Tagebücher von Leira ================================================================================ Teil II: Tagebücher - Die Geschichte von Conan Edogawa ------------------------------------------------------ Hallo! Zuerst einmal möchte ich mich ganz, ganz herzlich für eure Kommentare zum letzten Kapitel bedanken! *freu* Die 100 wurden überschritten... *staun* Ganz ehrlich, damit hatte ich nicht gerechnet. *Kuchenverteil* Dankesehr!!! *verneig* Ehrlich, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr mich das freut...! Nun zu einer kleinen Erklärung des weiteren Ablaufs; Es wird ab diesem Kapitel jeweils ein Kapitel der Gegenwart (mit Sayuri) sich abwechseln mit einem Kapitel der Vergangenheit (mit Shinichi). So wird das laufen bis zum Ende... und ganz zum Schluss folgt dann der Epilog. Und begonnen wird mit Shinichis erstem Eintrag und den Fragen seines Töchterleins; ich wünsche gute Unterhaltung, liebe Grüße, Eure Leira :) _______________________________________________________________________ Teil 2: Tagebücher Kapitel 1: Die Geschichte von Conan Edogawa Heute Sayuri saß immer noch auf dem Boden, schluckte. Ihr Vater war also tot. Gestorben, bevor sie die Chance gekriegt hatte, ihn kennen zu lernen; und weil er gewusst hatte, dass er sterben würde… und anscheinend nicht nur ihrer Mutter und ihren Großeltern überlassen wollte, ihr von ihm zu erzählen… hatte er diese Bücher geschrieben. Sie ließ die Seiten durch die Finger gleiten. Viele, viele, dicht beschriebene Seiten; ein ganzer Karton voller Notizbücher. Er hatte seine Sache gründlich gemacht. Ein sehr mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit, als sie umblätterte… und anfing, den ersten Eintrag der Tagebücher zu lesen. 14.07.1993 Hallo… Heute fange ich also an, diese Aufzeichnungen für dich zu schreiben. Ich muss gestehen, es ist ein wenig seltsam, und wundere dich bitte nicht über… komische Sätze oder so. Es ist ein wenig ungewöhnlich, etwas zu schreiben, an jemanden… den man nicht wirklich kennt. Du bist nämlich gerade erst drei Wochen alt; also… wirklich drei Wochen alt. Noch nicht mehr als ein Haufen kleiner Zellen… wenn’s überhaupt schon soweit ist, ich bin weder Arzt noch Biologe… Ich bin… dein Vater. Und ich schreibe das hier, weil ich heute erfahren hab, dass es dich geben wird… Ich muss jetzt wohl so ehrlich sein, dir zu sagen, dass ich eigentlich gegen dich war... aus gegebenen Gründen... Deine Mutter hat sich durchgesetzt. Sie bewies in dieser Sache wohl den größeren Dickkopf. Versteh mich bitte nicht falsch - ich freue mich über dich, dass du existierst. Dass du leben wirst. Das, was mich ein wenig oder besser… ein wenig sehr… traurig macht, weswegen ich eigentlich kein Kind wollte, ist, dass ich bald nicht mehr sein werde. Wahrscheinlich werde ich dich nie zu Gesicht bekommen, weil ich… sterben werde, bevor du da bist. Ich wollte deine Mutter einfach nicht mit so etwas Großem wie der Verantwortung für ein Kind alleine lassen… ich wollte, dass sie es einfach hat... sie hat es jetzt schon schwer genug mit mir. Und ich wollte nicht noch eine Person haben… von der ich mich verabschieden muss. Nun - das Thema wäre allerdings hiermit durch; du wirst kommen, soviel steht fest. Und irgendwie freue ich mich wirklich. Sooo... damit du weißt, wer ich war, will ich dir in diesen Büchern (ich denke, eins wird nicht reichen) erzählen, wer ich bin. Was ich mache. Was mir wichtig ist. Was ich dir gern beibringen würde… Alles das, was ich getan hätte, wäre mir ein wenig mehr Zeit vergönnt. Ich finde einfach, du musst erfahren, warum du… der oder die du nun diese Zeilen liest… mich nie kennen gelernt hast. Du hast ein Recht darauf es zu wissen. Und ich… ich will mich auch gleich entschuldigen, für alles… für alles, was durch meine Abwesenheit schwerer ist für dich. Ich bin zum Teil selber Schuld, dass ich für dich nicht da sein kann… und deswegen… entschuldige ich mich… in aller Form und aus tiefsten Herzen. Es tut mir unendlich Leid… für dich. Und für mich auch… So- nun. Aber am besten stelle ich mich an dieser Stelle einmal vor - mein Name ist Shinichi Kudô, 24 Jahre alt. Was gibt’s noch… 1,80 groß, blaue Augen, braune Haare, Blutgruppe B… interessiert dich das eigentlich? Ich hoffe, ich langweile dich nicht, aber ich bin so was nicht gewohnt. Der Schriftsteller in der Familie ist mein Vater, also dein Opa… *g* Opa… der wird sich aber alt vorkommen, jetzt… :) Nun… weiter im Text. Ich bin von Beruf Detektiv, schon ziemlich lange. Seit… ich fünfzehn war. Und auch wenn es geschwollen klingt, es ist nicht nur mein Job, es ist meine Berufung… aber dieser Berufung ist es wohl auch zu verdanken, dass das hier passieren muss. Insofern muss ich dich wohl hiermit gleich warnen, in dem ich dir abrate, diesen Beruf zu ergreifen. Bitte, mach das nicht. Such dir einen anderen Beruf, ich kann es dir nur raten… Aber weiter. Da ich denke, ich bin dir schuldig, dir zu sagen, warum ich nicht für dich da sein kann, werde ich also diesen ersten Eintrag einem Jungen namens Conan Edogawa widmen… Conan Edogawa war Grundschüler. Manche bezeichneten ihn als eine Landplage, oder eine Nervensäge; das ist eine rein subjektive Einschätzung. Fakt ist, er war Brillenträger, für sein Alter fast schon verboten schlau und gebildet, und viele hielten ihn eigentlich für ein süßes Kerlchen. Ich nicht. Und das hatte einen Grund. Conan Edogawa war meine zweite Identität. Er schlich sich einfach so ungefragt in mein Leben, als ich 16 Jahre alt war… und blieb für etwas längere