die Waschmaschine stand, wühlte ein wenig und fand schließlich wonach sie gesucht hatte. Die Decke roch, als wäre sie frisch gewaschen, nur konnte June sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Kerl seine Wäsche selbst wusch. Sicher hatte er eine Haushälterin oder etwas in der Art. Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer fiel ihr ein Stapel Briefe auf, der auf einer Kommode neben der Türe lag. June überlegte einen Augenblick. Ihr wurde gerade klar, dass sie noch überhaupt nicht wusste, wie er überhaupt hieß. Sie hatte ihn nicht gefragt. Und bis eben hatte es sie auch nicht interessiert, aber da des Rätsels Lösung nun so nah war, riskierte sie einen Blick. Mr. Lindfield... Sie blätterte weiter. Edward?! June konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Doch auf den Briefen stand definitiv 'Edward Lindfield', und zwar auf allen. Sie versuchte sich so leise wie möglich darüber zu amüsieren und legte die Briefe wieder zurück. Die Ironie des Ganzen erheiterte sie ungemein und so klammerte sie sich auch noch an diesen Gedanken, als sie schon umgezogen auf dem Sofa lag. Es war leichter, als sich den Kopf zu zerbrechen und vielleicht würde sie so einschlafen können. Mit dieser belanglosen Information. Doch es war zwecklos. June war nicht müde, obwohl eine turbulente Nacht hinter ihr lag, oder wohl eher genau deswegen. Sie ließ die Augen durch das Zimmer wandern. Sie konzentrierte sich auf Nebensächlichkeiten, nichts was sie womöglich hätte beunruhigen können. Das ist ja fast eine Kinoleinwand. Sie überlegte, ob sie den Fernseher einschalten sollte, um sich abzulenken, aber wahrscheinlich würde ihr dann der Kopf abgerissen. Ein schweres Seufzen kam über ihre Lippen. "Eddy...", fing sie an, "Ich kann nicht schlafen." Von oben kam keine Antwort, nur ein leises Brummen. Tyler war – im Gegensatz zu June – ziemlich müde und auch schon fast wieder eingeschlafen. Er wollte endlich seine Ruhe, doch die gönnte June ihm nicht und Tyler wurde gerade nur allzu deutlich bewusst, warum er keine Freundin wollte. "Hast du gehört? Ich kann nicht schlafen!", wiederholte June ihre Worte. Tyler knurrte leise, dann antwortete er: "Man kann auch nicht schlafen, wenn man die ganze Zeit labert!" "Ich labere nicht die ganze Zeit!", erwiderte sie leicht entrüstet, sprang vom Sofa und eilte nach oben, "Sag mal... wie viele Frauen haben dich eigentlich schon mit diesem Waschlappen verwechselt?" Tyler verstand nicht worauf sie hinaus wollte. Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen finsteren Blick zu: "Wieso zum Teufel bist du so hyperaktiv?! Es kann ja wohl nicht dein Ernst sein, dass du dich jetzt mit mir unterhalten willst! Muss ich dir erst den Hals umdrehen, dass du still bist?!" "Ach Edward...", sie musste lachen. Mit diesem Namen konnte sie ihn nicht mehr ernst nehmen. Tylers Gesicht wurde fragender, er zog die Brauen irritiert zusammen: "Wieso Edward? Willst du mich aufziehen?", er sah sie streng an, "Ist keine gute Idee." "Nein, gar nicht!", entgegnete sie, auch wenn das nicht unbedingt zu 100 % der Wahrheit entsprach, "Das ist doch dein Name, oder nicht?" "Mein Name ist Tyler. Nicht Edward", klärte er das Ganze auf. Nun war June diejenige, die verdutzt aus der Wäsche schaute. "Aber auf den Briefen stand Edward Lindfield...", erklärte sie ihre Annahme, dass sein Name Edward war. "Edward Lindfield ist der Vorbesitzer dieses Hauses", klärte er June auf und legte sich wieder auf die Seite, "Aber wie du unschwer erkennen kannst, ist er nicht mehr hier. Jetzt schwirr ab." "Hast du den Kerl umgelegt?" "Und wenn?!" "Ich frag ja nur. Reg dich nicht gleich so auf", sie zuckte mit den Schultern. "Wenn ich mich aufrege, dann sieht das anders aus", gab er angespannt zurück. "Na dann kannst du mir die Frage ja beantworten", schlussfolgerte sie aus seiner Aussage. Nur kam es nicht soweit, denn gerademal zwei Sekunden später fand sie sich – mit Tylers Händen, fest um ihre beiden Arme gespannt – an der Wand seines Schlafzimmers wieder. Er stand dicht vor ihr und knurrte leise: "Weißt du was, June? Ich bin ziemlich hungrig, weil ich seit Tagen nichts gegessen habe. Und ich bin verflucht müde, weil ich dich vor Dummheiten bewahren musste. Das ist eine äußerst schlechte Ausgangssituation, um mir auf die Nerven zu gehen. Zumal du das schon die ganze Zeit ununterbrochen tust." "Ich habe keine Angst vor dir!", warf sie ihm entgegen und sah ihm fest in die Augen. Sie würde nicht klein beigeben, nicht bei so einem geschmierten Lackaffen. Tyler schnaubte amüsiert, als sie das sagte. "Klar", er ließ sie wieder los und trat ein Stück zurück, "Du hast auch keinen Grund", er hob die Hände, als würde er sich ergeben, "Schließlich kennst du mich nicht." June musterte ihn skeptisch, sie hatte eine andere Reaktion erwartet. Ihr war nicht ganz klar, was sie darauf sagen sollte. Oder ob sie einfach besser den Mund halten sollte. Unmöglich: "Aha. Tja dann bin ich ja mal gespannt." Wow... Tyler konnte nicht glauben, dass sie noch immer nicht den Rückzug antreten wollte. Er sagte nichts. Er konnte auch gar nichts sagen. Diese unbändige Dummheit hatte ihm schlichtweg die Sprache verschlagen. In seinem Kopf kämpften zwei Stimmen darum, erhört zu werden. Die eine wollte June auf der Stelle das Genick brechen und für Ruhe sorgen, die andere war zu stolz, um sich von diesem kleinen Mädchen provozieren zu lassen. Er ballte die Hände zu Fäusten, blieb im Gesicht aber ganz ruhig. "Geh jetzt", sagte er schließlich. Junes Gesicht dagegen war wütend, sie wollte sich sowas nicht gefallen lassen: "Tu sowas nie wieder!" "Ich hab..!", fing er laut an, ermahnte sich dann aber selbst zur Ruhe, "Ich habe noch überhaupt nichts getan." Die Frau machte ihn wahnsinnig und das schon am ersten Tag. Trotzdem: Tyler behielt die Fassung. Er kochte innerlich und hätte seiner Wut nur all zu gerne Luft gemacht, doch er ließ es bleiben. Für den Fall, dass Alexander es tatsächlich ernst meinte, und er sich die nächsten Jahre um sie kümmern musste, sollte er es sich wohl lieber nicht gleich ganz mit ihr verscherzen. Tyler wandte sich ab und ging zurück in sein Bett. Er war bedient. Er musste sein Hirn wieder abkühlen, sonst würde er nicht schlafen können, und auch June hatte wohl glücklicherweise endlich genug und zog ab. Selige Ruhe. Unten im Wohnzimmer hatte June sich wieder aufs Sofa begeben. Sie war noch immer angespannt von der Auseinandersetzung mit Tyler, doch je ruhiger sie wurde, desto drückender kamen die Gedanken an die letzten paar Stunden zurück. Ihre ersten Stunden als Vampir und ihr wurde kotzübel, je länger sie darüber nachdachte. Ihr Magen rebellierte. Sie erinnerte sich an den Geruch des Blutes, das an ihren Händen geklebt hatte, nur war es diesmal nicht so verlockend. Sie schaffte es gerade noch so ins Badezimmer, bevor auch der Geschmack sich wieder gnadenlos in ihre Erinnerung drängte. 005 --- Nicht alles Vollpfosten. Tyler hatte von Junes Schlafschwierigkeiten nichts mitbekommen. Kaum hatte er im Bett gelegen, war er auch schon eingeschlafen. Für einen Vampir hatte er einen ungewöhnlich tiefen Schlaf, schließlich konnte man leicht aufwachen, wenn man so viel besser hörte, als ein Mensch, nur Tyler eben nicht. Einige Stunden später, wachte er von ganz alleine auf, streckte sich und bequemte sich gemütlich aus dem Bett. Für einen kurzen Moment hatte er June vergessen, doch die Erkenntnis, dass das kein Traum gewesen war, traf ihn wie ein Hammerschlag, als er sie unten auf dem Sofa liegen sah. Ja, schade... Er seufzte leise und ging die Treppen nach unten, um in der Küche erstmal die Kaffeemaschine einzuschalten. Bekloppte Angewohnheit. Er hatte irgendwann damit angefangen und kam einfach nicht mehr davon los. Andererseits hatte er das auch gar nicht vor. Der Geruch von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase. Herrlich. Er wartete ruhig neben der Maschine, bis sein Kaffee durchgelaufen war, dann schnappte er sich die Tasse und ging rüber ins Wohnzimmer. "Mach Platz", er schubste June leicht, damit sie aufwachte und er sich aufs Sofa setzen konnte. Sie schreckte hoch. "Was?", kam es noch etwas verschlafen von ihr, "... Ach ja..." Ihr Blick war enttäuscht an Tyler hängen geblieben. Offenbar nicht das, was sie sich zu sehen gewünscht hatte und Tyler war das nicht entgangen: "Sorry." Sie rührte sich nicht. "Würdest du dann?", er bewegte seine Hand kurz hin und her, dass sie rutschen sollte. "Das ist meine Couch! Setz dich auf den Hocker!", entgegnete sie ihm stur. "Deine Couch?", er sah sie ungläubig an. Langsam aber sicher machte sie ihn wahnsinnig, "Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle", brummte er genervt, packte ihre Beine und schob diese zur Seite. Er nahm Platz und schaltete den Fernseher ein. "Ey! Du sollst mich nicht anfassen!", June schnaubte genervt, als sie so unsanft verdrängt wurde, "Und du brauchst gerade was sagen! Hast wohl heute noch nicht in den Spiegel gesehen. Da würde dir bestimmt jemand zurückwinken, der selbst nicht mehr alle Nadeln an der Tanne hat." Sie stand wütend auf, warf ihm die Decke über den Kopf und dampfte mit ein paar frischen Klamotten nach oben ins Bad. Es hatte nicht mehr viel gefehlt und die Kaffeetasse wäre einfach in Tylers Hand zerborsten, nachdem er sie gerade noch vor der Decke in Sicherheit bringen konnte. Zähneknirschend zog er den Stoff von seinem Kopf und atmete tief durch. Es hatte überhaupt keinen Sinn, sich mit ihr zu streiten und er wollte sich auch nicht schon so früh aus der Ruhe bringen lassen. Irgendwann würde sie schon von alleine aufhören, oder er würde sie los sein, eins von beidem. Jedenfalls würde er sich bis dahin nicht wieder von ihr provozieren lassen und da sie nun oben im Bad war, konnte Tyler ganz in Ruhe seinen Kaffee genießen und dabei fernsehen. June ließ sich reichlich Zeit im Bad. Umso besser für Tyler. Nachdem der Kaffee getrunken war, blickte er kurz auf seine Uhr. Er ging zur Fensterfront und ließ die Rollläden ein Stück hoch, um zu prüfen, ob die Sonne schon untergegangen war. Keine Gefahr. Die Rollos konnten komplett hochgefahren werden und Tyler ging nach draußen auf seinen Balkon, um frische Luft zu schnappen. Eine leichte Brise wehte über die dunklen Holzdielen, auf denen er stand. Tyler hielt sich gerne hier draußen auf, wenn der Himmel noch hell war, oder auch, wenn er keine Lust hatte durch die Clubs zu streifen. Es war erstaunlich warm für diese Jahreszeit, etwa 15 °C, wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte. Ideales Wetter, um leicht bekleidete Damen aufzugabeln. Theoretisch zumindest, schließlich hatte er momentan ein anderes Problem, das gelöst werden wollte. Und so wie es sich anhörte, machte sich dieses Problem gerade ebenfalls einen Kaffee. Er ließ seufzend den Kopf hängen. Am liebsten würde er Alexander dafür den Hals umdrehen, dass er ihm das antat, nur war das schon rein technisch kaum machbar. Alexander würde ihn ausgeknockt haben, bevor er überhaupt in die Nähe seines Halses gekommen wäre. Trotzdem würde er mit ihm reden müssen, am besten gleich heute. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und schrieb seinem Meister eine Nachricht, dass er ihn heute besuchen kommen würde. Alexander konnte sich sicher denken, was der Anlass war. Schließlich kannte er seinen Schüler und wusste ganz genau, dass diese Aufgabe nicht im Geringsten nach seinem Geschmack war. Tyler wandte sich wieder dem Wohnzimmer zu, blieb in der Balkontüre stehen und musterte June, die mit Kaffeetasse auf dem Sofa saß. Sie würdigte Tyler keines Blickes, hatte aber noch etwas loszuwerden: "Und? Was läuft jetzt?" "Wir gehen Alexander besuchen. Er soll sich ein Bild von dir machen", antwortete Tyler trocken und kam wieder nach drinnen, "Wenn er sieht wie penetrant du bist, wird er hoffentlich seine Meinung ändern, was diese Sache hier betrifft." "Penetrant?", wiederholte sie seine Worte, "Hätte nicht gedacht, dass sich das in deinem Wortschatz befindet", sie senkte die Tasse in ihren Schoß und musterte ihn abwertend, "Arrogant. Stur. Eigensinnig", zählte sie ein paar Charaktereigenschaften auf, "Und extrem nervig!", dann trank sie noch einen Schluck, "Was du über mich denkst, interessiert mich übrigens kein Stück." Tyler hob leicht die Augenbrauen, als sie ihn charakterisierte. "Mh-hm", er lächelte leicht, "Dafür, dass du nichts mit mir zu tun haben willst, hast du dir ganz schön viele Gedanken über mich gemacht", und er wollte noch nicht mal abstreiten, was sie gesagt hatte, "Mir soll's recht sein. Von mir aus kannst du denken was du willst", er zuckte mit den Schultern, "Wenn's dir Spaß macht." June kommentierte das nicht mehr, sie richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen lieber wieder auf ihre Tasse. Nur kurz wurde ihr Blick nochmal zurück auf Tyler gelenkt, als dessen Handy klingelte. "Oh", Tyler sah auf das Display, er hatte eigentlich eine Nachricht von Alexander erwartet, doch sie stammte von Aaron: »Cat und ich sind auf dem Weg zu dir« "Ich bekomme Besuch", informierte er June noch kurz, dann verschwand er nach oben. Er wollte noch schnell duschen, bevor die Beiden hier aufschlugen. June sah ihm kurz hinterher. Besuch? Sie war nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Ob womöglich noch mehr von dieser Spezies Vollpfosten hier auftauchen würden, oder ob es eine Bettgeschichte war, wegen der er sich jetzt so eilig ins Bad begeben musste? Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Kerl nette Freunde haben könnte, ging dramatisch gegen Null. Aber sie würde sich überraschen lassen und demjenigen – wer auch immer da kommen würde – vorurteilslos gegenübertreten. Das war der Plan. Sie zog ihr Handy hervor und atmete tief durch. Es war lautlos. 73 Anrufe in Abwesenheit, 20 Nachrichten. Und alle paar Minuten kamen neue hinzu. June fühlte sich auf einen Schlag unfassbar schuldig, wie von einer Dampfwalze überrollt, auch wenn sie sich die Situation nicht ausgesucht hatte. Gerne hätte sie ihre Mutter oder Miranda zurückgerufen, einfach nur um deren Stimmen zu hören, doch ihr war klar, dass die beiden bemerken würden, dass es ihr nicht mal ansatzweise so gut ging, wie sie geschrieben hatte, wenn sie sie hören würden. Sie wollte nicht am Telefon in Tränen ausbrechen, schon gar nicht, wenn Tyler praktisch jedes Wort mithören konnte, also beschränkte sie sich darauf, dass sie beiden nur kurz schrieb, dass alles okay war, und ihr Handy dann abschaltete. Der Kloß in ihrem Hals drückte gefährlich auf ihre Luftröhre. Sie musste kurz raus, sich beruhigen. — "Wir müssen noch kurz bei mir vorbei", erklärte Cathlyn, als Aaron die Türe zu seiner Wohnung zugezogen hatte, "Ich brauche unbedingt noch frische Kleidung!" Aaron nickte. Er warf noch einen kurzen Blick auf sein Handy: Noch immer keine Rückmeldung von Tyler. Auch gut. "Von mir aus. Liegt ja auf dem Weg", er zuckte knapp mit den Schultern. Praktischerweise lag Cathlyns Wohnung sogar ziemlich genau zwischen seiner und Tylers, also musste er nur hoffen, dass Cathlyn nicht Stunden brauchen würde, um sich umzuziehen. Ansonsten würde der kleine Abstecher nicht all zu viel Zeit in Anspruch nehmen. "Schade, dass du kein Auto hast...", seufzte Cathlyn, während sie den Gehweg entlangliefen, "Wäre jetzt nicht schlecht." "Seit wann das?", entgegnete er ihr, "Ohne bist du doch viel schneller. Wenn du willst." Sie murrte leise: "Eben. Wenn ich will. Gerade will ich aber nicht." Aaron verdrehte leicht die Augen, wollte ihr jetzt aber auch keine Predigt halten. "Ich für meinen Teil laufe jedenfalls gerne. Lieber als zu fahren", fügte er nur noch hinzu. Cathlyn winkte ab: "Schon okay. Nächstes Mal parke ich meinen Wagen einfach bei dir, wenn ich wieder feiern gehe. Problem gelöst." Sie grinste zufrieden und schlenderte weiter über den Asphalt. Eine halbe Stunde gemütlichen Fußweges später, hatten sie Cathlyns Wohnung erreicht. Aaron machte es sich in ihrem definitiv sehr weiblich dekorierten Wohnzimmer zwischen einigen weichen Kissen auf dem Sofa gemütlich. Nicht unbedingt die Art und Weise, wie er es zu wohnen bevorzugte. Zu viel Klimbim und zu wenige Bücher. Trotzdem wohnlich und für einen längeren Aufenthalt geeignet. Sofern erforderlich. Und danach sah es momentan leider auch aus. "Cat? Wie lange brauchst du noch?", rief er in Richtung Schlafzimmer, in welches sie verschwunden war, "Du bist schon fast 20 Minuten da drin! Was treibst du?" "Immer mit der Ruhe!", antwortete sie und kam in frischer Unterwäsche, mit Lippenstift in der Hand, ein Stück ins Wohnzimmer, "Ich brauche eben meine Zeit. Oder willst du, dass ich so mitkomme?" Sie sah ihn fragend an. Aaron überlegte kurz. Er musterte sie in der schwarzen Spitze und antwortete schließlich: "Glaube nicht, dass Tyler sich daran stören würde", er schmunzelte, "Könnte allerdings etwas kühl werden." "Oh haha. Habe gar nicht mitbekommen, dass du heute einen Clown gefrühstückt hast", sie verzog kurz das Gesicht und verschwand zurück in ihr Schlafzimmer, wo sie sich in aller Ruhe fertig machte. Aaron musste wohl oder übel warten, aber das war nicht ihr Problem. Sie schlüpfte in eine enge, schwarze Hose, verschloss die Knöpfe ihrer weißen Bluse und stöckelte zurück ins Wohnzimmer. "Okay, jetzt können wir weiter", verkündete sie zufrieden. Aaron erhob sich vom Sofa und betrachtete Cathlyns Werk kurz. "Also wenn du mich fragst", er deutete auf ihr Gesicht, "hast du diesen ganzen Anstrich gar nicht nötig." "Ich frage dich aber nicht", antwortete sie nur mit einem Lächeln und wandte sich zur Türe, "Kommst du?" Sie ließ sich von derlei Kommentaren nicht beeinflussen und es interessierte sie auch nicht. Abgesehen davon, war ihr Make-Up, im Vergleich zu manch anderer, noch sehr dezent. "Hoffentlich ist der Kerl überhaupt zu Hause", sagte Cathlyn, nachdem sie einige Meter in Richtung Tylers Wohnung hinter sich gebracht hatten, "Nicht, dass er sich sonstwo herumtreibt." "Wo soll er denn um diese Uhrzeit sein?", er sah sie fragend an, "Ich glaube kaum, dass er den Tag bei irgendeinem Betthäschen verbracht hat." Cathlyn nickte: "Auch wahr. Dafür ist er nicht der Typ." Und das aus mehreren Gründen. — "June?", Tyler kam wieder herunter. Das Wohnzimmer war leer. Er sah sich kurz um und sein Blick fiel auf die offene Balkontüre. "June! Hierher!", rief er etwas lauter und es dauerte nicht lange, da stand sie wieder in der Türe. "Was willst du?", maulte sie genervt, "Ich bin kein Hund, okay?!" "Ja, das ist mir klar. Hunde sind einfacher zu hüten", entgegnete er, ging zu ihr rüber und zog die Balkontüre hinter ihrem Rücken zu. Zur Sicherheit. "Wie stellst du dir das überhaupt vor? Muss ich jetzt ewig bei dir rumhocken?", sie ließ sich nicht von ihm einschüchtern, "Darauf kann ich nämlich verzichten." Tyler stützte sich ruhig mit der Hand an den Türrahmen und sah June einen Moment lang schweigend an, als würde er Angst oder zumindest Unsicherheit in ihren Augen suchen. Doch da war nichts dergleichen. "Denkst du, ich habe da Bock drauf?", fragte er schließlich, "Sicher nicht. Und wenn du mir nicht die ganze Zeit auf die Nerven gehen würdest, könnte ich mir vielleicht auch überlegen, wie ich das Problem lösen kann." "Von Wegen", sie schnaubte, "Als ob ich etwas dafür könnte, dass dein Hirn nicht funktioniert." June unterbrach den Blickkontakt, ging an ihm vorbei und setzte sich mit verschränkten Armen aufs Sofa. Tyler atmete entnervt aus. Dann klingelte es. Er löste sich augenblicklich vom Balkon und ging zur Wohnungstüre. "Dein Glück, dass sie schon da sind", meinte er noch leicht brummend, als er am Sofa vorbeiging und den Türöffner betätigte. Andernfalls hätte die Situation gut und gerne auch weniger harmlos ausgehen können. Tyler verschwand im Treppenhaus und wartete auf seine Freunde. Er war froh zur Abwechslung mal wieder zwei freundliche Gesichter zu sehen. "Hey, kommt rein", begrüßte er die beiden, als sie die Stufen heraufkamen, "Und nicht erschrecken." "Nicht erschrecken? Wen hast du umgebracht?", war Cathlyns erste Reaktion, "Aber freut mich auch, dich zu sehen." Auch Aaron war infolge dieser Warnung doch leicht irritiert: "Alter, was meinst du?" Tyler sagte nichts, er winkte die beiden nur ins Wohnzimmer durch, damit sie es sich selbst ansehen konnten. June saß natürlich noch immer drinnen auf dem Sofa, und hatte sich nicht verzogen, wie Tyler es sich gewünscht hätte. "Schaut's euch an", sagte Tyler nur knapp, als er die Türe hinter seinen Freunden schloss. "Willst du mich jetzt verarschen?", Aaron klang schockiert, "Du lässt unsere Verabredung mit zwei Frauen für ein One-Night-Stand sausen?", er sah ihn fassungslos an, "Bist du krank, oder sowas?" Tyler musste unweigerlich lachen, auch wenn es eher nach Galgenhumor klang. "Schön wär's. Aber nein, das ist kein One-Night-Stand. Das ist der Stress, von dem ich geschrieben habe, den Alexander mir aufgebrummt hat", er seufzte und verschränkte die Arme, "Ich soll mich um sie kümmern, weil ihr Meister verschwunden ist." "Warte, warte, warte!", Cathlyn unterbrach das Gespräch der Jungs, nachdem sie June eine Weile beäugt hatte, "Du musst Babysitter spielen?", sie sah Tyler trocken an, konnte sich das Lachen aber nicht lange verkneifen und brach dabei schier in Tränen aus. Mit dieser Reaktion hatte Tyler schon gerechnet. Schadenfreude war wohl eine ihrer Stärken. Allerdings hatte auch Aaron damit zu kämpfen, nicht zu lachen. Er klopfte seinem Kumpel mitfühlend auf die Schulter. "Oh Mann, Alter", sagte er mit erzwungenem Ernst, "Was hast du nur angestellt, dass Alexander dir sowas aufbrummt", er zeigte auf June, " Du tust uns echt Leid. Ehrlich." Eine leichte Ironie schwang unüberhörbar in Aarons Stimme mit. Sicher war diese Situation einiges an Mitleid wert, nur beinhaltete sie eben auch eine unschlagbare Komik, dass ausgerechnet Tyler nun offenbar einen Schüler hatte. "Ihr wisst schon, dass ich alles höre, was ihr sagt", mischte sich nun auch June in die Unterhaltung ein. Die abfälligen Bemerkungen waren ihr nicht entgangen, nur schien das die anderen nicht im geringsten zu stören. Tyler fuhr fort, ohne auf Junes Kommentar einzugehen: "Genug gelacht jetzt", er sah Cathlyn ernst an, bis diese sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, "Das hier ist ein echtes Problem." Im Grunde konnte er es seinen Freunden nicht verdenken, dass sie sich darüber amüsierten. Er hätte wohl genauso reagiert, wenn er nicht der Angeschmierte gewesen wäre. Trotzdem. Es musste eine Lösung her. June hatte sich inzwischen vom Sofa erhoben und war zu den Dreien herübergekommen, um ihr Anliegen noch einmal vorzubringen: "Würdet ihr wohl aufhören, mich als Problem zu bezeichnen? Ich habe mir das auch nicht ausgesucht!" Tyler, Cathlyn und Aaron verstummten kurz. Deren Augenpaare richteten sich zum Teil genervt, zum Teil verblüfft auf die junge Frau, die sich so resolut vor sie gestellt hatte. Cathlyn räusperte sich kurz und ergriff als Erste wieder das Wort: "Will die uns gerade Vorschriften machen?" Sie hatte sich an Tyler gewandt, der allerdings nur mit den Schultern zuckte und die eben demonstrierte zweite Problematik aufgriff: "Nicht genug, dass ich überhaupt auf einen Jung-Vampir aufpassen muss. Nein. Wie ihr seht, ist sie auch noch die nervigste Person, die man sich überhaupt vorstellen kann." Tyler schnaubte leise. Für gewöhnlich entledigte er sich seiner nervenaufreibenden Bekanntschaften immer recht schnell wieder, ohne dass sie ihn in den Wahnsinn treiben konnten, nur ging das diesmal nicht so einfach. Aaron nickte und auch Cathlyn hatte ihre Fassung wieder gefunden. "Und dann ist sie noch nicht einmal sonderlich attraktiv", fügte er schließlich noch hinzu, wenngleich das eher nebensächlich war. "Was?!", June sah ihn sauer an, doch er ging nicht darauf ein. Cathlyn schmunzelte leicht und schielte kurz rüber zu June, bevor sie etwas dazu beitrug: "Du machst dir Gedanken darüber, dass sie nicht attraktiv ist?" Aaron schüttelte den Kopf auf diese Aussage hin: "Hast du nicht gerade ein größeres Problem?" "Also ich denke, ich könnte auf jeden Fall etwas aus ihr machen", fügte Cathlyn noch hinzu, während sie sich June nochmal genauer besah. "Wie bitte?!", June verschränkte die Arme vor der Brust, "Also die Mühe kannst du dir sparen! Dieser Kerl ist es überhaupt nicht wert." Cathlyn hob resigniert die Hände. "Da hat sie ausnahmsweise Recht, Cat", stimmte Tyler zu, "Das wäre Verschwendung. Aber egal. Ich habe in der Tat größere Probleme", er atmete tief durch, "Ich werde später mit ihr zu Alexander gehen, und versuchen ihn umzustimmen." "Du willst Alexander umstimmen?", Aaron sah ihn skeptisch an, "Na dann, viel Glück." June hatte sich inzwischen wieder einige Schritte zurückgezogen und lehnte an der Rückseite der Couch, während sie die Unterhaltung der Drei verfolgte. "Eben", fuhr Tyler fort, "Alexander ist nicht leicht umzustimmen. Deswegen habe ich einen Plan B." "Und der wäre?", Cathlyn sah ihn fragend an, nicht ganz sicher, ob dieser Plan eine durchschlagende Wirkung haben würde. "Wir treiben ihren echten Meister auf", antwortete Tyler knapp, "Und ich meine WIR, nicht ich." Cathlyn war soeben das Lachen aus dem Gesicht gefallen. Keine Aufgabe für eine Lady. Auch June schien nicht begeistert: "Oh ja, tolle Idee Tyler", sie schnaubte abfällig, "Dann finde denjenigen mal in einer Stadt wie dieser. Ich habe nämlich überhaupt keine Ahnung mehr, wie der Kerl überhaupt aussah. Filmriss. Bei mir ist alles weg." "June, halt einfach den Mund, wenn du nichts hilfreiches beizutragen hast", fuhr Tyler sie an, wofür er sich einen ziemlich bösen Blick einfing, was ihn allerdings nicht weiter interessierte. Er wandte sich stattdessen wieder an Cathlyn und Aaron, "Also? Was sagt ihr?" "Und wo willst du suchen?", fragte Aaron. Er war nicht wirklich davon überzeugt, dass das funktionieren würde, "Der Typ hat sich nicht umsonst aus dem Staub gemacht. Der will nicht gefunden werden. Und jemand, der nicht gefunden werden will, setzt alles daran, dass es auch so bleibt. Das wird nicht leicht, Tyler." "Das weiß ich", Tyler war sich dessen durchaus bewusst, "Aber schätzungsweise wird es immer noch leichter sein, als diese Person hier zur Vernunft zu bringen." Auch Cathlyn hatte ihre Stimme inzwischen wiedergefunden: "Okay. Ich bin zwar nicht begeistert, aber du kannst dich auf mich verlassen", sie drehte sich in Junes Richtung, "Erinnerst du dich überhaupt an irgendwas? Wo du hingegangen bist? Das kann ja schließlich nicht alles weg sein..." Alle Augen waren nun wieder auf June gerichtet. Die ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen: "Wie bereits gesagt, ich kann mich an so gut wie nichts mehr erinnern. Ich war im CAIN's CLUB feiern, habe ein paar Drinks vernichtet und dann wird die Erinnerung schon ziemlich schwammig. Keine Ahnung. Da waren viele Kerle..." "CAIN's CLUB?", Tyler sah sie erstaunt an, "Das wundert mich jetzt." Der CAIN's CLUB war neben dem PROTOTYPE und dem DEVOUR einer der drei Clubs, die unter Alexanders Führung standen und in denen es eine strickte Hausordnung für Vampire einzuhalten galt. Offenbar war diese missachtet worden. "Gut, das wäre schon mal ein Anhaltspunkt", stellte Cathlyn zufrieden fest, "Das schränkt den Suchradius etwas ein." Tyler nickte. "Richtig, und ich werde Alexander bei dieser Gelegenheit auch gleich mal darauf aufmerksam machen, was in seinen Clubs alles ungesehen abläuft. Vielleicht hilft uns das", Tyler kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, "Ich hoffe es zumindest." "Warten wir erstmal ab, was Alexander sagt", warf Aaron ein und sah auf die Uhr, "Melde dich einfach, wenn du mit ihm gesprochen hast. Ich gehe mir derzeit was zu essen klarmachen." Tyler nickte knapp. Immerhin hatten die beiden nicht Nein gesagt. Auch wenn es ihm deutlich lieber wäre, wenn das Gespräch mit seinem Meister zu einem positiven Ergebnis führen würde, so wusste er seine Freunde doch an seiner Seite. Cathlyn sah kurz zwischen den beiden Männern hin und her, dann ging sie rüber zu June und hielt ihr die Hand hin: "Hi, ich bin Cathlyn." June sah sie verdutzt an. