Finera - Dawn of the Dark von Kalliope ================================================================================ Kapitel 37: Fernsehen für Anfänger ---------------------------------- 21. November Rain Rain stieß einen lautlosen Seufzer aus, als die roten Lämpchen an den Kameras erloschen und die Pressekonferenz von Mai Technologies, die live im Fernsehen übertragen worden war, zu Ende ging. Milenas freundliches, gewinnendes Lächeln war ihrer stets ausdruckslosen Miene gewichen und sie sortierte die Aufzeichnungen vorne am Rednerpult. Im Publikum saß die Pressesprecherin des Konzerns und klatschte, gemeinsam mit ihren beiden Assistenten, noch immer begeistert Beifall. „Milena, das war grandios! Die Betonung, die Mimik, die Gestik, einfach per-fekt. Sie sind ein solches Naturtalent!“ Milena Mai würdigte sie kaum eines Blickes und packte stattdessen alle Notizen zurück in eine Aktentasche, die ihr sogleich von einem der anderen Forscher abgenommen wurde. „Priscilla, sparen Sie sich ihr Lob.“ Nun wanderte Milenas Blick endlich zu der enthusiastischen Pressesprecherin, drückte aber mehr Abneigung als Begeisterung für die Schmeicheleien aus. „Lektion 1: Fernsehen für Anfänger. Es war lediglich ein Verkaufsgespräch, mehr nicht. Die Leute schalten ein, um das zu hören zu bekommen, was sie auch hören wollen. Wir liefern ihnen modernste Technik, Innovationen und das Gefühl von Sicherheit.“ Priscilla nickte eifrig und ihre Assistenten machten sich Notizen, während alle drei Milena aus dem Raum folgten. Noch einmal seufzte Rain, dieses Mal allerdings nicht lautlos. Milena hatte so sachlich geklungen, so vollkommen war ihr kurzer Vortrag über die erfolgreichen Beta-Versionen der neuen Heilmaschinen, dass selbst bei Rain alle Zweifel an dem Produkt verschwunden waren, obwohl sie – genau wie einige andere Forscher – mitbekommen hatte, dass es zu Störungen im Betrieb gekommen war, wenn die Pokémon zu hohe Level hatten. Ob Milena wirklich alles behoben hatte? Bei Arceus, wo kamen diese Zweifel auf einmal her? Camille hatte ihr schon den Kopf verdreht mit ihrer Skepsis. Natürlich hatte Milena alles repariert, die Fehler gefunden und ausgebessert. Andernfalls hätte sie die Heilmaschinen niemals zur landesweiten Testung zugelassen. Selbst in ihren Team-Dark-Zeiten war Milena gewissenhaft vorgegangen. Sie hatte damals fehlgeleitete Ziele und Wege gehabt, aber sie war immer eine exzellente Wissenschaftlerin gewesen, daran bestand kein Zweifel. „Hey, Rain, kommst du mit?“ Sie blinzelte und drehte sich um. Neben ihr standen zwei der jüngeren Forscher, die gerade erst ihr Studium beendet hatten und direkt aus dem Hörsaal von Mai Technologies abgeworben worden waren. „Wohin geht es denn?“ Die beiden waren die einzigen, die halbwegs in ihrem Alter waren und trotz ihrer ausgezeichneten Noten im Studium Reagenzgläser putzen mussten, so wie Rain auch. Aus diesem Grund verstand sie sich mit den beiden am besten und hatte bei ihnen nicht das Gefühl, dass sie hinter ihrem Rücken tratschten, welches besondere Interesse Milena an ihr hatte. Dass die älteren Forscher ihr zum Teil missgünstig gegenüber standen, war ein offenes Geheimnis, doch niemand wagte es Milena direkt danach zu fragen. Hans, der größere von beiden, zuckte lächelnd mit den Schultern. Er war schlank, beinahe schlaksig, hatte kurzes, hellblondes Haar und wirkte in seinem etwas zu weiten Laborkittel wie ein Schuljunge. „Wir wollten noch eine kurze Runde auf dem Sportplatz drehen. Unser letzter Übungskampf ist auch schon eine ganze Weile her. Komm doch mit.“ Der andere Forscher, Werner, nickte begeistert und grinste sein breites Sonnyboy-Grinsen. Trotz der Arbeit im Labor war er braun gebrannt und wirkte mit seiner Glatze und der Statur eines Bodybuilders irgendwie fehl am Platz. Er war einen Kopf kleiner als Hans, doch entgegen jeglicher Vorurteile hatte er ein sanftes Gemüt und Hände von der Zartheit purer Seide. Rain hatte ihn schon länger nach seiner Handcreme fragen wollen. „Lektrobal und Ohrdoch freuen sich bestimmt, wenn sie wieder gegen Ninja antreten dürfen.“ „Ich weiß nicht so ganz.“ Rain drehte eine ihrer dunkelgrünen Haarsträhnen zwischen Zeigefinger und Daumen. Früher waren ihre Haare nie länger als bis zum Kinn gewesen, mittlerweile gingen sie ihr fast bis zur Schulter. Die Wahrheit war, dass sie Ninja noch immer keine Befehle geben konnte, denn ihr Pokémon hatte seit seiner erzwungenen Entwicklung das Vertrauen in sie verloren. Als hätte Werner ihre Zweifel erraten, gab er ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. „Na komm schon. Es wird nicht besser, wenn du Ninja keine Chance gibst.