Zeit. Du wirst dir jetzt denken, mit mir geht’s schneller bergab als ich denke, weil ich dir hiermit sagen will, dass ein Grundschüler 16 Jahre alt sein kann - und es nicht an seinem Intelligenzquotienten liegt, dass dieser Sechzehnjährige noch in der Grundschule ist … Nein, das ist leider die Wahrheit. Und wie es dazu kommt, dass ein Sechzehnjähriger zu einem Sechsjährigen mutieren kann, und inwieweit das mit meinem… frühen… Tod… zu tun hat… dazu komme ich jetzt. Es fing damit an, als ich mit deiner Mutter ein Date hatte. Ich hatte es ihr versprochen, dafür, dass sie die Karatestadtmeisterschaften gewonnen hat. Wir kannten uns da schon seit Jahren, musst du wissen… wir waren wohl das, was man Sandkastenfreunde nennt… wir haben uns irgendwie schon früh gefunden… waren aber auch reichlich blind, zu blind, um nicht schon viel früher zu sehen, was wir wirklich für einander waren. Auf alle Fälle… waren wir da aber nur ‚befreundet’. Wir waren noch kein Paar, das war es, was die Sache so spannend machte; denn ich war damals schon… verliebt in sie. Sagen konnte ich ihr das aber damals noch nicht, auch wenn ich’s versucht hab. Bin kläglich gescheitert. Nun… wir hatten also ein Date. In einem Vergnügungspark, dem Tropical Land. Ich weiß nicht, welches Jahr haben wir in deiner Zeit? Gibt’s das noch? Oder hat man es schon abgerissen? Aber ich schweife schon wieder ab. Wir haben uns also einen schönen Abend gemacht, ohne beziehungstechnisch auch nur einen winzigen Schritt weitergekommen zu sein, als in der Achterbahn ein Mord passierte. Ja… ein grausiger Fall war das. Es ging um einen mit einer Klavierseite geköpften… nein, ich erspar dir das. Nun, während ich diesen Fall also löste, also der Polizei half, ihn zu lösen... da fielen mir zwei verdächtige Gestalten auf. Zwei Männer, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Sie waren nicht diejenigen, die den Mord begangen hatten, aber ich konnte ihnen ansehen… dass auch sie schon getötet hatten. Menschen getötet hatten. Als der Fall dann geklärt war, und Ran und ich schon auf dem Rückweg waren… da fiel mir einer von ihnen ins Auge; und weil er sich seltsam verdächtig verhielt, beschloss ich, ihm zu folgen. Ein Entschluss, der, wie sich herausstellen sollte… der größte Fehler meines Lebens war. Der Fehler… der mich mein Leben kosten wird. Ich lief ihm also hinterher… hinters Riesenrad, um genau zu sein. Wenn es noch steht, kannst du ja Katastrophentourismus betreiben, sollte es dich interessieren. Dort beobachtete ich ihn, wie er mit einem anderen Mann illegale Geschäfte abschloss; es ging um Waffenschmuggel und dergleichen. Und ich war… war so beschäftigt damit, ihn zu beobachten… dass ich seinen Partner nicht bemerkte. Erst als er mir von hinten eins übergebraten hat. Tja. Ich hab mich wirklich sehr schlau angestellt. Nun… war ich also entdeckt worden. Ein ungebetener Zeuge… und den gedachten sie loszuwerden. Weil aber vom vorangehenden Fall noch zuviel Polizei auf dem Rummelplatz herumfleuchte, konnten sie mich nicht erschießen. Der Knall hätte die Beamten zu schnell herbeigelockt. Also verabreichten sie mir ein Gift. Ein… Zellgift. Es hätte mich töten sollen, aber das hat es nicht getan… stattdessen hat es mich verjüngt, in der Zeit zurückgeworfen um zehn Jahre. Es war… war nun klar, dass ich mich versteckt halten musste, denn wenn sie erfahren hätten, dass ich noch lebte, hätten sie mich, und wahrscheinlich auch die, die mir Nahe standen, umgebracht. Also legte ich mir auf Rat von Professor Agasa (lebt der noch? Ich hoffe doch...) eine andere Identität zu… die von Conan Edogawa. Ebenfalls einem Ratschlag des Professors folgend… zog ich bei Ran ein, deren Vater eine Detektei führte… die nicht ganz so gut ging. Aber wir hofften, auf diesem Wege möglichst schnell an Informationen über die Männer in schwarz zu bekommen. Wie du dir denken kannst, hab ich deiner Mutter nicht meine wahre Identität preisgegeben. Shinichi war verschwunden, offiziell an einem Fall beschäftigt, inoffiziell tot und wer zurückblieb… war der süße, kleine Hosenscheißer Conan. Und so vergingen Jahre, in denen ich sie anlog… und das hat mich einiges gekostet, das kann ich dir sagen. Ich wollte sie nicht anlügen. Und ich… ich kann mich glücklich schätzen, wirklich glücklich… dass sie mir verziehen hat. Nun… im Laufe meiner Jahre als Grundschüler Conan hab ich noch jemanden kennen gelernt; Shiho Miyano. Wenn sie noch irgendwo in der Nähe ist, kannst du dich ja mal mit ihr unterhalten, sie wird dir das mit dem Gift um einiges plausibler erklären können, als ich es kann. Nun… sie war ebenfalls verjüngt worden (aus Gründen, die ich zwar weiß, aber aus Respekt vor ihrer Person hier nicht nennen will), war noch dazu ein Ex-Mitglied und Forscherin in der Organisation gewesen, hatte sogar das Gift, dass mich und sie geschrumpft hatte, entscheidend weiterentwickelt; und schloss sich mir an. Zusammen kämpften wir also gegen die Schwarze Organisation, und es gelang uns, nach Jahren, sie zu zerstören, und Shiho gelang es, ein Gegengift zu entwickeln. So also erlangte ich meinen alten Körper wieder. Nur hat… nur hat die Sache einen Haken. Ich war… ich war zu lange Kind. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, erst Jahre nach der Rückverwandlung… und wie man mir erklärt hat, ist es nun das Gift, das seine Bestimmung doch noch erfüllt. Es wird mich umbringen. Das Gegengift verhindert, dass ich wieder klein werde, aber gegen… gegen die Zerstörung, die das Gift anrichtet, kann man leider nichts mehr machen. Deswegen also… sitze ich nun hier und muss dir das alles schreiben, und kann nur drauf hoffen, dass du mir, erstens glaubst… und zweitens… mir irgendwann meinen Fehler, den ich an jenem Tag im Tropical Land gemacht habe, verzeihen kannst. Glaub mir... ich bezahle bitter dafür. Und es tut mir Leid, dass du auch einen Teil dieser Rechnung tragen musst, indem du ohne Vater aufwachsen musst. Es tut mir Leid. Sayuri blickte auf, blinzelte. Das Buch in ihrer Hand zitterte. Sie wusste nicht… wusste nicht, woran es lag… aber… ihr war fast übel. Sie hatte nur ein paar Seiten gelesen, aber diese wenigen Zeilen… hatten sie so sehr mitgenommen, sie so tief berührt … dass sie es körperlich spürte. Sie hatten eine Seite in ihr zum Klingen gebracht, die bis hierher stumm gewesen war. Hier schrieb der Mann, der ihr Vater war. Eigentlich hatte er sie nicht geplant in seinem Leben, nicht unter diesen Umständen, das gab er sogar zu… aber nun, da er nichts mehr dagegen tun konnte… wollte er sich noch so gut es ging… mit ihr auseinandersetzen. Sich ihr vorstellen. Damit sie wenigstens einen Eindruck von ihm persönlich hatte, wo sie sich schon nicht kennen lernen durften... Und immer wieder entschuldigte er sich… dafür dass er nicht da war… sich nicht um sie kümmern konnte. Ein paar Minuten saß sie einfach da, und alles was man hörte, war das Geräusch ihres Atems. Sie war aufgewühlt, und dementsprechend hob und senkte sich ihr Brustkorb heftiger als gewöhnlich. Was sie da gelesen hatte… er hatte so bereut… er hatte sie nicht allein lassen wollen, und ihre Mutter auch nicht. Er war erst vierundzwanzig Jahre alt gewesen, als ihn der Tod ereilt hatte. Und er hatte es gewusst… hatte gewusst, wann… Ein heiserer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Nur einer. Dann hatte sie sich wieder im Griff. Langsam klappte sie das Buch zu. Sie brannte zwar darauf, weiter zu lesen… aber sie musste das nun erst einmal sacken lassen. Zumal war die Geschichte seiner zweiten Identität ja auch wirklich… seltsam. Eigentlich recht unglaubwürdig; andererseits... welchen Grund hätte er gehabt, ihr so ein Märchen aufzutischen? Und dann kam ihr die Idee überhaupt. Warum sollte sie nicht seinen Ratschlag befolgen, und rüber gehen zu Tante Shiho und dem Professor? Nichts war leichter als das; sie lebten immer noch im Haus nebenan. Sie schnappte sich das Buch, lief aus ihrem Zimmer, rannte die Treppe hinunter. Ran hörte nur noch, wie sie die Tür zuschlug, hastete zum Fenster, atmete erleichtert auf, als sie sie auf dem Grundstück des Professors verschwinden sah. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie es für ihre Tochter sein musste und war froh, sie sicher im Haus des Professors zu wissen. Ran hatte keine Ahnung, was Shinichi geschrieben hatte. Er hatte niemanden jemals einen Blick in seine Bücher werfen lassen. Sie hatte auch nie gefragt, und irgendwann auch nicht mehr darüber nachgedacht. Sie schluckte schwer, ein leiser Seufzer entfloh ihrer Kehle. Sie würde abwarten müssen, wie ihre Tochter das alles aufnahm. Und wie ihr neugewonnenes Wissen ihr Familienleben veränderte; und das würde es; das würde es sicher. Sayuri klingelte Sturm. Unter ihrem Arm klemmte das Buch, auf ihrem Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck, aber in ihr - in ihr herrschte Chaos. Der Professor öffnete, lächelte herzlich, als er sah, wer ihn besuchte. „Sayuri, wie schön dich zu sehen. Wie geht’s dir…?“ Und dann bemerkte er das Buch unter ihrem Arm. Sein Blick wurde starr, seine Miene ernst. „Ich nehme an, du hast Fragen…?“, murmelte er. „Ja… an Sie und an… an Tante Shiho…“ Sie flüsterte den Namen nur. „Dann komm rein…“ Shiho saß am Wohnzimmertisch, trank Kaffee und las eine Arbeit eines ihrer Studenten. Sie war mittlerweile Dozentin an der Teitan Universität, lehrte Chemie und Mikrobiologie, war eine geachtete Koryphäe auf ihrem Gebiet. Gedankenverloren streckte sie die Hand aus, begann Ai, die auf einem Kissen neben ihr lag und schlief, das blaugrau getigerte Fell zu kraulen. Als die Katze anfing zu schnurren, schaute sie sie liebevoll an. Ai hätte eine alte Dame sein müssen, mittlerweile; aber sie hielt sich gut. Und es blieb Shihos Geheimnis, warum dem so war. Wenigstens etwas… etwas wollte sie sich bewahren. Sie wusste, es war falsch, und sie ahnte, er würde ihr Verhalten missbilligen… aber wenn sie ihn schon nicht hatte retten können, so wollte sie wenigstens das retten, was ihr von ihm geblieben war. Dann ging die Tür auf, und ihr Blick hob sich. Als sie Sayuri und das Buch sah, wurde sie bleich. Sie zog ihre Hand zurück und die Katze wachte auf, blinzelte, schaute ihre Herrin vorwurfsvoll an. Shiho hatte nur Augen für Sayuri. Für seine Tochter. Seine Tochter, die, wie es aussah… sich heute wohl zum ersten Mal auch als solche fühlte. „Setz… setz dich.“ Sie merkte, wie sie ihre Fassung langsam verlor. Über die Jahre hatte sie ihn verdrängt. Shinichi, Sayuris Vater, ihren besten Freund. Den Mann, der sie das Leben gelehrt hatte. Sie wollte ihn vergessen, vergessen, was sie ihm angetan hatte - ihm und seiner Familie. Sie wusste, das war nicht fair, nicht fair ihm gegenüber – er hatte verdient, dass man ihn nicht vergas, sich ein Leben lang an ihn erinnerte… aber sie schaffte das nicht. Es war zu grausam. Er war gestorben, und sie… sie war am Leben. Immer noch. Sie versuchte, die Erinnerung an ihn auf einen Namen zu beschränken. Buchstaben. Buchstaben taten nicht so weh. Bevor Sayuri auch nur einen Ton sagen konnte, fing sie an. „Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dafür, dass du diesen fantastischen Menschen, deinen Vater, niemals kennen lernen durftest - dann gib sie mir. Bitte. Er hat… er hat mich nie beschuldigt, deine Mutter auch nicht - aber ich bin es. Schuldig. Zumindest teilweise. Und es wäre - es wäre dein gutes Recht, wenn du… wenn du mir die Schuld gibst. Wenn du mich nun hasst…“ Sie wandte ruckartig den Kopf ab. Sayuri erblasste. Langsam dämmerte ihr, dass wohl alles, was auf den wenigen Seiten, die sie gelesen hatte… tatsächlich der Wahrheit entsprach. Shihos Verhalten ließ keinen anderen Schluss zu. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein… deswegen bin ich nicht hier… ich bin nicht auf der Suche nach einem Sündenbock...“ Shiho schluckte. „Du willst wissen, warum…“ Das Mädchen nickte. „Ja… Wie… warum ist das passiert, Tante Shiho…?“ Eine Träne rollte über ihre Wange. „Er schreibt hier…“ Sie öffnete das Buch, setzte sich neben die blonde Frau. Agasa setzte sich in den Stuhl neben ihnen, schluckte, starrte auf die Schrift. Shinichis Handschrift. Er blickte auf, schaute in Shihos Gesicht. Ihr schien es ähnlich zu gehen wie ihm; ihr war auch noch das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht gewichen, strich mit zitternden Fingern, kurz, ganz kurz, über die eng aneinander gereihten Schriftzeichen, bis Sayuri das Buch ein wenig wegzog. Sie wollte nicht, dass sie es las. Es war ihrs. „Er schreibt hier, er hätte… zwei Männer in Schwarz verfolgt, mit sechzehn. Die versucht haben, ihn umzubringen, mit einem Gift. Einem Zellgift, das tödlich wäre... ihn aber verjüngt hat. Und er sagte… in der Zeit als…“, sie suchte den Namen, „als Conan Edogawa hätte er dich kennen gelernt, und du wärst auch ein Kind gewesen. Wie… wie… ich meine… ich hoffe… ich will nicht glauben, dass er sich so eine Geschichte zusammenphantasiert…“ Sie versuchte, ernst zu klingen, obwohl sie diese Stelle in seinen Aufzeichnungen noch immer zu unglaublich fand, als dass sie sie einfach so für bare Münze nehmen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie anlog, welchen Grund konnte er haben, gehabt haben, ihr ein Märchen aufzutischen, noch dazu ein so makaberes; aber sie konnte es einfach nicht verstehen. Es sich nicht erklären. Sie konnte es nicht glauben, weil sie keinen Beweis dafür hatte. Shiho nickte langsam. „Sayuri… du kannst ihm glauben. Du solltest ihm glauben. Alles, was er sagt, ist wahr. Und ich bin mir sicher, er wird dich in all seinen Bücher nicht anlügen. Shinichi… hat das Lügen verabscheut. Er hat nur einmal, ein einziges Mal, in seinem Leben gelogen… und da war er nicht er selbst, sondern eben Conan, und das ließ ihm keine andere Wahl. Er hatte Angst um Ran, Angst um alle die er liebte, deshalb hat er nie etwas gesagt, sie alle getäuscht. Er hat diese Rolle gespielt, zur Perfektion gebracht, eine einzige Lüge gelebt. Nun… also… ja, es stimmt. Ich war auch ein Kind. Ich lernte ihn kennen, weil ich ihn gesucht hab. Ich war… Mitglied dieser Organisation, war an der Forschung an dem Gift beteiligt, das ihn letztendlich…“ Sie merkte, wie ihre Lippen zu zittern, ihre Augen zu brennen anfingen. Die Erinnerung an ihn… an die Tage damals… brach in ihr alte Wunden wieder auf, setzte ihr mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Sie hob Ai von ihrem Kissen, drückte sie in stummer Verzweiflung an sich. „Aber ein Kind! Geschrumpft! Ich meine…!“, brauch es aus Sayuri hervor. Shiho schüttelte langsam den Kopf. „Ich hab das Gift mitentwickelt. Glaub mir, es existierte. Als man meine Schwester, die auch für die Organisation arbeitete, umgebracht hatte, weigerte ich mich, mit meiner Arbeit fort zu fahren. Daraufhin hat man mich… gefangen genommen und eingesperrt, bis man wüsste, was man mit mir anstellen sollte. Und… nun… ich sah ohnehin keinen Sinn im Leben mehr… nach dem Tod des einzigen Menschen, der mir bis dahin etwas bedeutet hatte… Nach Akemis Tod…“ Sie hielt kurz inne, holte Luft. „Ich nahm mein Gift, von dem ich eine Kapsel in meiner Kitteltasche hatte, selbst. Ich schluckte es in der Hoffnung, dass es mir einen schnellen Tod bescheren möge. Das… hat es nicht. Als ich… nun.. geschrumpft war… floh ich. Ich wusste nicht wohin, und dein Vater… man hatte seine Leiche nie gefunden, er galt als zweifelhafter Todesfall… ich hatte mir schon gedacht, dass bei ihm der Fall der Verjüngung eingetreten war. Ich habs an den Labormäusen gesehen, weißt du. Wir haben damals in seinem Haus nach Lebenszeichen gesucht, kurz nachdem sie ihn erwischt hatten, ihm das Gift verabreicht hatten. Wir waren zweimal da, zweimal. Beim ersten Mal schien nichts angerührt, kein einziger Hinweis, dass in dem Haus noch jemand lebte. Beim zweiten Mal… waren die Kindersachen… aus der Schublade, in der sie sich vorher befunden hatten, verschwunden.“ Shiho schluckte. Sie sprach schnell und ein wenig holprig, redete, ohne viel nachzudenken, denn allein der Gedanke an ihn… tat so unglaublich weh. „Also… ich hab ihn gesucht. Vor seinem Haus bin ich in jener Nacht zusammengebrochen. Der Professor hier…“, sie schaute Agasa kurz an, „hat mich gefunden. Und mich aufgenommen. Das Vergnügen, deinen Vater kennen zu lernen, hatte ich dann an meinem ersten Tag in der Grundschule.