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. "Eh... June", antwortete sie knapp und schüttelte Cathlyn kurz die Hand. Tyler beobachtete die Szene stirnrunzelnd. Cathlyn war ein Rätsel, aber solange sie ihn damit nicht nervte, konnte sie das gerne sein. Hin und wieder war ihre unvorhersehbare Art schließlich auch recht erfrischend. "Gut also, ich schreibe euch dann", erklärte Tyler, als er seine Freunde zur Türe begleitete. "Ja, viel Erfolg!", lächelte Cathlyn ihm noch entgegen, bevor sie mit Aaron wieder im Treppenhaus verschwand und Tyler die Türe schloss. "Wenn Alexander die beiden zusammen lässt, dann gibt es bald Tote", sagte Aaron, als er mit Cathlyn das Haus verlassen hatte, "Die können sich nicht riechen. Das geht schief. " "Ist mir auch aufgefallen", stimmte Cathlyn zu, "Hoffen wir mal, dass Alexander eine andere Lösung für die beiden parat hat." — Junes Blicke sprachen Bände, als Tyler sich wieder in ihre Richtung gedreht hatte. Am liebsten hätte sie ihn erwürgt, für all die Dinge, die er gesagt hatte, doch sie entschied sich dagegen und setzte sich stattdessen wortlos wieder aufs Sofa. Sie war stinksauer. Auch Tyler hatte nicht mehr viele Worte für sie übrig. Er verschwand kurz nach oben, holte sich eine Jacke und schrieb Alexander noch eine Nachricht, dass er sich jetzt auf den Weg zu ihm machen würde. "Wir fahren", verkündete er und nahm seinen Schlüssel von der Kommode, "Komm jetzt." June rührte sich nicht: "Nein." "Wieso nicht?", er klang erstaunlich gefasst, obgleich ihres Trotzes. "Du bist ein Arschloch und ich lasse nicht so mit mir reden", klärte sie ihn auf. "Aha." "Deine Freunde sind viel netter", fügte sie noch hinzu. "Ja, meine Freunde haben dich auch nicht an der Backe", entgegnete er recht unbeeindruckt, "Also kommst du jetzt? Je eher wir das hinter uns haben, desto eher bist du mich hoffentlich los." Sie sah ihn finster an. "Aber nur, weil ich dich loswerden will", willigte sie schließlich ein und stand auf, "Gehen wir." Sie stapfte an ihm vorbei und ging runter in die Garage. Tyler folgte ihr ohne größeren Aufstand. "Wenn du bei Alexander genauso zickig und nervig bist wie jetzt, dann sollte das ein Kinderspiel werden", meinte er ganz ruhig, als er den Motor startete, "Aber das sollte dir ja nicht all zu schwer fallen." "Er wird eher sehen, was für eine Pfeife du bist, weil du es nicht mal fertig bringst, auf jemanden aufzupassen", erwiderte sie bockig und starrte konsequent aus dem Fenster, während sie unter den hellen Lichtern der Straßenlaternen hindurchfuhren. Tylers Laune dagegen war erschreckend gut. Er wusste was passieren würde, wenn Alexander seine Meinung tatsächlich ändern sollte und die Tatsache, dass June das nicht klar war, erheiterte ihn ungemein. Seine Laune war sogar so gut, dass er, als sie angekommen waren, um den Wagen herumlief und June die Türe öffnete. Was ist denn jetzt los? Die junge Frau war sichtlich irritiert. Irgendwas war hier definitiv faul, nur wusste sie nicht was. Und Tyler verschwendete auch keine Zeit darauf, ihr irgendetwas zu sagen. Er ging geradewegs zur Haustüre, klingelte und wartete, dass ihnen Einlass gewährt wurde. Es dauerte nicht lange und die Türe öffnete sich. June blickte an dem großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann hoch, der mit ernster Miene in der Türe stand. "Ah, Tyler. Ich habe dich schon erwartet", sagte er und musterte June für die Dauer eines Wimpernschlags, "Kommt rein." 006 --- Was man nicht weiß... Maya saß vor Scotts Türe und wartete bereits seit einer guten Stunde darauf, dass er endlich nach Hause kam. Sie schrieb ihm eine weitere Nachricht: »Mach mal hinne! Ich warte schon seit Ewigkeiten auf dich!« Mit ihrer kurzen Jeans hatte sie sich auf der Treppe vor Scotts Haus niedergelassen und tippte gelangweilt auf ihrem Handy herum. Gelegentlich warfen ihr Passanten kurze, mitleidige Blicke zu und wahrscheinlich wäre sie schon längst wieder abgezogen, wenn sie nicht so dringend mit Scott hätte sprechen wollen. Fünf Minuten bekommt er noch... Sie zog ein altes Comicheft aus ihrer Handtasche, welches sie heute schon dreimal durchgeblättert hatte, und begann von vorne. Hätte sie gewusst, dass Scott erst so spät wieder auftauchen würde, hätte sie sich wohl mehrere Comics mitgebracht. Maya seufzte leise, während sie mit den Augen über die bunten Bilder und von Sprechblase zu Sprechblase flog. Natürlich saß sie auch zwanzig Minuten später noch immer auf der Treppe, als Scott, der alte Streuner, sich endlich wieder nach Hause bequemte. "Hey", begrüßte er die zierliche Frau mit den schwarzen Locken und den vielen Tattoos, die auf seiner Treppe saß, "Was gibt's, dass du so einen Stress veranstaltest?" Maya klappte das Comicbuch zu und stand auf. "Entspann dich", entgegnete sie ihm und klopfte sich dabei die Hose ab, "Ich bin schließlich diejenige, die sich hier den Hintern plattgesessen hat." Scott schnaubte: "Ha, ja. Du weißt aber auch, dass ich nicht gestört werden will, wenn ich beschäftigt bin." "Klar. Aber das ist es wert, versprochen", verkündete sie mit fester Überzeugung. Diese Information würde Scott auf jeden Fall dafür entschädigen, dass er seine abendlichen Vergnügungen unterbrechen musste, da war sie sich sicher. "Ich erzähle es dir drinnen", fügte sie noch hinzu und grinste ihn zufrieden an. "Wenn's sein muss...", Scott seufzte leicht genervt, ging aber dennoch an ihr vorbei, die Treppen hinauf und öffnete die Türe. Seine Wohnung bestand zum Großteil aus einem Wohnzimmer mit weitläufigen Klinkersteinwänden. Es erinnerte stark an eine umgebaute Lagerhalle, nur eben besser eingerichtet. Die Schere zwischen der verschlissenen Räumlichkeit und den edlen Möbeln konnte kaum weiter auseinanderklaffen. Scotts Geschmack war zweifelsohne recht unkonventionell. Maya ließ sich gleich auf eines seiner Sofas fallen und machte es sich gemütlich. "Also?", Scott hatte aus der Küche zwei Gläser geholt und ihr eines in die Hand gedrückt, "Was ist so interessant?" Maya bedankte sich kurz, trank einen Schluck und weihte Scott schließlich ein: "Es ist ein Gerücht in Umlauf, dass Tyler Jacobs in einige Schwierigkeiten verwickelt wurde." "Soll heißen?" "Ich habe gehört, dass er wohl bis zum Hals in der Scheiße steckt." "Und weiter?", Scott sah sie fragend an. Maya zuckte mit den Schultern. "Das ist alles?!", er atmete frustriert aus, "Und deswegen schiebst du so einen Stress?" "Ja, sorry. Alles Weitere kann man sicher auch noch in Erfahrung bringen", rechtfertigte sie sich und verschränkte die Arme, "Ich dachte, du würdest dich freuen." Scott fasste sich kurz an den Kopf. Sicher freut es ihn, wenn Tyler in Schwierigkeiten steckte. Er konnte den Kerl nicht ausstehen, was schon seit einigen Dekaden der Fall war. Es war daher auch stets erbaulich, wenn sein geliebter Feind Probleme hatte. "Ein paar mehr Infos hättest du schon noch auftreiben können", antwortete er schließlich, "Immerhin hattest du auch genug Zeit, während du auf mich gewartet hast." "Geht's noch?", sie schnaubte beleidigt, "Bist wohl heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?" Scott zog leicht die Augenbrauen hoch und trank aus seinem Glas. "Ich glaube eher, dass du heute dein Hirn im Bett vergessen hast", entgegnete er schnippisch. "Was?!", Maya wurde nun deutlich lauter, "Ich glaube, ich habe mich verhört!" "Ey!", eine zweite Frauenstimme drang durch den Raum. Maya und Scott drehten sich zur Türe um. "Euch hört man ja bis runter auf die Straße", Megan hatte sich selbst hereingelassen und kam zu den beiden herüber, "Gibt's einen Grund, warum ihr euch so anfaucht?" "Scott ist nicht mehr ganz dicht", erklärte Maya die Situation. Der verdrehte daraufhin nur leicht die Augen. "Ist ja nichts Neues", stellte Megan kurz fest, "Und sonst?" Nun ergriff Scott das Wort: "Unsere kleine Miss Japan hat Gerüchte gehört, dass Jacobs in Schwierigkeiten stecken soll. Sie weiß aber weder genau weswegen, noch ob es überhaupt stimmt." Megan nickte. Sie strich sich ihre platinblonden Haare aus dem Gesicht bevor sie antwortete: "Schön, dass ihr mich auch mal einweiht." "Wir hätten dich schon noch angerufen, Missy." "Maul, Scotti", sie warf ihm einen stechenden Blick aus ihren blauen Augen zu. Megan hasste es, wenn er sie so nannte. "Sorry Megan, dachte du würdest noch pennen. Wollte dich nicht aus deinem Schönheitsschlaf wecken", entschuldigte sich Maya mit einem Zwinkern, "Aber Scott scheint mit der Info ohnehin nicht viel anfangen zu wollen... also hat sich das wohl erledigt." "Ihr beiden seid einfach unmöglich", brummte Scott und stand auf, "Glaubt ihr, ich verschwende meine kostbare Zeit mit euren Anfeindungen?" "Da kannst du dir gerne an die eigene Nase fassen", entgegnete Megan ruhig, "Im Übrigen: Ich habe dieses Gerücht auch gehört. Er soll sich einen Schüler zugelegt haben." Dann war Stille. Scotts und Mayas dunkle Augenpaare waren fassungslos auf die tätowierte Blondine gerichtet. Megan sah die beiden abwechselnd an. Langsam aber sicher breitete sich ein schelmisches Grinsen auf ihren Lippen aus. "Überrascht?", fragte sie schließlich. Maya nickte nur. Scott antwortete: "Das ist tatsächlich eine Überraschung", er legte die Stirn in Falten, "Wie sicher bist du dir?" "80 Prozent. Er war mit einem jungen Mädchen unterwegs und laut meiner Quelle war das definitiv ein Jung-Vampir", erläuterte sie ihre Aussage, "Wobei ich es mir eigentlich nicht vorstellen kann. Das passt nicht zu ihm." "Passt überhaupt nicht", stimmte Maya zu, "Zumindest bezweifle ich, dass er das freiwillig tut." Scott sah nachdenklich aus. Er versuchte sich darauf einen sinnvollen Reim zu machen, nur war das nicht so einfach. "Vielleicht stimmt es auch überhaupt nicht", warf er schließlich ein, "Könnte auch gut sein, dass uns jemand verarschen will." Die beiden Frauen sahen ihn fragend an. "Denkst du?", Maya hielt das für relativ unwahrscheinlich, "Für den Fall, dass es aber wahr ist, sollten wir uns das nicht entgehen lassen." "Das sollten wir wohl nicht", fügte Megan noch hinzu, "Wie ist also der Plan?" Scott seufzte. Er ging ein paar Schritte durch den Raum und überlegte. Megan hatte sich inzwischen neben Maya aufs Sofa gesetzt. Die beiden Frauen beobachteten Scott schweigend, bis der sich ihnen wieder zuwandte. "Wir werden Jacobs und seine Kumpanen beschatten", verkündete er schließlich, "Und das natürlich unbemerkt." "Kein Problem!", erwiderte Maya, "Das ist eine meiner leichtesten Übungen." Möglicherweise lag es daran, dass Maya nicht gerade die Größte war. Mit einem Meter und 59 Zentimetern konnte man eindeutig leichter in der Masse verschwinden, auch wenn man einige auffällige Tattoos an Armen, Rücken und Dekolleté besaß, als mit zehn Zentimetern mehr und langen, hellblonden Haaren. Megans Tattoos spielten hierbei wohl eher eine untergeordnete Rolle, zwar waren sie zahlreicher, und zogen sich vom Hals bis zu den Füßen, jedoch waren die Haare wohl das größere Problem, wenn es darum ging, möglichst unauffällig zu sein. "In dem Fall übernehme ich Aaron", verkündete Megan. Das war wohl die passendste Lösung. Er hielt sich ohnehin nicht oft zwischen Menschenmengen auf, und es somit keine Rolle spielte, ob sie darin untertauchen konnte, oder nicht. Scott nickte: "Gut", er wandte sich an Maya, "Du kümmerst dich um das Kätzchen und ich behalte Jacobs im Auge." Maya nahm gerade das Glas von ihren Lippen und warf Scott einen flehenden Blick zu. "Muss das sein?", fragte sie, "Ich kann die Alte nicht ausstehen..." "Sorry Zuckerschnute, aber du sollst sie auch gar nicht mögen", entgegnete Scott, der nicht mehr an seiner Entscheidung rütteln ließ. "Nenn mich nicht so", beschwerte sie sich. Megan schmunzelte vergnügt und schnappte sich Mayas Glas. "Du schaffst das schon", sagte sie, trank den letzten Schluck und stellte es zurück auf den Glastisch. Sie war froh, dass nicht sie sich um Cathlyn kümmern musste. Die Frau war anstrengend Maya seufzte nur schwer, sie musste sich wohl damit abfinden. "Dann hätten wir das ja geklärt", fuhr Scott fort, "Und falls die Drei keine nützlichen Infos rausrücken, hören wir uns einfach in Alexanders Clubs um. So oft wie die dort rumhängen, wird vielleicht jemand etwas mitbekommen haben", er sah die beiden ernst an, "Megan, du übernimmst das DEVOUR, Maya den CAIN's CLUB und ich höre mich im PROTOTYPE um. Und Megan...", er warf ihr einen strengen Blick zu, "lass die Informanten am Leben." "Pfff... So blutrünstig bin ich jetzt auch wieder nicht", verteidigte sie sich, "Ich bin voll harmlos." Sowohl Scott als auch Maya hoben leicht die Brauen an. Megan rollte die Augen und stand auf. "Ich mache mich jetzt sowieso erstmal auf den Weg zu Aaron. Und den werde ich sicher nicht umlegen", erklärte sie ruhig, "Am Ende würden mir womöglich noch Körperteile fehlen." "In Ordnung", sagte Scott, "Und sobald jemand irgendwas Informatives herausgefunden hat, gibt er den anderen Bescheid. Klar soweit?" "Wir sind nicht dumm, Scott", schnaubte Megan leicht entnervt. Seine gebieterische Art ging ihr zuweilen ziemlich gegen den Strich. Niemand hatte ihn zum Anführer erwählt und trotzdem verhielt er sich so. Sie beugte sich kurz runter zu Maya und drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. "Ciao Süße, wir sehen uns", verabschiedete sie sich und ging wortlos an Scott vorbei Richtung Ausgang. Maya hatte zum Abschied nur kurz die Hand gehoben. "Mach es anständig!", rief Scott ihr hinterher. Megan verabschiedete sich von Scott mit ihrem Mittelfinger und verschwand zur Tür hinaus. Der Kerl war heute ganz besonders zum Kotzen. Warum auch immer. Megan kannte ihn und seine Launen schon seit geraumer Zeit. Manchmal war es ihr mehr als schleierhaft, warum sie sich überhaupt mit ihm zusammengetan hatte, aber wahrscheinlich lag das an Maya. Ohne sie wäre Megan schon längst über alle Berge gewesen, doch auf irgendeine perverse Art und Weise mochte Maya diesen Lutscher, also musste Megan sich irgendwie mit ihm arrangieren. Vermutlich. — Scott schmunzelte leicht, nachdem Megan verschwunden war. Er liebte es, wenn sie sich aufregte. "Ich werde mich dann wohl auch auf den Weg machen", verkündete Maya und erhob sich ebenfalls von der großen Couch, "Ich melde mich, sobald ich was habe." Er nickte. Zumindest bei Maya musste er sich keine Sorgen machen, dass sie es verbockte. Sie würde sich sicherlich nicht in irgendwelche Auseinandersetzungen verwickeln lassen, jedenfalls nicht leichtsinnig, so wie Megan das gelegentlich tat. Scott fuhr sich mit den Fingern über sein stoppeliges Kinn. Dreitagebart. "Ich springe noch schnell unter die Dusche, dann werde ich auch losziehen", erklärte er, "Viel Spaß." Maya lächelte kurz, als er ihr viel Spaß wünschte und machte sich auf den Weg zum CAIN's CLUB. Da Cathlyn vermutlich sowieso wieder in irgendeinem von Alexanders Clubs unterwegs war, konnte sie auch gleich mit dem CAIN's anfangen. Wie gewöhnlich war der Club voll und laut. Es war wohl der ausschweifendste der drei Clubs, der heißeste und der unübersichtlichste. Perfekt, um sich ungesehen an jemanden heranzutasten, der für gewöhnlich gute Augen und Ohren hatte. Hier drinnen waren diese beiden Sinne ohnehin recht nutzlos, daher konzentrierte man sich nicht allzu sehr darauf und so konnte einem leicht die eine oder andere Kleinigkeit entgehen. Zum Beispiel Maya. Sie hatte sich bereits unbemerkt an die Bar begeben, von wo aus sie einen besseren Überblick hatte. Cathlyn stand tatsächlich auf der Tanzfläche. Umringt von mehr oder minder attraktiven Kerlen, aber in jedem Fall ohne Aaron und Tyler. Volltreffer! Sie würde sie also problemlos im Auge behalten können, ohne auf die beiden Jungs achten zu müssen. Cathlyn war offensichtlich in ihrem Element und schien auch nicht sonderlich aufmerksam zu sein. Wobei sie das in Alexanders Clubs für gewöhnlich sowieso nicht sein musste. Diesmal war es anders. Mayas Blicke klebten an ihr, wie Mücken an einem Fliegenpapier. "Wollen Sie etwas trinken?", fragte eine männliche Stimme und Maya fuhr herum. Der Barkeeper sah sie fragend an, immerhin stand sie schon eine ganze Weile an der Bar ohne sich etwas zu trinken geben zu lassen. "Eh, nein", antwortete sie, überlegte es sich dann aber anders, "Wobei, doch. Machen Sie mir einen Long Island Iced Tea, bitte? Aber nicht so süß." "Kommt sofort", der Barkeeper machte sich gleich ans Werk. Maya drehte sich zurück zur Tanzfläche. Ach verflucht... Cathlyn stand nicht mehr dort, wo sie sie vor zwei Minuten noch beobachtet hatte. Mayas Augen flogen über die Menschenmenge. Nichts. Jetzt wäre es hilfreicher gewesen, ein wenig größer zu sein. Sie beschloss zu warten. Vielleicht war sie nur kurz ihr Make-Up auffrischen gegangen. Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Megan: »Stinklangweilig hier. Wie sieht’s bei dir aus?« "Hier, Ihr Drink", verkündete der Mann hinter der Bar. Maya sah überrascht von ihrem Handy hoch. Sie lächelte: "Danke." Nahm das Glas entgegen und im selben Moment war ihr das Lächeln schlagartig wieder aus dem Gesicht gefallen. Cathlyn stand nur wenige Meter von ihr entfernt ebenfalls an der Bar. Wo kommt die denn jetzt her?! Maya drehte sich eilig von ihr weg. Sie senkte den Blick auf ihr Handy und hoffte, dass Cathlyn sie nicht bemerkt hatte. Ein Atemzug. Zwei. Es blieb ruhig. Maya atmete tief durch. Cathlyn war wohl zu beschäftigt, um sie zu bemerkten. Sie unterhielt sich ungeniert mit dem Barkeeper, während Maya sich ein männliches Schutzschild angelte. Sie platzierte die breiten Schultern dieses Mannes gekonnt zwischen sich und Cathlyn, sodass sie vor ihren Blicken geschützt war. Es funktionierte. Sie konnte Cathlyns Unterhaltung mit dem Barkeeper problemlos verfolgen, während sie ihren redseligen Verehrer mit knappen "Aha's" und "Ist ja interessant's" bei Laune hielt. Es fehlte nur noch die entscheidende Information, doch Cathlyn gab nichts preis. Ihre Unterhaltung war belanglos, als wäre sie nur auf einen kostenlosen Drink aus. Mayas Glas war inzwischen leer und sie hatte noch immer nichts Brauchbares. Sie seufzte schwer, servierte den breit gebauten Typen ab und glitt vom Barhocker. Dann antwortete sie Megan: »Cathlyn ist im CAIN's… Flirtet aber nur mit dem Barmann…« — Megan schmunzelte leicht, als sie Mayas Nachricht erhielt. »Na wenigstens die amüsiert sich.« Bei Maya war es also kein Stück besser. Und wenn man mochte, so konnte man es als Vorteil sehen, dass Megan zumindest ihre Ruhe hatte. Sie hatte sich in der Nähe von Aarons Wohnung auf eine Gartenmauer gesetzt und behielt seine Haustüre im Auge. Meine Fresse…Wie kann man nur so langweilig sein...? Aaron saß seit gefühlten zehn Stunden in seiner Wohnung und machte keinerlei Anstalten, sich nochmal nach draußen zu begeben. Megan hatte durch sein Fenster gesehen. Er saß gemütlich in einem Sessel und war in irgendein altes Buch vertieft gewesen. Absolut uninteressant und schrecklich ermüdend. Gefährlich ermüdend sogar. Etwas drückte ihr fest die Kehle zu und ein harter Schlag traf sie gegen den Hinterkopf. Sie schlug entsetzt die Augen auf. Aaron hatte sie unsanft aus ihrem kleinen Nickerchen gerissen und fest gegen die Wand genagelt. "Wen haben wir denn da?", knurrte er, "Eines von Rivers Schoßhündchen!", er drückte ihr die Luft ab, "Was willst du hier?" Sie grub ihre Finger in seinen Arm, um ihn loszuwerden, nur war Aaron deutlich stärker als sie. "Ich bin nicht sein Schoßhündchen", gab sie etwas erstickt von sich, "Lass mich los!" Sie funkelte ihn böse an, doch Aaron dachte nicht im Traum daran, sie einfach loszulassen. Selbst Schuld. Da Megans Arme zu kurz waren, um ihn wirklich zu erreichen, zog sie ihr Bein mit Schwung nach oben zwischen seine Beine. Er keuchte, ließ sie notgedrungen los und fluchte: "Miststück! Das brauch ich noch!" Megan räusperte sich, nachdem er sie losgelassen hatte. "Dass ich nicht lache", sie lächelt zufrieden. Aaron brauchte einige Sekunden, bis er wieder gerade stehen konnte. Er richtete sich auf und sah nun noch finsterer aus, als zuvor. "Ich frage dich noch ein letztes Mal: Was willst du?", seine Stimme klang bedrohlich. Er würde auch nicht zögern ihr weh zu tun, sollte sie nicht kooperieren. "Gott, bist du unfreundlich", schnaubte Megan recht unbeeindruckt, "Kann man nicht einfach mal vorbeikommen, um Hallo zu sagen?" "Ja klar. Verarsch jemand anderen", brummte er, "Also spuck es aus. Warum hängst du vor meinem Haus rum?", seine Hände spannten sich zu bedrohlichen Fäusten, "Sag's mir, oder ich zerreiß dich gleich in winzig kleine Stücke." "Schon gut, schon gut", Megan trat sicherheitshalber einen Schritt zur Seite und hob beschwichtigend die Hände. Sie wusste, dass sie in einem Nahkampf keine allzu großen Chancen gegen Aaron hatte, also galt es diesen zu vermeiden. "Ich wollte nur…", Megans Blick fiel auf eine Mülltonne, "den Müll wegbringen!", sie trat die metallene Tonne so fest sie konnte in Aarons Richtung. Er musste diesem Geschoss unweigerlich einige Sekunden seiner Aufmerksamkeit schenken, welche Megan zur Flucht nutzte. Er fluchte laut: "Dieses Weib!", und verfolgte sie. Er würde sie nicht einfach so davonkommen lassen. Es musste schließlich einen Grund dafür geben, dass sie sich hier aufgehalten hatte. Sie war keine hundert Meter weit gekommen, als Aaron ihre Flucht grob beendete und sie mit der Brust zur Wand drückte. "Ich frage dich jetzt ein aller letztes Mal", knurrte er ihr finster ins Ohr, "Was willst du?" Er hatte seine Hand fest in ihre Haare vergraben und drückte ihre Wange an die kalte, raue Wand. Es war unmöglich, aus dieser Lage wieder herauszukommen. "Für einen so langweiligen Bücherwurm bist du ganz schön schnell", entgegnete sie kühl. "Tja, Überraschung", erwiderte Aaron nur trocken, drehte sie mit einer schnellen Handbewegung wieder in seine Richtung und setzte einen harten Schlag mit der Faust in ihr Gesicht. Megan taumelte einige Schritte. Ihre Schläfe pochte schmerzvoll. Ou shit… Sie hielt sich den Kopf, als sie sich ihm wieder gerade gegenüberstellte. "Scott hat mich geschickt", erklärte sie leise brummend, "Er will wissen, ob ihr was im Schilde führt." Vermutlich war es besser für sie, wenn sie Aaron ein paar Antworten gab, statt sich hier den Schädel weichprügeln zu lassen. "Achja? Und wie kommt er darauf?", Aaron fixierte jede ihrer Bewegungen. Nochmal würde er sie nicht flüchten lassen. Andererseits hatte sie das auch gar nicht mehr vor. Sie sprach weiter: "Er hat Gerüchte gehört, dass ihr irgendwas aushecken sollt, um uns eins reinzuwürgen. Wäre ja nicht das erste Mal." "Musst du gerade sagen", er schnaubte abfällig, "Aber ich kann dich beruhigen: Wir haben nichts dergleichen geplant." "Schön. Und warum regt es dich dann so auf, dass ich hier bin? Wenn ihr nichts zu verbergen habt?", Megan musterte seine strengen Gesichtszüge ausgiebig. "Ich habe sicher nichts zu verbergen", erwiderte er ziemlich ernst, "Ich kann es nur nicht leiden, wenn ihr verlaustes Pack in meinem Revier unterwegs seid. Das bedeutet nichts als Ärger, also sieh zu, dass du Land gewinnst." "Wie charmant. Danke", gab sie trocken zurück, ging vorsichtshalber noch einige Schritte rückwärts und wandte ihm dann den Rücken zu. "Und richte Rivers aus, dass er das nächste Mal persönlich herkommen soll, damit ich ihm die Fresse polieren kann!", rief Aaron ihr hinterher. Megan drehte sich noch einmal um: "Bin ich Postbote, oder was?! Du kannst mich mal!" "Nein danke, das überlasse ich Rivers. Der vögelt eh alles", entgegnete er mit einem schiefen Grinsen. "Neidisch?", antwortete sie schnippisch. Sie registrierte noch seine dezente "Fuck you"-Geste und setzte damit endgültig einen Haken unter diese Begegnung. Es wurde Zeit, dass sie Bericht erstattete, auch wenn Scott sicher nicht allzu begeistert davon sein würde. 007 --- Prost und Mahlzeit "Mir war klar, dass du das nicht einfach so auf dir sitzen lassen würdest", erklärte Alexander ruhig, während er Tyler und June in sein Wohnzimmer geleitete, "Setzt euch doch." Die beiden nahmen artig auf der großen, hellen Couch Platz, Alexander ihnen gegenüber. Er fixierte Tyler, verschränkte locker seine Arme vor der Brust und fuhr fort: "Du willst mir nun sicher einige Argumente darlegen, weshalb das nicht deine Aufgabe sein sollte, nicht wahr?", er sah ihn gespannt an, "Dann leg los." Alexander lehnte sich gemütlich zurück, seine Miene war ruhig, als wartete er darauf, dass gleich eine Theateraufführung beginnen würde. Tyler nickte: "Gut", er deutete kurz auf June, "Das ist June Garcia, 26 Jahre alt, Journalistin in Ausbildung", begann er erstmal ganz sachlich. Alexander nickte nur knapp und deutete Tyler an, dass er fortfahren sollte. June dagegen beachtete er kaum. Zwar warf er ihr gelegentlich einen kurzen Blick zu, wenn sie sich bewegte, jedoch war der Großteil seiner Aufmerksamkeit auf Tyler gerichtet. June war momentan ohnehin nicht sonderlich gesprächig, sie saß stumm und mit leichter Faszination im Blick neben Tyler, welcher mit seinen Erläuterungen weitermachte: "Also die Tatsache, dass ich sie nicht gewandelt habe, ist dir bereits bekannt. Folglich habe ich eigentlich auch keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber", er schilderte das Ganze so objektiv wie möglich. Betteln half bei Alexander schließlich nicht im Geringsten. "Das weiß ich, Tyler", entgegnete Alexander mit seiner angenehmen, tiefen Stimme, "Du musst mir die Regeln nicht erklären." "War nur meine Einleitung", erklärte Tyler, "Der Punkt ist aber jener, dass ich mir diese Person selbst niemals ausgesucht hätte, um sie zu wandeln. Sollte es mir aber nicht zumindest freistehen zu wählen, wer mein Schüler sein soll?", Tyler hatte sich nach vorne auf seine Oberschenkel gelehnt, "Das ist schließlich eine Verpflichtung für sehr viele Jahre und das wäre mit ihr nicht mal im Ansatz eine sinnvolle Verbindung." "Eine solche Aufgabe ist niemals einfach. Das solltest du wissen", Alexander wandte seinen Blick nun an June, sprach jedoch weiter mit Tyler, "Aber sag mir, was soll an ihr so problematisch sein?" June fühlte sich irgendwie ertappt, als Alexander sie so eindringlich, aus seinen kühlen, blauen Augen heraus, ansah. Das ungewohnt stille Mädchen wandte den Blick auf die hölzerne Tischplatte und verharrte in dieser Position. Sie hörte Tyler über sie herziehen, konnte gerade aber keinen Ton der Widerrede herausbringen. "Sie ist aufmüpfig, stur und völlig unberechenbar. Es kümmert sie nicht, wenn ich ihr etwas sage und ich kann sie nicht rund um die Uhr überwachen. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass sie nicht irgendeinen unbedachten Blödsinn anstellt, wenn ich gerade mal nicht anwesend bin. Wahrscheinlich wäre es einfacher einem Hund das Sprechen beizubringen, als dieses Mädchen zu einem anständigen Vampir zu erziehen", er klang erstaunlich gefasst, wie er so mit seinem Meister sprach, "Diese Frau will nicht, dass ich mich um sie kümmere. Es hat also überhaupt keinen Sinn, das zu versuchen." "Hm", Alexander hatte sich wieder an Tyler gerichtet. Er sah nachdenklich aus. Schwieg eine Weile. Schließlich nickte er. "Ich kann verstehen, dass du Bedenken hast", sagte er ziemlich unberührt, "Aber ich möchte, dass du dich dennoch dieser Herausforderung stellst", beinahe wären Tyler die Gesichtszüge entglitten, als Alexander das sagte, "Ich möchte, dass du Verantwortung übernimmst. Außerdem ist es eine gute Übung, um dich schon einmal mit einer solchen Situation vertraut zu machen" "Alexander, bitte", Tyler verfiel nun doch in einen eher flehenden Tonfall, "Sie ist absolut beratungsresistent. Das ist unmöglich. Ich könnte mir doch einen eigenen Schüler suchen, wenn du unbedingt willst, dass ich mich um jemanden kümmere." "Du wirst einen Weg finden. Lerne wie ein Meister zu denken und du wirst sehen, dass es mit der Zeit leichter werden wird", entgegnete er mit seiner scheinbar unerschütterlichen Gelassenheit. Tyler war dagegen ganz und gar nicht mehr locker, er sah seine Chancen mehr und mehr schwinden und setzte noch ein weiteres mal an: "Was soll ich denn tun, wenn sie wieder abhaut und dann all ihren Freunden oder ihren Kollegen von diesem Klatschblatt von unserer Existenz erzählt? Soll ich die dann alle umbringen?", er klang ein wenig verzweifelt, "Ich bin mir sicher, dass sie früher oder später irgendwas verraten wird!" "Ich werde niemandem irgendwas erzählen", mischte sich June schließlich ein und hob den Blick in Tylers Richtung, "Mir würde sowieso keiner glauben." "Es reicht ja schon aus, wenn du in der Öffentlichkeit irgendwas Dummes anstellst!", schimpfte Tyler zurück, "Das Problem ist, dass du einfach nicht auf mich hören willst!" "Weil du dich verhältst, wie der letzte Vollidiot!" "Achja?!", er schnaubte wütend, atmete dann aber tief durch, um sich zu beruhigen, "Du hast ja keine Ahnung." Dann lehnte auch Tyler sich zurück. Jedoch nicht mal ansatzweise so entspannt, wie sein Meister das tat, welcher die beiden aufmerksam beobachtet hatte. Alexander hatte sich geräuspert und die beiden waren augenblicklich still. Er trug ein leichtes Lächeln auf den Lippen, als er fortfuhr: "Ich sehe keinen Grund, warum du hier gleich das Handtuch werfen solltest, Tyler. Sicher, sie ist nicht unbedingt die kooperativste Schülerin, aber du warst auch nicht immer einfach. Sieh es als Herausforderung." Chancenlos. Tyler blieb nichts anderes übrig, als die Weisung seines Meisters zu akzeptieren. Verfluchte Scheiße! Alexander hatte sich nun seinerseits nach vorne gebeugt. Die Arme ruhig auf den Beinen abgelegt, die Finger locker ineinander verschränkt. Er hatte sich an June gewandt, welcher das sichtlich unangenehm war: "Ich weiß, dass die Situation für dich gerade nicht besonders leicht ist", er sprach sanft zu ihr, fast väterlich, "Doch als Jung-Vampir, der du nun bist, solltest du die Hilfe annehmen, die man dir anbietet, bevor du keine Gelegenheit mehr dazu erhältst. Ein letzter Atemzug ist schnell getan, wenn man niemanden hat, der einem im Notfall den Rücken freihält." June sah ihn ehrfürchtig an. Dieser Mann hatte irgendetwas an sich, was ihr gehörig Respekt einflößte. Sie nickte schweigend. Es war schwer zu sagen, was genau es war, das Tylers Meister diese mächtige Aura verlieh, er verhielt sich nicht, als wäre er in irgendeiner Art und Weise gefährlich, ganz im Gegenteil, er wirkte sehr ruhig und besonnen. Vielleicht waren es auch nur die stechenden Augen, oder seine bemerkenswerte Größe, jedenfalls war June sich absolut sicher, dass sie sich besser nicht mit ihm anlegen sollte. Niemals. Auch Tyler hatte nicht mehr vor seinem Meister noch all zu viele Widerworte zu geben. Schließlich stand ihm das auch gar nicht zu. Er hatte versucht was möglich war und musste sich geschlagen geben. Dennoch machte er keinen Hehl um seinen Ärger über diese Situation. "Schön", sagte er schließlich mit ziemlich scharfem Unterton, "Dann sind wir hier wohl fertig." Er war ganz offensichtlich stinksauer und wäre Alexander wohl am liebsten an die Gurgel gesprungen. Aber es half nichts. Das Wort seines Meisters war Gesetz und dem konnte er sich nicht entziehen. Tyler atmete tief durch. "Hab Dank für dein Vertrauen in meine Fähigkeiten, Meister", gab er etwas zerknirscht von sich. Alexander nickte nur. Er wusste ganz genau, wie sehr es gerade in seinem Schüler brodeln musste, er kannte ihn inzwischen schließlich ziemlich genau. Dennoch, er würde ihn nicht davon freisprechen. Tyler wandte sich mit einem kurzen "Wir gehen", an June und steuerte danach unverzüglich den Ausgang an. June folgte ihm ohne weiteres Zögern. Sie verabschiedete sich mit einem unsicheren Lächeln von Alexander, welcher noch ein weiches "Auf Wiedersehen." erwiderte, und schloss dann zügig zu Tyler auf, der bereits draußen in der Einfahrt war und zielstrebig auf seinen Wagen zusteuerte. Er knallte schwungvoll die Fahrertüre zu, nachdem er hinter dem Steuer Platz genommen hatte. June war noch wenige Schritte entfernt, als Tyler das Fahrzeug mit seiner Stimme zum Vibrieren brachte. Sie verharrte in der Bewegung. Sein wütender Schrei hallte noch einige Sekunden in ihren Ohren. Es war wohl am besten, wenn sie jetzt nichts sagte. June setzte sich schweigend auf den Beifahrersitz. "Sorry", sagte sie leise. Irgendwie tat er ihr doch Leid, auch wenn sich ihre Sympathien ihm gegenüber in Grenzen hielten. Tyler startete den Motor. Er sah sie nicht an. "Kannst du dir sonstwohin stecken", knurrte er ziemlich sauer und trat aufs Gaspedal. Seine Laune spiegelte sich deutlich in seinem Fahrstil wider. Von Null auf Hundert in 3,2 Sekunden. Es war einfach zum Kotzen. Diese Machtlosigkeit, mit der er sich im Bezug auf Alexander konfrontiert sah, war die wahrhaftige Hölle. Gerade hasste er seinen Meister noch mehr, als er die Tatsache hasste, künftig auf June aufpassen zu müssen. Wieso, Alexander? Wieso?! June hatte auch nichts mehr gesagt. Seine Reaktion war deutlich genug gewesen. Sie fragte auch nicht, wohin er überhaupt fuhr, denn es war eindeutig nicht der Weg nach Hause, den er eingeschlagen hatte. Er würde sie schon nicht in irgendeiner dunklen Gasse... Oder doch? Zuzutrauen wäre es ihm in jedem Fall. Sie schreckte zusammen, als er plötzlich, wie aus dem Nichts, auf die Bremse trat und den Motor stoppte. Kein Wort. Er stieg so schnell aus, wie er eingestiegen war und stapfte die Straße entlang. Immer wieder vergrub er seine Finger in den Haaren. Er fluchte. June konnte nicht genau hören was er sagte. Sie saß noch im Wagen und beobachtete ihn. Sie atmete tief durch. Glück gehabt. Erleichtert schloss sie die Lider. Er hatte wohl nicht vor, seinen Ärger an ihr auszulassen. Lediglich zwei Atemzüge später öffnete sie die Augen wieder und er war weg. Was? Wo? Sie nahm den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Tyler war nicht zu sehen. Er hatte sich einige Meter entfernt und war um die eine oder andere Hausecke gebogen. Es schwelte in ihm und irgendwo musste er mit seiner Wut hin. In seinen Ohren pochte der Herzschlag einer Frau. Er konnte hören, wie es schneller schlug, je näher er ihr kam. Sie ging eilig die Straße entlang. Ihre hastigen Schritte, der unruhige Atem, das war Musik. Tyler gab sich nicht einmal Mühe seine eigenen Schritte leiser klingen zu lassen. Ganz im Gegenteil, er genoss es, wie jedes Auftreffen seiner Sohlen auf den Gehweg die Frau trieb. Sie wurde schneller. Irgendwann rannte sie nur noch. Die Angst lag beinahe greifbar in der Luft und Tyler hatte sie schneller eingeholt, als es ihm lieb gewesen wäre. Sei es drum. Seine Finger griffen fest nach dem Handgelenk der Frau und zwangen sie abrupt zum Anhalten. Sie fuhr eilig herum und Tyler packte auch ihren anderen Arm, als sie ihn mit dem Pfefferspray attackieren wollte. Gerade zwei Herzschläge waren vergangen, da fand sie sich mit dem Rücken zur Wand, in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern wieder. Tyler hielt ihr den Mund zu und sah fest in ihre geweiteten Augen. Ein zufriedenes Schmunzeln hatte sich auf seinen Lippen ausgebreitet. Der Geruch von Haarspray, Make-Up und Angstschweiß schlug ihm entgegen und er genoss es. Er würde sie hier nicht mehr davonkommen lassen, dafür hatte sie ihn schon zu sehr in ihren Bann gezogen. "Shhh... sei ruhig", sagte er leise, aber bestimmt, als die ersten Tränen über ihr Gesicht liefen und er seine Hand von ihrem Mund löste. Er fuhr mit den Fingerspitzen über ihre feuchten Wangen, hinunter zu ihrem Hals und vergrub sie schließlich in ihren Haaren. Ein kleines Spiel, welches er mit ihr spielte. Sie wimmerte kläglich, sah ihn flehend an, er möge sie doch gehen lassen. Er blickte fast mitleidig in ihre Augen, als er sich ein Stück herunterbeugte und nur eine Hand breit von ihrem Gesicht entfernt war. "Entschuldige, Kleine", flüsterte er ihr entgegen. Für einen Moment sah es so aus, als würde er nachgeben. Fassade. Er drückte ihr einen kurzen, flüchtigen Kuss auf die Lippen, zog ihren Kopf seitwärts und versenkte seine Zähne in ihrer weichen Haut. Ihr warmes Blut floss seine Kehle hinunter und nach den ersten paar Sekunden, in denen sie sich gewehrt hatte, erschlaffte ihr Körper. Tyler musste sie also nur noch festhalten, während er sich an ihrem Blut bediente. Endlich. Das hier war schon längst überfällig gewesen. "Töte sie nicht!", hörte er Junes Stimme plötzlich hinter sich. Sie musste das Blut gerochen haben, oder sie hatte den wild hämmernden Herzschlag dieser Frau verfolgt. Er kommentierte ihre Anweisung mit einem ausgestreckten Mittelfinger. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten, das zu Ende zu bringen. Er lehnte sich mit einer Schulter an die Hauswand und drehte ihr den Rücken zu. Es war durchaus befriedigend, wie der Herzschlag dieser Frau immer langsamer wurde. "Tyler!", June zerrte an seiner Jacke, "Hör auf damit!" Er brummte genervt, löste sich dann aber tatsächlich von seinem Opfer. Das Blut glänzte noch auf seinen Lippen, als er June die bewusstlose Frau in die Arme drückte. "Guten Appetit!", sagte er noch mit einem finsteren Grinsen im Gesicht und wischte sich dann den Mund ab. June hörte noch das leise Schlagen in der Brust dieser Frau. Sie war nicht tot. Doch der Geruch ihres Blutes, so direkt unter Junes Nase, ließ nun auch deren Puls gefährlich steigen. June spürte dieses unbeherrschbare Verlangen nach Blut. Sie war noch nicht in der Lage, das zu kontrollieren. Wie in Trance handelte sie einfach nach ihrem Instinkt und nahm sich, was sie begehrte. Tyler stand gemütlich daneben und beobachtete das Ganze, bis June den leblosen Körper der Frau zu Boden fallen ließ und langsam wieder zur Besinnung kam. "Hungrig gewesen?", fragte er mit einem amüsierten Ausdruck im Gesicht. June wirkte dagegen eher versteinert. Sie konnte keinen Herzschlag mehr hören, nur noch ihren eigenen und Tylers. Oh nein... bitte nicht. Sie trat einen Schritt zurück, hatte die Augen aber auf die beängstigend stille Frau gerichtet. Das war nicht ihre Absicht gewesen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr schnürte dieser schmerzhafte Gedanke ihr die Kehle zu. Sie konnte es nicht ertragen noch länger hier zu verweilen. June rannte zurück zu Tylers Wagen. Dieser sah ihr kurz hinterher, wandte sich dann aber der Toten zu und zog sie ein Stück zur Seite, zwischen ein paar Müllcontainer, damit sie nicht so schnell gefunden werden würde. Glücklicherweise waren Tote in dieser Stadt keine allzu große Seltenheit. Die Polizei war ohnehin geschmiert. Ein Untersuchungsdokument konnte leicht gefälscht und eine Ermittlungsakte schnell vernichtet werden, wenn man nur den richtigen Menschen das nötige Kleingeld in den Rachen stopfte. Die meisten Menschen waren käuflich und die mächtigen Vampire der Stadt, wussten das für sich zu nutzen. Ein paar Bissspuren würden also so schnell niemanden überführen. Tyler machte sich auf den Weg zurück zum Wagen. In aller Seelenruhe trat er an June heran, die noch ziemlich verstört an seinem Auto lehnte und sich mit einer Hand das Gesicht bedeckte. Der Wagen war abgeschlossen. Er kam nochmal zu June rüber und streckte ihr die offene Hand hin. "Schlüssel", sagte er nur. June reagierte nicht, sie schien ziemlich mit sich selbst beschäftigt zu sein. Tyler verdrehte die Augen, griff in ihre Hosentasche, holte sich seinen Schlüssel eben selbst und stieg schon einmal ein. "Soll ich dich jetzt auch noch ins Auto setzen?", fragte er, nachdem er die Scheibe der Beifahrertüre herunter hatte fahren lassen, "Ey! June, steig ein!" Er hupte kurz, als sie nicht reagierte. Das half. Sie zuckte zusammen und beugte sich etwas hinunter, damit sie in den Wagen sehen konnte. Tyler deutete ihr nochmal an, dass sie doch jetzt endlich einsteigen sollte. Sie tat es. Es war kaum zu übersehen, dass ihre Gedanken sie gerade ziemlich heftig unter Beschuss nahmen. Sie sprach die ganze Fahrt über kein Wort. Gab keinen Laut von sich. Auch Tyler war still, allerdings aus einem anderen Grund. Er wollte einfach diese wohltuende Ruhe nicht stören. Noch als sie wieder in seiner Garage parkten, freute er sich insgeheim über das Entsetzen, welches June im Gesicht trug. "Doch nicht so taff, was?", fragte er grinsend, bevor er ausstieg und das Garagentor wieder herunterfahren ließ. "Lass das...", entgegnete sie leise, sammelte sich dann noch einen Moment und stieg schließlich aus. Sie folgte Tyler nach oben und ließ sich dort aufs Sofa fallen. Tyler war mit seinem Handy beschäftigt. Er gab Cathlyn und Aaron Bescheid, dass es leider nicht funktioniert hatte, Alexander umzustimmen. Sie mussten also auf Plan B zurückgreifen und nach Junes wahrem Meister Ausschau halten. Tyler nahm auf dem Hocker Platz, der June gegenüberstand. Er musterte sie schmunzelnd, wie sie mit angezogenen Beinen zwischen den Kissen saß und das Gesicht auf ihren Knien abgelegt hatte. Zugegebenermaßen keine sonderlich entspannte Position. "Was tust du da?", fragte er, "Meditation?" "Nein", antwortete sie nur knapp. Sie hob den Kopf und sah Tyler ausdruckslos an. "Das ist krank. Und ich habe Angst", klärte sie ihn auf. Tyler musste sich das Lachen verkneifen. "Angst? Süß", er erwiderte ihren Blick eine Weile, "Hör auf dich anzustellen, wie ein kleines Kind", seine Tonlage wurde deutlich strenger, "Das ist ja lächerlich." "Ist es nicht!", entgegnete sie nun doch etwas lauter, "Ich will keine Menschen töten! Das ist alles andere als lächerlich!" Tyler schüttelte verständnislos den Kopf. "Natürlich ist es das", sagte er, "Ein Wolf sagt auch nicht, dass er keine Schafe reißen will. Das ist das gleiche Prinzip." June sah ihn mit großen Augen an. "Das ist nicht das Gleiche", entgegnete sie stur. Tyler seufzte entnervt: "Schön. Vergiss es." Er wollte jetzt nicht schon wieder mit ihr diskutieren. Nicht jetzt, wo sich seine Laune wieder einigermaßen eingependelt hatte. "Du bist mich wahrscheinlich sowieso bald los, dann kannst du deinem Meister mit diesem Blödsinn in den Ohren liegen", fuhr Tyler fort und wechselte dann das Thema: "Aber bis es soweit ist, würde ich gerne ein paar Regeln aufstellen." June hatte den Blick von ihm abgewandt. Sie mochte das dreckige Grinsen in seiner Visage nicht länger sehen. "Aha", brummte sie leise, "Und zwar?" "Würdest du mich wohl bitte ansehen, wenn ich mit dir rede?", er wartete bis June den Kopf recht unbegeistert wieder in seine Richtung gedreht hatte, dann fuhr er fort, "Regel Nummer 1: Du tust, was ich dir sage. Ich bin praktisch sowas wie dein Meister, also hast du auf mich zu hören. Egal ob es dir passt, oder nicht" "Solange die Sache mit dem Meister nicht so eine Art 'Fifty Shades of Grey' wird... werde ich mich wohl damit arrangieren können." "Fifty was?", er sah sie irritiert an. June winkte ab: "Nicht wichtig." "In Ordnung... Also Regel Nummer 2: Keine Alleingänge deinerseits. Das ist zu deiner eigenen Sicherheit und für die Menschen in deinem Umfeld ist es auch sicherer, wenn du in meiner Nähe bleibst", er sah sie streng an, "Regel Nummer 3: Keine Gespräche nach 5 Uhr morgens und vor meinem ersten Kaffee am Abend. Das ist wichtig, sonst werde ich dir früher oder später den Kopf abreißen müssen. Regel Nummer 4: Egal was ich tue, du funkst mir nicht dazwischen", das bezog er ganz offensichtlich auf die Situation von vorhin, "Und die letzte und wichtigste Regel: Kein Wort zu irgendjemandem. Du hältst in jedem Fall den Mund, und wenn dich jemand fragt, dann bist du mein Schüler, sonst nichts", es klang fast wie eine Drohung, "Klar soweit? Soll ich dir das aufschreiben?" June schüttelte den Kopf. "Nicht nötig", entgegnete sie leise. Diese ganzen Regeln waren ihrer Meinung nach sowieso nicht nötig, also wäre es nur Papierverschwendung diese aufzuschreiben. "Okay. Gut", schloss Tyler das Gespräch und stand wieder auf, "Aber halt dich daran." Sie nickte nur und rollte sich auf dem Sofa zusammen. Das Geschehene ging ihr noch immer an die Nieren. Wenn nun jede Nacht sie mit solchen Gedanken empfangen würde, wäre es vermutlich sogar eine Erleichterung, wenn Tyler sie einfach kurzerhand davon erlöste. Doch das war keine Option. So leicht würde sie sich sicher nicht unterkriegen lassen. Und mit etwas Zeit und Ruhe würde sie es sicher in den Griff bekommen können. Schließlich konnte Tyler sich auch kontrollieren, und wenn er das konnte, dann würde sie das ebenfalls hinbekommen. Ein all zu helles Licht schien er ja immerhin nicht zu sein. Tyler war nach oben gegangen. Sein Handy hatte geklingelt. Eine Nachricht von Cathlyn, die im CAIN's CLUB unterwegs war und es sich gut gehen ließ. Die unterschwellige Ironie in ihrer Mitleidsbekundung war Tyler nicht entgangen. Sie würde was für ihn mittrinken. Sicherlich. Tyler betrachtete die Zeilen eine Weile, dann legte er das Smartphone beiseite und ging sich umziehen. Es war noch zu früh, um jetzt schon schlafen zu gehen. Außerdem konnte er etwas Ablenkung gerade sehr gut gebrauchen. Als er nach unten kam, lag June noch immer regungslos auf dem Sofa. "Ich werde dich jetzt für ein paar Stunden alleine lassen", verkündete er, "Wehe du stellst mir die Bude auf den Kopf." "Warum sollte ich das tun?", sie blinzelte kurz in seine Richtung, schloss die Augen dann aber wieder, "Ich komm schon klar." Er schnaubte leise, verabschiedete sich dann aber nur noch: "Gut, dann bis später", und wandte sich zum Gehen ab. "Tyler?", June hatte sich aufgesetzt. "Was denn noch?", seiner Tonlage war deutlich zu entnehmen, dass ihm jetzt nicht nach einer Unterhaltung zu Mute war. "Hast du noch... Blut?", fragte sie etwas unsicher, "Also... diese Konserven?" "Nein", entgegnete Tyler nur trocken, "Und du solltest dich da auch gar nicht erst dran gewöhnen", jetzt sah er sie ziemlich ernst an, "Diese Konserven sind nur für Notfälle gedacht, nicht als Standardmahlzeit." Sie senkte den Blick: "Okay." "Ich bin außerdem auch nicht lange weg", erklärte er ganz sachlich, "Und du hast vorhin erst was zu dir genommen. So schnell wirst du keinen Hunger bekommen." June nickte. "Du kommst also klar?", fragte Tyler sicherheitshalber nochmal nach. June warf ihm einen genervten Blick zu: "Ja doch. Ich bin kein Kind mehr!" Er musterte sie skeptisch und wandte sich dann der Kommode zu, die neben der Türe stand, nahm einen Stift und notierte etwas auf einen kleinen Zettel. "Falls was ist", er warf ihr einen warnenden Blick zu, "Aber nur, wenn es wirklich wichtig ist. Ansonsten will ich nicht gestört werden." June besah sich das Stück Papier, das sie von ihm in die Hand gedrückt bekommen hatte. Seine Handynummer. Richtig, er hatte sie mit unterdrückter Nummer angerufen. "Alles klar", sagte sie noch und schon war Tyler zur Türe hinaus. June seufzte leise. Es war plötzlich so ruhig hier. Nur der Kühlschrank summte. Sie saß eine Weile auf dem Sofa und sah sich um. Ihr fiel der Koffer ins Auge, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie hatte ihn noch nicht ausgeräumt. Vielleicht würde sie das etwas ablenken. Wenigstens für eine kurze Weile. 008 --- Der Leichtsinn. "Noch etwas zu Trinken, Cathlyn?", der Barkeeper sah sie fragend an. Cathlyn hob den Blick von ihrem Mobiltelefon und nickte. "Ja, nochmal das Gleiche, bitte", sie packte das Handy weg und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Theke, während sie auf ihren Drink wartete. Sie hatte Tyler gesimst, dass sie im CAIN's war und für ihn einen mittrinken würde. Es war zugegebenermaßen eine ziemlich beschissene Situation, in der ihr Freund sich da befand, aber trotzdem kein Grund, deswegen das Feiern einzustellen. "Sag mal, Brian...", fing sie an, als der Barmann ihr das Glas hinstellte, "Hattest du gestern um diese Uhrzeit auch Schicht?" "Ja, wieso?" "Ist dir hier ein Mädchen mit ungefähr so langen, schwarzen Haaren aufgefallen?", sie hielt ihre Hand ungefähr auf Brusthöhe, "Etwa so groß wie ich und relativ niedlich?" Brian sah sie nachdenklich an, als er antwortete: "Also... lass mich überlegen. Hier kommen ziemlich viele Mädchen vorbei, auf die diese Beschreibung zutrifft. Hast du noch mehr Infos?" Cathlyn überlegte. Sie wusste leider nicht all zu viel über den vergangenen Abend. "Ich vermute mal, dass sie ziemlich betrunken gewesen sein muss, sie erinnert sich nämlich leider nicht mehr an letzte Nacht...", fuhr Cathlyn fort, "Jedenfalls wäre es ziemlich wichtig. Also falls dir irgendwas aufgefallen ist..?" Cathlyn konnte fast sehen, wie die Rädchen in Brians Kopf sich drehten. Dass ihr enges, rotes Kleid, mit dem tiefen Ausschnitt dem armen Kerl nicht unbedingt beim Nachdenken half, nahm sie vergnügt zur Kenntnis. Immerhin hatte ihr das einige Free Drinks beschert. Ihr Handy klingelte kurz. Sie sah nach unten und schmunzelte. "Machst du mir noch zwei Kurze, bevor du weiter überlegst?", unterbrach sie Brian, der immer noch angestrengt nachdachte. "Klar", er nickte und ging gleich zwei Gläser holen. Oh Tyler... Sie schüttelte kurz den Kopf und lächelte Brian entgegen, als der ihr die Shots brachte. "Hier, bitte sehr", verkündete er. "Herzlichsten Dank." "Mir ist übrigens noch was eingefallen", fuhr Brian gleich fort, "Ich denke ich weiß, von welchem Mädchen du sprichst. Die mit den vielen Verehrern. Sie war gestern hier und hat sich mit einigen Kerlen unterhalten. Allerdings war da niemand dabei, dessen Gesicht mir neu gewesen wäre. Die üblichen Verdächtigen, nichts außergewöhnliches... Tut mir Leid. Aber vielleicht helfen dir ja die Überwachungskameras weiter", schlug er vor, "Ihr ist doch hoffentlich nichts passiert, oder?" Cathlyn winkte ab. "Nein nein, alles in Ordnung, sie vermisst nur ein paar Sachen", beruhigte sie ihn, "Aber danke für den Tipp mit den Kameras." "Keine Ursache", erwiderte er freundlich und wandte seinen Blick dann an ihr vorbei, als Cathlyn Gesellschaft bekam. "Oh, ist der für mich?", Tyler schnappte sich einen der beiden Kurzen und kippte ihn gleich runter, "Danke. Kann ich gut gebrauchen." "Hey", sie drehte sich zu ihm rüber, "Eh, ja für dich", dann hob sie skeptisch die Augenbrauen an, "Du bist alleine? Ich dachte du würdest sie mitbringen." Tyler lachte: "Wen soll ich mitbringen?" "June. Du sollst doch auf sie aufpassen", klärte sie Tyler auf, der das gerade wohl zu verdrängen versuchte, "Oder hast du dir einen Babysitter organisiert?" "Nein, hab ich nicht." "Wieso bist du dann hier, mein Süßer?", fragte sie weiter. Er grinste sie schelmisch an: "Oh Liebes, weil ich mich nach dir verzehrt habe." "Das glaubst du doch selbst nicht", lachte Cathlyn, trank auch ihren Shot und wurde dann augenblicklich ernster, "Können wir kurz draußen unter vier Augen sprechen?" "Hab ich was angestellt?", er sah sie verblüfft an, doch sie schüttelte den Kopf und zog ihn am Arm hinter sich her nach draußen. "Was ist los?", fragte Tyler, nachdem Cathlyn ihn wieder losgelassen hatte. "Ich habe mich bei Brian ein wenig nach June erkundigt", klärte sie ihn auf. Tylers Miene fiel schlagartig in sich zusammen: "Oh... müssen wir da jetzt drüber reden?" "Willst du sie nun loswerden, oder nicht?", Cathlyn warf ihm einen mahnenden Blick zu. Er seufzte resigniert. "In Ordnung. Also, was hast du rausgefunden?", dabei klang er nicht sonderlich interessiert. Warum auch? Er war schließlich hergekommen, um eine Weile abzuschalten, und nicht, um detektivische Meisterleistungen zu vollbringen, doch Cathlyn kümmerte das nicht. Sie wollte jetzt nicht diskutieren, also überging sie Tylers abwehrende Haltung einfach. "So wie es aussieht, waren wohl mehrere Kerle hinter ihr her. Brian meinte aber, dass ihm keiner davon irgendwie komisch vorgekommen wäre", teilte sie ihm ihre Erkenntnisse mit, "Alles mehr oder minder Stammgäste und daher ist es wohl eher unwahrscheinlich, dass es einer von denen war." "Das sagst du", entgegnete er ruhig, "Ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen." Cathlyn sah in nachdenklich an. Mit dieser Vermutung hatte er wohl nicht zwingend Unrecht. Es kam schließlich immer mal wieder zur einen oder anderen Regelmissachtung, nur waren das für Gewöhnlich keine solch dramatischen Verstöße. Tyler riss sie aus ihren Gedanken: "Also wenn du mich fragst, dann hat einer, der das oberste Gesetz bricht, sicherlich keine Probleme damit, diese läppische Hausordnung zu ignorieren." "Wohl wahr", stimmte sie zu, "In diesem Fall wäre es vielleicht doch ganz hilfreich, sich die Überwachungsvideos mal genauer anzusehen." Tyler zog überrascht die Brauen hoch. Schade, dass er da nicht selbst drauf gekommen war. "Das ist eine sehr gute Idee", das musste er neidlos anerkennen, dann hob er den Zeigefinger, "Dafür lade ich dich jetzt auf einen Drink ein und wir gehen Tanzen." Genug Problembehandlung für diese Nacht. Die Videobänder würden ihm schließlich nicht davonlaufen und überhaupt hatte er heute schon genug Zeit und Nerven an June verloren, da würde er nicht auch noch die letzten paar Stunden, die noch übrig waren, damit verplempern. Auch Cathlyn schien nicht abgeneigt. Ganz im Gegenteil, ihre Augen hatten förmlich zu leuchten begonnen, als Tyler ihr Drink und Tanz in Aussicht gestellt hatte. Sie kniff die Augen leicht zusammen: "Den Tanz kann ich gelten lassen..." "Aber?" "Tyler... Du bekommst die Drinks hier kostenlos." "Ach ja, richtig", das fiel ihm schon gar nicht mehr auf. "Tja, na dann mal los! Tanzen!", sie freute sich, klopfte ihm kurz dankend auf den Oberarm und tänzelte zurück in den Club, Tyler dicht dahinter, nicht tänzelnd. — Oh shit..! Maya drängelte sich eilig zwischen die Gäste, als sie Cathlyn und Tyler zurückkommen hörte. Verfluchte, scheiß dreckige Musik! Sie atmete tief durch, um wieder etwas runterzukommen. Die Musik war eindeutig zu laut, um jemanden zu belauschen, der sich außerhalb des Clubs in aller Ruhe unterhielt. Trotzdem. Die paar Gesprächsfetzen, die sie mitbekommen hatte, als die beiden noch an der Bar gestanden hatten, waren zweifellos recht interessant gewesen. June also. Das war ein Anfang. Sie zog ihr Handy heraus, um Megan über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren. 1 neue Nachricht. Oha. Maya hatte das Handy lautlos gestellt, während sie Cathlyn beschattet hatte und Megan war ihr bereits zuvorgekommen: »Bin wieder bei Scotti... Wie sieht's bei dir aus? Hoffe, du warst erfolgreicher, als ich...