“ „Also gut.“ Rain rang sich ein Lächeln ab und gemeinsam gingen sie zu den Umkleidekabinen. Nachdem sie die Laborkittel und weiße Kleidung, die an Krankenhäuser erinnerte, abgelegt und ihre normale Kleidung angezogen hatten, trafen sie sich am Fahrstuhl und es ging abwärts. Glücklicherweise hatten Hans und Werner sie erst nach Froxys Entwicklung zu Quajutsu zum ersten Mal zum Training eingeladen, deshalb wussten sie nichts von der ganzen Geschichte. Für sie war Rain einfach nur eine Trainerin, die keine Kontrolle über ihr voll entwickeltes Pokémon hatte, das in ihren Augen nicht mit voller Kraft kämpfte. Wenn sie nur wüssten, dass Ninja sein Bestes gab, aber eigentlich einen zu geringen Level für ein Quajutsu hatte. Unweit des Geländes gab es eine Schule, deren Sportplatz nach Schulschluss der Öffentlichkeit zur Verfügung stand. Hans entließ sein Lektrobal, das begeistert im Kreis rollte, und Werner schickte sein Ohrdoch zu einem Dauerlauf, dem er sich nach der ersten Runde anschloss. Ganz so viel Sportgeist besaß Rain nicht, weshalb sie sich darauf beschränkte Ninja aus seinem Pokéball zu entlassen und zuzusehen, wie es mit Lektrobal Fangen spielte, wobei beide Pokémon in einen spielerischen Kampf verfielen und sich gegenseitig mit ihren Attacken neckten. „Du solltest dich mehr mit ihm beschäftigen, Rain.“ „Ich weiß, aber wie soll ich das machen? Zwischen der ganzen Arbeit, dem Putzdienst im Labor und der wenigen Freizeit weiß ich nicht, wann ich das auch noch machen soll.“ Hans lächelte wissend. „Ist nicht einfach mit einem Pokémon, das weiß ich. Lektrobal hat sich nur entwickelt, weil ich mir jeden Tag wenigstens eine Viertelstunde Zeit für es nehme. Versuch das doch auch. Ihr müsst ja nicht gleich kämpfen, aber du könntest Ninja erzählen, wie dein Tag war, dann esst ihr gemeinsam in deinem Zimmer und gut ist. Vertrauen baut sich nicht von selbst auf, da musst du schon was für tun.“ „Ich weiß.“ Einen Moment schwieg Hans, dann kratzte er sich verlegen am Hinterkopf. „Weißt du, als Milena dich einfach ins Team geholt hat, haben wir uns alle gefragt, ob du so eine Art Wunderkind bist. Du bist erst sechzehn und sie gewährt dir freie Kost und Logis und lässt dich in ihrer Spitzenforschergruppe mitarbeiten. Als wir dann rausgefunden haben, dass du die Tochter von Faith Loraire bist, verstanden wir alle nur noch Bahnhof. Ist nicht böse gemeint, aber Werner und ich verstehen bis heute nicht, warum Milena ausgerechnet dich genommen hat. Jeden Tag bewerben sich mindestens ein Dutzend Leute für ein Praktikum, aber dich hat sie vom Fleck weg engagiert.“ Rain senkte ihren Blick. „Ich weiß es auch nicht genau. Vielleicht möchte sie mir zeigen, dass sie kein schlechter Mensch ist, so wie meine Mutter sie damals vor der ganzen Welt präsentiert hat.“ Hans nickte schwach. „Jeder von uns kennt natürlich die ganze Geschichte mit Team Dark. Milena war jung und ihr Genie ist auf den falschen Weg gekommen. Kann schon sein, dass das jetzt eine persönliche Sache zwischen ihr, deiner Mutter und dir ist. Aber ist auch eigentlich egal. Jetzt gehörst du zu uns.“ Grinsend stupste er Rain an. „Und wer weiß, vielleicht vollbringen wir zusammen etwas ganz Großes.“ „Das wäre schön.“ Ihr gefiel der Gedanke, dass sie Teil von etwas Bedeutendem werden konnte – etwas, das die Welt wirklich zu einem besseren Ort machte, so wie Milena es sich schon immer gewünscht hatte. Die Arbeit im Labor verlangte ihr viel ab und oft las sie nach Feierabend noch zwei oder drei Stunden in den Fachbüchern, um sich weiterzubilden und zu verstehen, was genau die Forscher eigentlich machten. Es war schwer und manchmal verzweifelte sie fast, musste sich alles von Hans und Werner erklären lassen, aber es machte ihr Spaß. Trotzdem hatte Hans Recht, wenn er sagte, dass sie sich mehr im Ninja kümmern musste. Ninja war noch immer ihr Pokémon und es war ihre Verantwortung, dass es Ninja gut ging. In diesem Moment fasste Rain einen Entschluss. Gleich morgen würde sie das Training mit Ninja wieder aufnehmen und sie würde nicht aufgeben, bis das Vertrauen zwischen ihnen wieder hergestellt war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)