“ Und da huschte ihr zum ersten Mal ein Lächeln über die Lippen. Nur ganz kurz. „Wenn du wüsstest, wie er sie gehasst hat… man hat ihm angesehen, das kleine Einmaleins hat ihn zu Tode gelangweilt… nun. Ich hab mich ihm zu erkennen gegeben und zuerst war er gar nicht begeistert, mich in seiner Nähe zu wissen. Er hielt mich für das was ich war, eine Kriminelle. Aber er… er hat… er hat zugelassen, mich kennen zu lernen. Und noch etwas… ich hab… hab zugelassen, dass er mich kennen lernt. Er hatte etwas an sich, dem man sich schwer entziehen konnte. Er hat mir Mut gemacht. Er hat mir gezeigt, dass es im Leben noch etwas gab, wofür es noch zu kämpfen lohnte. Und dann… dann… genau dann… traf es ausgerechnet ihn…“ Die Katze in ihren Armen fing an sich zu sträuben, als Shihos Griff immer fester wurde, miaute leise. Die Forscherin kniff die Augen zusammen, schluchzte unterdrückt. Sie konnte nicht mehr, brach in Tränen aus, als sie an sein Gesicht dachte, als sie ihm damals erzählt hatte, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Als sie ihm eröffnet hatte, dass er sterben würde. Agasa schaute seine Mitbewohnerin bestürzt an, seufzte schwer. Offensichtlich war es keine gute Idee von ihr gewesen, zu versuchen, die Erinnerung an ihn zu verdrängen. Er hatte anfangs ja versucht, mit ihr zu reden; aber sie hatte stets abgeblockt. Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen. Sie hatte nie gelernt, damit umzugehen, und das sah man jetzt allzu deutlich. Dann seufzte er, und übernahm die Aufgabe, die Geschichte weiter zu erzählen, wo sie es offensichtlich nicht konnte. „Nun. Shinichi und Shiho… Ai, wie sie damals hieß… freundeten sich an. Sie nahmen den Kampf gemeinsam auf, und sie schafften es, die Organisation zu sprengen. Dein Vater… Shinichi… war wirklich brillant. Er war intelligent, schlau, und mutig; mit einem Hang zu zu großer Risikobereitschaft.“ Agasa lächelte leicht. „Nun, nach zweieinhalb Jahren zweiter Kindheit schafften sie es, sich aus den schwarzen Schatten zu lösen. Ai… Shiho, erfand das Gegengift zum Apoptoxin 4869, wie dieses Zellgift hieß, und alles schien wunderbar. Er… er hat deiner Mutter alles gebeichtet, und auch sonst allen, die betroffen waren… wie deinem Opa Kogorô, dem er einen tollen Ruf als Meisterdetektiv verschaffte, indem er ihn durch kleine Narkosepfeilchen schlafen schickte und dann die Fälle für ihn löste. Ich hab ihm eine Uhr gebaut, die eine Abschussvorrichtung für die Dinger beherbergte.“ Sayuri starrte ihn mit offenem Mund an. „Du darfst ihn dafür nicht verurteilen. Es… es blieb ihm nichts anderes übrig, um an Spuren zu kommen, die ihn zu den Männern in Schwarz führen konnten… glaub mir, er hat sich selbst wohl gehasst dafür. Er hat wirklich genug… genug gelitten in der Zeit. Rans Kummer um Shinichis Verschwinden, die Gefahr, die hinter ihm immer größer wurde, das Leid, das er Ran durch seine Lügen zufügte - er ertrug viel in dieser Zeit. Er wollte alle um jeden Preis von jeglichem Übel beschützen, versank dadurch selber in immer mehr Einsamkeit… Der Druck war enorm, die Verantwortung unglaublich… er hat es gepackt, aber es hat ihn… für immer verändert.“ Shiho schluckte, räusperte sich geräuschvoll. „Aber er hat’s geschafft. Er hat’s geschafft. Darum ging es doch. Er hat’s geschafft… er hätte glücklich sein können, er hatte ein schönes Leben vor sich…“ Agasa nickte unglücklich. „Ja, das hatte er. Und dann…“ Die rotblonde Forscherin seufzte schwer, wischte sich eine Träne vom Kinn. „Es ging… Es ging so fünf Jahre gut. Er war glücklich mit Ran, er baute sich ein Leben, eine Existenz auf, machte deiner Mutter einen Heiratsantrag… es hätte eigentlich alles nicht besser laufen können. Bis er… bei mir auftauchte, mit einer Frage. Er… er sagte… dass…“ Sie wandte den Blick ab. „Er hatte Probleme, gesundheitlich, Sayuri. Er litt unter... gelegentlichen schmerzvollen Anfällen. Genau wie damals bei Conan; du kannst dir vorstellen, sicherlich, dass so ein Wachstums- oder Verjüngungsvorgang nicht ohne ist… und er… nun… er sagte, es ähnelte dem… damals. Ich kann... mich noch genau an die Angst in seiner Stimme erinnern. Es muss furchtbar gewesen sein für ihn, dass ihm das immer noch nachhing, ihn verfolgte. Es war das gleiche wie damals, nur dass er… nicht schrumpfte, sondern er selbst blieb. Ich hab dann Tests gemacht. Und all diese Tests, sowie die Tests von drei Ärzten, zu denen ich ihn geschickt hab… haben eine Diagnose gefällt. Das Gift, das Apoptoxin, entfaltete, weil es zu lange in Shinichis Körper war, seine Wirkung nachträglich. Es zerstörte seine Zellen. Er war 24, als er das erfuhr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sein Zellwachstum den Zelltod noch locker in Schach gehalten; aber ab dem Alter ungefähr stagniert das Wachstum des Menschen, die Telomeraserate nimmt soweit ab, dass sie den Ist-Zustand hält; aber der Mensch nicht weiter wächst. Solange das Wachstum anhielt, war also das Zellsterben noch ausgeglichen worden, doch als es aufhörte, da... ging es... zu Ende. Die Ärzte hatten ihm…“ „… noch ein halbes Jahr gegeben.“, vollendete Sayuri ihren Satz. Shiho nickte schwer. „Ja… er hat gekämpft… dieses Leben war ein einziger Kampf, wenn man es nüchtern betrachtet.“ „Aber ein Kind?“, fing das Mädchen wieder an. „Ich meine… das ist alles schön und gut, aber du musst zugeben…“ Die rotblonde Forscherin überlegte kurz. Dann schaute sie das Mädchen vor sich mit zusammengekniffenen Augen an. „Du zweifelst immer noch? Nach all…“ „Ich… ich weiß nicht, es klingt so… unglaublich…“ Sayuri geriet ins Stammeln. Sie wollte keinen als Lügner darstellen, aber diese Geschichte hörte sich doch sehr… fantasievoll an. Sie wollte sie glauben, ja, das schon… aber ihr fehlte… der Beweis. Shiho schaute sie starr an. Wenn du wüsstest… wie ähnlich du ihm bist. „Komm mit.