« Klang nicht sehr vielversprechend. Maya überlegte. Sie suchte im Gewühl nach Tyler und Cathlyn. Die beiden sahen nicht unbedingt danach aus, als würden sie heute noch tiefschürfende Gespräche führen wollen, also hatte es wohl wenig Sinn, noch länger hier zu bleiben. Es wurde Zeit zu verschwinden. — "Maya hat geschrieben", sagte Megan recht unbegeistert. Sie hatte sich der Länge nach auf Scotts Sofa breitgemacht und die Abfuhr ihres 'Kumpels' weitestgehend an sich abprallen lassen. "Und was schreibt sie?", Scott klang genervt. Megans außerplanmäßiges Zusammentreffen mit Aaron hatte ihn doch sichtlich verstimmt und er gab sich keinerlei Mühe, das zu verbergen. Megan warf ihm einen mindestens genauso begeisterten Blick zu, wie sie ihn von Scott erhalten hatte, bevor sie Mayas Text mit übertrieben mangelnder Betonung vorlas: "War erstmal recht uninteressant und war auch schon fast wieder weg. Konnte dann noch ein paar spannende Infos abstauben. Smiley." Sie hob die Augen vom Display und sah zu Scott, der ein paar Gläser in die Küche brachte. "Klingt doch ganz annehmbar", fasste sie das kurz zusammen, nachdem ihr Kumpel wohl nichts auf Mayas Nachricht sagen wollte. Er nickte. "Ja. Warten wir mal ab", fügte er mit einer ordentlichen Portion Skepsis bezüglich Megans Aussage an. Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Zumindest dann nicht, wenn Megan einer weiteren Szene aus dem Weg gehen wollte. Und heute hatte sie dafür wirklich keinen Nerv mehr, wenngleich sie genug gegen Scott vorzubringen hätte, um einen ausgewachsenen Krawall anzuzetteln. "Gar kein Besuch heute?", fragte sie eher beiläufig, während sie auf ihrem Handy die aktuellen Nachrichten überflog. "Nein", antwortete er ein wenig enttäuscht, "War nichts Heißes aufzutreiben." "Zu dumm", Megans Mundwinkel hatten kurz gezuckt. Zu einem Lächeln hatte es allerdings nicht gereicht. "Richtig, jetzt hänge ich nämlich mit dir hier rum", entgegnete Scott schnippisch. Sie sah zu ihm rüber, als er aus seiner offenen Küche wieder zurück ins Wohnzimmer kam. "Sorry, dass ich nicht so unterhaltsam bin, wie deine kleinen, süßen Eskapaden", sie sah ihn dabei ziemlich ausdruckslos an. Scott erwiderte ihren müden Blick einen Moment lang. Er wollte gerade Luft holen, um etwas darauf zu sagen, doch dann klingelte es an der Türe, "Maya. Na endlich." Keine fünf Sekunden später, stand die junge, quirlige Frau schon in der Türe. "Hey!", begrüßte sie Scott, "Ich habe gute Neuigkeiten!" Ihre Augen funkelten vor Freude, als würde es jeden Moment aus ihr herausplatzen, doch zunächst nahm sie auf dem freien Sofa in Scotts Wohnzimmer Platz. Megan hatte sich inzwischen aufgesetzt und sah Maya gespannt an: "Und? Was hast du herausgefunden? Sag schon." Maya grinste bis zum Anschlag: "Sie heißt June. Und Jacobs scheint tatsächlich auf sie aufpassen zu müssen." "Und deine Quelle ist welche?", Scott musterte sie eindringlich. Ihre überschwänglich gute Laune konnte er damit jedoch nicht unterbinden. "Na Tyler selbst!", erklärte sie lachend, "Ich wollte ja schon fast wieder gehen, nachdem Cathlyn die ganze Zeit nichts anderes getan hat, als mit dem Barkeeper zu flirten und sich Drinks spendieren zu lassen, aber als ich rausgehen wollte, ist Jacobs mir entgegengekommen. Beziehungsweise habe ich ihn den Club betreten sehen und da war mir klar: JETZT ist die Gelegenheit. Also bin ich ihm wieder zurück zur Bar gefolgt und habe deren Gespräch mitgehört", sie machte eine kurze Pause, um Luft zu holen, "Cathlyn hat ihn gefragt, ob er nun einen Babysitter hätte, Tyler meinte Nein und dann sind die zwei leider auch schon nach draußen verschwunden..." "Und du bist ihnen hoffentlich gefolgt?!", Scotts Stimme klang wie eine vorgehaltene Pistole. "Eh... jaa...", für ihre Verhältnisse zog Maya diese Worte sehr in die Länge. Ihr Redefluss war für gewöhnlich eher von der rasanten Sorte, also konnte das nichts Gutes verheißen. "Jaa...", Scott ahmte sie nach, als von Mayas Seite nichts mehr kam, dass sie doch bitte weitersprechen möge. "Na ja... also ich bin ihnen schon gefolgt", fuhr sie fort, klang dabei aber nicht mal mehr annähernd so euphorisch, wie kurz zuvor, "Aber ich konnte ja schlecht raus auf die Straße gehen, weil da nichts los war und die mich sonst gesehen hätten. Also habe ich versucht, von drinnen etwas zu verstehen... aber die Musik ist echt laut da...", sie verzog ein wenig missmutig die Lippen, "Ich konnte deren Gespräch bei dem ganzen Lärm nicht herausfiltern." "Reicht doch", mischte sich nun auch Megan ein, "Immerhin mehr als ich herausfinden konnte." "Welch eine Leistung. Ist ja nicht allzu schwer", entgegnete Scott mit seiner ätzenden, sarkastischen Art. "Was war denn?", Maya sah ihre Freundin besorgt an, "Ist was passiert?" "Kleines Intermezzo mit Aaron", klärte Megan sie kurz auf, "Nicht der Rede wert." "Überhaupt nichts ist das wert", Scott wandte sich an Maya, "Unsere liebe Freundin hier bekommt es nicht mal auf die Reihe, ihre Augen offen zu halten!" Das war dann doch zu viel. "Weißt du Scott, leck mich!", fuhr Megan ihn an, "Du warst dich die ganze Zeit nur amüsieren, während Maya und ich die Drecksarbeit erledigt haben! Du hast nicht mal versucht, irgendwelche Informationen aufzutreiben!" "Bist du jetzt fertig?", er sah sie unbeeindruckt an, "Schön, dann können wir uns ja jetzt auf das Wesentliche konzentrieren: June." Megan schnaubte wütend. Sie kaute angespannt auf ihrer Unterlippe herum und hatte sich demonstrativ von den beiden abgewandt.  "Okay, was hast du vor?", fragte Maya und ignorierte die hitzige Spannung, die in der Luft lag. Scott überlegte einen Moment lang, bevor er antwortete: "Wir schnappen sie uns. Und dann überlege ich mir, welchen Preis unser lieber Tyler dafür zahlen darf, dass er sie zurückbekommt." In seinem Gesicht breitete sich ein siegessicheres Lächeln aus. Die Vorstellung, endlich wieder etwas gegen Tyler in der Hand zu haben, bereitete ihm sichtlich Vergnügen. "Und wie genau willst du an sie herankommen?", Maya sah ihn nachdenklich an, "Er wird sie dir ja wohl kaum einfach so vorbeischicken." "Natürlich nicht. Aber jetzt gerade ist er doch mit Kitty unterwegs. Ziemlich verantwortungslos, findest du nicht?" — Cathlyn hatte ihre Arme locker auf Tylers Schultern abgelegt. Der schnelle, Bass-lastige Rhythmus der Musik von vorhin war einer ruhigen, entspannten Melodie und weichen, wimmernden Stimmen gewichen, die sich zuweilen erbärmlich leidend anhörten. Eine kleine Verschnaufpause für all die müden, verschwitzen Körper, die sich auch zu dieser späten Stunde noch unter den bunten Lichtern des CAIN's CLUB tummelten. Cathlyn und Tyler mittendrin. "Ist sie eigentlich echt so schwierig?", sie ergriff das Wort und richtete ihre Augen fragend nach oben. "Fängst du schon wieder damit an?", Tyler seufzte leise, "Ja, ist sie. Sie treibt mich in den Wahnsinn." "Oh... So wie ich?", ein schelmisches Grinsen breitete sich auf ihren roten Lippen aus. Er lachte leise: "Nein, ganz und gar nicht so wie du. Du bist wunderschön, also darfst du mich auch gelegentlich nerven." Jetzt konnte auch Cathlyn sich das Lachen nicht länger verkneifen: "Du elender Schleimer. Hör bloß auf damit!" "Und du bist scheinheilig", erwiderte er zufrieden lächelnd. "Findest du, ja?", Cathlyn hatte ihren Kopf inzwischen wieder an seiner Schulter abgelegt. "Definitiv", bestätigte Tyler seine Aussage nochmal, "Du tust nur so, als würden dich meine Komplimente stören." "Na, wenn du das sagst", sie gab sich geschlagen, was das betraf. Wahrscheinlich hatte er sogar Recht. "Vielleicht solltest du das bei June auch mal versuchen. Komplimente und so", schlug sie vor. Er lachte: "Da gibt es aber nichts, wofür ein Kompliment angebracht wäre." "Ich finde sie eigentlich ganz niedlich" "Du spinnst doch", gab er amüsiert zurück, "An ihr ist gar nichts niedlich." "Sie ist niedlicher als ich", entgegnete Cathlyn mit ziemlicher Überzeugung. "Na, jetzt geht's aber los", Tyler schüttelte leicht den Kopf, "Hast du Mitleid mit ihr, oder warum faselst du solchen Unsinn?" "Nein, ich meine ja nur", erklärte sie ruhig, "Und wenn du dem Ganzen nicht so widerwillig gegenüberstehen würdest, dann wäre es vermutlich auch für dich etwas leichter." "Aha", gab er nur unbegeistert zurück, "Na, ich will dich mal in meiner Situation sehen..." Cathlyn zuckte leicht mit den Schultern: "Ich sage ja nur, was ich denke." "Schon okay", Tyler wollte gar nicht mit ihr darüber sprechen, doch ganz offensichtlich schien sie das Thema gehörig zu fesseln. "Du vibrierst", sagte sie leise, während die beiden noch immer recht eng aneinander klebten. "Hab ich gemerkt", entgegnete Tyler, machte aber keinerlei Anstalten nach seinem Handy zu sehen. "Solltest du nicht nachsehen?", Cathlyn löste den Kopf von seiner Schulter und sah ihn fragend an. "Würdest du jetzt bitte endlich damit aufhören?", seine Tonlage war schon deutlich gereizter. "Womit denn?" "Mir zu sagen, was ich tun soll", klärte er sie auf, "Das nervt." Sie hob übertrieben ruckartig die Arme von seinem Hals und hielt sie abwehrend vor sich: "Oh, sorry großer Meister. Ich hatte doch glatt vergessen, dass du bereits die Schwelle der Unfehlbarkeit übertreten hast. Glückwunsch!" Tyler rollte mit den Augen. Typisch. Cathlyns Launen waren zeitweise so wechselhaft wie das Wetter im April und manchmal genügte ein winziger Funkenflug und alles stand in Flammen. Aber sei es drum. Kein Grund deswegen ein Blatt vor den Mund zu nehmen, schließlich flauten diese Phasen meist genauso schnell wieder ab, wie sie gekommen waren. Halbwegs. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren – welches der Situation wahrscheinlich so oder so nur abträglich gewesen wäre– zog er sein Handy heraus und überflog die Zeilen. "Oh fuck", Tyler hob die Augen vom Display und sah seine Freundin mit leichter Fassungslosigkeit an, "Aaron hat mir geschrieben. Er hat Megan vor seinem Haus erwischt. Sieht so aus, als würden die was wittern." Cathlyn zog scharf die Luft ein: "Nicht unbedingt erfreulich... Wann hat er sie denn getroffen? Eben?" "Nein", er sah nochmal auf das Display, "Das war wohl schon vor ungefähr drei Stunden." "Und das schreibt er dir erst jetzt?!", sie war sichtlich schockiert. Tyler zuckte nur mit den Schultern: "Vielleicht war er noch beschäftigt? Oder sein Akku war leer. Ist doch egal." "Tzz, solche wichtigen Informationen einfach zu unterschlagen...", sie fand das ganz und gar nicht so belanglos, aber wahrscheinlich lag das auch an ihrer momentan leicht angespannten Grundstimmung. Tyler wählte Junes Nummer. Mailbox. Shit. Cathlyn sah ihn gespannt an. Sie schien sich offenbar mehr Sorgen zu machen, als ihr Freund. Ihr besorgter Gesichtsausdruck war ihm nicht entgangen, als er das Handy wieder einsteckte, ohne June erreicht zu haben: "Soll ich jetzt wegen meinem Kuckuckskind nach Hause, oder was?" "Also...", sie musterte seine entnervte Miene kritisch, "Wenn du meinen Rat denn hören willst, dann solltest du das tun, ja." Er seufzte schwer: "Ouu... ja, okay. Wenn du mich unbedingt loshaben willst." Seine Freundin warf ihm einen müden Blick zu: "Du weißt genau, dass das nicht stimmt." "Jaa...", antwortete er ihr langgezogen, "Dann hau ich jetzt ab. Aber nur, weil du mich sonst die ganze Zeit so ansehen würdest." Dabei tippte er ihr mit leichtem Nachdruck auf die Stirn. Cathlyn verschränkte die Arme: "Du wirst mir noch dankbar sein." "Sicher", eine unüberhörbare Ironie schwang in seiner Aussage mit, "Ich werde dir eine Dankeskarte schicken." Sie verdrehte ihre dunklen Augen: "Lass stecken. Und verzieh dich endlich." "Klar, Boss", er deutete eine kurze Verneigung an, warf ihr einen finsteren Blick zu und verschwand zwischen den noch immer ruhig hin und her wiegenden Paaren, die sich verliebt in den Armen lagen. Echt unfassbar... Nie hätte Tyler gedacht, dass er einmal in eine solche Situation kommen würde. Nicht in den nächsten hundert oder zweihundert Jahren. Er stand ja selbst noch unter der Fuchtel seines Meisters, was grundsätzlich auch nichts Schlechtes war, immerhin gingen damit einige Annehmlichkeiten einher. Bis auf die Sache mit June, das war eindeutig Folter. Und der Grund – sofern es einen solchen überhaupt gab – warum Alexander das von ihm verlangte, wollte sich Tyler beim besten Willen nicht erschließen. Reine Schikane. Seine Gedanken kreisten noch eine ganze Weile um die 'Wenn's und 'Vielleicht's, um die Tatsache, dass sein Meister ihn wohl voraussichtlich nicht in naher Zukunft freigeben würde und dass er – wenn es schlecht lief – sogar noch ein knappes Duzend Dekaden mit June vor sich hatte. Dann, wenn alle anderen nicht mehr an ihre Meister gebunden sein würden, dann würde er sich mit Erziehung und Schadensbegrenzung herumschlagen müssen. Und wahrscheinlich würde Alexander ihn dann noch immer in der Hand haben. Schließlich lag es ausschließlich in seinem Ermessen, ob und wann er seinen Schüler aus dieser Verbindung entlassen wollte. Beschissene Regeln... Tyler schob den Schlüssel in die Tür. Im Haus war es ziemlich ruhig. Noch im Treppenhaus lauschte er, ob man sie hören konnte. Kein Ton. "Oh, ernsthaft?", er hatte das Wohnzimmer betreten und June war weder zu sehen, noch zu hören. Seine Augen flogen ruhig durch den Raum. Kein Grund zur Hektik. Die Balkontüre war offen und Junes Koffer lag halb ausgeräumt auf dem Boden vor dem Sofa. Fantastisch... Tyler wählte noch einmal ihre Nummer. Wieder nur die Mailbox. Zeit es mit einer anderen Nummer zu versuchen, während er es sich auf der Couch bequem machte. Es dauerte einen Augenblick, bis Aaron seinen Anruf entgegennahm. "Hey. Eh, sag mal, du hattest doch heute eine kurze Unterhaltung mit Megan. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass Rivers sich June geschnappt hat?", Tyler klang dabei erstaunlich gelassen. Aaron dagegen eher weniger: "Sie ist weg?! Alter, das ist gar nicht gut. Ich meine, es kann auch Zufall gewesen sein, dass Scotts Gespielin vor meinem Haus rumgelungert hat, aber für wie wahrscheinlich hältst du das?", dabei griff er Tylers Worte auf, "Es ist schon eine Weile her, dass die uns belästigt haben und außer der Sache mit June fällt mir nichts ein, weswegen sie sich sonst so plötzlich wieder bemerkbar machen sollten." "Schade", Tyler seufzte, "Und was schlägst du vor? Wollen wir denen einen Besuch abstatten und allen das Genick brechen?" "Zum Beispiel", antwortete Aaron recht nüchtern. Nicht unbedingt die Art von Abendprogramm, die Tyler sich vorgestellt hatte: "Hatte gehofft, du würdest was anderes vorschlagen...", er war nicht besonders scharf darauf, sich jetzt noch mit Scott und dessen farbenfrohem Beiwerk zu prügeln, "Wir sollten erstmal die Lage checken, bevor wir mit der Tür ins Haus fallen." "Wie du meinst", Aaron hatte absolut nichts dagegen, das Ganze etwas langsamer anzugehen. In jedem Fall würde er seinem Freund aber auch im Ernstfall zur Seite stehen: "Treffen wir uns dort?" "In zwanzig Minuten", stimmte er Aarons Vorschlag zu, "Bis dann." Tyler legte das Handy auf den Wohnzimmertisch und ging nach oben. Er zog sich um, für den Fall, dass er sich tatsächlich mit Scott schlagen müsste, auch wenn ein kleiner Teil von ihm noch immer hoffte, dass es nicht soweit kommen würde. Sichtlich unmotiviert verließ er schließlich die Wohnung, um gezwungenermaßen seinen Schützling zu retten. Keine sehr dankbare Aufgabe, wie er fand. Jedenfalls nicht bei diesem Schützling. In seinem Hirn entstanden bereits die ersten Pläne, wie er die Sache mit Scott regeln würde, als er die Haustüre öffnete und schier zur Salzsäule erstarrte. Ein lautes Klatschen hallte durch die kühle Nachtluft. "Spinnst du?!", Tyler fuhr sie wütend an. June hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wange. Seine Ohrfeige hatte gesessen. "Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!", beschwerte sich nun auch June. Tyler ging nicht darauf ein. Er packte sie am Kragen und zog sie hinter sich her nach oben in die Wohnung. Auf dem Weg dahin zückte er erneut sein Mobiltelefon und drückte die Wahlwiederholung: "Aaron, du kannst wieder nach Hause gehen. Hier bekommt gleich jemand ganz schön Ärger." "Alles in Ordnung?" "Ja, aber nicht mehr lange." Dann legte er auf. Er hatte June mit Schwung Richtung Sofa befördert und knallte die Wohnungstüre hinter sich zu. "Weißt du eigentlich, dass das auch ziemlich tödlich für dich hätte enden können?", ein leichtes Knurren lag in seiner Stimme, als er sie weiter anging. "Der Einzige, der mich wohl umbringen will, bist du!", entgegnete sie mindestens genauso wütend, "Es war alles in Ordnung, bis du ausgeflippt bist. Warum regst du dich also so auf?" "Warum? Meinst du das ernst?", er sah sie ungläubig an, "Kannst du dich noch an meine Regeln erinnern?! Ich hab die nicht zum Spaß aufgestellt! Es ist verdammt nochmal gefährlich, wenn du alleine draußen rumläufst!", Tyler legte fassungslos die Hand auf seine Stirn, "Das ist doch echt unglaublich..." Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, um wieder etwas runterzukommen, bevor er nun ein wenig ruhiger fortfuhr: "Mal ganz abgesehen davon, dass das gefährlich ist, wären Aaron und ich eben fast zu diesem Idioten Rivers geeiert, der dann sicherlich Eins und Eins hätte zusammenzählen können. Wahrscheinlich weiß er sowieso schon, dass hier was nicht seinen normalen Gang geht. Das spricht sich schneller herum, als du denken kannst." June hatte die Augen stur auf die Tischplatte gerichtet, während sie sich ihren Anschiss abholte. "Okay, ich hab's kapiert. Sorry, mir war langweilig... ich wollte nur...", sie winkte ab, "Nicht so wichtig." "Was wolltest du? Einfach aus Prinzip meine Vorschriften missachten?", fragte er noch immer ziemlich sauer, "Glückwunsch, das hast du geschafft." June warf ihm einen finsteren Blick zu: "Nein. Ich war nochmal bei mir zu Hause. Weißt du, das ist da wo man mich nicht wie Dreck behandelt!", schnauzte sie ihn an, "Und mach dir keine Sorgen, ich hab mich dabei nicht von ihnen sehen lassen. Ich wollte nur wissen, wie es ihnen geht. Nicht gut übrigens." "Welch unerwartete Erkenntnis", gab er übertrieben erstaunt zurück, "Damit konnte wirklich keiner rechnen." "Arschloch!" "Heulsuse." "Halt die Klappe", June warf ihm wütende Blicke zu, "Sag mir lieber, wer dieser Rivers ist." Tyler schnaubte leise und hob die Augenbrauen an: "Ein Vollidiot. Scott Rivers", fing er an, "Nutzt jede Gelegenheit, um uns eins reinzuwürgen", er ging in die Küche, um sich etwas zu Trinken zu holen und blieb dort am Tresen stehen. Auf Ex war das Glas wieder leer und er wandte sich wieder an June: "Das heißt, du bist die optimale Gelegenheit, um mir Probleme zu machen. Viel mehr brauchst du nicht zu wissen", dabei war er wieder erstaunlich ruhig geworden, als wäre nie etwas gewesen, "Außer vielleicht, dass er noch zwei Mädels hat, die ihm hinterherdackeln. Maya und Megan. Voller Tattoos, alle beide, kann man kaum übersehen." June nickte: "Also von ihnen fernhalten", fasste sie kurz zusammen, "Kapiert." Beinahe hätte Tyler gelacht: "Ja genau." Junes Zuverlässigkeit im Bezug auf die Einhaltung von Regeln war nicht wirklich vertrauenserweckend, soviel war sicher. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sagte aber nichts auf seine sarkastische Bemerkung. "Sind wir dann jetzt fertig?", fragte June noch immer leicht gereizt. Tyler nickte: "Längst." Er stellte das Glas ab und machte sich auf den Weg in die obere Etage. "Lass die Jalousie runter, bevor du dich hinlegst", trug er ihr noch auf, bevor er verschwunden war und sich nicht mehr blicken ließ. Es wurde Zeit, dass diese Nacht ein Ende nahm. Der ganze Abend war schon ziemlich beschissen gelaufen, es konnte also hoffentlich nur besser werden. 009 --- Zeit für Aufklärung. "Tyler?", leise drang Junes Stimme durch seine vom Schlaf betäubten Gehörgänge, "Tyler, wach auf." "Lass mich...", brummte er ihr schläfrig entgegen. Seine Lider zuckten und allmählich nahm er seine Umgebung wieder wahr. Klasse, er war wach. Langsam öffnete er seine Augen. "Alter!", Tyler schreckte zusammen, "June, was soll das?!" Er hatte sich augenblicklich aufgesetzt, als er Junes Gesicht so unmittelbar vor seinem erkannt hatte. Sie saß gemütlich auf dem Boden und hatte sich mit Händen und Kopf auf die Bettkante gelehnt. "Ich wollte dich was fragen", erklärte sie ihren unerfreulichen Besuch. "Was kann denn um Himmels Willen so wichtig sein, dass du mich deswegen gleich mit deiner schiefen Visage wecken musst?!", er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, während er versuchte diesen Schreck erstmal zu verdauen. Tyler war definitiv kein Morgenmensch. Oder Abendvampir wohl eher. "Na danke für die Blumen...", June schnaubte leise und erhob sich von Tylers dunklem Holzfußboden, "Dachte, dass das deine Aufgabe wäre: Meine Fragen zu beantworten." "Das ist es auch. Aber nicht um...", er nahm sein Handy vom Nachttisch und machte große Augen, "... 3 Uhr am Nachmittag! Bist du irgendwie behindert, oder so?" Er sah sie fassungslos an. Wie um alles in der Welt war dieses Mädchen darauf gekommen, dass er ihr JETZT irgendwelche Fragen beantworten würde? June zuckte nur mit den Schultern: "Ich konnte nicht mehr schlafen und in meinem Kopf kreisen so viele Dinge, auf die ich gerne eine Antwort hätte." Tylers Augen verengten sich, sein ganzes Gesicht zeugte vom wütenden Brodeln, das sich unter der Oberfläche abspielen musste: "Vielleicht hast du in zwei Stunden mehr Glück." "Was? Aber...", sie musste hilflos zusehen, wie ihr 'Meister' sich wieder hinlegte, ihr den Rücken zudrehte und die Decke hochzog, "Und was soll ich jetzt machen?" "Hauptsache die Klappe halten", antwortete Tyler. June knurrte leise und trat widerwillig den Rückzug an. Scheiß Penner! Sie ging zurück zum Sofa und packte ihren Laptop aus, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. "Kann ich mir ein Bett bestellen?", rief sie nach oben, als der Laptop hochgefahren war. "Wenn du dann still bist! Aber nimm was Ordentliches!", kam die doch irgendwie recht unerwartete Antwort aus dem Schlafzimmer. Na dann. Sie grinste zufrieden und ihre schlechte Laune verflog, während ihre Finger über die Tastatur rannten. Damit würde sie sich problemlos eine Weile beschäftigen können. Es ging ihr dabei allerdings nicht ausschließlich um Beschäftigung, ganz im Gegenteil. Ihr war inzwischen klar geworden, dass sie wohl oder übel noch einige Zeit hier verbringen musste und alleine diese ersten beiden Übernachtungen auf Tylers Couch sprachen eine deutliche Sprache. Ein anständiges Bett musste her. Und zwar schnell. Man würde schon ein passendes Plätzchen dafür finden, schließlich war dieses Haus hier nicht gerade klein. So klickte sie sich in aller Ruhe durch die vielen, vor Angeboten strotzenden Seiten und stellte sich letztendlich einen vierstelligen Warenkorb zusammen. Wow... Unter normalen Umständen hätte sie sich wohl nie im Leben diese teuren Teile ausgesucht, aber da so oder so Tyler dafür aufkommen musste und der ohnehin eher im hochpreisigen Segment einzukaufen schien, wusste sie nicht, was dagegen sprechen sollte. Wenn es gut lief, dann würde ihr Bett schon morgen früh geliefert werden. Oben bei Tyler schien sich mittlerweile auch endlich wieder etwas zu regen. June konnte seine Schritte hören, die sich der Treppe näherten. Sie sah nach oben. Tyler schlappte müde die Stufen herunter und steuerte zuallererst seine Kaffeemaschine an, wenngleich ein simpler Kaffee heute wohl nicht ausreichen würde. Nachdem June ihn geweckt hatte, war er nicht mehr richtig eingeschlafen. Er hatte wohl noch ein wenig gedöst, doch das hatte nicht viel gebracht. Es war nicht zu ändern. June beobachtete ihn schweigend, während er sich den Kaffee durch die Maschine laufen ließ und sich schließlich zu ihr ins Wohnzimmer bequemte. Auch Tyler war nicht wirklich gesprächig, als er sich neben sie aufs Sofa setzte und vorsichtig an seinem Kaffee nippte. "Also?", fing er schließlich an, "Was willst du wissen?" Die junge Frau sah ihn verblüfft an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er gleich auf ihre Fragen eingehen würde. Aber so war es umso besser. "Ich habe mich gefragt, ob man sich nicht auch Krankheiten einfangen kann... wenn man das Blut von irgendwelchen Leuten trinkt", ihre Augen waren gespannt auf Tyler gerichtet. "Ja", antwortete er nur knapp und konzentrierte sich wieder auf die Tasse in seiner Hand. "Was echt?", damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet. "Wenn's dumm läuft", Tyler musste wohl doch etwas weiter ausholen, "Wenn du nicht aufpasst, dann kannst du dir sogar ziemlich schnell was einfangen. Aber das ist im Grunde auch nicht weiter schlimm." "Wieso nicht?" "Weil dein Körper die Erreger so schnell vernichtet, dass das in den meisten Fällen Null Auswirkungen hat", er wirkte noch immer ein wenig abwesend, während er mit ihr sprach, "Außer es ist was Größeres. Kann sein, dass du dich ein paar Tage schlecht fühlst. Halt dich also von Risikogruppen fern." "Risikogruppen?", June hing noch immer aufmerksam an seinen Lippen, "Die da wären?" "Junkies, Prostituierte und Schwuchteln", klärte er sie auf, "Lernt man das nicht in der Schule?", er warf ihr einen kurzen, prüfenden Seitenblick zu, "Wieso willst du das überhaupt wissen? Hast du letzte Nacht einen Stricher vernascht?" Die Neugierde in ihrem Blick war schlagartig schockierend weit aufgerissenen Augen gewichen: "Was?! NEIN!" Tyler sah sie ruhig an: "Dann ist ja gut", und wandte sich wieder dem Kaffee zu, "Zuzutrauen wäre es dir ja, nach den Sachen, die ich gehört habe." "Wie bitte?!", diese Behauptung war wohl absolut unangebracht und dazu noch völlig aus der Luft gegriffen. "Naja, Cathlyn hat vom Barkeeper erfahren, dass du wohl vorgestern Nacht mehrere Kerle am Start hattest", begründete er ihr seine Annahme. "Das ist ja wohl lächerlich!", beschwerte sie sich, "Ich kann nichts dafür, dass die alle wie Fliegen an mir geklebt waren!" "Klar, sind ja auch immer die anderen", fügte er nur teilnahmslos hinzu. "Ich meine das völlig ernst!", beteuerte sie noch einmal ihre Unschuld. Tyler leerte seine Tasse und stellte sie auf den Tisch, dann sah er sie prüfend an: "Verstehe. Und du warst letzte Nacht also nur bei deinen Eltern?" June sah ihn fest an, sie schwieg und hielt Tylers bohrenden Blicken eisern stand, doch auch er schien nicht nachgeben zu wollen. "Ja okay. Nein, ich war nicht nur zu Hause", platzte sie schließlich heraus, "Aber der Typ war weder Junkie noch Stricher! Und es ist sowieso überhaupt nichts passiert, weil ich...", sie ermahnte sich innerlich zur Ruhe, "... ich... es ging nicht." Tyler sah sie noch immer kritisch an, dann fuhr er fort: "Weil du gemerkt hast, dass du dich nicht unter Kontrolle hast, wenn du spitz bist?" Ihr ertappter Blick verriet alles, sie musste sich nicht einmal dazu äußern. "Hätte ich dir gleich sagen können", erklärte er ganz ruhig. June war nicht sicher, ob sie ein leichtes Grinsen in seinen Mundwinkeln entdeckt hatte. Für einen kurzen Augenblick hatte sie es vermutet. "Und wieso hast du das nicht?", fragte sie ein wenig geknickt. Sie hatte ihm davon überhaupt nicht erzählen wollen, doch irgendetwas schien sie verraten zu haben. "Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass du dich gleich in der zweiten Nacht nach deiner Wandlung mit irgendeinem Kerl durch die Laken wühlen wollen würdest", Tyler seufzte leicht, "Aber so kann man sich irren. Flittchen." Jetzt konnte sie sein Grinsen deutlich sehen. "Du bist so ein unsensibler Arsch", knurrte sie, doch Tyler ließ das wohl völlig kalt. "Entspann dich", sagte er mit seinem amüsierten Schmunzeln im Gesicht, das June ihm am liebsten herausgerissen hätte, "Ich sage ja nicht, dass das schlimm ist. Die meisten Vampire haben einen relativ ausgeprägten Sexualtrieb. Frag Cathlyn." "Aha", irgendwie hatte sie das ein wenig beruhigt, "Und das liegt daran, dass ihr alle so supertoll ausseht und jeden bekommen könnt, den ihr wollt?" "Unter anderem", bestätigte er ihre wohl leicht abfällig wirkende Bemerkung. "Dass ich nicht lache", sie musterte ihn kritisch, "Bei dir wurde ja wohl eher auf Sparflamme gekocht. Der einzige Grund, warum du überhaupt Frauen abbekommst, ist weil du Geld hast!" "Meinst du?", er lächelte leicht, "Ich glaube nicht, aber wenn du das sagst..." Ihre angriffslustige Art berührte ihn kaum. Wahrscheinlich lag es daran, dass sein Unterbewusstsein seit letzter Nacht nicht mehr damit beschäftigt war, ständig gegen diesen nervigen Blutdurst anzukämpfen, der gelegentlich über ihn herzufallen versuchte, wenn er längere Zeit nichts zu sich genommen hatte. "Ich finde jedenfalls, dass es ein ziemlich dummes Hollywood-Klischee ist. Als ob alle Vampire aussehen würden, als wären sie Topmodels", fuhr June schließlich fort. "Nur dass es kein Klischee ist", entgegnete Tyler ruhig, "Es gibt keine hässlichen Vampire. Allerhöchstens welche mit durchschnittlichem Aussehen, so wie du." Sie warf ihm einen finsteren Blick zu: "Und wer hat diese Regel bitte aufgestellt? Der oberste Vampir-Gerichtshof, oder was?" Er musste unweigerlich lachen: "Nein, der hat damit nichts zu tun." June sah ihn erschrocken an: "Sowas gibt es?!" Es war eigentlich nur scherzhaft gemeint. "Nein, gibt es nicht", löste er die Situation auf, "Aber was ähnliches", er winkte ab, "Das würde jetzt zu weit führen. Ist auch nicht sonderlich bedeutsam. Den Rat brauchst du nur, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit gibt, einen Konflikt zu lösen." "Der Rat?", wieder sah sie ihn ungläubig an, "Was ist das?" Tyler rollte mit den Augen, er hatte keine Lust ihr das alles zu erklären: "Okay, Kurzfassung: Es gibt nicht nur einen Rat, sondern mehrere. Jeder hat sein eigenes 'Regierungsgebiet' und alle sind völlig unabhängig voneinander. Wenn du ein Problem hast, dass du nicht durch eine schnelle Enthauptung lösen kannst, dann gehst du zum Rat, und wenn deren Entscheidung dir nicht passt, dann änderst du deinen Wohnsitz und fertig." "Ah... okay. Also könnte ich auch mit meinem Problem da hingehen?" "Sprichst du von mir?", er warf ihr einen warnenden Blick zu, "Solltest du lassen. Die würden dich exekutieren." "Warum das?!", ihr war das Entsetzen deutlich anzusehen. "Weil du keinen Meister hast und deswegen eine Gefahr darstellst", fuhr er mit seinen Erläuterungen fort, "Das habe ich dir doch schon erklärt." Nun hatte es ihr doch die Sprache verschlagen. "Aber wie gesagt, viele Probleme lösen sich von ganz alleine, weil in den meisten Fällen jemand anderes eingreift und es einfach gewaltsam löst", beendete er seine Erklärungen zum Thema Justiz in der Vampirgesellschaft. June war nun deutlich nachdenklicher geworden. Diese ganzen Informationen mussten erst einmal verarbeitet werden. Es gab allerdings noch eine weitere Frage, die ihr unter den Nägeln brannte: "Was passiert eigentlich, wenn wir meinen echten Meister irgendwann finden? Muss er mich dann aufnehmen?" "Das muss er. Eigentlich", Tyler verzog die Lippen, er dachte nach, "Er hätte dich allerdings auch gar nicht erst irgendwo liegenlassen dürfen." June senkte etwas bedrückt den Blick, "Vielleicht habe ich mich ja bis dahin schon soweit unter Kontrolle, dass ich gar nicht mehr auf ihn angewiesen bin." "Unwahrscheinlich. Für gewöhnlich bist du Minimum hundert Jahre an deinen Meister gebunden, danach steht es ihm frei, ob er dich noch länger im Auge behalten will, oder nicht", auch Tyler seufzte leise bei dieser Vorstellung. "Und wenn er ein perverser Drecksack ist?", sie fand das absolut nicht abwegig, nach allem was in dieser einen Nacht passiert war. Tyler lächelte bei dieser Frage: "Du meinst also, du könntest ihn weniger mögen als mich? Wow. Wusste nicht, dass das möglich ist" "Du willst mir wenigstens nicht an die Wäsche" "Schuldig", dazu hob er symbolisch die Hand, "Wird dein echter Meister aber auch nicht wollen." Wieder warf sie ihm einen finsteren Blick zu. Aus irgendeinem Grund klang alles was er sagte wie eine Beleidigung, auch wenn er es diesmal überhaupt nicht so gemeint hatte: "Jetzt schau mich doch nicht wieder so an. Ich meine ja nur, dass derartige Beziehungen, ob freiwillig, oder unfreiwillig, nicht zur Diskussion stehen, weil das im Endeffekt doch irgendwo an Inzest grenzt... Und wer will schon eine Affäre mit seiner Tochter oder seinem Sohn?", er sah sie fragend an und hob dann abwehrend die Hände, "Aber ich will auch nicht sagen, dass sowas nie vorkommen würde. Schwarze Schafe gibt es immer." "Ja super...", sie seufzte schwer. Das waren keine unbedingt beruhigenden Aussichten, vor allem wenn man bedachte, dass ihr Meister sich wohl sowieso nicht um Regeln scherte. Wie dem auch sei, jetzt würde sie sich notgedrungen erst einmal mit Tyler abgeben müssen und vielleicht war ihr Meister auch gar kein so schlechter Kerl. Vielleicht gab es einen anderen Grund, warum er sie zurückgelassen hatte. "Du wirst dich schon zu wehren wissen", sagte er recht zuversichtlich, stand auf und brachte seine Tasse in die Küche. "Dafür müsstest du mir wohl erstmal noch so einiges zeigen!", entgegnete sie mit deutlichem Nachdruck. "Muss ich nicht. Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich", erklärte er ganz sachlich, "Ich könnte natürlich, wenn ich wollte." "Es wäre mit Sicherheit nicht falsch. Ich denke, ich sollte mich wohl verteidigen können, wenn zum Beispiel dieser Rivers irgendwann aufkreuzen sollte, findest du nicht?", ihre Augen waren streng auf ihren Gastgeber gerichtet, der noch immer in der Küche stand und sich an die Tischkante gelehnt hatte. Er verzog kurz das Gesicht. June hatte nicht ganz Unrecht mit ihrer Begründung. "Ja ja, schon klar", gab er sich letztlich doch geschlagen, "Aber alles zu seiner Zeit. Ich gehe jetzt erstmal duschen und danach geht's ins CAIN's. Ich will mir die Überwachungsvideos ansehen und vielleicht hilft das auch deinem Gedächtnis auf die Sprünge." June nickte nur knapp. Wenigstens würde sie also später etwas zu tun haben. "Mein Bett kommt übrigens morgen", verkündete sie noch beiläufig, als Tyler schon wieder auf dem Weg nach oben war. Er hielt kurz an und drehte sich zu ihr um: "Welches Bett?" "Das, was ich vorhin bestellt habe", antwortete sie. Tyler schien ganz offensichtlich angestrengt darüber nachzudenken: "Ja richtig", er ging weiter, "Wird aber nicht aufgebaut, bevor ich wach bin!" Dann verschwand er im Badezimmer und June konnte hören, wie er das Wasser anstellte. Sie hatte sich nach hinten gelehnt und war ein gutes Stück nach unten gerutscht, während sie über alles nachdachte, was Tyler ihr erklärt hatte. Alles in Allem waren das keine guten Aussichten. Generell schien jeder Blick in die Zukunft einen faden Beigeschmack für die junge Frau bereitzuhalten, egal in welche Richtung June dachte. Hundert Jahre an Tylers Seite, oder unter dem Regiment eines anderen Meisters? Von ihrer Familie würde dann niemand mehr am Leben sein, außer Dave – ihr Bruder – würde irgendwann Kinder bekommen. Selbst die würden dann schon nur noch am Krückstock gehen können, wenn überhaupt. Ihre Blicke waren starr auf den schwarzen Fernseher gerichtet, dessen enorme Größe sie nun irgendwie zu erschlagen drohte. Sie hatte sich eines der weichen Sofakissen genommen und krallte unbewusst ihre Fingernägel hinein, während sie ihren Gedanken nachhing.  "Bist du taub?", Tylers Worte rissen sie aus ihrem Tagtraum, "Erde an June: Hochkommen!" Er stand oben und hatte sie bereits zweimal gerufen, ohne dass sie darauf reagiert hatte. Als June endlich in seine Richtung blickte, konnte sie nur noch sehen, wie er kurz den Kopf schüttelte und sich dann wieder abwandte. Tyler hatte sich inzwischen eine frische Hose angezogen und erwartete June in seinem Ankleidezimmer. Ohne hinzusehen schloss er die Knöpfe seines schwarzen Hemds und krempelte die langen Ärmel ein Stück nach oben, während er den kleinen Raum ziemlich kritisch beäugte. "Hier muss umgeräumt werden", verkündete er, als June ins Zimmer trat. "Und was hat das mit mir zu tun?", sie warf ihm einen entgeisterten Blick zu, "Das ist alles dein Kram." "Korrekt", antwortete er und drehte sich zu ihr um, "Aber du wirst sicherlich irgendwo dein Bett hinstellen wollen. Und das ist der einzige Raum mit einer Türe, abgesehen von der Toilette und da passt kein Bett rein." "Ah ja... ja, verstehe", Junes Tonlage war leiser geworden, "Na gut, dann... wo fangen wir an?" Er zeigte auf eine niedrige, anthrazit-lackierte Kommode mit Schiebetüren: "Die kommt raus ins Schlafzimmer", er lenkte ihren Blick auf die metallenen Regale, die oberhalb der Kommode hingen , "Die Schuhe kommen runter in den Schrank im Treppenhaus, dann kannst du deinen Kram da reinlegen." Ein leises Seufzen kam über seine Lippen, nachdem er seine Anweisungen beendet hatte. Es schmerzte ein wenig, dass seine Schuhe nun in den großen, dunklen Schrank umziehen mussten, anstatt hier oben neben seinen Hemden, Jacketts und Sakkos stehen zu können. June nickte und ging hinüber zur Kommode: "Kommst du?" Tyler haderte ganz offensichtlich noch ein wenig mit der Situation, doch gesagt war gesagt, das konnte er jetzt nicht mehr zurücknehmen. Mit unterschwelligem Widerwillen packte er auf der anderen Seite der Kommode mit an und trug sie mit June hinaus ins Schlafzimmer. Vermutlich hätte sie das auch alleine geschafft, doch Tyler wollte nicht riskieren, dass sie an irgendeiner Ecke hängenblieb und er dann ewig eine Erinnerung an sie in seiner Wohnung haben würde. Auch was seine üppige Schuhsammlung betraf, wollte er sie besser nicht alleine damit hantieren lassen. Es mochte eine üble Unterstellung sein, doch hielt Tyler es für absolut denkbar, dass sein Gast es mit der Sorgfalt nicht all zu genau nehmen würde, wenn es um seine Sachen ging. "Denkst du, wir finden etwas auf den Videos?", eröffnete June erneut das Gespräch, als sie die letzten paar Schuhe einräumten. "Ich hoffe es", antwortete Tyler und schloss den Schrank, "Ansonsten muss ich wohl auf ein Wunder warten." "Wir", korrigierte sie ihn, "Wir müssen auf ein Wunder warten. Tu nicht so, als würde das nur dich betreffen." Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu: "Es gibt kein 'Wir'. Das hier ist eine Zwangsgemeinschaft." "Wenn du meinst...", sie verdrehte die Augen, "Kann diese Sklavenallianz dann jetzt los?" Tyler schnaubte amüsiert, als sie das 'Wir' so elegant umschiffte. "Ja, kann sie", bestätigte er kurz und machte eine knappe Handbewegung, dass June sich in Bewegung setzen sollte, "Wir laufen." June warf ihm einen mahnenden Blick zu, als er das sagte. Tyler wusste wieso. Er lächelte. "Findest du, dass es eine gute Idee ist, mich in einen überfüllten Club zu schleppen?", sie sah ihn fragend von der Seite an, als sie die Einfahrt hinunterliefen. "Nein, aber außer dir weiß keiner wie der Typ aussieht, der dich gewandelt hat", antwortete er ganz pragmatisch, "Oder zumindest theoretisch." June seufzte leise. Bisher war ihr noch nicht einmal die Erinnerung an überhaupt irgendeine Gestalt gekommen, die sie gewandelt haben könnte, geschweige denn waren in ihrem Gedächtnis irgendwo Gesichtszüge dieser Person aufzufinden. "Was ist, wenn ich zwischen den vielen Menschen plötzlich am Rad drehe?", ihre Sorge war nicht ganz unberechtigt. "Deswegen sind wir hier", erklärte Tyler, während sie weiter die Straße entlangliefen. June verstand nicht: "Wo?" "Auf der Straße. Wir werden dir unterwegs einen Happen zu Essen organisieren", erläuterte er seine Worte. "Was?!", ihre Augen waren weit aufgerissen. Die letzten Male, als sie Blut von einem Menschen getrunken hatte, war das ihren Opfern nicht all zu gut bekommen. Sie schüttelte vehement den Kopf: "Nein, das ist keine Option." "Wie stellst du dir denn sonst vor, dich zu ernähren?", Tyler warf ihr einen kurzen Blick zu, "Du bist noch jung und brauchst täglich frisches Blut, sonst...", er zwirbelte mit dem Zeigefinger neben seiner Schläfe, "Verstehst du?" "Aber..." "Kein Aber!", unterband er ihren erneuten Versuch, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen, "Regel Nummer 1: Du tust, was ich dir sage." June senkte wütend den Blick. Er kann dich nicht zwingen! "Ich würde sagen, wir ziehen das Tempo etwas an, sonst sind wir morgen noch nicht in Manhattan", verkündete Tyler, nachdem June sich nicht mehr zu seinem Essensplan geäußert hatte, "Versuche einfach, mir unauffällig zu folgen." "Ja ja", gab June recht lustlos von sich. Sie hatte allerdings nicht viel Zeit noch länger trotzig auf den Boden zu starren, sie musste Tyler hinterher, der mit jedem neuen Schritt gefühlt doppelt so schnell wurde, wie zuvor. Es war ein langer Weg von Long Island nach Manhattan. Gute 30 Kilometer von Tylers Wohnsitz bis zum Central Park und dann nochmal ungefähr 7 Kilometer zum CAIN's CLUB. June war hochkonzentriert. Sie wollte nicht zu weit zurückfallen. Tyler würde sie sonst nur damit aufziehen und davon ganz abgesehen, kannte sie den Weg auch überhaupt nicht. Dass ihre Schritte so leichtfüßig und beinahe tonlos wie die einer Katze waren, fiel ihr in der Eile gar nicht auf. Der Wind pfiff ihr um die Nasenspitze, während sie angestrengt versuchte Schritt zu halten. Endlich. Tyler wurde wieder langsamer und blieb schließlich an einer irgendwie beliebig wirkenden Stelle stehen. June war einige Meter hinter ihm und kam mit leichter Verzögerung ebenfalls an. Sie atmete tief durch und stützte sich mit den Händen auf ihre leicht gebeugten Knie. "Na, erledigt?", fragte er schmunzelnd und sah zu ihr runter. "Ja. Nein, ich meine... ich muss nur wieder Luft bekommen", sie keuchte recht ordentlich und hatte die Augen leicht zusammengekniffen, was wohl der nicht zu verachtenden, sportlichen Leistung zu schulden war. Tyler ließ ihr die Zeit, um sich wieder zu regenerieren. Er zog sich seine schwach getönte Sonnenbrille von der Nase und betrachtete diese einen Moment, bevor er sie in seine Hosentasche steckte. "Machst du jetzt einen auf Blade, oder was?", June war nicht entgangen, dass er sich schon ziemlich zu Beginn ihres Weges diese Brille aufgesetzt hatte. "Nein, sicher nicht", antwortete er ganz nüchtern, "Aber hast du schon mal bei 80 km/h eine Fliege ins Auge bekommen?", er sah sie abwartend an, fuhr aber selbst fort und klopfte sich kurz auf die etwas ausgebeulte Hosentasche, "Kann ich nur empfehlen." June blinzelte etwas ungläubig angesichts dieser durchaus logischen Erklärung. Sie beschloss nichts mehr darauf zu sagen und wandte ihren Blick stattdessen der Weite des Gehwegs zu, auf dem sie standen. Nun war ihr klar, warum Tyler ausgerechnet hier angehalten hatte: Ein einsamer Mann mit kurzen, blonden Haaren saß an der Bordsteinkante und machte einen äußerst deprimierten Eindruck. Direkt armseelig. "Der?", June hatte ihren Blick wieder nach oben zu Tyler gerichtet. Er nickte: "Ich denke, er könnte etwas Trost gut vertragen." 010 --- Round 2. Auf keinen Fall. "Nein, ich will das nicht", June sträubte sich weiterhin. Sie konnte darauf verzichten, einen weiteren unschuldigen Menschen auf dem Gewissen zu haben. Tyler rollte mit den Augen. "Was du willst und was du nicht willst interessiert mich nicht", er verschränkte die Arme vor der Brust, "Ich bin dafür zuständig, dass du keinen Scheiß baust und nicht dass deine arme, geschundene Mädchenseele keinen Schaden nimmt. Also hör auf, hier den Pazifisten zu spielen." "Ich kann nichts dafür, dass das nicht in deine gefühlskalte Birne reingeht. Lass mich einfach in Ruhe!", June wandte sich von ihm ab und wollte die Straßenseite wechseln. Sie würde sich schon im Griff haben, wenn sie im Club war. Es gab sicher einen Hintereingang. Kein Grund also, diesen armen Mann zu überfallen. Eine kühle Hand packte sie unerwartet fest im Nacken und zog sie zurück auf den Gehweg. "Hier lang", sagte Tyler nur trocken und schob sie neben sich her. "Aua! Du tust mir weh!", beschwerte sich June, doch Tyler ließ seinen Griff deswegen nicht lockerer werden. Es lagen wohl noch hundert Meter zwischen June und dem Fremden, doch auch wenn es noch ein Kilometer gewesen wäre, Tyler würde nichts tun können, um ihre Meinung zu ändern, egal wie viel Zeit ihm dazu blieb. Er schwieg ohnehin eine ganze Weile, während sie dem jungen Mann immer näher kamen. "Hörst du das?", fragte er, "Hörst du wie das Blut durch seine Adern rauscht?" "Was soll das werden?", sie warf Tyler einen gelangweilten Blick zu. "Shh...", er zischte leise und hatte sich ein Stück zu ihr hinunter gebeugt, "Mit jedem Herzschlag pumpt er circa 80 ml Blut durch die Kammern. Seine Herzfrequenz liegt bei 95 Schlägen pro Minute. Etwas nervös wenn du mich fragst", Tyler sprach leise, als würde er flüstern, nur ohne dieses säuselnde Störgeräusch, "Er ist frisch geduscht und trägt ein teures Parfum. Amouage – Ciel: Sandelholz, Patschuli und noch ein Hauch Jasmin und Pfirsich aus der Herznote... ist wohl schon etwas her, dass er das aufgetragen hat", er schmunzelte leicht und fuhr unbeirrt fort, "Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte, dass du dich zu ihm gesellst. Du lügst dich doch nur selbst an, wenn du behauptest, dass das leichte Schlagen seiner Halsschlagader durch seine helle Haut hindurch dich nicht fasziniert." Das tat es. June konnte sehen, wie der Hals des Mannes leise bebte. Sie konnte es hören. Sie hörte sein Blut, sein Herz, den Atem, alles. Selbst das Zusammentreffen seiner Lider, wenn er blinzelte, während er noch immer unverändert eindringlich auf das leuchtende Display seines Handys starrte. Tylers Hand löste sich fast unbemerkt aus ihrem Nacken und June setzte weiterhin ruhig einen Fuß vor den anderen, bis sie direkt neben dem blonden Mann stehen blieb. Er blickte irritiert aus seinen dunklen Augen zu ihr auf. "Ist was?", fragte er, als June ihn sanft anlächelte. Sein Gesicht wirkte jung, ein bisschen wie das eines Mitglieds einer umkreischten Boygoup, mit weicher, makelloser Haut, umrahmt von modisch zurechtgemachter Haarpracht. Eigentlich eine Unverschämtheit, diesen Jungen zu versetzen. June nahm neben ihm Platz: "Wartest du auf jemanden?" "Sehe ich so aus?", er klang nicht gerade so, als hätte er gerade nur darauf gewartet, dass ihn eine fremde Frau ansprechen würde, "Tut mir Leid, ist nicht deine Schuld, aber ich bin nicht in Stimmung." Er seufzte leise und senkte den Blick. 95 Schläge pro Minute? Nein, es waren mehr. 120 Vielleicht? Oder noch mehr. June konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren. Ihr eigenes Herz klopfte schonungslos gegen die Rippen und ihr Kopf drohte bald von den Schultern zu springen, wenn sie nicht augenblicklich ihre Zähne durch die zarte Hülle seines Halses stoßen würde. Es lag längst nicht mehr in ihrer Macht, diese Begierde abzuschütteln und den Jungen freizugeben. Sei es drum. Er war nur ein Mensch. Schwach, zerbrechlich und sowieso mehr als ersetzbar. Kein großer Verlust. June lehnte sich weiter zu ihm hinüber. Sie legte ihre Hand sanft auf seiner Schulter ab und wanderte mit den anderen Fingern flink über seine Brust zu der ihr abgewandten Seite seines Halses. Noch bevor der junge Mann darauf reagieren konnte, hatte sie ihn sich ruckartig ein Stück herangezogen und durchtrennte mit ihren scharfen Fangzähnen die schützende Schicht zwischen ihren Lippen und dieser pochenden Arterie, die sie so unnachgiebig gelockt hatte. Warm und köstlich rann das Blut über ihre Zunge hinweg und der anfängliche Widerstand, den der Junge noch geleistet hatte, ebbte zunehmend ab. June wusste nicht woher das kam, am Blutverlust konnte es noch nicht liegen, dass er immer schlapper wurde, aber im Moment spielte das auch überhaupt keine Rolle. Sie konnte sich nehmen, was sie brauchte. Oder wollte. Das traf es besser. Und es war so angenehm ruhig in ihrem Kopf. Ein ausgesprochen wohltuender Nebeneffekt dieses Festmahls. Keine Gedanken an die Zukunft, an ihre Familie und Freunde, keine Sorgen, keine Ängste, einfach nur im Jetzt sein und den Moment so lange festhalten, wie es ging. Sie spürte seinen Puls, der immer schneller wurde, um das fehlende Blut irgendwie zu kompensieren. Rastlos und hektisch kämpfte der Körper ihres Opfers gegen diese Plünderung an, auch wenn er nach außen ganz ruhig war und keiner wohl auch nur ahnen konnte, was hier vor sich ging. Sein Herz schlug schnell, doch June konnte spüren, wie die Schläge schwächer wurden. Es fühlte sich kraftlos an und irgendwie befriedigend, wie er unter ihren Händen seine Lebenskraft verlor. Eine zugegebenermaßen perverse Fantasie, aus der sie mit einem festen Ruck am Hinterkopf herausgerissen wurde. Was zum Teufel?! Sie war nicht fertig. Von ihren Lippen tropfte das Blut auf ihr Kinn und sie packte eilig an ihren Hinterkopf, um sich zu befreien. Tyler hatte seine Hand in ihren Haaren vergraben und sie unsanft von ihrem Rendezvous getrennt. "Ich sagte es reicht", wiederholte er seine Worte, nachdem June nun wieder etwas aufnahmefähiger war. Sie hatte aufgehört sich aus seinem Griff lösen zu wollen und sah ihn nur noch mit großen Augen an. Was in Gottes Namen war gerade passiert? Hatte ihr das tatsächlich solche Freude und Genugtuung bereitet? Es war schlichtweg unerklärlich. Absolut und unfassbar niederschmetternd. June musste eine Weile suchen, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte: "Ist er..?" Tyler schüttelte den Kopf: "Das solltest du hören." Sie lauschte. Tatsache: Drei schlagende Herzen. Eines, was ruhig und kräftig schlug, eines das schnell und schmerzhaft gegen ihre eigene Brust hämmerte und eines das nur noch ganz leise und schwach zu vernehmen war. Tyler ließ sie los und stand wieder auf. "Du solltest ihn von der Straße wegziehen", erklärte er ganz nüchtern und wartete, dass June seinen Worten Folge leistete. Sie tat es ohne Widerworte und zog den Jungen vom Straßenrand weg. "Wird er das überleben?", fragte sie vorsichtig, als sie wieder neben ihrem 'Retter' stand. Er nickte: "Wahrscheinlich." June war erleichtert. Sie hatte ihn nicht umbringen wollen, oder zumindest jetzt im Nachhinein hätte sie es nicht gewollt. Tyler hatte sich wortlos wieder in Bewegung gesetzt. Er lief gemütlich weiter die Straße entlang, schließlich hatten sie ein Ziel und waren nicht nur zum Essen in die Stadt gekommen. "Warum hast du mich unterbrochen?", sie sah ihn fragend an, als sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte. Seine Antwort ließ etwas auf sich warten, womöglich wusste er es selbst nicht so genau, oder er wollte es ihr einfach nicht sagen. "Zum einen, weil ich gar nicht so scheiße bin, wie du immer denkst. Und zum anderen, weil ich keine Lust darauf hatte, dass du mir deswegen für den Rest des Abends so eine 'Wie konnte ich nur? Ich will nicht mehr leben'-Fresse ziehst. Das kann ich nicht gebrauchen, wenn ich bei der Videoanalyse darauf angewiesen bin, dass dein Kopf zu 100 % anwesend ist", erklärte er sein Handeln. Immerhin war ihm klar, dass es June zusetzen würde, wenn sie diesen Mann umgebracht hätte. Im Grunde war das auch irgendwie verständlich, schließlich war sie vor gerademal zweieinhalb Nächten selbst noch ein Mensch gewesen. Und so schnell schüttelte man diese Verbundenheit nun mal einfach nicht ab. Das brauchte Zeit, oder einen triftigen Grund. In jedem Fall war June noch nicht soweit und Tyler war das durchaus bewusst. Wenn er wollte, dass sie kooperierte, dann musste er wohl oder übel darauf achten, dass sie nichts tat, was ihre Leistungsbereitschaft beeinträchtigte. Und ein Mord zählte wohl definitiv dazu. "Kann ich dich noch was fragen?", fing sie nach einigen ruhigen Metern wieder an. Das war abzusehen. "Was?", er hatte seine Antwort mit einem leisen Seufzen untermalt, was deutlich klar machen sollte, dass er jetzt eigentlich keine Lust auf eine weitere Fragerunde hatte. Seine eigensinnige Begleitung ließ sich davon allerdings nicht abhalten: "Wieso sind bei ihm schon nach so kurzer Zeit die Lichter ausgegangen? Ich hatte doch noch kaum... was getrunken." "Magic", antwortete er nur. "Verarsch mich nicht... ich will das wirklich wissen", sie warf ihm einen etwas abfälligen Blick zu. "Sorry", seine Entschuldigung klang nicht wirklich ernst gemeint, "Es liegt an deinem Speichel. Wenn du jemanden beißt und die Enzyme aus deiner Spucke in den Blutkreislauf des Menschen kommen, dann lähmt ihn das. Wie genau das funktioniert, kann ich dir auch nicht erklären, ich bin schließlich kein Biologe. Aber es funktioniert und das ist gut so", er warf ihr einen kurzen Blick in ihre erwartungsvollen Augen und ihm war klar, dass das Thema hier noch nicht beendet war, "Danach folgt ein Blackout. Filmriss. Er wird sich nur noch daran erinnern, dass du ihn angequatscht hast. Wenn überhaupt", er zuckte leicht mit den Schultern, "Wahrscheinlich nicht mal mehr daran. Jedenfalls ist es sehr von Vorteil, wenn man nicht all zu lange mit ihnen spricht, wenn man sie am Leben lassen möchte und nicht will, dass sie sich an einen erinnern." June nickte leicht. Es klang unwirklich, was er ihr erzählt hatte. Wie war es möglich, dass sie jemanden mit ihrem Speichel lähmen konnte? "Fällst du auch um, wenn ich dich beißen würde?", fragte sie weiter. Tyler sah sie mit leichter Entrüstung an: "Mal ganz abgesehen davon, dass du das gar nicht schaffen würdest, hätte es auch nicht den geringsten Effekt. Vampire sind selbstverständlich immun dagegen. Denk einfach mal kurz darüber nach, wie oft du dir in den letzten zwei Nächten schon aus Versehen die Zunge an deinen Zähnen verletzt hast. Da wäre es wohl ziemlich unpraktisch, wenn dir jedes Mal schwindelig werden würde." Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Sie hatte sich erst vorhin wieder die Zunge aufgerissen, als der Hunger sie gepackt hatte. Es war neu, dass sie sich nicht mehr einfach so über die Zähne fahren konnte. "Woher weißt du das?", sie hatte es ihm schließlich nicht gesagt, "Das mit meiner Zunge?" Er hob leicht die Brauen, als er antwortete: "Zum einen, weil ich es riechen kann und zum anderen, weil es völlig normal ist. Ein junger Vampir ist es nicht gewohnt, dass seine Eckzähne auf einmal so scharfkantig sind. Und sie sind übrigens auch etwas länger, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte." "Ich bin nicht blöd. Das hab ich schon gemerkt", verteidigte sie sich auf seine Unterstellung hin. "Gut", gab Tyler nur kurz zurück, "Wo waren wir stehen geblieben?" "Woher weiß ich, wann ich aufhören muss?" "Da waren wir zwar nicht stehen geblieben, aber wenn wir gerade sowieso schon dabei sind: Wenn der Puls schwächer wird, dann solltest du aufhören", fuhr er mit seinen Erklärungen fort. "Ich habe nicht gemerkt, dass er langsamer geworden ist. Eher schneller", entgegnete sie etwas unschlüssig. Vielleicht hatte sie es in ihrem Wahn einfach nicht mitbekommen. "Nein, schwächer im Sinne von weniger Druck. Natürlich schlägt das Herz schneller, wenn es weniger Blut zur Verfügung hat, aber die Intensität nimmt ab. Wenn du irgendwann an dem Punkt angekommen bist, dass das Herz langsamer wird, dann kannst du deinen Imbiss auch gleich ganz über den Jordan schicken", führte er seine Erläuterungen weiter aus. June musste darüber nachdenken. In Anbetracht dieser neuen Erkenntnis, konnte man den gestrigen Tag unter einem ganz anderen Licht betrachten. "Dann habe ich die Frau gestern gar nicht...", sie kam ins Stocken, doch Tyler wusste worauf sie hinauswollte. "Technisch gesehen, hast du sie umgebracht", beantwortete er ihre ungestellte Frage, "Aber sie wäre so oder so gestorben, also hast du das Ganze im Grunde nur verkürzt." "Warum hast du das zugelassen?", ihre Blicke bohrten sich vorwurfvoll in die Seite seines Gesichts. Tyler schien die Dramatik dieser Angelegenheit allerdings bei Weitem nicht so hoch einzustufen, wie June es tat. "Brauche ich dafür einen Grund?", stellte er seine Gegenfrage und sah zu ihr hinunter. "Du hast mich in dem Glauben gelassen, dass ich sie umgebracht hätte, dabei warst du das! Weißt du wie belastend das für mich war?! Du hättest mir das sagen müssen!", eisern hielt sie seinen belustigten Blicken stand, mit denen er sie überschüttete. "Weißt du, wie belastend du bist?", er wandte seine Augen wieder nach vorne auf ihren Weg, "Und wie kommst du darauf, dass ich dir das hätte sagen müssen? Du hast weder gefragt, noch hast du es in irgendeiner Form verdient, dass ich dir diese Last von den Schultern hätte nehmen sollen. Also heul nicht rum deswegen. Jetzt weißt du ja was Sache ist." Sie schnaubte missmutig, ging aber nicht weiter darauf ein und stellte stattdessen eine weitere Frage: "Bringst du die Menschen immer um, wenn du ihr Blut trinkst? Oder kennst du einen Trick, wie man sich rechtzeitig löst, ohne deren Leben in Gefahr zu bringen?" "Nicht immer, weil: Ja, ich kann aufhören, wann ich will", antwortete er. "Und wie funktioniert der Trick?", sie sah ihn fragend von der Seite an. "Es ist kein Trick. Man nennt es einfach Selbstbeherrschung und Übung", er blieb stehen und wandte sich wieder June zu, "Aber glaub bloß nicht, dass du das innerhalb der nächsten paar Wochen auf die Reihe bekommst. Wenn du also jemanden beißt und ich bin nicht ganz zufällig in der Nähe, dann kannst du davon ausgehen, dass er es nicht überleben wird. Auch dann nicht, wenn es deine Mutter, dein Vater oder dein Bruder ist." "Habe verstanden, Captain", June war gleich klar gewesen, auf was sich diese Anspielung bezog und wahrscheinlich hatte er damit noch nicht einmal Unrecht. Dennoch mochte sie es nicht unbedingt gerne leiden, wenn Tyler ihre Familie erwähnte.  "Bist du dann jetzt fertig? Oder brennt dir noch irgendwas unter den Nägeln?", er zeigte kurz die Straße entlang, "Wir sind nämlich fast da." June hatte es kaum mitbekommen, aber jetzt, da sie darauf hingewiesen worden war, konnte sie die Musik hören und die vielen Stimmen, die vom Wind durch die Straßen getragen wurden. "Ja, ich hätte noch Fragen, aber die kannst du mir sowieso nicht beantworten", sagte sie etwas schnippisch. "Sehr gut", war Tylers Antwort. Wenn er ihre Fragen ohnehin nicht beantworten konnte, dann würde er sich auch gar nicht erst den Kopf darüber zerbrechen müssen. Das konnte sie dann gerne alleine tun. Aber erst nachdem sie im CAIN's CLUB fertig waren und wie lange das dauern mochte, war momentan noch nicht abzuschätzen. "Dann lass uns mal deine zahlreichen Freier unter die Lupe nehmen", verkündete er mit überschwänglich gespielter Euphorie und steuerte geradeaus auf den Club zu, der schon von Weitem eine äußerst verlockende Wirkung haben konnte, wenn man nicht gerade zum Arbeiten dort hinging. Die Schlange vor dem Club war noch lang, es war schließlich auch noch weit hin bis Mitternacht. Tyler passierte die wartenden Menschen ganz selbstverständlich und blieb direkt vor dem Eingang nochmal kurz stehen. "Du entfernst dich nicht von meiner Seite, ist das klar?", er sah June streng an. Sie nickte, recht unbegeistert von seinem Befehlston. Tyler wollte lieber nichts riskieren. Für einen jungen Vampir konnten die Reize im Club schon gewisse Problematiken mit sich bringen. All die tanzenden, schwitzenden Köstlichkeiten, deren erhöhter Puls und die unumgängliche Nähe, wenn man sich dazwischen hindurch drängen musste. Tyler hatte Junes Handgelenk gepackt und zog sie hinter sich her durch die Menge – Eine Sicherheitsmaßnahme. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich zum Essen abseilen würde relativ gering, schließlich hatte sie ja bereits etwas im Magen, doch man konnte ja nie wissen. June kämpfte sich unter den bunten, blendenden Lichtern hindurch. Wahrscheinlich war sie noch nie so froh über den heftigen Bass gewesen wie jetzt, auch wenn Bass ja prinzipiell etwas Gutes war. Er mischte sich unter die vielen Herzschläge und ließ die Grenzen zwischen Mensch und Musik erfolgreich verschwimmen. Der Rhythmus und die Melodie – sofern man das Melodie nennen konnte – erledigte den Rest. Keine Gefahr, dass sie sie sich hier irgendwie zu einem Imbiss hätte hinreißen lassen können. Dafür war sie viel zu sehr damit beschäftigt, den ganzen Lärm in ihrem Kopf irgendwie zu ignorieren. Ein harter Schlag traf sie in den Rücken, ein Ellenbogen. "Hey!", sie drehte sich wütend um, "Pass doch auf du Sackgesicht!" Noch ehe besagtes Sackgesicht sich verteidigen konnte, hatte Tyler June schon weitergezogen. Ihre Nerven waren ganz offensichtlich ziemlich angespannt. Verständlich, in dieser reizüberflutenden Situation. "Da wären wir", verkündete Tyler, nachdem sie endlich aus dem Getümmel entkommen und einen leeren, tristen Gang entlanggegangen waren. Er klopfte an die dicke, metallene Türe, auf der in großen Buchsstaben 'SECURITY' geschrieben stand. Ein großer, bäriger Kerl öffnete. "Hey Robert. Wir müssten uns mal ein paar Überwachungsvideos ansehen. Können wir rein?", Tyler kannte den Kerl. Er kannte eigentlich sowieso jeden der hier arbeitete, was in den meisten Fällen ein ausgesprochener Vorteil war. So wie jetzt. Robert ließ die beiden ohne skeptische Fragen zu stellen einfach eintreten. Auf dem Weg durch den Aufenthaltsraum nickte Tyler ein paar weiteren Angestellten seines 'Vaters' zu, die gerade massenweise Energydrinks vernichteten und zog seine Begleitung dabei unbeirrt weiter hinter sich her. Möglicherweise vermittelte das ein falsches Bild, aber immerhin würden sie so in jedem Fall ungestört bleiben. Er ging mit ihr in einen kleinen Nebenraum, in dem das Videomaterial aufbewahrt wurde und schloss die Türe hinter June, nachdem er sie nun endlich losgelassen hatte. "Nimm Platz", sagte er und zog sich einen zweiten Stuhl vor die Monitore, die im halben Duzend hier aufgebaut waren, "Weißt du noch, um wie viel Uhr du hier warst?" "Ich denke so gegen 22 Uhr", sie beobachtete, wie Tyler den entsprechenden Tag auf dem Server aufrief und die Videoaufzeichnungen bis zu Junes vermutlicher Ankunftszeit im Club vorspulte. "Also dann: Deine letzten Stunden als Mensch. Und Action", er ließ die Filme wieder in normalem Tempo ablaufen, als auf der Aufnahme vom Eingangsbereich June um 21:42 Uhr den Club betrat. — "Was hast du jetzt vor?", Maya hatte sich fragend zu Scott umgedreht, der auf dem Beifahrersitz ihres Wagens saß, "Willst du weiter beobachten?" Scott schüttelte den Kopf: "Nein, wir gehen rein." "Und dann?", sie sah ihn skeptisch an. "Dann holen wir uns das Mädchen", erklärte er ganz ruhig, "Jacobs ist alleine mit ihr, also haben wir gute Chancen. Und Megan wird auch bald hier sein. Mir fällt kein Grund ein, warum wir es nicht versuchen sollten." Maya seufzte leise. Es wäre ihr deutlich lieber gewesen, wenn sie die beiden einfach irgendwo auf der Straße aufgegabelt hätten, aber Scott war wohl der festen Überzeugung, dass es unauffälliger wäre, wenn sie sie im Club überraschten. Sie hoffte sehr, dass Scott sich da nicht verschätzte und ihnen noch ein böses Erwachen bevorstand. Immerhin konnten sie zumindest sicher sein, dass Aaron und Cathlyn nicht im CAIN's waren, das hatte Megan überprüft, und so standen ihnen allerhöchstens noch ein paar unbequeme Türsteher im Weg. Scott hatte die Türe ihres schwarzen Toyota GT86 schon zugeschlagen und war um den Wagen herumgelaufen, als Maya noch immer ihren Gedanken nachhing. "Kommst du?", fragte ihr Komplize etwas ungeduldig, da sie noch immer keine Anstalten machte, ebenfalls auszusteigen. "Eh... ja klar!", sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und trat zu Scott auf den Asphalt, "Ich wäre dann soweit." Er nickte und machte sich auf den Weg zum Club. Sie hatten in einiger Entfernung geparkt, sodass sie gerade noch erkennen konnten, wer den Club betrat und wer ihn wieder verließ. "Willst du einfach geradeaus hinein spazieren?", Maya war noch immer nicht ganz von Scotts Plan überzeugt. Er hob den Blick von seinem Handy und antwortete: "Nein, wir nehmen den Hintereingang. Ich sag nur eben Meg bescheid, dass wir schon reingehen." "Ah, okay", sie nickte zustimmend. Immerhin mussten sie sich also nicht schon gleich am Eingang mit den Türstehern herumärgern. Im Gegensatz zu Tyler und dessen Freunden, wurden sie nämlich nicht einfach so an der wartenden Menge vorbeigelassen. Keine VIPs eben. Zumindest nicht in Alexanders Clubs, weswegen sie sich auch so gut wie nie hierher verirrten. Selbst wenn sie um den Hintereingang gewusst hätte: Maya bevorzugte andere Clubs. Solche, in denen man sich frei bewegen konnte, ohne jeden Moment einen verbalen Kinnhaken zu kassieren. Oder einen physischen. "Woher weißt du überhaupt, dass es einen Hintereingang gibt?", sie war ihm inzwischen in die dunkle Gasse neben dem Club gefolgt. "Ein Date", antwortete er, "Dinner for one." Maya grinste wissend. Eigentlich hatte sie sich das denken können. "Und wo ist nun der Eingang?", sie hatte sich gründlich umgesehen, konnte hier aber nirgendwo eine Türe entdecken. Scott zeigte nach oben und Mayas Blicke folgten seinem Fingerzeig. Ein offenes Fenster im zweiten Obergeschoss. "Ahja...", kam es relativ unbegeistert von ihr, "Also ich hatte jetzt irgendwie etwas anderes erwartet." "Sorry Kleines, mit was anderem kann ich nicht dienen", entschuldigte er sich und schob einen der herumstehenden Müllcontainer an die Stelle unterhalb des Fensters, "Voilà. Jetzt sollte das wohl kein Problem mehr darstellen, oder?" "Na ja, das sind immer noch gute fünf Meter und ich kann hier nirgendwo Anlauf nehmen. So groß bin ich auch mit ausgestreckten Armen nicht", sie hatte ihre kurzen Arme vor der Brust verschränkt und sah Scott prüfend an, "Du musst mich hochheben." Er lachte: "Richtig, ich vergaß: Du bist ein Zwerg. Soll ich dir eine Kiste holen?" "Haha...", sie bedachte ihn mit einem müden Lächeln und machte eine knappe Handbewegung, dass er nun bitte auf den Container steigen solle. Scott folgte ihrer Anweisung und reichte ihr die Hand, als er oben stand. "Danke", erwiderte sie nur knapp und richtete ihre Augen wieder auf die Fassade, "Gut. Aber wenn du spannst, dann setzt es was!" Sie zeigte kurz auf ihren Rock, der verboten knapp unterhalb ihres Hinterns endete. "Würde ich doch nie wagen", er schmunzelte und winkte sie zu sich rüber, "Komm, ich werf dich hoch." Maya hatte noch mahnend den Zeigefinger gehoben, positionierte sich dann aber kommentarlos vor Scott und machte sich bereit. Er packte sie kurzerhand an der Taille, ging leicht in die Knie und beförderte Mayas 48 kg problemlos bis an die Fensterkante. Das letzte Stück zog sie sich selbst nach oben, verschwand für einen Augenblick im Gebäude und lehnte sich nach wenigen Sekunden wieder aus dem Fenster. "Hier oben ist alles ruhig, du kannst hochkommen", verkündete sie vergnügt und beugte sich mit ausgestreckter Hand weiter hinunter, damit Scott nicht den ganzen Weg nach oben springen musste. Er trat einen Schritt zurück, um zumindest ein wenig Anlauf holen zu können, setzte an und stieß sich mit voller Kraft ab. Erfolgreich. Maya konnte seine Hand greifen und verlängerte seinen Sprung um die letzten, fehlenden Zentimeter. "Besten Dank", sagte er, als seine Füße wieder den Boden berührten. "Keine Ursache", Maya lächelte zufrieden und wandte sich der Treppe zu, die neben ihnen nach unten führte, "Schätze, wir müssen hier entlang." "Na dann auf ins Getümmel." 011 --- Unverhofft kommt oft. Tyler lehnte sich seufzend zurück. Er drehte sich auf dem Bürostuhl gelangweilt hin und her. "Und der?", er zeigte auf einen der oberen Bildschirme, auf denen ein junger Mann zu sehen war, der June ziemlich aufdringlich anzubaggern schien. "Das ist er NICHT! Den hab ich kurz darauf verjagt!", erklärte sie etwas gereizt. Tylers Sticheleien bezüglich ihres Männerverschleißes hatten sie zunehmend verärgert. "So wie's aussieht, bist du da auch noch nicht dicht genug", er sah zu ihr rüber, "Wenigstens das kann dir jetzt nicht mehr passieren." "Was das?" "Dass du dich bis zur Besinnungslosigkeit zuschüttest. Vorher würde wohl dein Magen explodieren", erklärte er eher beiläufig, während er weiter auf die Monitore blickte. "Wie?!", June hatte ihre Augen nun beinahe entsetzt auf Tyler gerichtet, "Ich kann mich nicht mehr betrinken?" Er schüttelte den Kopf: "No. Zumindest nicht, wenn du's halbwegs genießen willst", er hielt die Videos an und wandte sich seiner sichtbar schockierten Begleitung zu, "Weil dein Körper den Alkohol abbaut, bevor er dir in den Kopf steigen kann. Ziemlich dummes Vampir-Special...", er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder den Monitoren zu, "Können wir dann jetzt hier weitermachen?" "Ja...", kam es nur etwas missmutig von ihr, als sie ihre Blicke wieder auf die Bilder der Überwachungskameras richtete. "Welche Vampir-Specials gibt es noch, von denen ich wissen sollte?", fing sie nur wenige Sekunden später erneut an zu fragen. Tyler entfuhr ein genervtes Stöhnen: "June, nein!", er sah sie ernst an, "Ich habe dich vorhin gefragt, ob du noch was wissen willst! Jetzt kümmern wir uns zuallererst um diese Videos! Konzentrier dich gefälligst darauf und stell mir deine Fragen später." Sie hob abwehrend die Hände: "Ja doch. Entschuldige vielmals", ihren ironischen Unterton hatte sie sich nicht verkneifen können. Sie lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und heftete ihre Blicke wieder auf die Monitore. Alter Dickschädel... Noch eine ganze Weile waren ihre Augenpaare aufmerksam auf das rege Treiben von vor zwei Nächten gerichtet. Tylers gedankliche Stichliste war inzwischen auf fünf Verehrer und acht auffällig interessierte Feiglinge angestiegen, doch noch immer machte keiner den Eindruck, June ernsthaft gefährlich werden zu können. "Ich denke, es muss später gewesen sein. Spul mal vor, so auf 2:00 Uhr morgens vielleicht. Das hier kommt mir nämlich alles noch irgendwie halbwegs bekannt vor." Tyler nickte nur und spulte ein paar Stunden vor, bis er June wankend aus der Damentoilette kommen sah. Er lachte: "Alter, warst du kotzen?" "Ey... Was raus muss, muss raus", rechtfertigte sie sich recht unbeeindruckt. Er schmunzelte nur und beobachtete weiter die Szenen, die sich da am Bildschirm darboten. June hatte Gesellschaft bekommen. "Wou, was wird das jetzt?", sie macht große Augen, als drei Kerle, die allem Anschein nach ebenfalls deutlich betrunken waren, sich ziemlich kontaktfreudig um sie scharten. "Erstaunlich, dass du auf sowas stehst", gab Tyler nur amüsiert von sich, "Hatte ich irgendwie nicht erwartet." "Halt einfach die Klappe und spul weiter! Das will keiner sehen!", beschwerte sie sich und übernahm das Vorspulen selbst, nachdem Tyler sie bewusst ignorierte und weiter verfolgte, wie Junes betrunkenes Ich reihum an den Lippen dieser Kerle hing. "Soviel zum Thema: Sie hätten an dir geklebt. Das wäre bestimmt noch spannend geworden", Tyler genoss Junes Unbehagen über diese Situation. Es erheiterte ihn ungemein. "Ja vielleicht. Aber die können es nicht gewesen sein, so betrunken wie die waren", beendete sie das Thema und versuchte sich einfach weiterhin auf die bewegten Bilder zu konzentrieren, die über die Monitore liefen. "Wahrscheinlich nicht, nein", gab Tyler zu und verharrte weiter schweigend auf seinem Stuhl. Wieder verstrichen ergebnislose Minuten und allmählich wurde Tyler ungeduldig. Er stand auf. "Ich hole mir was zu trinken", verkündete er, "Bis gleich." "Bringst du mir was mit?", Junes überraschter Ausdruck war einem breiten Lächeln gewichen. Mädchentaktik. "Selbstverständlich", gab er mit einem nicht zu überhörenden Hauch Ironie zur Antwort. Tyler verließ den Überwachungsraum und machte sich auf den Weg nach draußen an die Bar. Die Security hatte wohl schon längst ihre Pause beendet und sich wieder unters tanzende Volk gemischt. Zu gerne hätte Tyler den Rest der Nacht auch hier auf der Tanzfläche verbracht, oder in der Lounge. Irgendwo, wo man sich gut die Zeit vertreiben konnte, ohne ständig Junes nerviger Fragerei ausgesetzt zu sein. Gefährlich verlockend, wie all diese schönen Frauen ihre wohlgeformten Körper in engen Kleidern über die Tanzfläche bewegten. Man hätte in diesem Anblick versinken können, ohne das Bedürfnis zu verspüren, je wieder auftauchen zu müssen. "Mit dem Essen spielt man nicht", war wohl eine Regel, die auf Vampire nicht anwendbar war. Man hatte schließlich auch überhaupt keine andere Möglichkeit, wenn man nicht all zu monogam leben wollte. Und wer wollte das schon? Vampire gab es nicht wie Sand am Meer, oder wie Menschen in einem Club, also musste man eben Abstriche machen. Nicht, dass menschliche Frauen nicht schön genug wären, ganz und gar nicht, doch gab es eindeutig Defizite was die Belastbarkeit betraf. "Hier deine Drinks", verkündete der Barkeeper und riss Tyler aus seinen Fantasien. "Hm?", er drehte sich wieder zur Bar um, "Ach ja. Danke." Zu schade. Die Gesellschaft hier draußen war der im Überwachungsraum eindeutig vorzuziehen. Bei weitem attraktiver, freundlicher und überhaupt viel nützlicher. — Einige Meter entfernt, hinten in der minimal ausgeleuchteten Kammer, die sich Überwachungsraum nannte, war June froh, dass Tyler sie eine Weile alleine ließ. Es war peinlich, was sich dort an den Bildschirmen abspielte und Tyler musste das nicht alles sehen. Vielleicht war es gar nicht mal so schlecht, dass sie nun nie wieder so sehr abstürzen konnte, damit würden ihr immerhin diverse Blamagen erspart bleiben. Wie hatte sie es überhaupt so weit kommen lassen können? Sie seufzte leise, als es draußen etwas lauter wurde. June konnte jemanden kichern hören und wandte ihre Blicke erschrocken zur Türe, als eine junge Frau plötzlich hereinplatzte. "Oh Hallo!", sagte die Fremde, "Sorry, wir wollten eigentlich nur ein ruhiges Zimmer suchen, in dem wir ungestört sind." Sie lächelte June etwas verlegen an und sah zu ihrer männlichen Begleitung: "Ich glaube hier sind wir falsch." June sah die beiden mit leichter Fassungslosigkeit an: "Eh... ja, da seid ihr hier definitiv total falsch." "Haha, sorry!", wiederholte die Frau, "Komm Süßer, lass uns gehen." Sie klopfte auf die muskulöse Brust ihres Verehrers und wollte sich schon zum Gehen abwenden, als der dunkelhaarige Kerl sie festhielt. Er sah June eindringlich an. "Zuschauer stören mich nicht", erklärte er ruhig, "Und wenn du Lust hast mitzumachen... Du bist gerne eingeladen, Kleines." Unfassbar. "Wie bitte?!", June warf ihm einen angewiderten Blick zu, "Ihr könnt euren Porno wo anders drehen! Und Tschüss!" Sie zeigte auf die Türe und sah die beiden abwechselnd fordernd an, dass sie doch jetzt gefälligst das Weite suchen sollten. Es half nichts. June stand von ihrem Stuhl auf und wurde etwas lauter: "Muss ich euch erst persönlich nach draußen helfen? Ich sagte, ich bin nicht interessiert! Also verschwindet jetzt!" Noch immer rührten die beiden sich nicht. Arm in Arm standen sie da. Die zierliche Frau warf einen fragenden Blick nach oben zu ihrem Partner, der June nach wie vor aus seinen dunklen Augen heraus erwartungsvoll anstarrte. "Auch gut...", nuschelte June leise und stellte sich darauf ein, ihre ungebetenen Gäste hinauszuwerfen. Notfalls mit Gewalt. "Ich warne euch zum letzen Mal", erklärte June und ging einige Schritte auf sie zu, um ihrer Drohung etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wieder klopfte die Frau leicht auf die Brust des Mannes. "Jetzt wäre wohl der richtige Zeitpunkt", sagte sie, während ihr süßes Gesicht ein finsteres Grinsen hervorbrachte. Er nickte nur. June verstand nicht ganz, was das zu bedeuten hatte. Sie zögerte einen Augenblick und sah nur noch die Hand dieser Frau blitzschnell auf sich zukommen, bevor sie von ihr aus dem Zimmer gezogen und mit einem harten Schlag in den Nacken außer Gefecht gesetzt wurde. "Das war ja einfacher als gedacht", meinte Scott, nachdem er June mühelos ins Land der Träume geschickt hatte. Maya hatte sie anschließend aufgefangen, da sie das Mädchen ohnehin schon am Kragen gepackt hatte. "Wir sind ja auch noch nicht draußen", gab sie zu bedenken, während sie sich June halb über die Schultern legte. "Richtig, seid ihr nicht", ein leises Knurren ging durch den Raum und die beiden Eindringlinge blickten zur Türe. "Ah, Tyler, alter Freund", Scott lächelte ihn breit an, "Du bist ganz schön nachlässig geworden." "Wer rechnet schon damit, dass ihr Kanalratten einen Fuß in diesen Club setzen würdet", entgegnete er streng und wandte sich Maya zu, "Loslassen, Reisfresser!" "Eh nein", gab Maya nur zur Antwort. Tylers Beleidigungen hatten längst keine Wirkung mehr, seine Worte prallten schon beinahe ungehört einfach wieder ab. Scott seufzte leise: "Tja ich hatte gehofft, dass uns das erspart bleiben würde. Aber so wie es aussieht, willst du erst eins auf die Fresse bekommen, bevor du uns hier raus lässt." Tyler schnaubte belustigt: "Ja fast", er winkte Scott zu sich rüber, "Komm doch her und versuch dein Glück." "Was hast du vor? Willst du mich mit deinen Drinks überschütten?", Scott betrachtete Tyler belustigt, wie er mit seinen beiden Gläsern in der Hand im Türrahmen zum Aufenthaltsraum stehen geblieben war und ihm nun finstere Blicke zuwarf. Scott hatte sich langsam in Bewegung gesetzt und steuerte auf Tyler zu. Aufmerksam musterte er jede kleinste Bewegung seines Gegners. Kein noch so mikroskopisches Muskelzucken blieb Scott verborgen. Ein Ruck ging durch Tylers Körper und das volle Glas verließ seine Hand mit beachtlicher Geschwindigkeit. Scott lachte, als er diesem Geschoss ohne weiteres auswich. "Netter Ver--", setzte er amüsiert an, bis ihm schlagartig das Grinsen aus dem Gesicht fiel. Ein schmerzliches Stöhnen ging durch den Raum. Tyler hob triumphierend die Brauen: "War kein Versuch." Er hatte Maya zielsicher am Kopf getroffen, welche – im Gegensatz zu Scott – wohl nicht mit einem fliegenden Glas gerechnet hatte. Sie hatte June fallen gelassen und taumelte ein wenig, bis sie sich an der Wand wieder etwas Halt zurückerobern konnte. "Schade um den guten Tropfen", meinte Tyler nur unbeeindruckt und genehmigte sich einen Schluck aus dem verbliebenen Glas, wobei er Scott keine Sekunde aus den Augen ließ. "Kein schlechter Spielzug, mein Guter", selbst Scott musste das anerkennen. "Vielen Dank", Tyler nickte kurz und ließ das zweite Glas dann einfach fallen, "Dann lass uns das mal hinter uns bringen. Ich hab noch was vor." Scotts Blicke waren dunkel geworden, seine Muskeln hatten sich angespannt und er war bereit, Tyler das Fell über die Ohren zu ziehen. Solle er mal versuchen. Im Grunde konnten die beiden sich auf Augenhöhe begegnen, sowohl was die Größe betraf, wie auch hinsichtlich Kraft und Schnelligkeit. Es war also eine reine Frage der Tagesform, wer bei dieser Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen würde. Scott setzte zum ersten Manöver an. Er musste Tyler frontal angreifen, denn der Türrahmen bot nicht sonderlich viel Freiraum. Ein eindeutiger Nachteil für Scott, was auch einen festen Tritt in die Magengegend zur Folge hatte, dicht gefolgt von einem Kinnhaken und Tylers verächtlichen Blicken. "Wohl nicht dein Abend, was?", fragte er amüsiert, während er einem von Scotts Schlägen auswich und wieder seine Position im Türrahmen einnahm, "Dumm gelaufen." Scott fuhr sich kurz mit den Fingern übers Kinn: "Wenn du zu feige bist, deine Deckung aufzugeben... Selbst Schuld." Tyler sah ihn skeptisch an, als Scott ihn mit einer auffordernden Handbewegung zum Herkommen einlud. Als ob... Tyler hatte nur leider gar keine Wahl. Es benötigte einen festen Tritt in Tylers Rücken, bis ihm klar wurde, dass Scotts Handbewegung nicht ihm gegolten hatte. Notgedrungen musste er seine Position unter dem Türrahmen aufgeben, als er gewaltsam in Scotts Reichweite befördert wurde. Verfluchte Nachlässigkeit. Zwei Knie, fünf Fäuste und einen harten Aufprall später, lag er am Boden. "Na, habt ihr mich vermisst?", Megan stand gemütlich in der Türe und hatte das einseitige Schauspiel zwischen Scott und Tyler beobachtet, bis dieser ächzend zu Boden gegangen war, "Sorry für die Verspätung, ich musste noch ein Script einwerfen." "Und das hatte nicht bis später Zeit?", Scott schüttelte verständnislos den Kopf. "Nein", war Megans Antwort, als sie sich von der Türe löste und zu Maya hinüber ging, die noch immer leicht benebelt an der Wand saß. Scott beugte sich derweil zu Tyler runter und zog ihn am Kragen hoch. Er wirkte sichtlich desorientiert. Zwar noch anwesend, aber definitiv nicht mehr fähig einen gezielten Schlag auszuteilen. Und nun, da Megan auch hier war, hatten sich Tylers Siegchancen ohnehin halbiert. "Und jetzt sag mir: Für wen ist das nun dumm gelaufen?", Scott grinste ihn abschätzig an. "Hauptsache von einem Mädchen den Arsch retten lassen", knurrte Tyler mindestens genauso verächtlich und befeuchtete Scotts Gesicht zur Verdeutlichung mit einer blutdurchzogenen Ladung Spucke, "Wichser!" Nicht unbedingt ratsam in seiner Situation, doch Tyler hatte sich das schlichtweg nicht verkneifen können und erntete postwendend die Quittung dafür. Scotts Faust landete schwungvoll mitten in seinem Gesicht und ließ ihn nach hinten taumeln. Da sein Gegner ihn nun auch nicht mehr festhielt, war der Weg von der Wand zum Boden nicht weit und Tyler blieb mit schwirrendem Kopf auf dem Fußboden sitzen. "Können wir dann gehen?", frage Megan, die Maya inzwischen wieder auf die Beine gezogen hatte und sie sicherheitshalber noch festhielt. Scott wischte sich das Gesicht und wandte sich zu den beiden Frauen: "Ja, sicher." Sein Blick fiel auf June, die noch immer reglos am Boden lag. Er musste sie wohl selbst tragen, da Megan damit beschäftigt war, Maja aufrecht zu halten. "Wir gehen oben raus", verkündete er und ging mit June über der Schulter voran. Der Weg vom Zimmer der Security nach oben in den zweiten Stock führte an den Toiletten vorbei und sie ernteten einige fragende Blicke, doch betrunkene Mädchen, die das Bewusstsein verloren hatten, waren kein wirklich großer Aufreger mehr. Der Ausstieg aus dem zweiten Stock ging schnell. Megan zuerst, sie fing sowohl ihre noch leicht benommene Freundin, wie auch Junes freien Fall ab und gab sie zurück an Scott, der als letzter das Gebäude verließ. "Tjaa, die glorreichen Drei", verkündete Maya mit einem leichten Lächeln. Sie hielt sich noch immer den Kopf, der sich nach dem Einschlag des Glases noch nicht wieder vollständig regeneriert hatte. Megan verkniff sich ein Lachen und wandte sich stattdessen ernst an Scott: "Ich würde sagen: Du fährst!" "Mach ich. Aber wer hat dich zur Chefin erklärt?", er sah sie skeptisch an. "Keiner", antwortete Megan, "Ich wollte auch nur sichergehen, dass du nicht Maya hinters Steuer setzt." "Hey, ich kann fahren!", mischte sich nun auch Maya ein, wofür sie sowohl von Megan, als auch von Scott zweifelnde Blicke zugeworfen bekam. Sie hob beide Hände: "Okay okay... Ich fahre nicht." "Gut", Megan nickte, "Dann sehen wir uns bei dir?", sie hatte sich an Scott gewandt. "Hast du noch was vor?", fragte er, nachdem Megan sich nach Verabschiedung anhörte. "Nein, aber zum einen will ich mich nicht mit der auf die Rückbank quetschen – da ist sowieso eigentlich kein Platz – und zum anderen werde ich meine Lady nicht hier stehen lassen", erklärte sie und wirbelte mit den Schlüsseln ihres Motorrads, "Also bis gleich." Sie klopfte Maya noch kurz auf die Schulter und ging an den beiden vorbei, in die entgegengesetzte Richtung. Scott und Maya machten sich mit June auf den Weg zurück zum Wagen. "Wie geht's deinem Schädel?", fragte Scott, während sie die Straße entlangliefen. "Geht so", antwortete Maya. "Du musst besser aufpassen", fuhr Scott fort, "Nur weil er mir gegenübersteht, heißt das nicht, dass du aus dem Spiel bist. Hast du ja gesehen." "Ja allerdings...", sie seufzte leise und richtete ihre Blicke auf June, die reglos über Scotts Schultern hing, "Wir sollten uns beeilen. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis sie wieder aufwacht." "In dem Fall schlägst du sie einfach wieder k.o.", erklärte Scott. Er ließ June von seiner Schulter rutschen, als sie am Wagen angekommen waren und platzierte sie auf dem zugegebenermaßen sehr spärlichen Rücksitz. "Schlüssel", sagte er mit ausgestreckter Hand. Maya händigte ihm ihren üppigen Schlüsselbund aus und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Weg zurück zu Scotts Wohnung war einigermaßen überschaubar und konnte bei zügigem Fahrstil in einer halben Stunde hinter sich gelassen werden. — Megan hatte ihre Honda Fireblade schon längst in Scotts Garage geparkt und wartete nun, nebst ihrem Helm, auf der Treppe, die Ankunft der restlichen Truppe ab. Sie parkte das gute Stück eigentlich regelmäßig hier, da sie bei sich zu Hause einfach nicht den nötigen Platz hatte. Außerdem war es von hieraus nicht all zu weit zu ihrer eigenen Wohnung und falls sie mal keinen Hass auf Scott verspürte, konnte man mit ihm auch ganz angenehme Touren fahren. Schließlich musste man dann nicht mit ihm sprechen und das erleichterte den Umgang ungemein. Mayas Wagen fuhr vor und Megan erhob sich. Scott hatte Wort gehalten. "Wurde ja auch Zeit, dass ihr auftaucht", meinte sie schmunzelnd und beobachtete, wie Scott das junge Mädchen wieder aus dem Wagen hievte. "Nerv nicht", fuhr Scott sie an, als er June zu ihr herüber brachte, "Kümmer dich lieber darum." Er übergab sie ihr und ging weiter zur Haustüre. "War was?", Megan sah ihn fragend an, während sie ihm folgte. Seine miese Laune konnte ja wohl kaum von ihrem spaßig gemeinten Kommentar kommen. Oder doch? "Nein, alles gut. Bring sie schon rein", gab er zurück. Megan seufzte nur und tat, wie ihr geheißen. Sie brachte June auf eines von Scotts Sofas und verschwand anschließend kurz in die Küche, um ein paar Gläser Wasser zu holen. Als sie zurückkam, hatte sich auch Maya schon im Wohnzimmer breit gemacht und nahm das Wasser dankend entgegen. "Was hat er denn?", Megan hatte sich neben sie gesetzt. Maya zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Ich glaube, ich hätte nicht erwähnen sollen, dass du zum Glück rechtzeitig aufgetaucht bist." Auf Megans Lippen breitete sich ein schiefes Grinsen aus: "Ach so." Angekratzter Stolz also. Das konnte eine Erklärung sein. "Scott?", Megan hatte sich zu ihm umgedreht, als er aus dem Badezimmer kam, "Was hast du jetzt mit ihr vor?" "Gar nichts", erklärte er und wischte sich die letzten Wassertropfen aus dem Gesicht. "Wie? Gar nichts?", auch Maya hatte ihr Augenpaar nun auf Scott geheftet. "Sagte ich doch", er nahm sich eines der Gläser vom Tisch, "Ich will was von Jacobs und sie ist nur Mittel zum Zweck." "Ah", Maya nickte, "Und was willst du von Jacobs?" Scott machte ein nachdenkliches Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: "Es geht ums Prinzip. Es wird Zeit, dass er alles zurückbekommt. Seine überhebliche Art soll er sich in den Arsch stecken und dann kann er gerne auf allen Vieren vor mir durch den Dreck kriechen." "Wusste ich doch, dass du auf solche Spielchen stehst", Megan lachte und fing sich einen finsteren Blick ein. "Würdest du es wohl lassen, solche absurden Thesen aufzustellen?!", Scott sah sie ernst an. Es war kein Thema, bei dem er über solche Scherze hinwegsehen konnte. Ganz besonders nicht, wenn Megan diese losließ. "Jetzt weiß ich immer noch nicht, was genau dein Plan ist", beschwerte sich Maya. "Er hat gar keinen Plan", warf Megan schnippisch ein, "Er will ihn einfach nur ärgern." Scott schüttelte genervt den Kopf: "Ihr versteht das sowieso nicht. Ich könnte es euch erklären, aber dafür ist mir die Zeit zu schade." "Hey...", eine leise Stimme unterbrach die Diskussion, "Was ist los? Wo bin ich hier?" Sofort waren Scott, Maya und Megan still und hatten ihre Augen gebannt auf June gerichtet, die sich langsam aufsetzte. "Oh, guten Abend Liebes", begrüßte Scott sie und seine Laune hatte sich schlagartig um 180 Grad gedreht, "Hast du gut geschlafen?" June sah ihn groß an. Ihre Blicke wanderten zu Maya und Megan, über deren tätowierte Haut und… Natürlich. Ihr war klar, wer vor ihr stand. "Was wollt ihr? Ich sagte doch, dass ich keine Lust habe! Und auf ein Quartett schon gar nicht!", June hatte die Arme verschränkt und sah die drei abwechselnd an. Offensichtlich hatte keiner von ihnen damit gerechnet, dass ihre Geisel eine solch aufmüpfige Art an den Tag legen würde. Megan schmunzelte: "Keine Sorge", sie zeigte auf Scott, "den binden wir fest." "Megan!", Maya klang nicht wirklich begeistert. Die Blondine lachte und erhob sich vom Sofa. "Also ich mag die Kleine irgendwie", verkündete sie und kam zu June herüber, "Hi. Ich bin Megan." "Schön für dich", entgegnete June und musterte skeptisch die mit schwarzen Mustern überzogene Hand, die man ihr hingehalten hatte. "Du sollst dich nicht mit ihr anfreunden", ergriff Scott wieder das Wort, "Sie ist unsere Gefangene und nicht unser Gast." Megan verdrehte die Augen und nahm ihre Hand wieder zu sich: "Gut, wenn du meinst. Sieht auch so aus, als würde sie das gar nicht wollen." "Natürlich nicht!", June wurde etwas lauter. Sie hatte ihre Blicke fest in Megans Augen gerichtet, die noch immer unangenehm nah bei ihr stand. Auch Scott kam nun unaufgefordert näher und nahm direkt vor June auf dem Wohnzimmertisch Platz. Keine sonderlich komfortable Situation. "Hör mir zu, Liebes", fing er an und legte seine Hände auf ihren Knien ab, "Im Grunde betrifft dich das alles hier überhaupt nicht." "Dann könnt ihr mich ja auch wieder gehen lassen. Und Finger weg, Sackpfeife!", June sah ihr Gegenüber finster an und schlug seine Hände von ihren Knien, als er es nicht selbst tun wollte. Das Grinsen in seinem Gesicht war unheimlich geworden. Vielleicht sollte sie sich nicht mit diesem Kerl anlegen. Er fuhr fort: "Du hast ein ganz schön loses Mundwerk, dafür dass du hier ziemlich in der Falle sitzt. Aber weiter im Text: Ich mache dir ein Angebot. Wenn du dich ruhig verhältst und all meine Fragen beantwortest, dann lasse ich die Finger von dir." "Und wenn nicht?" "Das wirst du dann schon sehen", wieder breitete sich dieses unheilvolle Grinsen auf Scotts Lippen aus. Das klang wenig erfreulich und June wollte auch überhaupt nicht wissen, was im Kopf dieses Irren vor sich gehen mochte. Ausnahmsweise wäre ihr Tylers Gesellschaft jetzt wirklich lieber gewesen. In Ruhe peinliche Videos von vor zwei Nächten ansehen, sich seine Sticheleien anhören, Drinks kippen. Wie verlockend. "Was sind das für Fragen?", sie sah ihn abwartend an. Im Augenwinkel konnte sie sehen, wie Megan sich wieder zu dieser anderen Frau gesellte. Das musste dann wohl Maya sein. Scott betrachtete June eindringlich, dann stellte er seine erste Frage: "Wie heißt du?" Was?! Sie sah ihn überrascht an, angesichts dieser banalen Frage. "June Garcia", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Wie alt bist du und wann ist dein Geburtstag?" "Sechsundzwanzig. Am 24. Juni." "Wo wohnst du?" "Bei Tyler zu Hause" "Wie groß bist du?" "Sieht man das nicht?", sie sah ihn nachdenklich an. Wozu stellte dieser Kerl all diese uninteressanten Fragen? "Antworte", fuhr er trocken fort. "Ein Meter, 68 Zentimeter." "Familie?" Sie stockte. "Lebt größtenteils in Spanien", antwortete sie schließlich. Scott grinste nur und stellte eine etwas direktere Frage: "Eltern und Geschwister?" "Mutter: Evelyn. Vater: Manuel. Keine Geschwister." "Lüge", Scott hob seine Augenbrauen leicht an, "Du musst schon ehrlich antworten." "Ich lüge nicht!", behauptete sie felsenfest. "Und schon wieder. June, ich brauche keinen Lügendetektor, um zu merken, dass du nicht die Wahrheit sagst. Also nochmal: Geschwister?" Sie sah ihn ratlos an. Konnte er das tatsächlich heraushören? Es schien so. "Dave", gab sie knapp zur Antwort. "Na also, es geht doch", Scott schien sich zu freuen, "Und jetzt kannst du mir erzählen, wie es dazu kam, dass Tyler Jacobs sich einen Schüler zugelegt hat. Wir sind alle schon tierisch gespannt." Keine Lügen also… Welch wundervolle Ausgangslage. 012 --- Die Abreibung. "Würdest du also bitte deinen hübschen Hintern hierher bewegen", Tyler redete seit fünf Minuten am Telefon auf Cathlyn ein. "Mann, Tyler!", sie klang wenig begeistert, "Soll ich meinen Job riskieren, nur weil du es nicht auf die Reihe bekommst, auf deinen Schützling aufzupassen?!" "Du wirst deinen Job nicht verlieren, das können die sich gar nicht leisten", er schmierte ihr weiter großzügig Honig um den Mund, "Also komm her, wir brauchen dich." Ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung: "Okay... Ich bin in 15 Minuten bei euch." Sie legte auf. "Und? Kommt sie?", Aaron sah seinen Kumpel fragend an. Er nickte und steckte das Handy ein. "Wahrscheinlich wird sie sich wieder irgendeine Gemeinheit ausdenken, die ich ihr dafür schuldig bin", Tyler seufzte leise und ließ sich auf der Treppe vor Aarons Hauseingang nieder. Noch immer fühlte er sich leicht gerädert, auch wenn rein körperlich sonst nichts mehr zu spüren war, nachdem er sich vor einer halben Stunde mit Schwindel und Magenschmerzen auf den Weg zu Aaron gemacht hatte. Sein Freund setzte sich neben ihn: "Sonst alles klar bei dir?" Tyler spürte Aarons prüfende Blicke über sich hinwegwandern. "Ja, alles bestens", gab er zur Antwort, "Ich habe nur große Lust, jemandem den Hals umzudrehen." "Kann ich verstehen", Aaron war im Bezug auf Scott ganz ähnlicher Ansicht wie Tyler. Dieser Typ war einfach das Letzte und wenn Tyler ihm nicht schon das Maul hätte stopfen wollen, dann hätte Aaron das getan. Nicht wegen June, aber wegen Veronica, seiner Schwester. "Ich frage mich, was das soll", sprach Tyler weiter, während die beiden auf Cathlyns Ankunft warteten, "Die ganzen letzten zehn Jahre war er ruhig und hat sich nur um seinen eigenen Scheiß gekümmert. Wieso mischt er sich jetzt ein?" "Kann ich dir sagen: Weil er ein armseliger Hund ist und du wieder angreifbar bist", erklärte Aaron ganz sachlich. Tyler schnaubte abfällig: "Von wegen angreifbar. June ist angreifbar." "Ja, und damit auch du", Aaron klopfte ihm auf die Schulter, "Akzeptier es lieber. Solange bis wir ihren wahren Meister gefunden haben, ist sie ein Teil deines Lebens." "Traumhaft...", er seufzte und erhob sich von den kühlen Stufen, "Wir könnten sie auch einfach bei Scott lassen, dann kann der sich mit ihr rumärgern." Aaron lachte: "Na dazu möchte ich doch mal Alexanders Meinung hören." Richtig, Alexander. Er würde sich vermutlich eine saftige Strafe für die Missachtung seiner Anweisung ausdenken und ihn dann trotzdem zu Scott schicken, um June zurückzuholen. Keine Option also. "Da hast du wohl Recht", musste Tyler zugeben und verwarf diesen Gedanken, "Wäre wohl auch zu schön gewesen, um wahr zu sein." "Apropos 'zu schön, um wahr zu sein'", Aaron, der inzwischen ebenfalls den Hintern von der steinernen Treppe gehoben hatte, zeigte die Straße entlang. Ein Taxi war vorgefahren und unter dem Klackern ihrer Absätze, das durch die Straße hallte, bequemte sich nun endlich auch Cathlyn zu ihren beiden Jungs. Mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung musterten die beiden die Erscheinung ihrer Freundin. "Cat... wie willst du dich mit diesem Outfit gegen Maya behaupten?", fragte Aaron, als das Taxi weggefahren war. "Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte!", erklärte sie ihren Auftritt, "Außerdem wäre es wohl aufgefallen, wenn ich mich erst umgezogen und dann Magenkrämpfe vorgetäuscht hätte." "Wo sie Recht hat...", Tyler hatte Mühe sich das Grinsen zu verkneifen. Da stand sie, in ihrer üppig verzierten, roten Korsage, mit Glitter im Gesicht und Federn im hochgesteckten Haar. "Du solltest dich umziehen", erklärte Aaron ganz nüchtern und beobachtete recht unberührt, wie Cathlyns schlanke Finger die Häkchen ihrer Korsage lösten. Elegant öffnete sie die oberen paar Verschlüsse und musterte die Gesichter ihrer beiden Beobachter, deren Augen längst eine Etage tiefer gewandert waren. "Ey!", Cathlyn schnippte mit den Fingern ihrer freien Hand, sodass die Jungs wieder nach oben sahen und grinste, "Für alles Weitere erwarte ich ein stattliches Trinkgeld." Sie tätschelte Aarons Brust, nahm ihm den Schlüssel zu seiner Wohnung ab und eilte mit ihrer großen Tasche die Treppen hinauf. "Wir sollten sie öfter von der Arbeit fernhalten", gab Aaron mit einem Schmunzeln zu, nachdem Cathlyn verschwunden war. "Ich wusste gar nicht, dass sie immer noch strippt", auch Tyler war die leichte Faszination noch anzusehen, "Dachte sie würde nur noch tanzen." "Burlesque, mein Lieber." "War das nicht vor ihrer Zeit?", Tyler sah seinen Kumpel fragend an, "20er, oder?" "Da war sie 16", Aaron musste bei dieser Vorstellung unweigerlich lächeln, "Und seit einiger Zeit ist das wohl auch wieder total angesagt." Tyler schnaubte: "Fand ich früher ja nicht so spannend", er winkte ab, "Aber vielleicht ist es inzwischen interessanter geworden. Muss ich mir wohl mal ansehen."  "Das solltest du definitiv!", Cathlyn kam mit kurzer Hose und schwarzem Tanktop zurück auf die Straße, "Können wir dann jetzt los?", sie sah die beiden fragend an und bekam ein Nicken zur Antwort, "Gut, dann gehen wir mal ein paar Ärsche versohlen." — "Nein, wie niedlich", Scott lachte, "Ist das alles? Hurensohn?" June sah ihn finster an. Sie wusste keine Antworten mehr auf seine Fragen, also musste sie das Thema wechseln, um etwas Zeit zu schinden. Ganz offensichtlich amüsierte es ihn, dass June über ihren 'Meister' herzog. Tyler würde sie hoffentlich bald holen kommen und dann wäre dieser Drahtseilakt zwischen Wahrheit und Verschweigen auch endlich vorbei. "Er ist ein Idiot", bestätigte June noch einmal die Aussage. "Da sagst du mir nichts Neues", Scott hatte sich mittlerweile zu ihr aufs Sofa gesetzt, "Aber du hast mir jetzt noch immer nicht erzählt, wie ihr euch kennengelernt habt." "Darüber gibt es auch nicht viel zu sagen. Wir haben uns im Park getroffen und das war's", erklärte sie ruhig, "Und jetzt müsste ich wirklich dringend mal zur Toilette." Er nickte und zeigte in Richtung Badezimmer. June erhob sich ohne zu zögern und machte sich auf den Weg zum Bad. Die beiden Frauen auf dem Sofa wirkten müde und gelangweilt. Wahrscheinlich fanden sie Junes Unterhaltung mit Scott nicht mal ansatzweise so unterhaltsam wie ihr Freund. Ideal eigentlich. June überflog eilig die Räumlichkeiten. Sie wusste nicht, wie lange es noch dauerte, bis endlich jemand kommen würde, um sie zu befreien, also musste sie es selbst in die Hand nehmen. Bis Scott oder seine Freundinnen aufgestanden wären, hätte sie längst die Wohnung verlassen und wäre entkommen. Vermutlich. Sie musste es versuchen. Noch einen weiteren Schritt Richtung Badezimmer und im nächsten Augenblick änderte sie die Richtung und eilte zur Wohnungstüre. Ein flinker Griff zur Klinke und die Tür flog auf. Sie erstarrte. Scheiße... Was sie vorfand war nicht das erhoffte Treppenhaus. Sie hörte Schritte hinter sich und als sie sich wieder umdrehte, versperrte ihr ein starker Männerarm den Weg, dessen Hand geräuschvoll gegen den Türrahmen geschlagen worden war. "Sag doch gleich, dass du es eilig hast", Scott funkelte sie finster an. Er wirkte nun gar nicht mehr so amüsiert und gelöst. "Eh... ich dachte hier", June geriet ins Stottern, "Das Bad. Ich wollte nur schnell..." Er schüttelte den Kopf: "Du sollst doch nicht lügen." Sie sah ihn mit großen Augen an. Das hätte sie sich wirklich sparen können. "Aber wenn du schon mal hier bist", er warf einen kurzen Blick in sein Schlafzimmer, "Mein Bett ist ziemlich bequem." "Nein danke, ich brauche noch kein Bett. Ich bin nicht müde", versicherte June und wollte sich unter seinem Arm hindurch, wieder raus ins Wohnzimmer begeben. "Blieb doch hier", Scott packte sie am Hals und es schnürte ihr die Luft ab, "Das war kein Angebot." Noch ehe June ihre Finger in seinen Arm krallen konnte, hatte Scott sie mit Schwung rückwärts in sein Zimmer geschickt. Er zog die Türe hinter sich zu und für einen Moment herrschte Stille. "Komm mir bloß nicht zu nahe", June drohte ihm. Sie hatte ihre Augen fest auf Scotts Gesicht gerichtet und gab sich Mühe, so bedrohlich wie möglich zu wirken. "Nimms nicht persönlich. Das gilt allein deinem Meister, nicht dir", er zeigte keine Reaktion auf ihre Blicke. "Ich nehm's aber persönlich!", sie erschrak selbst über das ungewohnte Knurren in ihrer Stimme. "Tja, schade. Das hätte eigentlich auch ganz schön werden können", erwiderte Scott nur recht unbeeindruckt und stand den Bruchteil einer Sekunde später direkt vor ihr. June holte zum Schlag aus. Sie legte all ihre Kraft hinein und zielte auf sein Gesicht. Leere. Dort wo seine Visage hätte sein sollen, war einen Wimpernschlag später nur noch Luft und June spürte, wie kühle Hände sich noch in ihrer Bewegung um ihren gestreckten Arm und ihre Taille wanden und sie unsanft von den Füßen geholt wurde. Eine harte Erschütterung ging durch ihren Körper, als sie auf den Boden prallte. Sie fuhr sofort herum, um ihren Gegner im Auge behalten zu können, doch er stand schon längst nicht mehr dort, wo sie ihn vermutet hatte. Was? Aber... Die selben schaurigen Hände von eben packten ihre Arme und verschränkten sie ihr auf dem Rücken. "Jacobs hat dir wohl noch nicht viel beigebracht, was?", sein Atem brannte beinahe auf ihrer Haut, als er sich so dicht zu ihrem Ohr heruntergebeugt hatte. Er roch nach Patschuli und Sandelholz... June kannte den Geruch. "Was hast du jetzt vor?", ihre Stimme klang fest und unerschrocken, auch wenn Scotts Nähe unaufhörlich ihre Nervosität befeuerte. Es kam keine Antwort. Stattdessen bemerkte sie Finger, die von hinten über ihre Schultern wanderten. Sie erschauderte und Scott ließ seine Fingerspitzen weiter um ihren Brustkorb wandern. Nein, das war genug. June entriss ihre Arme seinem festen Griff auf ihrem Rücken, drehte sich zu ihm um und verpasste seinem überraschten Gesicht einen tiefroten Handabdruck. Der Schlag hatte gesessen, doch Scott lachte nur. "Ich hab gesagt, du sollst mir nicht zu nahe kommen!", sie fuhr in wütend an. Er musterte sie ausgiebig und auf irgendeine kranke Art und Weise schien ihre Ohrfeige sein Interesse noch verstärkt zu haben. "Ja, sag das nochmal", Scott sah sie auffordernd an. Sie musste hier weg. Nur wie? Durchs Fenster? Nein, sie wusste nicht wie hoch das war. Andererseits: Sie war ein Vampir, was sollte also schon passieren? Schlimmer als das, was sie in diesem Raum erwarten würde, konnte es nicht sein. June trat einen Schritt zurück. Scott hatte seine gierigen Augen noch immer auf sie gerichtet, doch er bewegte sich nicht. Ein weiterer Schritt. Er blieb ruhig und beobachtete sie. June konnte sehen, wie er seine Augenbraue skeptisch nach oben zog, als sie einen weiteren Schritt nach hinten ging. Keine Zeit für lange Überlegungen also. Sie zog augenblicklich das Tempo an und drehte sich in Richtung Fenster. Sie würde durch die Scheiben springen müssen, doch das würde sie nicht aufhalten. Scotts Hand an ihrem Arm dagegen schon eher. Oh Gott, nein! Ein schmerzhafter Ruck ging durch ihren Körper, als ihre Richtung so schlagartig geändert wurde und sie mit Wucht zwischen Scotts Kissen landete. Ihre Schulter schmerzte höllisch, als hätte man ihr den Arm abgerissen. Scott schien das nicht zu interessieren. Er hatte sie sich zurecht gelegt und auf ihren Hüften Platz genommen. "Och, tut dir der Arm weh?", fragte er auf eine widerlich herablassende Art und lehnte sich zufrieden schmunzelnd auf ihre ausgekugelte Schulter. Junes schmerzerfüllter Schrei wurde jäh unterbrochen, als ihr Peiniger seine Hand um ihren Kiefer schloss und seine Lippen nachdrücklich auf ihre presste. Sie wollte um sich schlagen, doch ihr rechter Arm ließ sich kaum mehr bewegen und den linken hielt Scott eisern fest. Angst machte sich in ihr breit, als er die Hand von ihrem Kiefer löste und seine Finger sich in ihren Haaren vergruben. Es war so erniedrigend und obwohl sie nun so viel stärker war, als vor einigen Tagen, konnte sie nichts ausrichten. So war das also. Auch als Vampir war man nicht unbesiegbar. Es gab immer jemanden, der stärker war als man selbst und in diesem Fall führte Scott ihr das bildhaft vor Augen. Ein leichtes Brennen auf ihrer Haut ließ June zusammenzucken und holte sie augenblicklich aus ihrer zeitweiligen Abwesenheit zurück. Blut rann aus ihrer Halsschlagader. Sie konnte deutlich spüren, wie es ihren Körper verließ und von Scott begierig aufgenommen wurde. Wieder spannten sich die Muskeln in ihren Gliedern und versuchten mit aller Kraft etwas gegen diese Abartigkeit zu unternehmen. Sie hob ihre Hüften und wollte ihn von sich werfen, doch außer einem müden Lächeln war ihm nichts zu entlocken. "Vergiss das lieber", raunte er ihr lüstern entgegen und beugte sich wieder zu ihr hinunter. June wollte sich zur Seite drehen, doch verharrte sie schlagartig in der Bewegung. Ebenso wie Scott. "Shit!", er zischte wütend und keine Sekunde später klopfte es bereits heftig gegen die Türe. "Scott!", es war Maya, "Scott, wir bekommen Besuch!" Er sprang kommentarlos vom Bett und verließ das Zimmer. June blieb zurück. Aufgewühlt aber erleichtert. "Okay, was ist hier los?", er sah fragend zu Maya, dann zu Megan, die bereits direkt hinter der Eingangstüre wartete. "Ja, was wird wohl los sein?", gab Megan knurrend zurück, "Jacobs hat seine Freunde zusammengetrommelt und wird sich seinen Schützling zurückholen wollen." "Jetzt schon?", er streckte sich, "Na schön, dann sollen sie mal kommen." Als wäre das das Stichwort gewesen, wurde Scotts Türe mit einem lauten Knall aus den Angeln gebrochen und fiel krachend zu Boden. "Schönen guten Abend, die Herrschaften", begrüßte Scott die Eindringlinge. Für einen kurzen Moment sah es aus, als hätte jemand die Zeit angehalten. Keiner rührte sich. Erst als Aaron den Raum betrat und im gleichen Moment mit Megans Tritt in seine Magengegend empfangen wurde, ging ein Ruck durch alle Anwesenden. Aaron hatte sich Megans Bein gegriffen und zog sie um seine eigene Achse, bis sie hart gegen die Backsteinwand prallte. Sie schnappte sich einen der alten, dicken Bilderrahmen und schleuderte ihn Aaron entgegen, bevor der sich ihr wieder nähern konnte. Auch Cathlyn war über Maya hergefallen und hatte sie regelrecht zum Boxsack umfunktioniert, nachdem sie sich flink unter Mayas ersten Schlägen hinweggeduckt hatte. Die kleine Asiatin war kein wirklich starker Gegner, auch für Cathlyn nicht. Mayas einziger Vorteil war ihre Schnelligkeit. Ja, schnell war sie und Cathlyns schwungvoller Tritt ging ins Leere, wodurch sie unsanft an den Haaren zur Seite gezogen wurde, bis ein spitzer Ellenbogen ihre Bewegung bremste und sie zu Boden gehen ließ. Sie konnte Tyler sehen, der ein paar Meter weiter ins Taumeln geraten war, doch sie konnte hier nicht liegenbleiben. Maya gönnte ihr keine Verschnaufpause und forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Tyler hatte sich einen festen Tritt abgeholt, als er wohl zugegebenermaßen recht leichtsinnig direkt auf Scott losgestürmt war. Er fing sich wieder, blockte die Faust seines Gegners, die auf ihn zugeflogen kam und schlug ihm stattdessen seine eigene ins Gesicht. Scott spuckte. "Hast dich ja schnell wieder erholt, Jacobs", knurrte Scott, während er sich das Blut vom Kinn wischte. "War nicht schwer bei deinen lahmen Schlägen", gab Tyler schnippisch zurück, "Wenn man's nicht richtig macht, dann kann man es auch gleich lassen." Scott musterte ihn skeptisch: "Und du willst mir zeigen, wie es richtig geht, ja?" "Blitzmerker", Tyler nickte knapp. Augenblicklich flog ein Geschoss mit beispielloser Geschwindigkeit zwischen ihnen hindurch und blieb reglos am anderen Ende des Raumes liegen. Megan. Aaron war fertig und Tyler nutzte Scotts kurze Verwunderung, um ihn von den Beinen zu holen. Krachend landete er im Gestänge seines Wohnzimmertisches, nachdem er die gläserne Tischplatte durchbrochen hatte. Tyler bedachte ihn mit einer wohltuenden Tracht Prügel. Einige feste Hiebe waren von Nöten, um Scotts Verteidigung zu umgehen. Tyler schlug ihm die Scherben aus den Händen, mit denen er sich wehrte, bevor er ihm in einem günstigen Moment beide Hände an den Kopf legte und mit einem Ruck sein Genick brach. Seufzend erhob er sich aus dem Scherbenhaufen und sah sich nach Cathlyn um, die noch immer mit Maya beschäftigt war. Er beobachtete die zwei kämpfenden Frauen eine Weile, schmunzelte leicht über dieses Handgemenge und erlöste seine Freundin schließlich mit einer gut beschleunigten Glasscherbe von ihrer Konkurrentin. Das scharfe Glas bohrte sich butterweich durch Mayas Hals und ließ sie erstarren. Auch Cathlyn wirkte überrascht, als ihr plötzlich Mayas Blut ins Gesicht spritze, nur schien sie davon weit mehr angetan zu sein, als Maya selbst. Sie leckte sich die Spritzer von den Lippen und zog sich unter Mayas zusammengefallenem Körper hervor. "Danke", sagte sie und lächelte Tyler zufrieden an. Er deutete eine kurze Verbeugung an: "Keine Ursache." "Okay, das wäre erledigt. Und wo ist June?", Aaron sah sich fragend um. Auch Tyler und Cathlyn ließen ihre Blicke nun prüfend über das Schlachtfeld wandern. Es war nichts zu hören. "Vielleicht ist sie gar nicht hier", überlegte Cathlyn, während sie zu den anderen beider herüber kam, "Scott könnte sie auch irgendwo anders untergebracht haben." "Und wo? Bei Maya oder Megan zu Hause? In der Garage?", Tyler sah sie skeptisch an. Cathlyn zuckte mit den Schultern. "Er könnte sie auch ausgeschaltet haben und wir hören sie deswegen nicht", gab Aaron zu bedenken, "Wir sollten uns umsehen." "Du hast Recht", stimmte Cathlyn zu und machte sich daran, die Wohnung genauer unter die Lupe zu nehmen. "Ich werde mich zuallererst mal an Rivers Minibar vergreifen", erklärte Tyler, "Will noch jemand was?" Aaron musste unweigerlich lachen: "Fällt dir jetzt nichts Besseres ein?" "Nein", war Tylers Antwort und er verschwand Richtung Küche. Eine kleine Erfrischung würde nach dieser Auseinandersetzung sicher gut tun. Scott und seine Gefährtinnen waren jetzt sowieso erstmal eine Weile außer Gefecht, also konnte er sich Zeit lassen. "Ich denke, ich weiß wo sie ist", verkündete Cathlyn, als sie die Türe zu Scotts Schlafzimmer geöffnet hatte. Tyler befüllte sich noch sein Glas und kam anschließend zurück ins Wohnzimmer. "Und zwar wo?", fragte er. "Sieht so aus, als wäre sie aus dem Fenster gesprungen", antwortete sie ganz ruhig, kam zu ihm herüber und nahm ihm das Glas aus der Hand, "Nochmal danke." Sie fing sich einen leicht genervten Blick ein, leerte das Glas aber trotzdem ganz alleine und gab es ihm zurück. "Tja, dann hoffen wir mal, dass sie zu dir nach Hause gelaufen ist", meinte Aaron und machte sich auf den Weg, Richtung Ausgang, "Kommt ihr? Ich habe genug von dieser Bruchbude." Die beiden schlossen sich ohne weiteres Zögern an und verließen das verwüstete Wohnzimmer. "Seid ihr beiden eigentlich noch komplett?", fragte Aaron, als sie wieder unten auf der Straße waren. "Geht so", gab Cathlyn zur Antwort, "Ein paar blaue Flecken, ein paar geprellte Rippen, aber das wird schon. Maya geht es schlechter." "Aber hallo", fügte Tyler noch leicht belustigt hinzu, "Die nächsten paar Tage sollten wir unsere Ruhe haben." Seine Freunde nickten. "Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. Dieses kleine, blonde Monster hat mir fast den Kiefer gebrochen", Aaron fuhr sich mit den Fingern prüfend übers Gesicht, "Ich werd mich hinlegen." "Da mach ich mit!", platzte Cathlyn heraus, "Ein ausgiebiges Nickerchen könnte ich jetzt gut vertragen!" Tyler warf den beiden müde Blicke zu: "Ja, macht ihr mal. Ich werde mich dann erstmal um mein Kind kümmern", er hob seine zerschnittenen Arme, die Scott nach seiner Landung im Glastisch noch massakriert hatte, bevor er sich unfreiwillig verabschieden musste, "Mir geht's ja noch wunderbar." Aaron grinste ihn breit an: "Tja mein Lieber, wir wünschen dir noch viel Spaß dabei." Cathlyn lachte nur und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Gute Nacht", sagte sie höchst amüsiert und hob zum Abschied die Hand, bevor sie sich abwandte und davonging. Auch Aaron nickte seinem Freund nur nochmal kurz zu und ließ ihn dann ebenfalls alleine. Klasse... Tyler sah seinen Freunden einen Moment hinterher, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren und setzte sich dann selbst in Bewegung. Er konnte nur hoffen, dass June wirklich schon in seiner Wohnung war und sich nicht völlig geistesabwesend irgendwo in der Stadt herumtrieb. 