“ Agasa starrte sie an. „Shiho, das kannst du nicht…“ „Ohne Beweise wird sie’s nicht glauben. Sie ist wie er, er hat ohne Beweise auch nie was geglaubt.“ Sie ging energischen Schrittes aus dem Zimmer, Sayuri stolperte ihr hinterher, gefolgt vom Professor, der immer noch Einwände hervorbrachte. Ai sprang geschmeidig vom Sofa und schloss sich ihnen an, als sie ins Labor hinab stiegen. Shiho holte ein Glas mit einem feinen weißen Pulver aus dem Regal, schraubte es auf, stellte es vor sich auf den Tisch. „Das ist nichts für zarte Gemüter. Bist du sicher, dass du es willst?“ Das Mädchen schaute sie an. „Was genau…?“ Die Frau drehte sich um, holte eine Maus aus einem Käfig, wandte sich wieder zu seiner Tochter um, schaute sie lange an. „Ich werde diese Maus jetzt verjüngen…“, begann sie dann. „Das hier ist das gleiche Gift, dass deinem Vater seinerzeit verabreicht wurde. Es wird… schrecklich sein… grausam anzusehen und anzuhören. Sie wird nicht sterben, weil ich die tödliche Komponente entfernt habe, aber ansonsten ist es das gleiche Gift. Aber danach wirst du weder an meinen, noch an seinen Worten je wieder zweifeln. Willst du… willst du es sehen?“ Sayuri starrte wie hypnotisiert auf die Maus, deren Nase zuckte; ihre Barthaare vibrierten und sie schaute aus wachen, schwarzen Äuglein erregt um sich. Dann begann sie sich in Shihos Fingern zu winden, anscheinend ahnte sie, dass ihr ein unheilvolles Schicksal beschieden war. Sayuri zögerte noch einmal kurz, dann nickte sie. Ein unangenehmes Gefühl keimte in ihr hoch. Eigentlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Trotzdem nickte sie erneut, als Shiho sie ein letztes Mal fragend ansah. Agasa schaute seine langjährige Mitbewohnerin ernst, fast ein wenig wütend an. „Shiho, du weißt, dass Shinichi…“, fing er erneut an. Seine Stimme klang leise, aber in ihr Schwang deutlich hörbare Ablehnung mit. Er befürwortete ihre Idee, ihr Verhalten nicht, und das war ihm allzu deutlich anzusehen. Shiho warf ihm einen kurzen Blick zu, griff die Maus mit beiden Händen, damit sie ihr nicht entkam. Dann schüttelte sie den Kopf. „Shinichi… ist aber nicht hier. Und er will doch sicher… dass seine Tochter ihm glaubt. Dass sie in ihm keinen Lügner sieht. Sie wissen doch, wie sehr er es verabscheut hat… das Lügen.“ Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken an ihn. „Er will bestimmt, dass seine Tochter ihm glaubt…“ Agasa trat näher, schaute sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Ran würde es auch nicht wollen! Du weißt, wie es wirkt, du weißt, was sie sehen wird, und du weißt, dass der Anblick für sie viel zu…“ „Hören Sie auf. Sie will es sehen, also soll sie es sehen.“ Shiho drehte sich um. Der alte Mann warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Shiho, die seine Blicke im Rücken spürte, blickte ihn aus den Augenwinkeln an. „Und außerdem… Ran ist auch nicht hier, oder sehen Sie sie etwa?“ Dann schaute sie zu Sayuri, nickte ihr zu. „Stell dich da hin und schau gut zu…“ Ihre Stimme verlor sich. Sie hob den Deckel vom Glas, stellte es ab, löffelte ein wenig Pulver heraus und hielt es der Maus vor die Nase. Das Tierchen kam nicht umhin, ein wenig davon zu schlucken. Sobald sie merkte, wie die Maus in ihrer Hand immer wärmer wurde, setzte sie sie auf die Tischplatte. Das kleine Tier konnte sich längst nicht mehr auf den Pfoten halten, sackte auf die Tischplatte, zitterte. Allein dieser Anblick reichte eigentlich. Sayuris Magen begann sich umzudrehen. Ihre Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das sehen zu wollen, wurden immer stärker. Sie schluckte hart, ihr Mund wurde trocken. Die Maus piepste erbärmlich. Sayuris Hände begannen zu zittern, ihre Finger wurden taub und kalt. Wie versteinert blickte sie auf das weiße Mäuschen, das sichtbar unter Schmerzen litt. Sie wusste nicht, wie er ausgesehen hatte. Sie hatte nie ein Bild von ihrem Vater gesehen. Aber als die Maus begann, sich zu winden, von Krämpfen geschüttelt, schmerzerfüllt zu quieken, zu zucken… war es um ihre Beherrschung geschehen. Zu sehen, dass man ein Tier so quälte, machte sie fast wahnsinnig. Dass diese Schmerzen ein Mensch hatte erleiden müssen, ihr eigener Vater… brachte sie um den Verstand. Sayuri schrie auf, wandte sich ab, schlug sich die Hände vors Gesicht. „Hör auf! Was tust du ihr an! Hör auf! Hör auf!“ Sie wollte sich die Ohren zuhalten, nichts mehr hören, nichts mehr sehen, aber Shiho trat hinter sie, hielt ihre Arme fest. „Sieh hin. Du wolltest es doch sehen…! Das hat er…“ Die Forscherin fing an zu zittern, brach ab, ließ Sayuri wieder los. Die starrte ihr entsetzt, fast angsterfüllt ins Gesicht, wich ein paar Schritte zurück. So hatte sie sie noch nie gesehen. Shihos Augen waren unverwandt auf die Maus gerichtet. Anders als Sayuri… wusste sie, wie er ausgesehen hatte. Shinichi… Sie erinnerte sich nur zu gut daran… Das war die reinste Selbstfolter, und das wusste sie auch. Sie dachte an ihn, daran, wie sie ihm damals in der Herrentoilette des Beika-Restaurants zugesehen hatte, wie er… wieder zu Conan wurde. Ohne Ran gesagt zu haben, was sie ihm bedeutete. Wie ein Studienobjekt hatte sie ihn sehen wollen, wie ihre weißen Mäuse hatte sie ihn beobachten wollen… nüchtern, sachlich, mit der Neugier einer Wissenschaftlerin. Die Rechnung war nicht ganz aufgegangen. Als sie ihn gesehen hatte… war etwas passiert. Sie hatte ihre Objektivität verloren… als sie ihren Freund sah, der wegen ihrem Gift diese Qualen litt… Ab diesem Zeitpunkt hatte sie nie wieder eine ihrer Mäuse bei diesem Versuch betrachten können, ohne ihn zu sehen. Ohne sich seinen Körper auf dem gefliesten Boden vorstellen zu müssen. Das Bild suchte sie heim, immer wieder. Damals… sie hatte es anfangs wirklich noch… als Fallstudie gesehen… als sie sich lächelnd die Brille von der Nase gezogen hatte. Ihre Gedanken drifteten ab, als sie an den Abend dachte… die Maus immer noch vor Augen, war ihr Geist schon längst woanders. Sie sah ihn an, der vor ihr auf dem Boden der Herrentoilette kauerte. 