013 --- Eine Gutenachtgeschichte. Die letzten Minuten über verfluchte Tyler die Tatsache, dass er ohne seinen Wagen in die Stadt gekommen war. Gerne hätte er sich in die gemütlichen Ledersitze fallen lassen und wäre einfach nur in aller Ruhe nach Hause gefahren. Seine Arme brannten und sein Kopf pochte von den Schlägen, die Scott ihm mitgegeben hatte. Keine wirklich angenehme Situation. Besonders dann nicht, wenn man bedachte, dass sein vorrangiges Ziel momentan nicht die weichen Laken seines Bettes waren, sondern June. Die letzten Kilometer schienen sich schier endlos in die Länge ziehen zu wollen. Tyler konnte sich nicht erinnern, dass der Weg von Manhattan nach Hause schon immer so weit gewesen war. Wahrscheinlich lag es an seiner momentan recht beschissenen körperlichen Verfassung und an den nicht ganz unberechtigten Bedenken bezüglich Junes Aufenthaltsorts. Wenn sie nicht in seiner Wohnung war, dann wollte er das eigentlich auch gar nicht wissen. Doch wie es schien, waren ihm die Götter heute gnädig. Er konnte hören, dass sich jemand oben in den Zimmern aufhielt, als er unten das Haus betrat. Erleichterung machte sich breit. Er würde ins Bett gehen können. Gelobt sei der Herr... Wider Erwarten fand er sein Wohnzimmer jedoch verlassen vor. Er schloss die Türe und konzentrierte sich auf Junes Atem- und Herzgeräusche, um sie lokalisieren zu können. Allem Anschein nach war sie oben. In seinem Ankleidezimmer, den gedämpften Lauten nach zu urteilen. Ein merkwürdiger Aufenthaltsort, schließlich war ein kleiner, lederner Hocker das Einzige, worauf man sich in diesem Zimmer setzen konnte. Er ging nach oben und klopfte kurz an die Türe. Keine Antwort. "June?", er wartete einen Moment. Wieder blieb es still. "Schön, dann nicht", murmelte er mehr zu sich selbst und ging ins Bad, um sich das angetrocknete Blut von den Armen zu waschen. June saß auf dem Boden in Tylers Ankleidezimmer und starrte auf die Türe. Sie war geflohen und hatte sich umgehend auf den Weg zurück zu Tylers Haus gemacht, nachdem Scott aus seinem Schlafzimmer verschwunden war. Das war wohl schon zwei bis drei Stunden her. Sie konnte es nicht mehr genau sagen, doch sie war froh, dass Tyler nun endlich wieder zu Hause war. Irgendwie. Es ging ihm gut und das bedeutete, dass es Scott nicht mehr all zu gut gehen konnte. Das hatte er verdient, dieser dreckige Mistkerl. Sie spürte wie die Wut und der Ekel wieder in ihr hochkamen. Nur ein paar Minuten hatten gefehlt und... Nein. Sie wollte überhaupt nicht darüber nachdenken. Alles war in Ordnung, nichts war geschehen. June atmete tief durch. Sie hörte, wie die Dusche im Nebenzimmer abgestellt wurde und wenig später konnte sie seine Schritte hören, die durchs Schlafzimmer führten. Eine Schranktüre wurde geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Das musste der kleine Schrank sein, welchen sie vor ein paar Stunden mit Tyler aus dem Ankleidezimmer getragen hatte. Sie konzentrierte sich weiter auf diese Banalitäten, bis es schließlich erneut an ihrer Türe klopfte. "Ich brauche was zum Anziehen", erklärte Tyler, als er nach äußerst knapper Wartezeit das Zimmer betrat und zu seinen Schränken ging. Er beachtete sie nicht weiter, bis er sich eine einfache Jogginghose und ein T-Shirt übergezogen hatte und in ihr entsetztes Gesicht schaute: "Was? Noch nie einen Mann in Unterwäsche gesehen?" Sie reagierte nicht. Tyler seufzte leicht genervt und fuhr fort: "Weshalb sitzt du überhaupt hier oben rum? Ist die Couch nicht bequem genug?" Wieder keine Antwort von June. Er gab auf. Sollte sie doch schmollen. Oder trotzen. Was auch immer es sein mochte, das ihr die Sprache verschlagen hatte. Es war nicht sein Problem. June hatte sich inzwischen erhoben. Sie lehnte schweigend an der Wand und beobachtete, wie Tyler wieder Richtung Ausgang ging. Sie hatte Hunger und er roch köstlich. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Jetzt oder nie. Sie stieß sich ab und überbrückte die kurze Distanz im Bruchteil einer Sekunde. Nur wenige Millimeter trennten sie noch von seinem verlockenden Hals, als Tyler einen Schritt zur Seite trat und June mit einem leichten Schlag auf ihren Rücken ins Leere laufen ließ. "Vergiss das mal ganz schnell", sagte er ruhig und teilte noch zwei halbherzige Ohrfeigen aus, da sie ihn noch immer gierig ansah. "Ich bin nicht dein Nachtmahl", erklärte er erstaunlich gelassen und musterte ihr verdutztes Gesicht, nachdem sie wieder zu Besinnung gekommen war, "Klar?" Sie sah ihn mit großen Augen an. Was war da eben in sie gefahren? Hatte sie wirklich vorgehabt Tyler anzugreifen? Ganz offensichtlich. "Ich eh... also das war...", June konnte sich das selbst nicht richtig erklären. Ihr Blick fiel auf seine Arme, welche noch immer von dünnen, roten Linien geziert wurden. Das leichte Schimmern des Blutes auf seiner Haut faszinierte June und je länger sie darüber nachdachte, desto reizender empfand sie diesen Anblick. "June!", Tylers Stimme drang unerwartet laut an ihr Ohr und sie blickte erschrocken wieder nach oben in sein Gesicht. Er sah sie ratlos an: "Ehrlich? Das bisschen lässt dich ausflippen?", er schüttelte den Kopf, "Kann ja wohl nicht wahr sein... Das ist praktisch gar nichts." "Tut mir Leid... Ich weiß auch nicht, was los ist", sie senkte ihren Blick und wand sich der Treppe zu, "Ich gehe dann wohl besser." Diesmal schwieg Tyler. Er sah ihr hinterher, wie sie die Stufen hinunterging und sagte kein Wort. Es war merkwürdig, dass June so stark auf das wenige Blut reagiert hatte. Die Schnitte an seinen Armen waren inzwischen schließlich fast wieder vollständig verheilt. Wenn man bedachte, wie tief sie zu Beginn gewesen waren, als Scott ihn-- Scott... Ja richtig. "June, sag mal", er kam ans Treppengeländer und sah zu ihr hinunter, als sie gerade die letzte Stufe verlassen hatte, "was genau hat Scott eigentlich mit dir getrieben?" Sie versteinerte. Daran wollte sie nicht mehr denken. "Nichts", sagte sie und löste sich aus ihrer Starre, um sich auf dem Sofa niederzulassen. Tyler ließ jedoch nicht locker: "Habt ihr nur gevögelt, oder hat er sich auch an deinem Blut bedient?" "Wie kommst du bitte darauf?!", sie klang zunehmend gereizt. Tyler verzog nachdenklich die Lippen. Das arme Mädchen hatte einfach überhaupt keine Ahnung. "Was meinst du wohl, wie ich darauf komme?", er atmete tief durch und bequemte sich dann ebenfalls hinunter ins Wohnzimmer, "Das ist seine Masche." "Masche?!", sie sah ihn entsetzt an, "Was soll das für eine Masche sein?!" Tyler hob den Zeigefinger: "Sag mir zuerst, ob er dein Blut getrunken hat." Sie nickte verhalten und Tyler seufzte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er die Wohnung. June machte es sich derzeit auf dem Sofa gemütlich und wartete auf seine Rückkehr. Es dauerte keine ganze Minute, bis er wieder zurück kam und in die Küche ging. Blutkonserven?! "Sagtest du nicht, du hättest keine mehr?", fragte June, als Tyler die beiden gefrorenen Beutel öffnete und deren Inhalt in einen ziemlich unbenutzt wirkende Küchenmixer steckte, um das Ganze zu zerkleinern. Tyler wartete mit seiner Antwort, bis die Maschine wieder still war: "Ja, das sagte ich", er füllte einen Teil des Inhalts in zwei Gläser und steckte je einen kleinen Löffel dazu, "War gelogen." "Toll", sie klang wenig verständnisvoll. "Als ob du immer ehrlich wärst", er warf ihr einen skeptischen Blick zu und drückte ihr schließlich eines der Gläser in die Hand, "Ich habe dir Eis gemacht, also entspann dich." June musterte das Glas in ihrer Hand. Es sah etwas merkwürdig aus, doch ihr neues Ich ließ sie nicht lange zögern und verspeiste das 'Eis' noch ehe Tyler sich den ersten Löffel genehmigen konnte. Er hatte fasziniert zugesehen, wie sie praktisch alles auf einmal verschlungen hatte und wies Richtung Küche: "Drüben ist noch mehr." Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie sprang vom Sofa und eilte davon. Erstaunlich wie wenig abartig ihr das alles vorkam. Blut in Eisform. Irgendwie recht appetitlich. "Hast du's dann?", Tyler stand noch immer mit seinem ersten und wohl auch einzigen Glas im Wohnzimmer und wartete darauf, dass June endlich zurückkommen würde. Sie hatte die Reste aus dem Mixer komplett alleine beseitigt und blinzelte ihn etwas verlegen an. "Ja...", gab sie leise von sich und begab sich wieder aufs Sofa. Es war ein wenig unangenehm, dass sie sich so von ihren Gelüsten hatte leiten lassen. Besonders, da Tyler das mitbekommen hatte. Es ließ sich nicht ändern, doch glücklicherweise ging er nicht näher darauf ein. Wohl aber auf ein weitaus abscheulicheres Thema: "Also, Scotts Masche", fing er an und June wollte das eigentlich schon längst nicht mehr wissen, doch Tyler schien einen gesprächigen Abend zu haben und ließ sich von ihren Blicken nicht aufhalten, "Er meint, dass er mich damit angreifen kann, wenn er dich fickt, weil du praktisch 'meins' bist", er deutete einhändige Anführungszeichen an, "und er dir dadurch seinen Stempel aufdrückt, wodurch ich wiederum tagein tagaus an seine unerschütterliche Dominanz erinnert werden soll", er zuckte leicht mit den Schultern, leerte den letzten Rest aus seinem Glas und stellte es auf den Wohnzimmertisch, "Das hat er schon immer so gemacht. Funktioniert aber nicht." "Wir hatten keinen Sex", stellte June die Sache richtig. Tyler sah sie erstaunt an: "Oh", er schmunzelte zufrieden, "Na dann." "Bringst du mir das bei?", June ließ ihm keine Zeit, sich ins Bett zu verabschieden. Er sah sie etwas irritiert an: "Und zwar was?" "Wie man sich verteidigt. Ich komme mir vor, als wäre ich noch genauso schwach wie als Mensch...", in ihren Blicken lag eine gewisse Unsicherheit und Tyler musste lachen. "Was hast du denn erwartet, wenn du dich mit Rivers anlegst?", er musterte ihre empörten Blicke, "Eine Kopfnuss und er fällt um? Das ist lächerlich. Der Kerl ist gute hundert Jahre älter als du und hat einiges mehr an Erfahrung. Ich kann dir vielleicht ein paar Kleinigkeiten beibringen, aber auch dann ist er immer noch ein Kerl und du ein Mädchen. Selbst wenn du etwas älter wärst, stünden deine Chancen immer noch ziemlich schlecht." Erneut hatte ihr irgendetwas die Stimme geraubt. Tyler betrachtete ihre geweiteten Augen: "Was ist jetzt schon wieder?" "Wie alt ist der Kerl?", kam es ziemlich verblüfft von ihr. Natürlich. Jetzt verstand Tyler, was June so aus der Fassung gebracht hatte. "134", antwortete er mit einem leichten Lächeln im Gesicht. "134?!", das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, "Dann ist er ja noch im 19. Jahrhundert geboren!" Tyler nickte: "15. Mai 1880, um genau zu sein." Fassungslos starrte sie ihn an. Sie hatte davon gehört, dass Vampire unsterblich waren, zumindest in den Hollywoodfilmen war das meistens der Fall, aber dass das wohl der Realität entsprach, war doch irgendwie mehr als verstörend. "Und du?", fragte June schließlich. "1886", antwortete er, "Ergo bin ich 128." "Scheiße, bist du alt", platzte es aus ihr heraus. Tyler schmunzelte nur, statt sich zu beschweren und fuhr fort: "Ich bin nicht alt. Nicht für einen Vampir. Soll ich dir sagen, wann Alexander geboren wurde?", sie nickte gespannt, "1570. Er geht schon auf die 500 zu." Junes Augen wären beinahe aus ihrem Gesicht gesprungen, als Tyler das sagte. "Da hat er sich aber gut gehalten", meinte sie halb scherzend, halb im Ernst. "Haha", gab Tyler trocken zurück, "Wir altern nicht." "Gar nicht?" "Gar nicht. Und das ist gut so. Stell dir vor du lebst ewig und irgendwann bestehst du nur noch aus Falten", er schüttelte leicht angewidert den Kopf, "Da müsste man sich zwangsweise irgendwann selbst umbringen." "Wegen der Eitelkeit?" "Ganz genau", er nickte zustimmend, "Wer sich's leisten kann, darf eitel sein und ich kenne keinen, der es nicht ist." June musterte ihn prüfend: "Da fällt mir ein, du hast mir noch immer nicht das Mysterium der Schönheit der Vampire erläutert. Letzes Mal sind wir vom Thema abgekommen." Tyler überlegte einen Augenblick, bis er sich wieder an die letzte Unterhaltung erinnerte: "Richtig. Das ist ganz schnell erklärt: Wenn du die Wahl und unendlich viel Zeit hast, suchst du dir dann eine schöne oder eine hässliche Visage, um dich täglich damit zu umgeben?" "Geht es bei sowas nicht vielmehr um den Charakter?" "Auch, aber tu mal nicht so scheinheilig. Charakter ist das eine, aber wenn dir die Fresse nicht gefällt, dann wirst du dich nicht drauf einlassen. Außerdem hat das auch etwas mit Prestige zu tun", führte er seine Erklärungen weiter aus. "Da frage ich mich wirklich, was Alexander dann an dir gefunden hat...", sie hob leicht die Brauen. "Wirst du schon wieder zickig?", er verschränkte die Arme vor der Brust, "Ich glaube nicht, dass ich mich hier in irgendeiner Form vor dir rechtfertigen muss, warum, weshalb und wieso ich unwiderstehlich bin. Wenn du's nicht einsehen willst: Gut. Dein Ding. Ich werde mir hier nicht den Mund fusselig reden, um dich von Tatsachen zu überzeugen, die mehr als offensichtlich sind", er winkte ab und ging hinüber zur Fensterfront am Balkon, um die Jalousie herunter zu lassen, "Ich werde schlafen gehen, bevor ich mich aufrege." "Aber ich wollte noch ein paar Fragen beantwortet haben", beschwerte sie sich, als Tyler die Treppe ansteuerte. "Pech", war seine knappe Antwort, bevor er nach oben ging und verschwand. Er hatte beschlossen, sich nicht mehr auf Junes Provokationen einzulassen und jegliches Gespräch unverzüglich abzubrechen, sobald sie sich wieder erdreistete, ihm mit irgendwelchen Sprüchen dumm zu kommen. Früher oder später würde sie schon merken, dass diese Art und Weise, wie sie mit ihm sprach, keine Früchte hervorbringen würde. June war perplex auf dem Sofa sitzen geblieben und hatte ihm nachgesehen. Dass er mitten in der Unterhaltung einfach das Weite suchte, war erstaunlich. "Du wolltest mir noch etwas über Vampir-Specials erzählen!", rief sie ihm hinterher, doch es blieb still. Auch als sie noch ein zweites und drittes Mal gerufen hatte, zeigte Tyler keine Reaktion. Dann würde sie ihn eben später fragen. Sicher war er wieder ansprechbarer, nachdem er geschlafen hatte. Er konnte schließlich nicht den ganzen nächsten Abend so schweigsam bleiben. Jedenfalls hoffte sie das, als sie die Bettdecke von der Sofalehne zog und sich hinlegte, um etwas Ruhe zu finden. Wobei Ruhe momentan eher ihr Feind, als ihr Freund war. Mit ihr brach auch Junes innere Unruhe über sie herein und diese war weit wenig entspannend. Zu viele Gedanken in zu kurzer Zeit. Es würde schon alles irgendwie gut werden. Das musste es einfach. — Noch sichtlich benommen hatte Megan sich inzwischen wieder in eine aufrechte Position gebracht. Es fühlte sich an, als würden voll beladene Güterzüge in ihrem Kopf im Kreis fahren und regelmäßig an der Schädelwand entlangschrammen. Sie hatte Mühe die Augen offen zu halten, doch wollte sie sich das Schlachtfeld ansehen, das Jacobs und seine Kollegen hier hinterlassen hatten. Scott hing leblos im Metallgestell seines Tisches. Offenbar hatte jemand ihm das Genick gebrochen. Sehr schön, das hatte sie sich selbst auch schon das eine oder andere Mal gedacht. Es stand ihm ausgezeichnet. Ihre Blicke glitten weiter durch den Raum und fanden Maya, die in einer beachtlichen Blutlache auf dem Boden lag. Auch das sah nicht sehr gesund aus. Allem Anschein nach war Megan die Einzige, die lebendig aus dieser Auseinandersetzung hervorgegangen war. Sie zog ihr schmerzendes Bein heran und wagte einen Versuch aufzustehen. Ein gebrochenes Schienbein eignete sich nicht besonders gut zum Laufen. Sie hinkte also einmal schräg durch den Raum und ließ sich neben Maya wieder auf den Boden sinken. Die anstrengendsten fünf Meter seit langer Zeit, doch Megan war froh, dass sie sie gegangen war. Eine lange Glasscherbe steckte quer im Hals ihrer Freundin und verhinderte jeglichen Heilungsprozess. Solche Bastarde! Vorsichtig entferne sie das störende Teil. "Schau mich nicht so an, ich kann nichts dafür", sagte sie leise und schloss Mayas vor Schreck aufgerissene Lider. Natürlich konnte Maya sie nicht hören, sie war tot. Jedenfalls vorübergehend, bis ihr Körper sich soweit geheilt hatte, dass Leben wieder möglich war. Auch Megan würde noch etwas Zeit benötigen, um wieder auf die Beine zu kommen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hievte sich mit all ihrer restlichen Kraft aufs Sofa und schloss die Augen. Die Züge in ihrem Schädel wollten noch immer keine Ruhe geben, doch sie wurden leiser, je drängender der Schlaf sie zu überkommen drohte. Es wurde ruhiger und Leichtigkeit empfing ihre schmerzenden Glieder, als sie endlich in einen komatös anmutenden Schlaf fiel, der keine Bewegung zuließ und ihre Verletzungen allmählich heilte. Zahlreiche Stunden vergingen, bis Megans Ohren wieder ihre Umgebungsgeräusche wahrnahmen. "Megan...", eine erstickte Stimme hatte die Buchstaben ihres Namens mühevoll aneinandergereiht. Sie klang heißer und war kaum zu erkennen, doch es konnte nur Mayas Stimme sein. Megan öffnete die Lider und wandte sich zur Seite. Auf halbem Weg zum Sofa hockte Maya. Sie hatte ihre schönen, dunklen Mandelaugen voller Verzweiflung auf ihre Freundin gerichtet und sah sie hilfesuchend an. Es bedurfte keiner Worte, damit Megan ihre Blicke deuten konnte. Maya hatte viel Blut verloren – ihr Shirt war voll davon und klebte festgetrocknet an ihrem Körper – sie musste tierischen Hunger haben, konnte in diesem Zustand aber unmöglich nach draußen. Selbst wenn, laut der Uhr, die an Scotts Wand hing, war es bereits früher Nachmittag und die Sonne hätte ihr sofort die Haut verbrannt. Megan erhob sich vorsichtig vom Sofa. Knochenbrüche bedurften einiger Zeit, um wieder vollständig zu heilen, manchmal sogar mehrere Tage. Megan bemühte sich, ihr rechtes Bein nicht all zu sehr zu belasten, als sie sich neben Maya auf den Boden setzte. "Du wirst dich noch etwas gedulden müssen, Süße", teilte sie ihr ruhig mit und pflückte die angeklebten Strähnen aus ihrem Gesicht. Maya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch mehr als ein unverständliches Krächzen brachte sie nicht hervor. Ihre Stimmbänder waren in Mitleidenschaft gezogen worden und ihr Hals schmerzte wie verrückt. "Du solltest dich noch ein wenig hinlegen", sagte Megan so beruhigend wie möglich, "Aber vorher sollten wir dich in die Dusche stecken, sonst frisst du dich am Ende noch selbst auf." Sie lächelte leicht. Natürlich würde Maya sich nicht selbst auffressen, doch auch das eigene Blut konnte einen verrückt machen, wenn man dringend etwas zu sich nehmen wollte und sie verspürte große Dringlichkeit. "Komm hoch", Megan war wieder aufgestanden und hielt ihr beide Hände hin. Maya musterte sie unsicher. Sie zögerte einen Moment, dann griff sie zu und ließ sich von Megan auf die Beine ziehen. Wackelig und zitternd stand sie da. Der Weg ins Badezimmer schien endlos und ihre Knie waren so unkontrollierbar weich, dass jeder ihrer Schritte von ihrer Freundin gestützt werden musste. Megan setzte sie auf der Toilette ab, als sie endlich im Bad angekommen waren und öffnete den Wasserhahn der Badewanne. An eine schnelle Dusche war momentan wohl kaum zu denken. Sie seufzte leise, während sie beobachtete, wie das Wasser eilig in die Wanne stürzte. Es stieg rasch an und allmählich bemerkte sie, wie auch die Wut sich mehr und mehr in ihr aufbaute. Auf Aaron, der ihr das Bein gebrochen hatte, auf Cathlyn, die so übertrieben auf Maya losgegangen war und auch auf Tyler, weil er die beiden überhaupt erst hierhergebracht hatte. Doch am allermeisten verabscheute sie Scott dafür, dass er diese Prügelei überhaupt provoziert hatte. Er dachte einfach nicht nach, wenn es um Jacobs ging. Sie stellte das Wasser ab. "Okay, das sollte genügen. Bist du dann soweit?", sie drehte sich wieder zu Maya um, die mit geschlossenen Augen an den kühlen Fliesen lehnte und sich nicht rührte, "Maya?" Ihr blutverschmiertes Gesicht zuckte leicht und sie blinzelte Megan müde an, als sie ihren Namen vernahm. "Worauf wartest du noch?", Megan musterte die zugegebenermaßen recht hilflos wirkende Frau, "Jetzt reiß dich mal zusammen!" Sie kam zu ihr zurück und zog leise fluchend das vollgesogene Top über Mayas Kopf. "Du kannst von Glück sagen, dass ich eine gute Kinderstube genossen habe", erklärte Megan etwas mürrisch und öffnete den Reißverschluss an Mayas Rock, um ihr diesen von den Beinen zu streifen, "Für gewöhnlich bin ich nämlich niemandes Dienstmädchen." Sie war nicht gerade zimperlich, als sie Maya ihrer Kleidung entledigte, doch die schien das ohnehin nicht zu kümmern. Maya hatte andere Probleme, welche ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Sie ließ sich protestlos entkleiden und hatte den Blick starr auf Megans Gesicht gerichtet, welche nachdenklich die Flecken auf Mayas Haut betrachtete. "Sieht nach einer ordentlichen Rippenprellung aus", sie wandte ihre Blicke wieder nach oben, stand auf und packte Maya am Arm, um sie erneut hochzuziehen. Etwas mühevoll verfrachtete sie Mayas zunehmend lethargischen Körper in die Badewanne. Sie atmete tief durch, als ihre Freundin endlich im warmen Wasser lag und kniete sich neben die geflieste Außenwand der Wanne. "Sobald Scott wieder aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist, werde ich ihm sagen, dass das so nicht geht", erklärte sie ruhig und ohne zu wissen, ob Maya überhaupt noch wahrnahm, was sie sagte, "Das ist eine Sache zwischen ihm und Jacobs und er zieht uns einfach so mit hinein. Ich finde, das muss aufhören." Auf Mayas zitternden Lippen zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. Megan atmete erleichtert aus. Scheinbar war sie zumindest noch aufnahmefähig. "Ich sehe das jetzt mal als Zustimmung", merkte sie schmunzelnd an und beugte sich über die Wanne, um einen Schwamm zu angeln. Sie berührte ihn mit den Fingerspitzen, als ihre Hand am nassen Wannenrand nach unten ins Wasser rutschte. Ein schmerzvolles Keuchen hallte von den Fliesen wider und sie spürte Mayas scharfe Zähne in ihrem Hals. "Fuck! Maya! Was soll der Scheiß?!", sie fluchte laut und stemmte sich wieder nach oben. Maya hatte noch immer beide Arme fest um sie geschlungen und ließ sich ein Stück aus dem Wasser ziehen. Ihre Lippen hingen weiter gierig an Megans blutendem Hals, als diese ohne weitere Worte des Missfallens ihre Situation akzeptierte. Megan seufzte entnervt , machte jedoch keine weiteren Anstalten diesen Überfall zu unterbinden. Sie verharrte geduldig in gebeugter Haltung über der Wanne und beobachtete die Wassertropfen, die von Mayas Haaren über ihren Rücken wieder zurück nach unten liefen. Es war weder verwunderlich, noch konnte man Maya dafür einen Vorwurf machen. Die ganze Zeit musste sie schon mit sich gekämpft haben und irgendwann vermochte selbst der kontrollierteste Vampir das Verlangen nicht länger zu unterdrücken. "Genug jetzt", sagte Megan trocken und musste etwas nachhelfen, um Maya von sich zu lösen. Sie drückte sie einige Sekunden unter Wasser, bevor sie aufstand und ihr den Schwamm ins Gesicht warf: "Wasch dich ab und dann geh schlafen. Ich bin draußen." Gerne hätte Maya noch etwas gesagt, doch ihre Stimme war noch nicht zurückgekehrt. Megan hatte Recht. Sie musste sich jetzt ausruhen und ausgiebig erholen, alles Andere hatte keine Priorität. Draußen hatte sich Megan inzwischen daran gemacht, Scott aus seinem Gitterkäfig zu bergen. Er würde sich sonst nur aufregen, wenn er aufwachte und noch immer so schief in diesem Trümmerfeld lag. Da Megan jedoch eine vernünftige Unterhaltung anstrebte, war es klüger Scott nicht zu verärgern. So legte sie ihn einigermaßen ordentlich auf dem zweiten Sofa ab, bevor sie selbst wieder ersteres in Beschlag nahm. Was tat man nicht alles für ein bisschen vernünftige Gesprächsgrundlage? Als Maya einige Minuten später das Badezimmer verließ, um sich auf den Weg in Scotts Schlafzimmer zu machen, war Megan bereits zurück ins Land der Träume entschwunden und Scott hatte endlich wieder zu atmen begonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)