'Du bist mir noch etwas schuldig, Conan Edogawa...' Sie konnte verstehen, warum er nicht wieder klein werden wollte; er war ein gutaussehender Oberschüler, das musste sie ihm lassen. Aber dennoch war sie aufgeregt; sie war ja schon selber geschrumpft, sie hatte dieses Phänomen bei ihren Mäusen gesehen... aber noch nie am Menschen. Jetzt bot sich ihr die Möglichkeit. Die einmalige Gelegenheit, das Gift am Menschen wirken zu sehen. Sie trat wissbegierig einen Schritt näher. Und dann schaute er auf, sah sie an, und sie erstarrte augenblicklich. Ihre Finger wurden kalt.. Alles, was sie sah, war die Qual in seinen Augen. Schmerz. Schmerzen, die ihm das Gift zufügte... körperliche Schmerzen, die fast nicht aushaltbar schienen, sie wusste wie es sich anfühlte, sie hatte es am eigenen Leib erfahren... Aber es zu sehen... zu sehen, wie er sich krümmte, sich unter den Krämpfen wand, es in seinen Augen ablesen zu können... diese Tortur... Was ihr Gift ihm antat... Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Es war ein Mensch, der hier vor ihr lag. Ihr Freund. Ein lebender Mensch mit einem eigenen Leben, das hier, in diesem Augenblick, restlos aus den Fugen geriet, in Trümmer ging, einstürzte und zerbrach... Was sie fast noch mehr traf, allerdings, war diese seelische Qual in seinen Augen. "Ai... Ai, sie wartet doch auf mich..." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, sie konnte ihn kaum verstehen. Aber sie klang so verzweifelt. Sie sah, dass er litt; darunter litt, seine Freundin schon wieder zurücklassen zu müssen. Sie wusste nicht, ob er es ihr gesagt hatte... aber allein diese gewisperten Worte, diese offensichtliche Sehsucht nach ihr, nach Ran, versetzten ihr einen Stich. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass das Gegengift nur 24 Stunden halten würde? Sie biss sich auf die Lippen, Schuldgefühle machten sich in ihr breit. Er hätte seine letzten Stunden als Shinichi bestimmt anders gefüllt als mit dem Lösen eines Mordfalls, hätte er es gewusst. Und dann wäre das hier… nicht ganz so überraschend… Er schrie erstickt auf, und lenkte damit Ais Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Sie ließ sich zu Boden sinken, näherte sich ihm, griff ihm an die Stirn. Sie war heiß. Nicht nur warm, sondern heiß. Er schwitzte und er schien erschöpft. Mit den Kräften am Ende. "Shinichi!" Ai rief leise seinen Namen, nahm sein Gesicht in beide Hände. "Shinichi, es wird gleich vorbei sein... du kennst das doch... du weißt das doch... halt durch..." Er sah sie müde an. "Warum passiert mir das? Was hab ich der... Welt... getan... dass sie sich so an mir rächen muss...?" Sie starrte ihn an, sprachlos. Und erkannte erst jetzt, dass sie nichts über ihn wusste. Über Shinichi Kudô. Sie wusste nur, er liebte Ran… aber über seine Vergangenheit… war ihr nichts bekannt. Nichts, dass ihn ihr näher brachte. Als er zusammensackte, konnte sie ihn nicht halten. Er lag auf den kalten Fliesen, zusammengekrümmt wie ein Embryo, atmete schwer. Sie griff nach seiner Hand, hielt sie mit beiden Händen, fest, harrte aus neben ihm - teilte seinen Schmerz. Jegliches wissenschaftliches Interesse war längst verschwunden. Kurze Zeit später lag, in einem Anzug der ihm viel zu groß war, Conan Edogawa. Ein leiser Schrei riss sie aus ihrer Erinnerung. Sayuri hatte geschrien, als die Maus zu schrumpfen begann. Es war nicht richtig, Sayuri zu zwingen, sich das anzutun, das wusste sie. Eigentlich sollte sie sie sofort hier raus bringen. Sie warf ihr einen Blick zu, die mit starren Augen die Maus betrachtete, die langsam immer kleiner wurde, wie gefangen auf die Tischplatte schaute, wimmerte, als sie sah, wie das Tierchen sich quälte. Sie tat es nicht. Sie zog sie nicht weg, brachte sie nicht raus… weil sie wollte, dass sie verstand. Nur wer wusste, durch welche Hölle er gegangen war… konnte verstehen, was er alles erlebt und erlitten hatte, auch, als Conan schon lange der Vergangenheit angehört hatte. Und dann… nach ein paar Minuten… … war es still. Sayuri klammerte sich an der Tischplatte fest, blickte erschüttert auf die Maus auf dem Tisch vor ihr. Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel. Sie war ein Baby. Eine kleine Babymaus. Das Mädchen geriet ins Wanken. Es war wahr. Alles was er geschrieben hatte, war wahr… Der Professor griff nach ihrem Arm, hielt sie fest. „Oh mein Gott...“ Sie hauchte die Worte nur. Shiho starrte immer noch auf die kleine Maus, ließ sie liegen, wo sie war. Ihre Augen waren glasig, Tränen begannen über ihr Gesicht zu laufen. Dann wandte sie sich seiner Tochter zu, schaute sie lange an, bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam. „Wie du siehst… hier ist der Beweis.“ Sie räusperte sich, schluckte hart. Als sie nun sprach, wandte sie den Blick ab. Sie schaffte es nicht mehr, ihr ins Gesicht zu sehen. „Es tut mir Leid, Sayuri. Wie du siehst… habe ich deinen Vater ermordet. Es war mein Gift, das ihm das angetan hat…“ Und nun hasse mich wenigstens du dafür… Sayuri warf ihr einen verängstigten Blick zu - dann rannte sie nach oben, atemlos, griff sich das Buch vom Wohnzimmertisch und wollte nach Hause laufen, schnell, schnell weg hier, als der Professor sich ihr in den Weg stellte. Sie blieb stehen, starrte ihn nervös an. „Lassen Sie mich gehen… bitte?“ Ihre Stimme bebte. Es war ihr anzusehen, dass dieser Ort für sie nun nicht mehr der gleiche war, wie vorher. Dass die Menschen, die dieses Haus bewohnten, für sie nicht mehr dieselben waren, wie noch vor ihrem Besuch. Agasa schaute sie betrübt an, schüttelte langsam den Kopf. „Nein… Sayuri… ich würde dich bitten, noch mal hereinzukommen. Komm mit… Kleines. Komm. So kann ich das nicht stehen lassen. Shiho hat es gut… gemeint, aber ich denke, sie ist übers Ziel hinausgeschossen.“ Sie schaute ihn zweifelnd an, man sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte, wie sehr sie die letzten Minuten aufgewühlt hatten. Er zog sie mit sich in die Küche, kochte ihr eine Tasse sehr süße heiße Schokolade, setzte sich ihr gegenüber hin. Sayuri bebte am ganzen Körper, trank dankbar ein paar Schlucke der warmen Flüssigkeit. „Es stimmt, wenn sie sagt, dass er sehr gelitten hat. Er hat viel aushalten müssen, dein Vater. Und diese Sache mit dem Gift war nicht... einfach.“ Er schaute seiner jungen Nachbarin ins Gesicht, seufzte dann. „Aber ich denke, er würde mir zustimmen, wenn ich sage, dass sein Leben… nicht nur aus Leid und Schmerz bestand. Er hat gern gelebt, mit allem, was er hatte. Er hat geliebt… und gelitten. Er hat viel geopfert aber auch viel gewonnen. Er hat… er war kein Mann der halben Sachen, Shinichi. Er hat intensiv gelebt… hat mitgenommen, was ging. Er war… er war ein höchst faszinierender Mensch; hatte hohe Moralvorstellungen, schon sehr früh einen sehr ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht. Er hat sich für Gerechtigkeit eingesetzt, hat nichts mehr verehrt als die Wahrheit. Er hat für sie gekämpft, deswegen wurde er Detektiv. Er wollte wohl auf seine Weise die Welt verbessern… er wollte Unrecht aufdecken… und bei einer seiner Aktionen kreuzten sich seine Wege mit denen der Organisation. Der Fall… hat ihn zu mehr Ruhm verholfen, als er sich je erträumen hätte können… und gleichzeitig hat er damit mit sechzehn sein Todesurteil unterzeichnet, ohne es zu wissen… weil er zu neugierig war. Weil sein Instinkt ihn wieder einmal nicht getrogen hatte. Die Nachricht, dass er so bald schon sterben würde, hat ihn hart getroffen; aber aufgegeben hat er nicht. Er hatte seine Tiefs, ja, aber es gab Gründe für ihn, jede Minute, die ihm noch blieb, zu nutzen.“ Agasa schluckte, kniff die Augen zu, öffnete sie wieder, blinzelte heftig. „Nach dem, was du gesehen hast, magst du vielleicht glauben, sein Leben war nur von Schmerz bestimmt… eine Aneinanderreihung von unglücklichen Zufällen. Das stimmt; aber nur zum Teil. Er hat sein Leben durchaus auch genossen. Trotz oder gerade wegen all dieser Tiefschläge. Ich will nicht, dass du glaubst, du müsstest ihn bemitleiden, denn Mitleid war das Letzte, was er wollte. Bis zum Ende wollte er keins. Und von dir…“, er lächelte traurig, strich ihr über den Kopf, „würde er erst Recht keins wollen.“ Sayuri schaute ihn betroffen an. „Kannten Sie… kannten Sie ihn gut, Professor? Meinen… meinen Vater?“ Der alte Mann nickte schwer. „Er war… er war wie eine Art Enkel für mich. Ich kannte ihn schon, da schob ihn Yukiko noch im Kinderwagen. Ich… denke doch, ich kannte ihn gut. Aber… ich denke, am meisten wirst du wohl erfahren, wenn du weiter liest, was er dir aufgeschrieben hat… ich wollte nur, dass du weißt… dass nicht sein ganzes Leben nur Schmerz war.“ Er seufzte schwer. Sayuri nickte, nippte an ihrer Tasse. „Shiho… Shiho hat ihn geliebt, weißt du. So sehr geliebt, dass sie nie versucht hat, ihm sein Glück, Ran, zu nehmen. Aber sie hat… hat sich nie verziehen, den Menschen, der ihr soviel gegeben hat, neuen Lebensmut, Freundschaft, Loyalität und das Gefühl, doch gebraucht zu werden… ins Grab gebracht hat. Das was sie treibt… hat selbstzerstörerische Züge. Sie hat bis heute versucht zu verdrängen, was passiert ist. Aber sie… anders wird sie nicht fertig damit. In ihr ist Hass… so großer Hass auf sich selbst, deinen Vater… nunja, nicht umgebracht, aber doch mit Schuld an seinem Tod gewesen zu sein… dass sie damit fast nicht fertig wird. Sie hat nur deswegen noch nicht aufgegeben, weil er ihr damals das Versprechen abgenommen hat, sich nicht zugrunde zu richten. Aber sie… sie bedauert so unendlich… dass sie dir und ihm und Ran… soviel vorenthalten hat. Verstehst du das?“ Er schaute sie abwartend an. Sie leerte ihre Tasse langsam, schaute ihn dann an. Sie war bleich im Gesicht, aber sie nickte. „Ja… ich denke schon.“ Sie stand auf. „Aber ich denke, ich gehe jetzt besser.“ Er seufzte leise, erhob sich ebenfalls. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Der alte Mann begleitete sie zur Tür. Kurz, bevor sie nach draußen ging, drehte sie sich noch einmal um. „Sagen Sie, Professor… vermissen… vermissen Sie ihn…?“ Agasa schaute sie traurig an. „Ja.“ Er schaute zu Boden. „Ich werde… den Tag nie vergessen, als er das letzte Mal aus dieser Tür schritt…“ Sayuri schluckte, dann drehte sie sich um und ging. Professor Agasa beobachtete sie, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann wandte er sich um, ging schweren Herzens nach unten ins Labor, wo er Shiho fand. Sie saß am Boden, in Tränen aufgelöst, die Katze an sich gedrückt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)